DAS MAL DER BESTIE - Kai Arima - E-Book

DAS MAL DER BESTIE E-Book

Kai Arima

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Beschreibung

Ein Yakuza-Killer auf der Suche nach einem Mörder – und Gerechtigkeit. Tokio in den späten Neunzigerjahren. Der Auftragsmörder Yasuhiro Kudo ist als Mitglied der organisierten Kriminalität in die Jahre gekommen und führt nun ein scheinbar komfortables Leben. Doch der bestialische Mord an einer jungen Frau, der einer Jahre zurückliegenden ungeklärten Mordserie ähnelt, reißt tiefe Wunden in ihm auf: Ayami, die Liebe seines Lebens, fiel diesem Serienmörder ebenfalls vor vielen Jahren zum Opfer. Damit konfrontiert, findet sich Yasuhiro Kudo in einer paradoxen Situation wieder: Er ist ein Mörder, der einen Mörder jagt. Getrieben von Rachsucht steht Kudo bald vor dem moralischen Dilemma, auch das Leben unschuldiger Menschen aufs Spiel zu setzen. Doch der Sumpf der japanischen Unterwelt ist tiefer, als selbst er es sich vorstellen konnte …

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Das Mal der Bestie

Kai Arima

japanischer Kriminalroman

Impressum

Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2022 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Lektorat: Manfred Enderle

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2022) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-711-2

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Das Mal der Bestie
Impressum
Letzte Worte
Recht und Ordnung
Mein Ein und Alles
Familienbande
Zwei Tiger
Dein Freund und Helfer
Der Prinz von Shin-Okubo
Trage dein Kreuz, und ich trage meines
Jäger und Beute
Der Gute Samariter
Zweiter Frühling
Ein guter Mensch
Nachtgeflüster
Eine Erfolgsmeldung
Weltenwanderer
Mutterliebe
Schuld und Sühne
Der schmale Grat
Der Morgen nach dem Morgen danach
Das Mal der Bestie
Über den Autor

Und es bringt alle dahin, die Kleinen und die Großen, und die Reichen und die Armen, und die Freien und die Sklaven, dass man ihnen ein Malzeichen an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn gibt; und das niemand kaufen oder verkaufen kann, als nur der, welcher das Malzeichen hat, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens.

- Offenbarung 13, 16-17

Letzte Worte

Liebe Kanako,

Dies sind die letzten Worte, die ich schreiben werde, und die Tatsache, dass sie an dich gerichtet sind, ist mir ein großer Trost. Ich bedaure wenig in meinem Leben, und die schlechten Dinge verblassen im Angesicht der guten. Ich sage dir das nicht, weil ich ein leichtes Leben hatte, sondern weil ich es so sehe: Du warst das Beste, was mir in meinen nun fast sechzig Jahren auf dieser Welt passiert ist. Du hast Ähnliches sicher schon von vielen Männern gehört, aber lass dir gesagt sein, dass die letzten Worte eines sterbenden Mannes die wahrsten und ehrlichsten sind, die er jemals im Leben sagen wird, noch vor den ersten Worten, die er als kleiner, unschuldiger Junge gebrabbelt hat. Die Erinnerung an dich hat mir in schwierigen Momenten immer geholfen, und das Beisammensein mit dir war mir das größte Glück, das alles andere klein und nebensächlich hat aussehen lassen. Und sogar jetzt verblasst der nahe Tod im Angesicht an die Erinnerung an dich. So vergib mir bitte meine letzte Sünde, in der ich selbst aus dem Leben trete wie durch eine Hintertür. Ich habe dafür ebenso viele Gründe, wie ich Feinde habe, und der Freitod ist der einzige Tod, der für einen Mann wie mich angemessen ist. Im Beisein meiner Lieben zu sterben wäre natürlich besser, und da ich kaum welche habe, wäre ich ein letztes Mal mit dir allein gewesen. So bleiben mir nur diese Worte, um von dir Abschied zu nehmen. Ich hatte gehofft, mit dir zu entkommen. Es tut mir leid, wie es gekommen ist. Bitte verzeih mir.

In ewiger Liebe, Kojiro

»Und? Was sagen Sie?« Makoto blickte ihn fragend von der gegenüberliegenden Couch an, sodass er direkt in Yasuhiro Kudos Augen sah, als dieser seinen Blick von dem Brief in seinen behandschuhten Händen nahm und über den Rand des Papiers hinweg aufblickte.

»Nun … hm.«

»Hm?«

»Es ist so … ich weiß nicht, so …«

»So was?« Makotos Stimme wurde höher.

»Es ist so … poetisch. So schön.«

Makotos Miene erhellte sich. »Vielen Dank, Herr Kudo. Wissen Sie, es geht immer sehr viel Arbeit in solche Briefe. Es freut mich, dass …«

»Das war eigentlich nicht als Kompliment gemeint, Mak. Hör mal, das ist kein Schreibwettbewerb, sondern es geht darum, so authentisch wie möglich zu sein. Das ist ein Beweismittel, das den Augen eines Ermittlers standhalten muss. Kojiro Tatsuoka ist ein sechzigjähriger Boxpromoter, der sein Leben lang in krumme Geschäfte verwickelt war. Ich kenne ihn, und ich weiß, dass er nie so schreiben würde.«

»Seit wann stellt die Polizei denn den Inhalt des Abschiedsbriefes infrage? Wir wissen doch beide, dass es dabei nur um die gelungene Handschrift des Verstorbenen geht.«

»Versteh mich nicht falsch, Mak, die Handschrift hast du wie immer perfekt hinbekommen, sie ist makellos, und dein Talent in dieser Hinsicht spricht für sich selbst. Aber die Sache ist …«

»Herr Kudo, hat die Polizei von den vergangenen sieben Abschiedsbriefen, die ihr den Leichen nach eurer getanen Arbeit untergeschoben habt, auch nur einen angezweifelt? Die waren zum Teil noch feinsinniger geschrieben. Und glauben Sie mir, bei letzten Worten werden alle Männer richtig rührselig. Selbst der abgestumpfteste Prolet wird zu einem verkannten Dichter.«

»Zu einem verkannten ja, aber nicht zu einem guten.« Kudo hielt ihm den Brief vor die Nase.

»Herr Kudo, machen Sie sich keine Sorgen deswegen. Wenn Sie die anderen Briefe auch gelesen hätten so wie jetzt diesen, hätten Sie sicher dieselben Einwände gehabt, und es ist bisher immer alles gut gegangen. Und das wird es diesmal auch. Denn was mein Talent im Imitieren von Handschriften anbelangt, bin ich makellos. Es gibt keinen, der auch nur ansatzweise so gut ist wie ich, und der mit so wenigen Schriftproben der Zielperson auskommt wie ich, und der so schnell arbeitet und …«

»Okay, okay … und so schön schreibt, ja.« Kudo faltete den Brief und steckte ihn zurück in den Papierumschlag, der auf dem Couchtisch zwischen ihm und Makoto lag. Diesen steckte er in eine kleine durchsichtige Klarsichtfolie und verschloss sie. Dann zog er seine Handschuhe aus und steckte sich eine Zigarette an. »Wenn ich genug Zeit hätte, würde ich dich den Brief umschreiben lassen, aber Zeit haben wir leider nicht. Ich hoffe, du hast recht, du hast ja da mehr Erfahrung als ich. Hiroki wird dir beim Hinausgehen wie immer das Geld in bar geben.«

Makotos Miene füllte sich mit einem zufriedenen Lächeln. »Sie werden sehen, Herr Kudo, es wird gut gehen wie immer, die Handschrift ist perfekt, und die paar Polizeibeamten, die das lesen, werden gerührt sein.«

»Daran habe ich keine Zweifel.«

»Wie lange hat denn der gute Herr noch?«

»Was?«

»Kojiro Tatsuoka. Er weiß ja offensichtlich noch nichts von seinem bevorstehenden Selbstmord. Sie sagten ja, die Zeit wird knapp. Wann werdet ihr es machen? Diese Woche?«

»Was interessiert dich denn das, deine Arbeit ist doch getan.«

»Ja, stimmt, nur interessehalber, es ist so … verzeihen Sie mir, so spannend. Wie in einem Krimi.«

»Den du offensichtlich schreiben willst. Ich weiß doch, dass du Dichter oder Schriftsteller werden willst. Das liegt dir. Du hast Talent.« Kudo nahm einen Zug aus seiner Zigarette und deutete mit seinem Kinn auf den Brief. Makoto winkte verlegen ab. »Ach …«

»Aber lass dir gesagt sein, Mak: Komm ja nie auf die Idee, irgendeinen Kram von dem, was wir hier tun, in eine deiner Geschichten reinzuschreiben. Wenn du das tust, dann tut es mir leid für uns beide, denn dann wirst du eines Tages deinen eigenen Abschiedsbrief schreiben müssen.«

Makotos Gesicht fror ein.

