Das Meer und ich - Tessa Randau - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Meer und ich E-Book

Tessa Randau

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Finde den Schatz in dir selbst! Eine Frau, Mitte vierzig, steckt in einer Lebenskrise. Sie fühlt sich unattraktiv, wertlos, hat das Gefühl, nichts wirklich Wichtiges im Leben erreicht zu haben. Zusammen mit ihrer Freundin Isa möchte sie sich eine kurze Auszeit auf einer kleinen Insel gönnen. Sie hofft auf gute Gespräche und möchte die Tage nutzen, um endlich ein paar Kilo abzunehmen. Doch leider sagt Isa kurzfristig ab. Enttäuscht fährt sie alleine los. Bei einem Strandspaziergang entdeckt sie eine Flaschenpost mit einer berührenden Botschaft. Zufall, dass sie kurz darauf Lene, die Verfasserin der Botschaft, kennenlernt? Gemeinsam mit ihr macht sie sich auf die Suche nach dem Glück, um es am Ende dort zu finden, wo sie es nie vermutet hätte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 155

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tessa Randau

Das Meer und ich

Wie ich mich selbst wiederfand

Mit Illustrationen von Ruth Botzenhardt

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Henk und Mara,

die besten Geschwister,

die man sich wünschen kann.

1. Tag

Die Botschaft

Ich sah zu, wie eine kleine Welle über meine Füße rollte, sich weiter Richtung Strand ausbreitete und dann langsam wieder zurückzog. Schon seit einer ganzen Weile stand ich hier, beobachtete, wie meine nackten Zehen tiefer in den Sand sickerten, und versuchte, den Moment zu genießen. Leider gelang es mir nicht. In meinen Fingerkuppen spürte ich ein nervöses Kribbeln. »Nur mal kurz nachschauen«, raunte es zum wiederholten Male durch meinen Kopf. Drei Wellen später hielt ich es nicht mehr aus. Meine Hand wanderte zur Gesäßtasche meiner Jeans und fischte das Handy heraus, das ich dort vor meinem Spaziergang hineingesteckt hatte. Ich entsperrte das Display und sah – nichts. Keine Messengernachricht. Keine SMS. Keinen Anruf. Nichts.

Zarte Bindfäden fielen vom Himmel und tropften auf das Display. Ich steckte das Handy wieder zurück und hob den Blick. Der graue konturlose Himmel ging nahtlos in das Grau des Wassers über. Auch der nasse Sand wirkte trist und schmutzig. Die einzige Farbe, die dem Einheitsgrau Paroli bot, war das Weiß der Schaumkronen, die auf den heranrollenden Wellen saßen, meine Füße umspülten und weiter Richtung Land schwappten.

»Schade«, dachte ich. Als ich die Reise gebucht hatte, hatte ich mir alles ganz anders vorgestellt: strahlend blauen Himmel mit maximal ein paar harmlosen Wölkchen. Wärmende Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Und ausgiebige Strandspaziergänge mit meiner Freundin Isa, die ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Doch vor drei Tagen hatte mein Handy geklingelt und eine sehr zerknirschte Isa war am anderen Ende der Leitung gewesen: »Es tut mir so leid, Süße, aber ich kann nicht mitkommen«, murmelte sie und ich konnte echtes Bedauern in ihrer Stimme hören. Doch schon im nächsten Satz war da wieder die Euphorie, die immer mitschwang, wenn Isa über ihre beruflichen Projekte sprach. »Stell dir vor, wir haben endlich das Geld für das Krankenhaus zusammen. Eine alte Dame hat uns ihr ganzes Vermögen vermacht und jetzt muss ich sofort nach Afrika fliegen, um alles für den Bau in die Wege zu leiten. Das Krankenhaus wird so dringend gebraucht. Bitte sei nicht böse.«

