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Die wahre Freiheit steckt in dir Eine Frau, Ende dreißig, führt ein ganz normales Leben, als sie ganz plötzlich eine Panikattacke im Zug erleidet. Auf einmal ist die Angst allgegenwärtig: überfällt sie im Supermarkt, auf der Autobahn, während der Arbeit und im Restaurant. Mit Hilfe einer Therapie erkennt sie, dass sie viel zu lange wichtige Entscheidungen vermieden hat. Nach und nach lernt sie, ihre alten Muster zu durchbrechen, für sich und ihre Überzeugungen einzustehen. Gemeinsam mit ihrem Garten, den sie ebenfalls vernachlässigt hat, blüht sie wieder auf, lernt weniger perfekt zu sein, Hilfe anzunehmen und loszulassen. Eine Geschichte über eine Zeit der Veränderung, in der die Erzählerin eine neue innere Freiheit gewinnt.
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Seitenzahl: 290
Tessa Randau
Lass deine Ängste los und lerne fliegen
Mit Illustrationen von Ruth Botzenhardt
Für all die Mutigen,
die sich jeden Tag aufs Neue
ihren Ängsten stellen.
Ihr seid nicht allein.
Wenn die Angst mit dir spricht,
dann hör ihr zu.
Sie ist kein Feind,
sondern eine Chance auf Veränderung.
Ich stehe an Gleis 14 des Hamburger Hauptbahnhofs. Helles Sonnenlicht flutet durch die hohen Deckenfenster. Um mich herum streben Menschen zu den Türen des Intercitys. Die Wagenreihung wurde geändert. Im Pulk der Suchenden schwimme ich mit, den Blick auf meine neunjährige Tochter vor mir geheftet. Ich spüre die Nervosität der Menschen, die nach ihrem Waggon Ausschau halten. Fest umschließe ich die kleine, warme Hand meines sechsjährigen Sohnes.
»Wo müssen wir hin?«, fragt er ängstlich.
»Da vorne«, antworte ich. »Wagen 8.« Meine Schultern sind angespannt, meine Augenlider schwer. Ich bin müde, erschöpft. Das Wochenende in Hamburg hat mir nicht die gewünschte Erholung gebracht. Im Gegenteil. Das Gefühl, keinem Bedürfnis gerecht zu werden, weder dem meiner Kinder noch meinem eigenen, hat mich in den letzten drei Tagen innerlich wundgerieben. In meinem Kopf flirrt es.
Wir nähern uns der Tür von Wagen 8. Ich halte meine Kinder beim Einsteigen fest, dann erklimme ich selbst die Stufen des Waggons. Drinnen ist es warm und stickig. Ich stelle den Koffer vorne in die Ablage, suche unsere reservierten Plätze. Ich atme tief ein, doch ich habe das Gefühl, dass kaum Sauerstoff meine Lungen erreicht. Ich packe den Computer aus, stelle ihn vor meinen Kindern auf den Tisch, lege die DVD ein. Sie setzen ihre Kopfhörer auf, fixieren den Bildschirm, und ich erkenne an ihren entrückten Blicken, dass sie gedanklich nicht mehr hier, sondern auf Saltkrokan sind. Ich sinke auf meinen Gangplatz hinter ihnen. Menschen schieben sich an mir vorbei. Koffer streifen mein rechtes Bein, schwankende Rucksäcke kommen mir bedrohlich nahe. Mein Brustkorb wird enger. Auch das Flirren nimmt zu.
Ich will hier raus, flüstert eine leise Stimme in meinem Kopf. In diesem Moment schließen sich die Türen. Der Zug fährt an. Ich versuche, ruhig zu atmen. Zu wenig, sagt mein Kopf. Viel zu wenig Sauerstoff. Mein Herz schlägt schneller. Meine Hände sind kalt. Ich krame die Wasserflasche aus dem Rucksack zu meinen Füßen, trinke kleine Schlucke. Das ist der Kreislauf. Das wird gleich wieder, beruhige ich mich.
Ich hole ein Buch aus meinem Rucksack, schlage die Stelle auf, wo mein Lesezeichen steckt, doch mein Kopf schafft es nicht, den Inhalt zu erfassen. Ich lese die Zeile noch einmal. Und noch mal. Mir wird flau im Magen. In meinen Ohren setzt ein leises Rauschen ein. Mein Herz stolpert. Ich brauche mehr Luft.