»Capiche?« Kudo zwinkerte ihm zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst mal ein großer Schriftsteller werden.«

»Danke.« Brachte Makoto zögernd heraus. »Und falls es mit dem Schreiben doch nicht klappt, muss ich eben diesen Job für immer machen. Sagen Sie, Herr Kudo, haben Sie nicht ein altes Tagebuch? Dann kann ich ja schon mal Ihre Handschrift üben, für den Fall, dass das eines Tages notwendig wird.«

»Sehr witzig. Mach, dass du hier rauskommst.«

Verhalten grinsend erhob sich Makoto, verbeugte sich und ging aufrecht zur Tür des kleinen Konferenzraums, in dem sie sich befanden. Kudo folgte ihm. Als sie durch einen schmalen Gang hindurch in den großen Hauptraum des Büros traten, ging Kudo vorneweg am erhobenen Schreibtisch des Wakagashira vorbei zum Ausgang. An der Sofaecke am Empfangsbereich neben der Tür stand Hiroki. »Setz dich einen Moment zu uns, Makoto«, sagte er und deutete auf die Sofas. Auf dem Couchtisch lag bereits der Umschlag mit dem Geld. Makoto setzte sich Kudo und Hiroki gegenüber auf das Sofa und blickte auf das weiße Papier.

»Bevor du das hier nimmst«, sagte Hiroki und griff in seine Jackentasche. »Hier.« Er reichte ihm ein gefaltetes Blatt Papier. Makoto nahm es entgegen und faltete es aus. Es war ein per Hand ausgefülltes Formular. Name, Adresse, Geburtstag und Telefonnummer standen in krakeliger Handschrift geschrieben zwischen den schachtelartigen Linien. »Schriftprobe. Dein nächster Auftrag. Zum Üben.«

»Antrag auf Installation von Kabelfernsehen«, las Makoto die Überschrift des Formulars, und Kudo sah, wie sich seine Augen beim Anblick des Namens auf dem Papier vor Schrecken weiteten. »Taro Ozora … Der Schauspieler, Taro Ozora?«

Kudo und Hiroki blickten ihn stumm an.

»Was hat der denn verbrochen?«

»Du würdest dich wundern, wie viele Prominente in Saus und Braus leben und unrettbar tief verschuldet sind. Wenn wir eine Bank wären, würden wir sein Haus beschlagnahmen. Aber wir haben da nun mal unsere eigenen Methoden.« Hiroki blickte ihn ausdruckslos an.

»Ein Schauspieler mit Hang zum Dramatischen. Bei dem darfst du dich mit dem Abschiedsbrief so richtig austoben«, sagte Kudo.

Es vergingen einige Momente, dann faltete Makoto das Blatt und steckte es stumm in seine Jackentasche. Er schluckte schwer. Dann fiel sein Blick wieder auf den Umschlag mit dem Geld auf dem Tisch. Hiroki deutete drauf. »Hier, nimm.«

»Es ist schwerer als sonst«, sagte Makoto, nachdem er ihn langsam aufgehoben hatte.

»Da ist noch ein Vorschuss für deinen nächsten Job drin. Ein Promi-Bonus«, sagte Hiroki. »Wir verlassen uns auf dein Talent sowie deine Verschwiegenheit. Sieh dir in nächster Zeit einfach keine Taro Ozora-Filme mehr an.«

Makoto schluckte schwer. »Also, ich … Nichts für ungut, ich gehe jetzt besser.«

Sie erhoben sich. Kudo blickte Makoto hinterher, wie er durch die Eingangstür des Büros schritt, nachdem er sich zum Abschied verbeugt hatte. Er glaubt sicher, sein Job wäre schwer, kam es ihm, als er ihn langsam davonstapfen sah. Aber was weiß er schon. Er schreibt nur von dem, was ich wirklich tun muss. Kudo atmete tief durch. Eines steht fest: Kabelfernsehen werde ich nie beantragen, dachte er, und ging durch das Büro zurück in den Konferenzraum, um seine Zigarette zu Ende zu rauchen und den Abschiedsbrief von Kojiro Tatsuoka zu holen.

***

Die Sonne war untergegangen und ein kleiner Rest von Abendrot deutete sich hinter der dicht befahrenen Straße in der Lücke zwischen den hochstehenden Wohntürmen an. Taxis fuhren an dem Lieferwagen vorbei, in dem Kudo zusammen mit Takanobu und Gunji saß. Sie hatten gegenüber dem vornehmen Apartmenthaus geparkt und hielten den Eingang und die dahinter liegende Rezeption in Augenschein. Als nach einer halben Stunde niemand, den sie kannten, ein- oder austrat, stiegen sie aus dem Wagen und überquerten die Straße. In der abendlichen Wärme des lauen Frühlings fühlten sich ihre Handwerker-Overalls warm an. Der Lieferanteneingang lag gut verdeckt hinter einer grünen Böschung seitlich des Weges, und daneben lag verstohlen die graue Tür des Müllraums. Gunji machte sich mit einem großen Schlüsselbund an ihm zu schaffen. Nach ein paar Minuten traten sie durch den stinkenden Raum, in dem sich der Müll des Tages mannshoch in dutzenden Säcken an den Wänden stapelte, an die Zugangstür des Apartmenthauses. Kudo verspürte den Drang, sich die Atemschutzmaske, die er mitgebracht hatte, schon jetzt aufzusetzen, während er dem Rascheln des Schlüsselbundes zuhörte.

***

Klassische Musik erfüllte den Aufzug, in dem sie zu viert standen. Im letzten Moment war ein älterer Herr zugestiegen, der sich wortlos grimmig abseits stellte. Wenigstens keine alte Frau, dachte Kudo, die sind immer am neugierigsten und quatschen einen an, vor allem in noblen Gebäuden wie diesen. Weshalb, und zu wem, und ach, schon wieder was kaputt. Nicht dass Geld für mich eine Rolle spielen würde, aber wie viel verlangen sie denn für die Reparatur? Ach ja, soso, ich finde, die Sachen werden heutzutage extra so gebaut, damit sie nach einiger Zeit kaputt gehen, um die Leute zu schröpfen. Finden sie auch den Weg zum Apartment? Soll ich ihn ihnen zeigen? Ganz sicher nicht? Ich kann beim Pförtner Bescheid sagen, damit er nach dem Rechten sieht und ihnen ein Telefon bereitstellen kann, falls sie …

Mordlust. Nicht zu viel Geld verdirbt den Charakter, sondern zu viel freie Zeit. Wer die Reichen gut genug kennt, versteht das sofort.

Das Licht auf den Aufzugknöpfen sprang von einem Stockwerk zum nächsten, und Kudo schluckte, um den Druck in seinen Ohren auszugleichen, als sie das 24. Stockwerk fast erreicht hatten. Nachdem sich die Tür öffnete, wandten sie sich nach links und gingen den Gang hinunter, den Gebäudeplan im Kopf, zweite Biegung rechts … dann die vierte Tür ganz hinten … Nummer 2413. Gunji mit den Schlüsseln vorangehen lassen, auf den letzten Metern auf den Fußballen gehen, Takanobus Werkzeugkiste zieht schwer an seinem Körper, und Kudo griff in die Innenseite seiner Jacke und entsicherte leise seine schallgedämpfte Pistole im Halfter. Vor der Tür zogen sie sich ihre Atemmasken sowie die Plastiküberzüge für ihre Schuhe über. Kudo blickte hinter sich den Gang hinunter, während Gunji sich am Schloss der Tür zu schaffen machte. Dann atmete er tief durch und richtete sich auf. Ein kaum merkliches Klicken war zu hören, und Takanobu, der die linke Hand auf den Türgriff gelegt hatte, zog sie auf, während seine rechte in die Innenseite seiner Jacke nach seiner Pistole griff. Kudo trat nach ihm in die Wohnung, und hörte Gunji hinter sich die Tür schließen.

Es war dunkel, und zu dritt blickten sie auf die braune Tür, die den Eingangsbereich von der Wohnung trennte. Kudo fragte sich, ob überhaupt jemand zu Hause war. Er hörte Takanobu leise und tief durchatmen. Dann legte er ihm die linke Hand auf die Schulter, und als Takanobu die Tür mit einem Ruck öffnete, lief er ihm hinterher den dunklen Mittelgang der Wohnung entlang vorbei an einer Tür, die wohl zum Badezimmer führte, und nachdem sie zu dritt durch eine weitere Tür am Ende des Ganges gestürmt waren, standen sie endlich im großen Wohnzimmer der Wohnung. Auf der Couch saß, kaum merklich und fast wie ein Möbelstück wirkend, Kojiro Tatsuoka.

»Ich habe auf euch gewartet«, sagte er und wandte seinen Kopf zu ihnen.

Na so was, da trägt der Kerl doch glatt zu Hause eine Sonnenbrille, kam es Kudo. Zu dritt standen sie vor der Couch und richteten sich auf.

»Und? Müsst ihr euch erst noch überlegen, wie ihr mich umlegt?«, fragte Kojiro. Im schlecht sitzenden Anzug und mit seiner üblichen Baseballkappe sah er aus wie eine Karikatur seiner selbst. Wenn er uns erwartet hat, wie er sagt, scheint es, als ob er sich für den Tod in seiner ganzen Fülle zurechtgemacht hat, dachte Kudo.

»Du hast doch keine Angst vor mir, Kleiner. Komm schon, Kudo, ich hätte an deiner Stelle das Geschäft schon längst zu Ende gebracht. Stattdessen stehst du mit deinen beiden Halbaffen vor mir wie ’n … na, wie son’ Oberaffe. So posierend und so, verstehste? Wie drei Schimpansen. Ach ja, bevor du dich überwindest, falls dus’ überhaupt kannst, weißt du überhaupt, warum du hier bist?«

»Natürlich weiß ich das, du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass du mit dem, was du gemacht hast, durchkommst.« Sie alle drei standen mit gezückten Waffen vor Kojiro. Wie Affen, da hat er wohl recht, dachte er.