Die Absage ließ mich traurig zurück – zu sehr hatte ich mich auf das Treffen mit meiner besten Freundin gefreut. Ich hatte mir schon alles so schön ausgemalt: den Moment an der Fähre, an dem wir uns beide lachend in die Arme fallen würden, Spaziergänge morgens am Strand, bei denen wir stramm, mit roten Wangen am Meer entlangstapfen würden. Nachmittage, an denen wir Seite an Seite im Strandkorb sitzen und in unseren Büchern schmökern würden. Und dunkle Nächte, die wir nebeneinander in unseren Betten bis zum Morgengrauen durchquatschen würden. All das war durch den Anruf zu nichts verpufft.

Doch wie hätte ich Isa böse sein können? Seit wir unser BWL-Studium abgeschlossen hatten, widmete sie sich mit viel Leidenschaft verschiedenen Non-Profit-Organisationen. Zurzeit arbeitete sie für eine Stiftung, die Entwicklungshilfe in Afrika leistete. Ihr Leben war so ganz anders als meins: sie hatte keine Familie, war immer auf dem Sprung und versprühte eine unheimliche Energie und Lebensfreude.

Mein erster Impuls war, die Reise abzusagen. Was sollte ich zehn Tage lang alleine auf der Insel? Aber zum kostenlosen Stornieren war es zu spät. Jochen und die Kinder überredeten mich schließlich dazu, auch ohne Isa zu fahren. »Du hast dir doch früher so sehr gewünscht, einfach mal Zeit nur für dich zu haben«, sagte mein Mann verständnislos. »Entspanne dich und genieß es einfach!«

»Stimmt, Mama«, pflichtete Lara, meine 14-jährige Tochter, ihm bei. »Mach dir ’ne schöne Zeit. Wir kommen auch super alleine klar.«

Ich sah Lara an und fragte mich, wo nur das kleine Mädchen geblieben war, das sich noch vor wenigen Jahren bei jedem Abschied weinend an mein Bein geklammert hatte. Und obwohl mir bewusst war, dass ich mich eigentlich über Laras Worte freuen sollte, versetzten sie mir einen Stich. Niedergeschlagen schlurfte ich ins Schlafzimmer und packte meinen Koffer.

Der Regen hatte inzwischen zugenommen und prasselte nun in großen Tropfen auf mein Haar und meinen Mantel. »Passt doch«, dachte ich. Mehr alleine im Regen stehen, als ich es in diesem Augenblick tat, konnte man wohl kaum. Früher, als die Kinder noch klein gewesen waren, hatte ich auch verregnete Urlaubstage wie diesen geliebt. Wir hatten uns dann zu viert in das Doppelbett unserer Ferienwohnung gekuschelt, Jochen mit der Zeitung und ich mit einem Astrid-Lindgren-Buch auf dem Schoß, aus dem ich meinen beiden vorgelesen hatte. Später ließen wir uns, mit Gummistiefeln und gelben Regenmänteln bewaffnet, den Wind um die Ohren peitschen. Danach gabs Apfelpfannkuchen mit Zucker und Zimt, eine Partie Memory oder Lotti Karotti und heißen Kakao. Doch das war schon eine ganze Weile her. Manchmal kam es mir so vor, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Heute, so ganz alleine auf der Insel, konnte ich dem schlechten Wetter nichts Positives abgewinnen. Im Gegenteil. Es fühlte sich so an, als sei die graue Farbe auch in mein Inneres vorgedrungen. »Warum zieht mich der Regen heute so runter?«, fragte ich mich, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kannte. Es war nicht das Wetter, das meine Stimmung trübte. Es wirkte nur als Verstärker. Denn das Grau in mir war schon länger da. Seit geraumer Zeit breitete es sich aus. Verschluckte die bunten Farben und machte mich traurig, müde und antriebslos.