Die Bremsen quietschen. Der Zug hält in Hamburg-Harburg. Einen kurzen Moment lang überlege ich, ob ich ganz schnell alles zusammenraffen, meine Kinder schnappen und den Zug verlassen soll. Doch kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, schließen sich die Türen wieder. Chance verpasst.
Ruhig bleiben, denke ich voller Panik. In meinem Kopf wird es dumpf. Schwarz. Leer. Alles beginnt sich zu drehen. Erst langsam, dann immer schneller. Mein Herz rast. Das Rauschen in meinen Ohren ist jetzt so intensiv, dass ich alle anderen Geräusche nur noch gedämpft wahrnehme, so als kämen sie von weit her. Ich spüre, dass mein Mageninhalt nach oben will. Meine Knie zittern. Mein Mund ist trocken. Meine Hände sind eiskalt.
Ich ringe nach Luft. Und habe nur noch einen Gedanken: Ich muss hier raus. Ich habe Angst davor, gleich komplett die Kontrolle über mich und meinen Körper zu verlieren. Nicht mehr atmen zu können. Zu ersticken. Am liebsten würde ich aufspringen, zur Tür rennen und so lange schreiend dagegen hämmern, bis der Zug anhält und ich an die frische Luft kann. Denn das ist das Einzige, das mich jetzt noch retten kann. Echter Sauerstoff.
Mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft reiße ich mich zusammen. Die Vorstellung, hier vor allen Leuten komplett auszuflippen, ist so demütigend, so beschämend, dass sie mir dabei hilft, nach außen ruhig zu wirken.
Ich nehme das Handy, das vor mir auf dem runtergeklappten Tischchen liegt und schaue auf die Display-Uhr. Noch fünfeinhalb Stunden Fahrt. Wie soll ich das bloß überleben? Ich öffne die Bahn-App. In fünfundvierzig Minuten halten wir in Bremen. Meine Rettung! Da kann ich raus.
Aber wie geht es dann weiter? Wie kommen wir nach Hause? Fieberhaft wäge ich verschiedene Möglichkeiten ab:
Ich könnte ein Hotelzimmer suchen und am nächsten Tag mit den Kindern weiterfahren. Aber ab morgen will die Bahn streiken. Kommen wir dann überhaupt heim?
Könnte uns jemand mit dem Auto abholen? Nein, das ist zu weit.
Sollen wir aussteigen und einen späteren Zug nehmen? Aber was würde das ändern? Dann wäre ich wieder gefangen und wir hätten keine reservierten Sitzplätze mehr. Müssten vielleicht stundenlang im Gang sitzen oder stehen.
Wie ich es auch drehe und wende: Bremen ist keine Lösung. Der Satz bleibt in meinem Kopf hängen. Bremen ist keine Lösung. Wie ein Mantra sage ich ihn lautlos auf, während die flache Landschaft am Fenster vorbeifliegt. Bremen ist keine Lösung. Bremen ist keine Lösung. Ich trinke und versuche, die Panik in mir festzuhalten. Eine eiserne Faust um sie zu legen, damit sie nicht gänzlich die Kontrolle übernimmt. Bremen ist keine Lösung. Bremen ist keine Lösung.
Eine unendlich lange Zeit später fährt der Zug in Bremen ein. Mein Fluchtinstinkt siegt. Ich springe auf, werfe Wasserflasche und Buch in meinen Rucksack. Gehe zu meinen Kindern und klappe, ohne jede Vorwarnung, den Laptopdeckel zu.
»Mami, was machst du da«, faucht mich meine Tochter wütend an.
»Wir müssen raus!«
Meine Tochter sieht mich verständnislos an. »Warum?«
Was tue ich hier? Das ist doch völlig verrückt!, komme ich zur Besinnung. Was soll ich denn sagen, wenn wir gleich draußen in Bremen auf dem Bahnsteig stehen? Tut mir leid, Kinder, aber eure Mami hatte gerade Angst davor, im Zug zu ersticken, deshalb stehen wir jetzt hier. Leider weiß ich selbst nicht, wann und wie wir wieder nach Hause kommen. Stattdessen siegt die Stimme der Vernunft: Du bist die Mutter. Du trägst die Verantwortung. Du musst da jetzt durch!