Kojiro zuckte mit den Schultern. »Das Fightbiz ist mein Showbiz, und ich entscheide, wann und wie ich abkassiere. Da kann mir niemand was vormachen. Ihr Hampelmänner von Gangstern denkt immer, jedes Geschäft wär’ gleich. Aber als Boxpromoter muss man dreckiger spielen als im Film und in der Musik. Scheiße, sogar ein Zuhälter hat einen beständigeren Laden am Laufen als einer, der Kämpfer managt. Ihr habt gar keine Ahnung …«

»Komm schon, du hättest dir denken können, dass unsere Familie ihren Anteil inklusive Zinsen zurückhaben will, nachdem wir so viel in deine Promotion gesteckt haben.«

»Was weißt du schon, Bengel. Du bist nur ein Handlanger. Der alte Takeda hat nicht mal den Mumm, hier persönlich aufzukreuzen. Weißt du, warum er mich wirklich umlegen will? Weil ich der Einzige bin, der sich nicht vor ihm in die Hosen scheißt. Ich seh’ einen Fighter, wenn ich ihn seh’, und wenn Takeda wirklich Eier in seinen billigen Hosen hätte, hätte er mich zum Kampf bis zum Tod aufgefordert, Mann gegen Mann …«

Kudo umklammerte seine Pistole, während er dem zunehmenden Wortschwall zuhörte. Er wartete darauf, dass Kojiro seinen Kopf zur Seite drehte, um den Schuss anbringen zu können.

»Und überhaupt, was kümmert es dich, was ich mit meinem Business angestellt hab!«

»Weil du mich danach gefragt hast.«

»Falsche Antwort, Bengel. Ich hab nur gefragt, warum du hier bist. Du bist hier, weil Takeda es dir und deinen beiden Hampelmännern befohlen hat.«

Du hast recht, dachte Kudo. Was kümmert es mich. Unter seinen Handschuhen fühlte er den warmen Schweiß, während er seine Pistole umklammerte.

»Aber was soll’s, ich hab euch kommen sehen. Hab alles geregelt, meine letzte Pussy hatte ich heute Morgen, letzten Drink vor zehn Minuten … also, bringen wirs’ hinter uns«, raunzte Kojiro und reckte ihnen sein Kinn entgegen.

Nachdem einige Sekunden vergangen waren, zeigte er ein Grinsen an seinen Mundwinkeln. »Auf die Tour also«, sagte er ruhig. Er fixierte Kudo und zeigte seine Zähne. »Ich fühle mich geehrt, so ein Aufwand meinetwegen.«

»Los, geht«, sagte Kudo schnell, und als Gunji und Takanobu sich daran machten, das Sofa zu umkreisen, und Kudo seine Augen zusammenkniff, sah er zu spät das kleine grüne Objekt in Kojiros gesenkter rechter Hand, die er nun hinter seinem Oberschenkel hervorgebracht und mit einem klickenden Ton entschärft hatte.

Der Blitz war so grell, dass Kudo den zeitgleich schallenden Knall gar nicht wahrnahm, und als er wieder klar sehen konnte, nachdem er hintenüber gefallen war, war Kojiro nicht mehr auf dem Sofa.

»Gottverdammt, Blendgranate!«, zischte er, und sah Takanobu neben sich ebenfalls wieder auf die Beine kommen, und hinter ihm die braune Tür in das Nebenzimmer, die nun fest verschlossen war. Gunji sprang auf. Takanobu griff in seinen Werkzeugkasten und trat mit einem Vorschlaghammer auf die Tür zu.

»Nicht!, verdammt, es muss wie Selbstmord aussehen!«, zischte Kudo.

»Scheiße, das Arschloch wartet mit gezückter Waffe da drinnen auf uns«, raunzte Takanobu.

Da hast du leider recht, dachte Kudo. »Gunji«, sagte er und trat beiseite, um ihn an das Schloss zu lassen, während er und Takanobu mit gezückten Pistolen dastanden.

***

Mehrere Minuten waren vergangen, in denen Kudo außer dem Rascheln und Scheppern von Gunjis Schlüsseln und Feilen vor allem seinen eigenen Herzschlag in seinen Ohren hämmern hörte. Als das Klicken des Schlosses schließlich laut und kalt im Raum ertönte und Gunji sich zu ihnen drehte, fiel Kudo das Einatmen sehr schwer, und als er sich bewusst wurde, dass Kojiro wohl mindestens einen von ihnen erwischen würde, war er froh, dass sie nicht genug Zeit zum Nachdenken hatten, und er trat auf die Tür zu und fühlte Takanobus Hand auf seiner rechten Schulter.

Mit Schwung riss Kudo die schwere Tür auf und trat hindurch, und als er weder Kojiro sah, noch den dumpfen Schlag einer in seine Brust eindringenden Kugel spürte, wandte er sich verwundert nach links, nachdem er in den Raum trat, immer noch mit dem Gedanken »wenn ich er gewesen wäre, hätte ich an der Tür auf uns geschossen«, und ein Zucken durchdrang mit einem Mal seinen Körper, so stark, dass ihm der Blitz der Blendgranate vor einigen Minuten nun schwach erschien. Gunji und Takanobu stellten sich neben Kudo, und zu dritt blickten sie auf das Bild, das sich vor ihnen auftat: Kojiro Tatsuoka lag mit einer schallgedämpften Pistole in der Hand in der Mitte des leeren Zimmers mit einer bluttriefenden Schusswunde in der Schläfe. Die rote Lache neben seinem Kopf wurde beständig größer, und hob sich deutlich von dem hellbraunen Parkettboden ab.

»So ein Trottel«, hörte er Takanobu neben sich sagen. »Ich an seiner Stelle hätte mindestens zwei von uns erwischt.« Gunji sah ihn an. »Und von wegen Fighter. Wirft zwischen den Runden das Handtuch.« Er bückte sich zu Kojiros Leiche und begann, die Taschen seines Anzugs zu durchsuchen. Nach und nach legte er den Inhalt auf den Boden neben sich. Es war nicht viel. Ein goldenes Feuerzeug, ein in einer goldenen Klammer zusammengehaltenes Bündel Geldscheine, sowie ein weißes Taschentuch. Während Kudo aus den Augenwinkeln Gunji und Takanobu dabei beobachtete, wie sie weiterhin Kojiros Taschen durchsuchten und anschließend alle Gegenstände wieder dorthin zurücksteckten, wo sie sie gefunden hatten, griff er in seine Jackentasche und holte Makotos Brief hervor. Er hatte ein mulmiges Gefühl. Makotos Brief war sicher zu gut. Er reichte ihn Gunji, der den Umschlag aufklappte, den Brief entnahm, und Brief und Umschlag in Kojiros freie rechte Hand legte und daran auf- und abgleiten ließ, wobei er hin und wieder dessen Finger auf einige der Stellen auf dem Papier drückte. Dann faltete er den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag, und diesen schließlich in Kojiros Jackentasche.

»Lass uns gehen. Das Drama war umsonst, wenigstens wars einfacher als gedacht«, raunzte Takanobu. Gunji blickte erleichtert und richtete sich auf. »Was vergessen?«, fragte er, während sie zu dritt auf Kojiro blickten.

»Nix, oder?«, sagte Takanobu und drehte sich in Richtung Tür. Als Gunji sich ebenfalls in Richtung Tür drehte, sagte Kudo: »Wartet.«

»Was? Irgendwas übersehen?«, fragte Gunji.

»Hier stimmt irgendwas nicht.«

»Was meinste damit?«, sagte Takanobu.

»Das macht überhaupt keinen Sinn. Das Ganze hier. Es macht überhaupt keinen Sinn für Kojiro, das alles so zu tun. Die Blendgranate, dann in dieses Zimmer, nur um sich selbst zu töten.«

»Du hast diesen Holzkopf doch gehört, natürlich macht es keinen Sinn. Wär’ umgekehrt komisch, wenn es Sinn machen würde. Ich kenn diesen ranzigen Kauz zwar nicht, aber so helle ist er nicht. Zu viel getrunken und geraucht, tickt nicht mehr richtig«, sagte Takanobu.

»Aber genau das ist es«, sagte Kudo. »Ich kenne ihn. Er würde nie so …« Und mit einem Mal rief er sich Kojiros Worte von der Couch ins Gedächtnis, weißt du, warum du hier bist, Oberaffe, ich sehe einen Fighter, wenn ich ihn seh’, verstehste Mann … und dazu die Blendgranate, die Sonnenbrille, seine Kappe, durch die hindurch er sich in die Schläfe geschossen hatte. Ihm stockte der Atem. »Das ist eine Falle«, sagte er.

»Was? Red’ keinen Scheiß«, sagte Takanobu.

»Ich meine, er will uns verarschen. Hier stimmt was nicht. Er hat uns ein Theater vorgespielt.«

»So’n …«

»Doch, gottverdammt, wir haben was übersehen.« Kudo drehte sich hektisch um. »Durchsucht das Zimmer. Beide Zimmer. Geht vorsichtig vor, nehmt eure Masken nicht ab, alles mit Vorsicht anfassen.«

In ihren Augen sah er Unwillen.