Ich wandte mich vom Meer ab und lief zu meinen pinkfarbenen Turnschuhen, die einsam und verlassen im Regen standen. Der Strand war fast menschenleer. Nur ganz weit hinten sah ich drei Walker dicht hintereinanderlaufen, die mich mit ihren Stöcken an eine überdimensionale Ameise erinnerten. Ich bückte mich, hob die Schuhe auf und überlegte kurz, ob ich sie anziehen sollte. Aber nicht nur die Schuhe, sondern auch die Socken, die ich in ihren Schaft gesteckt hatte, waren klamm. Ich beschloss, sie erst später anzuziehen, oben an der Promenade auf einer Bank, wo ich vorher noch meine Füße entsanden konnte. Jetzt wollte ich lieber noch ein bisschen unten am Strand entlanglaufen.

Was meine drei zu Hause wohl gerade machten? Jonas, mein 17-jähriger Sohn, hatte heute ein Auswärtsspiel und würde danach bestimmt mit seinen Jungs losziehen. Lara hatte sich wahrscheinlich mit dem Handy in ihrem Zimmer verschanzt, um in Ruhe mit ihren Freudinnen zu chatten. Und Jochen? Der saß entweder an seinem Laptop und arbeitete, werkelte im Garten rum oder frönte einem seiner diversen Hobbys.

Und was tat ich? Ich war auf einer wunderschönen Insel und hatte nichts Besseres zu tun, als mir Gedanken darüber zu machen, womit sich meine Familie wohl gerade beschäftigte, anstatt die Zeit hier zu genießen.

Das Geschrei der Möwen riss mich aus meinen Gedanken. Ein paar Meter weiter kreisten sie am Himmel. Eine von ihnen ging in den Sturzflug und versuchte, einen silbrig glitzernden Fisch im Wasser zu erhaschen. Ein, zwei Mal hackte sie mit dem Schnabel nach ihm, konnte seiner aber nicht habhaft werden. Unverrichteter Dinge erhob sie sich wieder in die Lüfte. Das Glitzern im Wasser blieb. »War es etwa doch kein Fisch?«, fragte ich mich. Ich sah genauer hin, konnte aber nicht erkennen, was dort schwamm. Vielleicht Müll, den irgendein Ausflügler am Strand liegen gelassen und den die Flut mit sich genommen hatte oder der von irgendwoher angespült worden war. Ich seufzte. Warum nur gab es so viele Menschen, die sich offenbar gerne in der Natur aufhielten, es aber nicht für nötig erachteten, sie wieder sauber zu hinterlassen? Ich stellte meine Schuhe ab und bückte mich, um meine Hosenbeine noch etwas höher zu krempeln. Dann watete ich durch das seichte Wasser, um den Müll zu bergen. Als ich näher kam, erkannte ich, dass es sich um eine kleine Flasche handelte, die auf den Wellen hin und her schaukelte. Schon während ich nach ihr griff, konnte ich sehen, dass sich in ihrem Bauch ein Zettel befand. Eine Flaschenpost?

Als Kind hatte ich immer davon geträumt, eine zu finden, und jedes Mal, wenn wir Urlaub am Meer machten, danach Ausschau gehalten. Ich malte mir aus, dass eine Schatzkarte darin steckte, die mein Leben in ein großes Abenteuer verwandeln würde. Natürlich passierte nie etwas Derartiges. Umso überraschter war ich, dass ich nun tatsächlich eine Flaschenpost in den Händen hielt. »Bestimmt haben Kinder sie ins Meer geworfen«, dachte ich, während ich mit der Flasche in der Hand wieder aus dem Wasser watete. Trotzdem war ich aufgeregt und spürte, dass mein Herz ein bisschen schneller schlug. Ich musste über mich selbst schmunzeln. Waren da wieder die Gefühle des kleinen Mädchens, das von aufregenden Abenteuern träumte? Zurück bei meinen Schuhen, klemmte ich die Flasche kurz zwischen meine Beine, um meine Hände an der Jeans trocken zu reiben. Dann nahm ich die Flasche wieder in die Hand und versuchte, den Korken, mit dem sie verschlossen war, herauszudrehen. Er saß ziemlich fest und es kostete einige Mühe, doch schließlich machte es »plopp« und ich hielt ihn in der Hand. Ich kippte die Flasche nach unten. Elegant glitt das eingerollte Papier heraus. Ich legte Flasche und Korken auf den Boden und rollte den Zettel auseinander.