»Tut mir leid, war ein Missverständnis«, murmle ich, klappe den Laptop wieder auf und werfe meinen Kindern, die mich immer noch irritiert ansehen, ein beruhigendes Lächeln zu. Dann sacke ich auf meinem Platz hinter ihnen in mich zusammen.
Die Türen schließen sich wieder und ich wappne mich für das, was jetzt kommen wird. Die Panik, die ich nicht mehr kontrollieren kann. Die wie eine Welle über mir zusammenschlagen und den letzten Rest Luft aus meinen Lungen pressen wird.
Der Zug fährt los. Ich schließe die Augen und erwarte das Unvermeidliche.
Doch es kommt nicht. Stattdessen kommt etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Ein unfassbares Gefühl der Erleichterung.
Ich habe es geschafft! Glückshormone rauschen durch mein Blut, weiten meine Lungen und lassen mein Herz langsamer schlagen. Ich habe es geschafft! Doch ich spüre, dass die Gefahr noch nicht gebannt ist. Die Angst ist nicht weg, hat sich nur zurückgezogen. Lauert irgendwo in einem versteckten Winkel, bereit, vielleicht später noch einmal zum Sprung anzusetzen.
Ich öffne die Bahn-App und sehe mir die weitere Strecke an: Osnabrück, Münster, Gelsenkirchen, Essen, Duisburg, Düsseldorf, Köln, Bonn, Koblenz. Noch neun weitere Stopps, bis wir an unserem Ziel in Mainz sind. Neun weitere Möglichkeiten zum Fliehen. Dazwischen Phasen des Gefangenseins. Maximal fünfzig Minuten zwischen zwei Bahnhöfen, oft auch kürzer.
Mein Mantra wandelt sich von Osnabrück ist keine Lösung über Münster ist keine Lösung bis hin zu Koblenz ist keine Lösung. Bis ich schließlich völlig erschöpft in Mainz aus dem Zug taumle.
Ich habe überlebt.
Zu Hause stelle ich Koffer und Rucksack im Flur ab und sage meinen Kindern, dass ich ein paar Minuten an die frische Luft muss. Zum Glück sind sie inzwischen so groß, dass man sie für kurze Zeit alleine lassen kann. Dann gehe ich los, der Sonne entgegen, die den Weg durch die Felder in warmes Abendlicht taucht. Ich bleibe stehen, schließe die Augen und versuche, meine Umgebung mit allen Sinnen zu erfassen. Ich spüre die milde Luft auf meinen Armen, rieche das frisch gemähte Gras, höre die Grillen zirpen. In der Ferne tuckert etwas, vielleicht ein Schiff oder ein Traktor? Ich spüre, wie der Sauerstoff in meine Lungen strömt, ziehe meine Schultern hoch zu den Ohren und lasse sie mit einem lauten »Pffft« wieder fallen. Das wiederhole ich mehrere Male. Dann öffne ich die Augen und gehe weiter.
Ich bin so glücklich und dankbar, wieder hier zu sein. Zu Hause. In Sicherheit. Was war das heute im Zug?, frage ich mich, obwohl ich die Antwort kenne. Eine Panikattacke. Aber warum?, grüble ich. Warum gerade jetzt? Und warum im Zug?
Normalerweise liebe ich es, Zug zu fahren. Einfach nur dazusitzen und mich um nichts kümmern zu müssen. In Ruhe zu lesen oder am Computer ein Fotobuch zu gestalten. Dinge, für die ich in den letzten Jahren kaum Zeit hatte. Zugfahren hat für mich immer Entspannung, Freizeit, Ich-Zeit bedeutet. Was ist heute bloß los gewesen? Während meine Gedanken kreisen, laufe ich blind weiter, habe keinen Blick für die Natur. Bin selbst der Raum, in dem ich mich bewege. Als mir das bewusst wird, halte ich inne. Ich versuche, die Gedanken wegzuschieben und mich nur auf die Umgebung zu konzentrieren. Die Ähren zu meiner Linken, die sich so hübsch in der Abendluft hin und her wiegen, als seien sie grazile Tänzerinnen. Die kleinen Tannenbäume zu meiner Rechten, von denen einer in wenigen Monaten geschmückt in unserem Wohnzimmer stehen wird. Die zierliche weiße Blüte unten am Wegesrand.