»Los, macht schon, gottverdammt!«

Gunji drehte sich um und ging zurück in das Wohnzimmer. Takanobu folgte ihm langsam. Kudo blickte sich um. In diesem Zimmer stand nur ein überdimensionaler Kleiderschrank mit spiegelbezogener Schiebetür. Hoffentlich bin ich nur paranoid, dachte Kudo, als er auf den Schrank zutrat, um ihn zu durchsuchen.

***

Der Geschmack von Sake lag warm auf seiner Zunge, als Kudo seine Zigarette an den Mund führte und einen tiefen Zug nahm. Mit zurückgelegtem Kopf saß er auf seiner Couch und starrte an die Decke. Im Augenwinkel flimmerte der Fernseher stumm vor sich hin, und schemenhaft hoben sich die drei leeren grauen Sake-Tonkrüge vom dunklen Braun des Couchtisches ab. Kudo schloss einen Moment die Augen, um der Stille zu horchen, und versuchte, einige Klänge der Tokioter Nacht vor den Fenstern einzufangen. Es war nichts zu hören außer dem Knistern der Zigarette in seinem Mundwinkel, an der er ab und an zog.

Zwei Stunden lang hatten sie Kojiro Tatsuokas Wohnung durchsucht, obwohl Kudo bereits nach zehn Minuten einen weißen Umschlag in der Nische zwischen Kleiderschrank und Wand gefunden hatte, den er mit einem Kugelschreiber herausgefischt hatte, immer noch mit dem Unglauben, dass hinter Kojiros plumper Maske so etwas wie Kalkül stecken konnte. Gunji und Takanobu hatten Wohnzimmer und Bad durchsucht, während Kudo durch alle Kleider im Schrank gegangen war. Beim Anblick der vier schwarzen Baseballmützen, alle mit demselben Schriftzug versehen, sauber aufgereiht an der Kleiderstange, hatte sich Kudo ein kurzes Lachen nicht verkneifen können. Er hatte Kojiro in all den Jahren nie ohne diese Baseballkappe gesehen. Das Rätsel war gelöst. Jeden Winkel und jede Nische hatten sie durchsucht, und als Kudo Gunji und Takanobu im Wagen den Briefumschlag gezeigt hatte, den er in Kojiros Wohnung gefunden hatte, hatten sich ihre grimmigen Mienen aufgehellt. Sie hatten die ganze Fahrt über nicht gesprochen, was Kudo als stumme Einsicht wertete. Nachdem sie sich in einer ihrer Garagen in der Nähe von Kabukicho, dem größten Rotlichtviertel Tokios und dem Hauptsitz ihrer Familie, umgezogen hatten, hatten sie sich zum Abschied tief verbeugt.

Nun, da Kudo in seinen eigenen vier Wänden saß, betrunken von teurem Sake und entspannt rauchend, kamen ihm die Szenen des heutigen Abends wie ein langer Film vor. Kojiro Tatsuoka, wie eine Karikatur seiner selbst, seine mittellangen grauen Haare unter seiner Baseballkappe mit dem Forever-Young-Schriftzug hervorquellend, die nach unten verzogenen Mundwinkel unter seiner Sonnenbrille, im grauen Anzug auf den Tod wartend, der in Form eines einstigen Weggefährten gekommen war. Kudo hatte selten mit ihm gesprochen, aber ihn häufig gesehen, und in der Unbeholfenheit, die Kojiro immer an den Tag gelegt hatte, war für Kudo immer klar gewesen, dass dieser Mann wohl mit einer übergroßen Portion Glück und einem wohlwollenden Schicksal gesegnet gewesen sein musste, denn es war ihm immer ein Rätsel gewesen, wie ein solch plumper Mensch sich zum Dreh- und Angelpunkt von landesweit übertragenen Kampfsportevents hatte mausern können. Kojiro war es gewesen, der die Geschäfte mit den großen Privatsendern eingefädelt hatte, und der Gedanke, wie er mit den Managern der Fernsehanstalten Deals abwickelte, war ihm absurd angesichts seines ungehobelten Auftretens. Aber zuletzt hatte ihn sein Glück verlassen, denn als ein Reporter seine Kontakte zu den Yakuza-Familienclans aufgedeckt und veröffentlicht hatte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Fernsehanstalten die Verträge mit ihm gekündigt hatten. Das Geld, das ihm geblieben war, war genug gewesen, um in Saus und Braus zu leben, aber nicht genug, um die Kredite mit Zinsen bei den Familienclans zurückzuzahlen. Nun saß Kudo nach getaner Arbeit auf seiner Couch mit Kojiros Abbild im Kopf. Werd’ ich wohl nie wieder vergessen können. Aber das Schicksal schert sich nicht um deine Gefühle, dachte er. Und wer glaubt, dass es irgendjemandem nützt, dass du deine Taten bereust, der ist nichts als ein naiver Wohlstandsapostel, ein gefangenes Tier im Käfig, das regelmäßig gefüttert wird und über seine jagenden Artgenossen in freier Wildbahn die Nase rümpft.

Er dachte zurück an jene kalte Winternacht als Student im dritten Semester, kurz nachdem er mit seinem Vater gebrochen hatte und er sein Elternhaus für immer verlassen hatte. Ihm war schnell das Geld ausgegangen, und das Einzige, was größer gewesen war als sein Hunger, war sein Stolz gewesen, und die Erinnerung an die Worte seines Vaters. »Du wirst wieder zurückgekrochen kommen, du Nichtsnutz, das garantier ich dir.«

Als er in jener kalten Januarnacht im Männerwohnheim in seinem winzigen Zimmer gefroren hatte und der Hunger in seinem Bauch so groß gewesen war, dass er nicht hatte schlafen können, hatte er verstanden, dass moralisches Denken nicht mit den richtigen Regeln im Kopf, nicht mit dem rechten Gefühl im Herzen, sondern mit einem vollen Bauch begann. Zwölf Jahre Schule und zwei Jahre Universität waren mit einem Mal nur bedeutungsloses Geschwafel gewesen, und Kudo hatte begriffen, dass jemandem, der noch nie Hunger und Kälte ohne jegliche Hoffnung auf Milderung erfahren hatte, eine grundlegende menschliche Erfahrung fehlte, denn in der Not war der Mensch dem Tier am nächsten. Wer noch nie in so einer Situation war, kennt sich selbst nicht, das wusste Kudo. Es war ein bisschen so wie als Jungfrau, Sex und Gewalt sind grundlegende Erfahrungen für den Menschen. Das Erste kann selbst der letzte Idiot für ein paar zehntausend Yen haben, aber an das Zweite wagt sich keiner ran, der nicht unbedingt muss. Kein Wunder, dass es heutzutage so viele naive Trottel gibt. Was soll‘s, macht uns die Arbeit einfacher.

Nun, ausgestreckt auf der Couch in seinem vornehmen Apartment, kam ihm diese Zeit als armer Student immer noch so deutlich vor wie gestern, die Momente seines Lebens waren so intensiv gewesen durch Armut und Einsamkeit, dass sie sich in sein Gedächtnis gebrannt hatten wie Narben auf junger Haut. Nie war er über den ersten warmen Tag des Jahres so froh gewesen wie nach diesem ersten Winter, in dem er auf sich alleine gestellt gewesen war. Das warme Gefühl auf seiner Haut und in den Lungen, die Freude über die frühe Morgensonne, die während seiner Arbeit als Zeitungszusteller die Wolken durchbrach, und wie er nach getaner Arbeit die Straßenseite wechselte und einen Umweg in Kauf nahm, um auf sonnenbeschienenen Wegen zur Vorlesung gehen zu können. Schritt für Schritt, Yen um Yen, Mahlzeit um Mahlzeit, war er damals den Weg weitergegangen, dürr, hungrig, und mit der kalten, hungergetränkten Grimmigkeit, von der er erst sehr viel später gemerkt hatte, dass sie es war, die ihn in schwierigen Momenten, wie vor einigen Stunden in Kojiros Wohnung, die Ruhe bewahren ließ.

Seine Kommilitonen an der Sportuniversität hatten ihm zunächst misstraut, als sein Bruch mit seinem Vater die Runde machte. Ein Budoka, der seine eigenen Eltern nicht respektierte, war geistig defekt, auch wenn er körperliche Leistung zeigte. Selbst die Dozenten hatten nach einer Weile nichts als mahnende Blicke für Kudo übrig gehabt, und Mori-Sensei, der Meister und Trainer des Karateteams, Kudos Hauptdisziplin, führte sogar ein Gespräch unter vier Augen mit ihm.

Bis heute war Kudo ihm dankbar, denn er war der Einzige gewesen, der bereit gewesen war, ihm zuzuhören, bevor er über ihn urteilte. Er hatte nur stumm genickt auf das, was Kudo über das zerrüttete Verhältnis zu seinem Vater erzählt hatte, und wie immer hatte man ihm nicht ansehen können, was er empfand.

Die misstrauischen Blicke seiner Kommilitonen hatte er nach einer Weile kaum mehr wahrgenommen, und als er im letzten Semester beim Karate-Turnier der Universität das Finale erreicht hatte, hatten sie mit verhaltenem Respekt geklatscht, als er auf die Matte getreten war.