Überrascht stellte ich fest, dass offensichtlich kein Kind etwas darauf geschrieben hatte. Dies war eindeutig die Handschrift eines Erwachsenen. Schöne, geschwungene Lettern, offenbar mit Tinte geschrieben, die an einigen Stellen nass geworden und zerlaufen war. Mit etwas Mühe konnte ich die Botschaft entziffern.

So lange habe ich nach dir gesucht, um dich schließlich dort zu finden, wo ich es nie vermutet hätte. Ich danke dir, dass du mich seitdem begleitest, liebes Glück!

Ich schluckte. Die Worte berührten etwas in mir. Wer mochte sie geschrieben haben? Und warum? Da war kein Name und auch kein Datum, das verriet, wann die Botschaft verfasst worden war. Das Einzige, was dem Brief eine persönliche Note gab, war eine kleine Tuschezeichnung rechts oben in der Ecke. Sie zeigte einen Zweig mit langen schmalen Blättern und vielen kleinen Beeren daran. Ein dicker Regentropfen platschte auf die Zeichnung und ließ die Tinte verrinnen. Schnell rollte ich das Papier wieder zusammen, stecke es zurück in die Flasche und schob den Korken hinein.

Was die Worte wohl zu bedeuten hatten? Unschlüssig sah ich die Flasche an. Was sollte nun mit ihr geschehen? Auch wenn ich nicht wusste, an wen die Botschaft gerichtet war, für mich war sie jedenfalls nicht bestimmt. Deshalb beschloss ich, die Flaschenpost zurück ins Meer zu werfen. Ich ging Richtung Wasser und holte aus. Doch kurz vorm Loslassen hielt ich inne und ließ den Arm wieder sinken. Aus irgendeinem Grund war es mir unmöglich, die Flasche wegzuwerfen. »Ich nehm sie erst einmal mit«, beschloss ich. Dann ging ich zu meinen nassen Schuhen und hob sie auf. »Zeit, endlich ins Trockene zu kommen«, dachte ich.

2. Tag

Eine Entdeckung

Obwohl mein Schlaf traumlos gewesen war, fühlte ich mich völlig zerschlagen, als ich die Augen öffnete. Die Matratze war deutlich härter als meine zu Hause und so hatte ich mich die halbe Nacht unruhig hin und her gewälzt. Zum Glück hatte ich wenigstens mein Kopfkissen mitgenommen. Vor ein paar Jahren hatte ich festgestellt, dass ich auf fremden Kissen nicht mehr schlafen konnte, und seitdem begleitete mich mein ergonomisches Kopfkissen auf all meinen Reisen.

Ich blinzelte und überlegte, wie spät es wohl sein mochte. Durch den runtergelassenen Rollladen drang nur spärliches Licht. Ein Blick auf meine Armbanduhr ließ mich aufstöhnen. »Erst sechs.« Früher, als ich noch keine Kinder hatte, war ich eine echte Langschläferin gewesen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen es mir schwergefallen war, morgens um elf Uhr zu einer Vorlesung zu erscheinen, weil ich entweder am Abend zuvor mit Isa auf einer Studentenparty versackt war oder bis drei Uhr nachts am Schreibtisch gebüffelt hatte. Doch in den letzten Jahren hatte ich das Ausschlafen offenbar verlernt. »Senile Bettflucht«, hatte meine Oma dieses Altersphänomen immer genannt.