Der finale Kampf des Turniers war nach dem ersten warmen Tag des Jahres seit seinem Auszug die intensivste Erinnerung, die er aus seiner Studienzeit hatte. Instinktiv und doch taktisch ein Leben lang eingeübte Bewegungen im Angesicht des Gegners auszuführen war eine Sache, aber dies müde und unterernährt zu tun, machte es für Kudo mehr zum Kampf als zum Sport. Er erinnerte sich noch genau an den Moment, an dem sein Gegner auf die Matte trat: Yoshihiro Sakamoto war 1,85 cm groß, die Brust lag breit unter dem Kragen seines Gi, der weiße Stoff spannte sich über seinen muskelbepackten Schultern. Damals hatte Kudo geglaubt, eine leichte Erschütterung gespürt zu haben, als Yoshihiro auf die Matte getreten war, und im aufrechten Gang, den vorwärts gerichteten, Kudo fixierenden Augen, und der unter einer konzentrierten Miene verborgenen, aber gut spürbaren Kampfeslust, war für alle Anwesenden in der Sporthalle offensichtlich gewesen, dass hier ein Mann in der Blüte seines Lebens vor Kudo stand. Nur hungrige Löwen bekämpfen einander, hatte Kudo damals gedacht, und in die skeptischen Gesichter der Zuschauer geblickt, die sich angesichts des offenkundigen körperlichen Unterschieds zwischen Kudo und seinem Gegner vielleicht fragten, wie dieser dürre, blasse und erschöpft dreinblickende Junge es ins Finale geschafft hatte. Aber sie sahen bald, dass ein in die Enge getriebenes Tier Risiken eingeht, die die eigene Sicherheit komplett ignorieren, darauf erpicht, sich selbst zu opfern, nur um seinen Gegner schaden zu können. Kudo hatte gekämpft wie einer, der zwei Verlierer sehen will anstatt einen Gewinner, und als er nach der ersten Minute des Kampfes mehrere gute Treffer gelandet hatte, ging das Raunen der Menge in vereinzelte Jubelschreie über, so hell und klar, die ersten an Kudo gerichteten wohlmeinenden Töne seit Jahren, sie hallten nach in seinem Herz und füllten seinen triefenden Zorn nur umso mehr, und wie er keuchend und zuckend, ohne jegliche Form und Agilität, mehr gehetzt und nervös, um den einen ganzen Kopf größeren Yoshihiro herumtanzte und nach mehreren Täuschungen aus einer plötzlichen Seitwärtsbewegung heraus einen Schlag mitten unter dessen Brust anbrachte und er sein keuchendes Ächzen hörte, da hatte Kudo für einen Moment jenes blutleckendes, den Körper durchdringendes Gefühl der reinen, ungehemmten und rohen Gewaltlust in den Adern, das er seit diesem Tag immer wieder begehrte.

Er hatte nie zur unkontrollierten Gewalt geneigt, sich nie geprügelt, seitdem er mit Karate angefangen hatte, nie seine Hand gegen eine Frau erhoben, und doch war der rohe Geschmack der Gewalt wie die ersten Intimitäten als Teenager mit einem Mädchen gewesen. Der enthemmte Trieb des Herzens, gegen das der Kopf nur ein naiver Junge war.

Eine halbe Minute vor Schluss des Kampfes war Kudo damals klar nach Punkten vorne gelegen, und Ungläubigkeit lag in Yoshihiros Gesicht, als dieser mit zusammengekniffenen Augen und seiner ganzen rohen Kraft in die erhobene Deckung dieses kleinen, beweglichen Ziels hineintrat, und das knackende Geräusch des brechenden Knochens, der die Halle durchdrang, hatte sie beide für einen Augenblick innehalten lassen, und Kudo hatte sofort zum Gegenschlag ausgeholt, als ihm der linke Oberarm im rechten Winkel oberhalb des Ellbogens einknickte und sich das Weiß seines Gis mit rotem Blut vollsog. Die hohen Schreie eines Mädchens aus dem Publikum in seinen Ohren, war Kudo weiter auf Yoshihiro zugegangen, als ihm dieser mit der offenen Hand vor die Stirn stieß. »Was machst du da, du Idiot, siehst du das nicht.« Und Kudo hatte innegehalten und gesehen, und das war das Ende des Kampfes gewesen, Sieg durch technischen K.O. für Yoshihiro Sakamoto, das war alles, woran er auf dem Weg ins Krankenhaus und die ganzen schmerzhaften nächsten Wochen gedacht hatte, in denen er mit gipsbeschwertem Arm durch die Hallen der Universität schritt und die Kurse des letzten Semesters besuchte.

Dann, an jenem kalten Abend im März, zwei Wochen vor der Abschlussfeier, hatte Kudo die Begegnung gehabt, die sein ganzes Leben verändert hatte. Sie war der Grund, warum er nun hier auf der Couch seines Apartments im siebzehnten Stock saß und um zwei Uhr morgens Sake in sich hineinkippte und eine Zigarette nach der anderen rauchte, um Kojiro Tatsuokas Anblick zu vermeiden, der ihn im Schlaf heimsuchen würde.

Die alljährliche Feier von ehemaligen Absolventen wurde an der Universität ausgerichtet, bei der die zukünftigen Absolventen als Kellner und in der Garderobe für den guten Verlauf der Feier zu sorgen hatten. Gemäß der Tradition war der Gewinner des jährlichen Karateturniers, Yoshihiro Sakamoto, als einziger Gast des neuen Jahrgangs eingeladen worden, gemeinsam mit den Absolventen aus den vergangenen Jahrzehnten anzustoßen. Entgegen der Tradition hatte man zum ersten Mal auch den Zweitplatzierten eingeladen, und Kudo hatte die irritierten Blicke der Burschen am Empfang auf sich gespürt, als er die Karte mit der Einladung des Präsidenten der Ehemaligenvereinigung vorgezeigt hatte. Steif und verlegen hatte er sich verbeugt, und darauf geachtet, mit seinem Gips niemanden anzustoßen, als er durch die Menge geschritten war. Die Atmosphäre der strengen Hierarchie unter den Studenten der Sportuniversität war auch unter den Ehemaligen deutlich zu spüren, sie durchdrang jede ihrer Handlungen. Jüngere Kohai schenkten ihren älteren Senpai Bier nach, Absolventen mittleren Alters stellten sich älteren Herren mit tiefer Verbeugung und förmlicher Redeweise vor, sprachen in Honorarform mit ihnen, schwiegen, wenn mit ihnen gesprochen wurde, gaben Feuer, sobald sich einer der Älteren eine Zigarette ansteckte.

Als Kudo sich verloren umblickte, traf sein Blick sich mit dem von Yoshihiro Sakamoto, den er seit dem Turnier nicht mehr gesehen hatte. Verlegen hielt dieser inne, und ein kurzes Zucken schien ihn zu durchfahren. Er war nicht zu übersehen. Seine groß gewachsene Gestalt überragte die meisten der anwesenden Gäste, und selbst in Anzug und Krawatte wirkte er auf den ersten Blick wie ein Sportler. Kudo hatte überlegt, auf ihn zuzugehen, als er eine Hand auf seinem rechten Arm spürte.

»Yasuhiro Kudo?«

»Ja, jawohl«, sagte Kudo hektisch, als er sich umdrehte. Vor ihm stand ein untersetzter Mann mit grimmigem Blick. Er hatte seine fleischige Hand immer noch auf Kudos Arm gelegt. Neben ihm stand ein dürrer, aber hoch gewachsener Mann mit welligem Haar und Schnurrbart, der Kudo ebenfalls anblickte.

»Okada Ryozo will mit dir sprechen«, sagte der Kleine.

»Jawohl«, antwortete Kudo, und war zugleich verlegen, da er nicht wusste, wer dieser offenkundig wichtige Mann namens Okada Ryozo war. Er folgte den beiden durch die Menge. Kurz bevor sie den Rand der Getränkeausgabe erreicht hatten, drehte sich der Kleinere der beiden kurz zu Kudo um und sagte: »Sprich Keigo-Honorarform mit ihm.«

»Jawohl«, nickte Kudo, und dann drehten sich die beiden um, gingen zu einer Gruppe von etwa sieben Leuten, die um einen Mann am Rande der Bar herumstanden, sagten ihm leise etwas ins Ohr und deuteten auf Kudo. Der Größere der beiden machte eine winkende Bewegung. Kudo trat heran und verbeugte sich.

»Es ist mir eine Ehre, Okada-Sama. Mein Name ist Yasuhiro Kudo.«

»Das weiß ich«, sagte Okada. »Ich habe deinen Kampf beim Turnier gesehen«, sagte er und klopfte auf Kudos Gips. Er hatte das förmliche, biedere Aussehen eines langjährigen Firmenangestellten, doch seine direkte Redeweise sowie seine ausladenden Bewegungen passten nicht so ganz dazu. Sein Haar war voll, aber tiefgrau, und ließ ihn älter erscheinen, als er beim näheren Hinsehen war. Unter ernsten, konzentrierten Augen blitzte für einen kurzen Moment ein verschmitztes Lächeln auf, das sogleich wieder unter seinen nach unten gezogenen Mundwinkeln verschwand. »Du hast dich da gut geschlagen für einen, der einen Kopf kleiner und zehn Kilo leichter ist als sein Gegner. Sag mir, als du da auf der Matte gestanden bist und Yoshihiro Sakamoto dir gegenübergetreten ist, hast du da geglaubt, dass du ihn besiegen kannst?«

»Ich habe gewusst, dass ich ihm viel Schaden zufügen kann.«

»Schaden zufügen? Und was ist mit gewinnen?«

Kudo hielt inne. Dann sagte er: »Ich habe gewusst, dass ich ihm so viel Schaden zufügen kann, dass sich selbst ein Sieg wie eine Niederlage für ihn anfühlt.«

Es schien die Gruppe zu amüsieren, und Okada lachte verhalten.