Ich stand auf, zog das Rollo hoch und war überrascht, nicht nur Grau, sondern auch Blau zu sehen. Zwar war der Himmel immer noch bedeckt, aber es gab ein paar vereinzelte blaue Lücken. Ich beschloss, schnell zu duschen und schon vor dem Frühstück eine kleine Runde am Strand zu drehen. »Vielleicht pustet der Wind die übrigen Wolken auch noch weg«, dachte ich und spürte einen kleinen Hoffnungsschimmer in mir aufsteigen. Die Vorstellung, gleich am Meer spazieren zu gehen und dabei warme Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht zu spüren, tat gut.

Auf dem Weg ins Bad streifte mein Blick die Flaschenpost, die ich gestern auf dem kleinen runden Holztisch neben dem gemütlichen großen Korbsessel abgestellt hatte. Die hatte ich völlig vergessen. Ich ging hin und nahm sie hoch, löste den Korken. Doch dann zögerte ich. Die Botschaft war nicht für mich bestimmt. Sie ging mich nichts an. Ich stellte die Flasche wieder zurück und betrat das Bad. Dort drehte ich den Wasserhahn auf und trank einen großen Schluck. Als ich mich wieder aufrichtete, war ich für den Bruchteil einer Sekunde irritiert. Das Gesicht, das mir entgegenblickte, sah so anders aus als jenes, das ich erwartet hatte. Es war bleich, hatte dunkle Schatten unter den Augen und sah müde aus. Aber das war es nicht, was es mir fremd erscheinen ließ. Es waren die vielen kleinen Nuancen, die einfach nicht zu dem Bild passten, das mein geistiges Auge von mir abgespeichert hatte. Ich beugte mich vor, um mich genauer zu betrachten: Die kleinen Fältchen unter meinen Augen, die inzwischen so tief waren, dass sie sich nicht mehr im Laufe des Tages wie durch Zauberhand wieder glätteten. Die zarte Einkerbung über meiner Nasenwurzel, die darauf hindeutete, dass ich häufig die Augenbrauen zusammenzog und meinem Gesicht eine ungewohnte Strenge verlieh. Die zwei leichten Furchen, die meinen Mund umrahmten. Die drei dünnen Querfalten auf meinem Hals. Und die grauen Härchen, die sich seit einigen Jahren vor allem im Schläfenbereich zwischen mein braunes Haar setzten und dafür sorgten, dass ich es alle vier Wochen färben musste.

Frustriert wandte ich mich ab, ging zur Dusche und drehte das Wasser voll auf.

*

Etwa dreißig Minuten später lief ich, wieder barfuß, mit meinen Schuhen in der Hand, am Strand entlang. Tatsächlich hatte es der Wind geschafft, noch größere Lücken in die Wolkenschicht zu reißen, die der Sonne immer mal wieder die Möglichkeit boten, ihre Strahlen auf die Erde zu werfen. Trotzdem fror ich und knöpfte meinen leichten Sommermantel bis oben hin zu. Drei Möwen segelten über meinen Kopf hinweg, riefen sich etwas zu und drehten dann Richtung Meer ab. Der Strand war auch heute fast menschenleer. Vermutlich, weil gerade keine Ferien waren und die meisten ihrer geregelten Arbeit nachgingen.

Mein Magen knurrte. Das Abendessen war zwar sehr lecker, aber auch sehr überschaubar gewesen: eine kleine Portion Rote-Bete-Carpaccio mit gerösteten Walnusskernen und Feta. Hoffentlich würde mich das Frühstück gleich satter machen.