»Schaden zufügen, hm? Nicht schlecht, hört man nicht jeden Tag so … weißt du, warum du heute hier bist?«

»Herr Haneda, der Präsident der Ehemaligenversammlung, hat mir eine Einladung geschickt …«

»… auf meine Anweisung hin«, unterbrach ihn Okada. »Wir haben damals zusammen studiert. Ich habe deinen Kampf gesehen und fand, dass du es verdient hast, mit den Ehemaligen anzustoßen. Und ich wollte mit dir reden.«

Es herrschte einige Sekunden lang Stille und Kudo wurde verlegen. »Vielen Dank, ich …«

»Spar dir das Gefasel, Junge«, fuhr Okada fort. »Kommen wir gleich zur Sache. Ich bin hier, weil ich dir anbieten will, als Bodyguard für uns zu arbeiten.«

Kudo hielt einen Moment inne. Dann fragte er: »Als Bodyguard, ich fühle mich geehrt, aber ich bin nicht besonders groß, und immer noch sehr dünn.«

»Du bist zäh, hast einen hellen Verstand und bist aggressiv. In den Körper eines Mannes kannst du in deinem Alter noch hineinwachsen. Aber uns kommt es mehr auf den schnellen, wachen Geist eines Kämpfers an als auf seine Statur. Und den Geist eines Kämpfers hast du.« Okada deutete auf Kudos vergipsten Arm.

»Wen soll ich denn beschützen, wenn ich als Bodyguard arbeite?«, fragte Kudo. Die Antwort darauf, die so selbstverständlich, laut und ohne Zögern kam, blieb ihm noch heute in Erinnerung: »Unseren Oyabun, das Oberhaupt unserer Familie.«

Warum ist man eigentlich immer am ehrlichsten mit sich selbst, wenn es einem schlecht geht?, dachte Kudo nun und nahm einen weiteren tiefen Zug aus seiner Zigarette. Im Angesicht von Not und Elend stehen wir ehrlich und unmittelbar vor dem täglichen Kampf, sodass wir seiner Herausforderung gerecht werden. Yoshihiro war satt und es ging ihm gut, und deswegen hätte ich ihn damals fast geschlagen, kam es ihm nun. Meine Stärke war der Hunger in meinem Bauch und die Ausweglosigkeit in meinem Kopf gewesen.

Wie er sich bewusst wurde, dass sein Vater ihm Ähnliches von frühester Kindheit an gesagt hatte, stieß es übel in ihm auf. »Der Weg aus der Armut heraus macht einen Mann«, hatte er immer gepredigt, und häufig auf seine Worte seine Fäuste folgen lassen, wenn er den Eindruck hatte, bei Kudo nicht durchzukommen mit bloßem Reden. Kudo beruhigte sich. Im Vergleich zu Kojiros Anblick, zuerst ruhig auf der Couch in seiner Wohnung sitzend, so wie Kudo jetzt, und dann tot in seinem eigenen Blut liegend, war der Gedanke an seinen Vater gar nicht so schlimm. Am Ende hat er wohl recht gehabt, dachte Kudo, und im plötzlichen Fehlen des Zorns beim Gedanken an seinen Vater war er nun ehrlich zu sich selbst. Sein Vater hatte geglaubt, mit Disziplin und Härte der Armut, in die er und seine Ehefrau hineingeboren worden waren, entkommen zu können. »Für jeden Schritt, den ein Junge aus einer reichen Familie macht, musst du zehn gehen. Für jedes Buch, das ein Kind aus gutem Hause liest, musst du zwei lesen. Für jede Stunde, die ein Schüler aus guter Familie lernt …« Die Geschichte meiner Kindheit. Auf jedes Wort folgen zwei Schläge, war wohl auch eine Wahrheit. Angesichts solcher Drohungen war für Kudo nichts mehr zu vermissen gewesen, als er sein Elternhaus mit Schimpf und Schande verlassen hatte, weil er sich weigerte, dem Willen seines Vaters nach Lehrer zu werden. Das sei der einzig anständige Beruf, den der Sohn eines Ledergerbers erreichen könne, hatte sein Vater immer gepredigt. Keine Firma würde einen Sohn einer Burakumin-Familie anstellen, aber bei Beamtenberufen müssen alle Kandidaten gleich behandelt werden, zumindest offiziell. Aber lass dir ja nicht einfallen, dich bei Schulen in vornehmen Stadtteilen von Tokio zu bewerben, bleib hübsch in den Industriegegenden und auf dem Land, und du hast eine ehrliche Chance.

Wer gesagt bekommt, dass Lehrer in einem Kleinstadtkaff der einzig gute Beruf ist, den er haben kann, und alle anderen Wege einem verschlossen sind, der hat keine wirkliche Chance, hatte Kudo damals als Student gesehen. Weil einer meiner Vorfahren vor mehreren hundert Jahren zufällig den Beruf des Ledergerbers erlernt und ihn an seine Nachkommen weitergegeben hat, die fortan alle mit totem Gewebe arbeiteten. Das reichte in der buddhistischen Tradition Japans aus, um als unberührbarer Burakumin angesehen zu werden und das Ziel totaler Ablehnung zu sein, die so starr und endgültig war wie gegossenes Eisen.Zwar lebten die Burakumin nicht mehr in Ghettos und hatten zumindest theoretisch die gleichen Rechte wie andere Japaner, und doch war der religiöse Makel auf Kudos Familie unauslöschlich für all seine Vorfahren und all seine Nachkommen. Firmen bezahlten viel Geld, um Register zu erwerben, in denen die Namen und Adressen von Burakumin verzeichnet sind, um sie bei der Bewerbung auszusieben, und mit vier hochgehaltenen Fingern lästerten Menschen verächtlich über sie, die Tiere, die nicht wie Menschen auf zwei Beinen gehen. Wir sind der Abfall, der einst von den sauberen japanischen Städten in die Ghettos getrieben wurde. Ein Mensch wie ich ist eine Beleidigung für jeden Normalbürger, noch bevor ich meinen Mund öffne.

In jeder von Kudos Handlungen hatte bis zu diesem Zeitpunkt eine Spur verzweifelte Getriebenheit gesteckt, eine Art permanente Überdehnung all seiner Kräfte. Seine Schuluniform immer makellos, vom Vater jeden Morgen kontrolliert, perfekte Umgangsformen, eingedrillt in stundenlanger Übung, höfliches Japanisch, dem jeglicher Jugendslang fehlte, unter Androhung des vorschnellenden Handrückens des Vaters, und doch hatte sich Kudo in all seiner Perfektion immer gefühlt wie ein Schauspieler, der seine Rolle zwar glaubwürdig, aber widerwillig spielt.

Als Einziger seines Jahrgangs war Kudo damals als Student im dritten Jahr nicht auf Jobsuche gegangen, da er weder auf das Geld seines Nebenjobs verzichten konnte, um zu Vorstellungsgesprächen gehen zu können, noch die jahrelang eingetrichterten Worte seines Vaters ignorieren konnte, dass man als Burakumin bei Firmen nicht den Hauch einer Chance hatte. Während er im vierten Jahr seine Kommilitonen um sich herum zunehmend von Jobangeboten und Firmenzusagen hatte reden hören, war er schlicht seiner täglichen Routine nachgegangen, die ihm ohnehin kaum Zeit zum Nachdenken ließ. In einem Moment der Ruhe in der Woche vor der Abschlusszeremonie der Zeugnisverleihung, kam ihm das Angebot, als Bodyguard für den Paten einer Yakuza-Familie zu arbeiten, wie die einzige Chance vor, die man ihm gegeben hatte.

Im großen Auditorium der Universität hatten sich damals die Eltern versammelt, und Kudo hatte erleichtert festgestellt, dass sein Vater nicht erschienen war. Aber ein Gesicht stach heraus aus der Menge der Eltern, zu der auch seine glückliche, aber nachdenklich dreinblickende Mutter gehört hatte. Okada Ryozo sah so unauffällig aus wie ein normaler Familienvater, und doch lag in seinem Blick eine abgebrühte Konzentriertheit, die Erfahrungen erahnen ließen, die weit über denen von Normalbürgern hinausgingen. Kudo war aufrichtig verlegen, als Okada ihm nach der Zeugniszeremonie gesagt hatte, dass er wegen ihm gekommen war. »Überleg dir unser Angebot gut.« Hatte er ihm im Anschluss gesagt. »Bei uns gibt es lebenslange Anstellung, ohne Option auf frühzeitige Pensionierung.« Und dann, unter vier Augen, etwas abseits der Menge: »Weißt du, traditionell werden oft die Gewinner des jährlichen Karate-Turniers von Yakuza-Familien angeworben. Aber wir wollten dich, nachdem wir dich kämpfen sahen.«

Ob sie Yoshihiro Sakamoto auch ansprechen würden, hatte Kudo verlegen gefragt, und Okada hatte verschmitzt gelächelt: »Nein, aber er wird sicher ein gewissenhafter Polizist werden.«

Oft macht einem der Mangel an Optionen das Leben leichter, fand Kudo. Oyabun Shiro Takeda war ein hitzköpfiger Mann von kleiner Statur und mit stechendem Blick, aber weniger jähzornig als sein eigener Vater, was Kudo sehr erleichterte. Bei seinem Sakazuki-Ritual mit ihm, bei dem sie zu zweit aus einer Schale Sake tranken und damit seinen Eintritt in die Familie besiegelten, saß Wakagashira Okada Ryozo in der ersten Reihe und verlas die Ritualfloskeln.

Es stellte sich heraus, dass Oyabun Shiro Takeda nicht der leibliche Sohn von Familiengünder Shinzaburo Takeda war, sondern von diesem nach dem Tod seines leiblichen Sohnes an einer alkoholbedingten Leberzirrhose adoptiert worden war. Nun führte er das tägliche Geschäft der Familie, und Kudo wich ihm nicht mehr von der Seite. Das heißt, mit Ausnahme der insgesamt fünf Jahre, die Kudo seit Eintritt in die Familie im Gefängnis verbracht hatte. »Tritt ein in die zweite Heimat der Anikis, deiner Brüder, verbring ein paar Jahre hinter hohen Mauern und leb’ vom Fraß der Regierung, der Weg durch das Gefängnis macht dich vom Jungen zum Mann«, hatte ihm Shiro Takeda nach seiner ersten Verurteilung wegen Körperverletzung mitgegeben, nachdem Kudo auf seine Anweisung hin einen Bordellbetreiber mit schlechter Zahlungsmoral zu Brei geschlagen hatte. An sich keine große Angelegenheit, wären da nicht der übereifrige Polizist, der unerwartete Zeuge mit schlechtem Verstand und gutem Gedächtnis, sowie der junge, ehrgeizige Staatsanwalt gewesen.

Für Anikis mit niedrigem Rang, hatte Kudo damals feststellen müssen, gab es vor den Launen der Justiz wenig Schutz, und so hatte er sich drei Jahre nach Studienabschluss zum ersten Mal hinter Gittern wiedergefunden. Zu seinem Erstaunen und späteren Ernüchterung war das Leben hinter Gefängnismauern dem Alltag als Student einer Sportuniversität erstaunlich ähnlich gewesen: Man stand früh auf, arbeitete stumm, aß schlecht, duschte kalt, hielt sich fit, war Teil einer alles durchdringenden, strengen Hierarchie unter hitzköpfigen Männern. Er erinnerte sich noch gut an den Tag seiner ersten Entlassung: Als sie ihn um vier Uhr morgens aus dem Tor des Gefängnisses ließen und er hinter sich noch das »Und lass dich hier nie wieder blicken!« der Gefängniswärter sowie das sich scheppernd schließende Eisentor hörte, war er auf der asphaltierten Straße vor dem Gefängnis gestanden und hatte sich gefragt, auf welches hohe Tier die schwarze Mercedes-Limousine wartete, die am Straßenrand geparkt war. Und wie er seine Bandenbrüder wiedererkannt hatte und sie sich vor ihm verbeugt und ihn anschließend in das Haus von Oyabun Takeda gefahren hatten, der ihn mitsamt seiner reizenden Ehefrau zurück in den Schoß der Familie empfing und mit ihm anstieß, da war sich Kudo der tragischen Tatsache bewusst geworden, dass abgesessene Jahre hinter Gittern das Ansehen innerhalb der Familie steigerten und er nach verbüßter Haft in der Hierarchie weiter oben stand als zuvor. Die Karriereleiter nach Yakuza-Art, die er zwar erahnt, bis zu seiner Zeit im Gefängnis jedoch meist ignoriert hatte. Noch so ein Betriebsgeheimnis, von dem man gern vorher gewusst hätte, dachte Kudo nun. Er hatte noch ein weiteres Mal gesessen, und die insgesamt fünf Jahre, die er mit seinen 39 Jahren nun hinter sich hatte, waren zwar nicht besonders viel, aber gerade noch respektabel genug, um auf gebotener Augenhöhe in seinen Kreisen angesehen zu werden.

Zunehmend hatte er nach einiger Zeit mehr und mehr Aufgaben in der Familie übernommen, die nichts mit Personenschutz, Personendrangsalierung oder Personenbeseitigung zu tun hatten. Die älteren Brüder der Familie hatten ihm beigebracht, sich um die geschäftliche Seite der Familie zu kümmern, er hatte gelernt, Bilanzzahlen zu analysieren, Restaurants und Hostessclubs auf Profitabilität hin zu optimieren, Kontakte zu Gewerkschaftsoffiziellen zu pflegen, und bei Immobilientransaktionen den Anwälten der Familie zu assistieren. Nach fast zehn Jahren in der Familie war er mit deren geschäftlichen Machenschaften vertraut genug gewesen, dass er zusammen mit den älteren Kanbu, den höhergestellten Mitgliedern, die Besitztümer und Unternehmen der Familie verwalten konnte, sowie zu der ernüchternden Einsicht gekommen, dass in der modernen Welt der Yakuza ein Abschluss in Rechtswissenschaften und eine bestandene Anwaltsprüfung mehr Wert waren als ein 5. Dan in Karate. Und dennoch hatte Kudo mit Anfang dreißig seine Rolle in der Familie gefunden, hatte seine Zeit im Gefängnis hinter sich gebracht und genug Geld, um als Junggeselle ein respektables Dasein führen zu können.

Wenn das Schiff des Lebens in ruhige Gewässer einkehrt und die Welt vorhersehbar erscheint, merkte Kudo nun, wirft einem das Schicksal Sand ins Getriebe, entzündet den Funken, der bald in Flammen aufgeht. Damals hatte sich das natürlich nicht so angefühlt, sondern wie ein großer Segen zur rechten Zeit.

Es hatte nicht mit einem Lächeln begonnen, sondern mit einem ablehnenden Blick, den sie ihm zuwarf, so offen und direkt aus ihren großen Augen, dass sie sofort herausstach aus der Vielzahl von hübschen Frauen, denen er von Berufs wegen in den Hostessclubs von Tokio begegnet war. Ayami hatte er eine Erwiderung auf seine Begrüßung erst entlocken müssen, durch einige auflockernde, entwaffnende Witzeleien, auf die sie nach anfänglichem abweisendem Blick zögernd eingestiegen war. Hatte sie sich zu Beginn nur der Höflichkeit halber widerwillig verbeugt, und ihm mit einer deutlichen Spur offener Verachtung angesehen, so war er doch über sie und sich selbst erstaunt gewesen, als sie ihm nach einem stockenden, jedoch stetig laufenden Gespräch zögernd ihre Nummer gegeben hatte. Auf ihrem Gesicht hatte er einen Anflug von Unsicherheit gesehen. Sie bereut wohl, sie mir gegeben zu haben, hatte Kudo damals geglaubt, sie wird wohl nicht rangehen, wenn ich anrufe. Aber sie hatte den Anruf angenommen, und Kudo, der fest damit gerechnet hatte, dass die Klingeltöne nie ein Ende nahmen, war fast das Herz in die Hose gerutscht, und er hatte stotternd um Fassung ringend nach einem Rendezvous gefragt. Dass sie zugesagt hatte, war für ihn eines jener unerklärlichen Dinge des Lebens gewesen, die einem angesichts ihrer Absurdität für immer in Erinnerung bleiben. Er, der bis zu diesem Zeitpunkt neben einigen flüchtigen Spielereien noch nie eine feste Freundin gehabt hatte, kräftig aber untersetzt, mit kantigem Kopf, bei dessen Anblick einem Attraktivität nicht in den Sinn kam, und sie, langbeinig hoch gewachsen und genauso groß wie er, mit scharfen, fein ausgeprägten Gesichtszügen und gerader, hoher Nase, Augen, die so groß wie stechend waren und einen konzentriert durchbohrten, und die doch hinter ihrem argwöhnischen Ausdruck eine mühsam unterdrückte Sensibilität verrieten. Größer als seine Begierde nach ihrer Schönheit war seine Neugierde auf dieses forsche Mädchen gewesen, der er bei ihrem ersten Date selbst ein einfaches Lächeln erst mühsam hatte entlocken müssen, und als sie ihn zum ersten Mal offen anlachte, war es ein berauschendes Gefühl, es wie ein seltenes Ereignis nach viel Hinarbeiten und Überwindung zum ersten Mal erleben zu können. Ihr Lachen war so hemmungslos und herzlich, wie ihr erster Blick ablehnend gewesen war, und als Kudo erkannt hatte, dass sie es nur wenigen schenkte, da war es ihm, als ob sie durch ihre Nähe eine bis dahin unentdeckte Seite von ihm hervorgebracht hatte.

Wenn man Einsamkeit gewohnt ist, ist man wie gebannt von der Wucht, mit der sich die Zuneigung eines Menschen entfaltet. Damals wurde ihm bewusst, dass es ein Leben vor ihr gegeben hatte und das jetzige Leben mit ihr ein völlig neues war, in dem er sich wie ein Kind im Dunklen tappend vorwärtstastete. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er geglaubt, dass dies nach dem Bruch mit seinem Vater der Fall gewesen wäre, aber das lag nun schon mehr als zehn Jahre zurück, und die Erinnerung daran wirkte so blass wie die winterlichen Morgen, an denen er damals Zeitungen ausgetragen hatte.

Alles, was sie tat und sagte, war so pur, direkt und offen, dass Kudo in ihrer Nähe jegliche Vorsicht und Hemmung ablegen konnte, zum ersten Mal in seinem Leben. Ihre schlechte Meinung über seinesgleichen hatte sie gleich bei ihrem ersten Abendessen herausposaunt, ungehemmt und mit vorwurfsvollen Rehaugen, die ihn fixierten.