Ich blieb stehen und zückte mein Handy. »Eine neue Nachricht«, kündigte das Display an. »Hey Süße, viel Spaß auf der Insel. Beim nächsten Mal rocken wir das gemeinsam!!!«, las ich, nachdem ich den Bildschirm entsperrt hatte. Dann hatte Isa noch einen Zwinker-Smiley, ein rotes Herz und drei Kuss-Smileys hinzugefügt. »Wie lieb, dass sie an mich gedacht hat«, freute ich mich. »Und das, obwohl sie vermutlich gerade tausend wichtigere Dinge im Kopf hat.«

Doch Isas Nachricht war alles. Nichts von den Kindern, nichts von Jochen und auch sonst absolut nichts. Es hatte Zeiten gegeben, da waren im Minutentakt Informationen eingetrudelt: »Liebe Fußballeltern, bitte an die gewaschenen Trikots am Samstag denken!«, »Hi, will Jonas heute mit Sebastian spielen? LG, Sonja«, »Schatz, denk noch an die Handwerkerrechnungen für die Steuererklärung!«, »Mami, hab den Bus verpasst, kannst du mich abholen?«. Doch schon seit Längerem blieb mein Handy die meiste Zeit stumm. Was ja eigentlich gut war, wenn ich bedachte, wie sehr mich diese Nachrichtenflut früher manchmal genervt hatte. Doch offenbar hatte sich mein Kopf noch nicht an die neue Stille gewöhnt. Ständig beschlich mich eine innere Unruhe, gepaart mit dem Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen, und ich erlag dem Drang, meine Nachrichten zu kontrollieren.

Um besser abschalten zu können, hatte ich das Telefon eigentlich auf dem Zimmer lassen wollen. Dann hatte ich es im letzten Moment doch eingesteckt, für den Fall, dass es zu Hause einen Notfall gäbe und ich erreichbar sein sollte. Purer Selbstbetrug, wie ich mir nun eingestehen musste. Denn selbst wenn es zu Hause irgendein Problem gäbe, würden Jochen und die Kinder es auch ohne mich lösen.

Gestern Abend hatte mir Lara einen kurzen Gutenachtgruß mit Kuss-Smiley geschickt. Und mit Jochen hatte ich ein paar Minuten telefoniert und den üblichen »Wie wars bei dir?«, »So wars bei mir«-Small Talk abgehalten. Von Jonas hatte ich seit meiner Abreise nichts gehört. Er schien mich, nach dem Motto »Aus den Augen, aus dem Sinn«, komplett vergessen zu haben.

»So ist das eben, wenn die Kinder flügge werden«, dachte ich und seufzte. Irgendwie war es absurd. Wie oft hatte ich mir früher Momente wie diesen herbeigesehnt. Mal alleine sein. Nur auf die eigenen Bedürfnisse achten. Keine Verantwortung tragen. In den ersten Lebensjahren meiner Kinder waren diese Momente rare Kostbarkeiten gewesen. Einmal auf der Toilette sitzen, ohne Kind auf dem Schoß. Fünf Minuten Duschen, ohne dass jemand »Mama« rief – wie sehr hatte ich das genossen. Ich musste an den Nachmittag denken, an dem zum ersten Mal beide Kinder auswärts bei Freunden gespielt hatten. Plötzlich hatte ich in meinem Wohnzimmer gestanden und alles war still gewesen. Auf eine fremde, fast unheimliche Art und Weise. Ich hatte die Augen geschlossen und mir überlegt, was ich mit der freien Zeit anfangen wollte. Und dann beschlossen, den Haushalt einfach links liegen zu lassen. Blauzumachen. Es hatte sich herrlich verwegen angefühlt, an einem ganz normalen Dienstagnachmittag auf dem Sofa zu sitzen, ein Buch zu lesen und dabei Mozartkugeln zu naschen. Ein-, zwei Mal schreckte ich mitten im Satz hoch und dachte »Du musst nach den Kindern gucken«, um dann lächelnd wieder in die Kissen zurückzusinken, weil mir einfiel, dass ich ganz alleine war. Inzwischen waren die Nachmittage ohne Kinder zum Alltag geworden. Selbst wenn sie zu Hause waren, hockten sie in ihren Zimmern und daddelten an