»Ihr Yakuza glaubt, über dem Gesetz zu stehen, ich sehe euch immer, wie ihr durch die Gegend gockelt und glaubt, euch kann keiner was anhaben.«

»Ihr seht jeden, dessen Gesicht euch nicht gefällt, böse an, ohne jegliches Benehmen.«

»Ihr knöpft den einfachen Ladenbesitzern, die hart arbeiten, das Geld ab.«

»Ihr glaubt, dass ihr mit eurer Macho-Art bei Frauen Eindruck schinden könnt. Dabei sehen wir sofort hinter diese Maske. Viele sind in Wirklichkeit Weicheier, die ohne ihre Bandenbrüder gar nichts wären.«

»Und überhaupt, und ihr, und ihr …« Während all dieser Sätze, die zwar entrüstet klangen, die sie aber zu seinem Erstaunen ohne eine Spur von persönlicher Verachtung ihm gegenüber von sich gab, kam es ihm so vor, als ob sie für einen Augenblick seine Mitgliedschaft in einer Familienbande vergessen hatte, und einem normalen Bürger ihr Herz ausschüttete. Und für einen schönen, schmerzhaften Moment war es ihm, als ob er ein normaler Angestellter auf einem Date gewesen wäre, der seine ersten erfolgreichen Schritte durch das Tor des Lebens gemacht hatte und mit den neuen Errungenschaften seiner bürgerlichen Existenz um die Zuneigung einer schönen Frau buhlte.

Denn meine Vorfahren waren Reisbauern, so wie alle anderen auch, und mit dem toten Gewebe hatten sie nie zu tun, nur manchmal erzählten sie sich Geschichten über das weit entfernte Dorf der verstoßenen Burakumin, wo Totengräber, Ledergerber, Schlachter und Henker in schäbigen Hütten hausen und so arm sind, dass sie vom Blut der toten Tiere leben, und jeder, der sie berührt, für immer ihren Schmutz am Körper trägt.

Aber so war es nicht, und Ayami war hier vor ihm, und Kudo war zwar nicht mehr der Sohn eines Ledergerbers, aber nun der Sohn eines Yakuza-Paten.

Sie schien sich des Risikos, vor ihm schlecht über die Familienbanden zu reden, entweder nicht bewusst gewesen zu sein, oder sie hatte es bewusst in Kauf genommen. Den ganzen Abend lang hatte Kudo versucht, herauszufinden, welches wohl zutraf. Und dennoch brachte er sich nicht dazu, direkt danach zu fragen, um von dem Thema weg zu lenken. So direkt, wie sie gesprochen hatte, ging sie auf jede seiner Fragen ein, und in der Offenheit, die so untypisch für japanische Frauen war, lag eine deutliche Spur von Resignation, die in zunehmend entrüsteten Gesichtszügen offen zutage trat, als sie von sich erzählte. Eigentlich würde sie jetzt als Stewardess für Japan Airways durch die Welt fliegen, in schicker Uniform und mit perfekten Manieren. Sie war makellos gewesen, flink und schön und klug, ihr Englisch fließend. Studium an einer angesehenen Universität, Schönheit mit Hirn, so wie es sich als japanische Stewardess gehört. Sie war unter den Top-Kandidatinnen unter den Bewerberinnen ihres Jahrgangs gewesen. Und alles hatte gestimmt, bis auf ihr Elternhaus. Dass von Stewardessen einer japanischen Fluggesellschaft erwartet wird, aus einem etablierten Haushalt mit geordneten Verhältnissen zu stammen, hatte sie zwar gewusst, aber dennoch geglaubt, den mittlerweile durch einen Unfall arbeitsunfähig gewordenen Vater, der einst als Handwerker sein geringes Einkommen verdient hatte, durch Charme und Leistung wettmachen zu können. Wie naiv, hatte Kudo gedacht. Aber in ihrer Stimme war deutlich zu hören, dass sie fest daran geglaubt hatte. Ihre Träume und Ideale gingen nahtlos in die Realität über, und Rückschläge wie die Ablehnung der Fluggesellschaft, mit der Begründung, es fehle ihr als Arbeiterkind an Erfahrung mit gehobenen gesellschaftlichen Umgangsformen, schienen sie eher zu verwundern als zu entmutigen.

Sie hatte auch eine Weile lang gemodelt, aber aufgehört, weil sie nicht mit den Managern der Talentagenturen schlafen wollte. Nun war sie Hostess und leistete den Kunden der Salons schöne Gesellschaft. »Ist gar nicht so anders als Stewardess zu sein«, sagte sie, »man schenkt den Gästen lächelnd Champagner ein, ist immer freundlich und behandelt sie wie Könige, und es ist ehrlicher und anständiger, als Model zu sein. Wir müssen nicht mit den Männern schlafen, nur mit ihnen reden und trinken und über ihre schlechten Witze lachen.«

Ihr hochgewachsener Körper hatte im Laufe des Abends die Spannung aufgegeben und war locker geworden, und als sie ihm lachend spontan an die Schulter fasste, hatte sich ihre anfängliche Abneigung komplett gewandelt, und in den folgenden Wochen hatte Kudo jede ihrer skeptischen Redeweisen Hürde um Hürde überwunden. Ihre aufkeimende Zuneigung war ihm wie der Antritt einer Reise in ein fremdes Land gewesen, denn er hatte nie mit der Liebe einer Frau gerechnet. Und nie hatte er eine Frau so hemmungslos lieben sehen wie Ayami, mit derselben Zügellosigkeit, mit der sie ihm anfangs Argwohn gezeigt hatte.

Nun, allein auf der Couch in seinem Apartment, merkte Kudo, dass das fremde Land, das er zu entdecken geglaubt hatte, Japan gewesen war, von dem bis dahin nichts als Ablehnung und Verschlossenheit zu spüren gewesen war. Mit ihren offenen Armen und ihrem warmen Lächeln war Ayami die Erste, Einzige, Unerklärliche, die ihn angenommen hatte.

Nach jedem Date hatte er die bange Sorge gehabt, dass es das letzte gewesen sein könnte, und ihr Argwohn über ihr Interesse gesiegt hatte. Und als sie doch jedes Mal erschien, spürte er sie zwischen ihrem Lachen und Reden mit sich selbst hadern, sah, wie ihr Zweifel beim Blick in seine Augen in ein sanftes Lächeln zerfiel, und merkte, wie sie sich in ihr neues gemeinsames Selbst hineinfanden und sich gegenseitig überwanden.

Ihre konzentrierten Augen blickten ihn an, so suchend und forschend wie bei ihrem ersten Treffen, ihr schlankes Gesicht hell und glatt unter Kudo liegend, dessen angestaute Spannung und Ungewissheit sich entlud, enthemmt und schamlos seine Kraft ausnutzend und sie überwältigend, bis ihre entsetzte Zuneigung aus ihr herausbrach. Keuchend wand sie sich in seinen Armen und hielt ihn fest bis zum Schluss. Der lange Weg hierher fühlte sich für Kudo an wie sein ganzes bisheriges Leben, das er soeben gemeistert und hinter sich gebracht hatte. Alle Sünden und Fehler waren in diesem einen Moment vergeben, der Bruch mit seinem Vater, die Zeit im Gefängnis, sein tätowierter Körper, seine Mitgliedschaft in einer Familienbande. Im schwachen Morgenlicht hielt sie sich an ihm fest wie um Schutz vor einem unbekannten Bösen suchend. Er trug sie die nächsten Male in seinem Apartment oft in seinen Armen zum Bett, und in der enthemmten Triebhaftigkeit, in der sie sich gehen ließ, war es Kudo, als ob sie durch ihn eine lange, mühsam unterdrückte Seite in sich selbst entdeckte und auslebte. Jedes Mal schien es ihm, dass sie mit schüchterner Schamhaftigkeit auftrat, in der Erwartung, dass er ihre rohe Lüsternheit aus ihr entlockte, als williger Komplize ihrer verborgenen Sehnsüchte, und in ihrem Beisammensein mit ihm, dem am ganzen Körper tätowierten Gangster, erkannte er ihre verzückte Lust, etwas Verbotenes zu tun.

Mit einer Frau an der Seite macht alles einen Sinn, hatte Kudo damals erstaunt festgestellt. Immer mehr dachte er an das Wort »Arbeit«, wenn er an seine Machenschaften in der Familienbande dachte, nahm Informationen schneller auf, merkte, dass Dinge, die früher nebensächlich und banal erschienen, nun relevant waren. Und doch sah er in ihren Augen jenen skeptischen Zwiespalt, der durch kurz aufflimmerndes Lächeln unterbrochen so erotisch wie schmerzhaft schien. Sie wand sich angesichts ihrer Zuneigung zu einem Gesetzlosen, er sah sie mit sich selbst kämpfen und zerrissen in ihrer Ratlosigkeit, sich in seine Arme hineinfliehend wie vor ihrem eigenen Gewissen.

Vielleicht mag sie mich, weil ich das ständige Überwinden so verinnerlicht habe, dass ich es nicht mit Unwillen tue, sondern es als selbstverständlich ansehe, hatte er damals gedacht. Und so überwinde ich deine Hemmungen jedes Mal, wenn du mir deine Hand gibst, um dich zu führen.