An einer bunten Wildblumenwiese bleibe ich stehen. Viele kleine weiße Schmetterlinge tanzen zwischen den Blüten umher. Ich suche mir einen aus und folge ihm mit dem Blick. Leicht und beschwingt gleitet er dahin. Mal hoch, mal tief. Wechselt immer wieder die Richtung. Sind diese Bewegungen kontrolliert? Weiß er, wo er hinmöchte, oder überlässt er seinen Weg ein Stück weit dem Schicksal?
Ich beneide ihn, diesen kleinen Schmetterling. Für seine Leichtigkeit. Seine Unbeschwertheit. Und dafür, dass er nicht weiß, dass sein Leben endlich ist.
Als ich am nächsten Morgen aufwache und ins Bad gehe, ist etwas anders als sonst. Ich spüre ein unangenehmes Ziehen im Bauch, das mich automatisch die Schultern anspannen lässt. Ich bin nervös, unruhig, so, als müsse ich gleich in eine wichtige Prüfung gehen. Dabei wartet nur der normale Alltag auf mich.
Ich betrachte mich im Spiegel, der über meinem Waschbecken hängt. Mein Gesicht ist bleich und sieht müde aus. Unter meinen Augen liegen leichte Schatten. Ich hebe die Mundwinkel, doch mein Lächeln wirkt unecht.
Es gelingt mir nicht, die Nervosität zu vertreiben. Sie steht mit mir in der Küche, als ich das Frühstück für die Kinder vorbereite, sitzt mir im Nacken, als ich im Büro auf die Computertasten tippe, geht mit in den Keller, als ich die Wäsche aufhänge. Mein Kopf versucht, ihr Einhalt zu gebieten, sagt: Hey, es ist alles gut. Du brauchst keine Angst zu haben. Doch mein Inneres glaubt ihm nicht. Die Unruhe hat sich in mir festgehakt wie eine Klette an einem Wollpulli. Immer wieder kehren meine Gedanken zur gestrigen Zugfahrt zurück. Es war schrecklich, sich so ausgeliefert zu fühlen. In meinem Kopf beginnt es wieder zu flirren.
Es ist Nachmittag. Ich sitze, mit meinem Laptop auf dem Schoß, auf dem Sofa und mache online Überweisungen. Obwohl es wohl kaum etwas Ungefährlicheres gibt, fühle ich mich so unwohl, als müsse ich allein im Dunkeln durch eine einsame Gasse laufen. Ich schnappe mir mein Handy, das neben mir liegt. »Können wir kurz reden?«, frage ich meine Freundin Judith, die ich übers Wochenende in Hamburg besucht habe, per Textnachricht.
»In dreißig Minuten? Bin gerade mit dem Hund draußen«, antwortet sie direkt.
Ich schicke ihr einen Daumen hoch und bin erleichtert. Ich muss dringend mit jemandem sprechen. Judith ist eine meiner besten Freundinnen, wir kennen uns seit dem Studium und ich kann ihr alles anvertrauen. Anders als ich, arbeitet sie nicht in einer TV-Produktionsfirma, sondern als freie Journalistin für verschiedene Zeitschriften. Gesundheit ist ihr Themenschwerpunkt. Vielleicht weiß sie, wie ich meine Nervosität wieder in den Griff bekommen kann.
Eine halbe Stunde später klingelt mein Handy.
»Hey, Schatzi«, begrüße ich Judith.
»Na, bist du wieder gut gelandet?«
»Leider nicht.« Ich klappe den Laptop zu und stehe auf. Während ich ihr von meiner Horrorzugfahrt erzähle, laufe ich ziellos zwischen Wohn- und Esszimmer hin und her. Irgendwann bleibe ich vor der Balkontür stehen und blicke hinaus.
»Oh nein, das ist ja schrecklich«, sagt Judith, als ich mit meinem Bericht fertig bin. Ihre Stimme klingt mitfühlend. Und besorgt.
»Das war es auch. Und ich habe keine Ahnung, was ich tun kann, damit es mir wieder besser geht.«
»Mm«, brummt meine Freundin nachdenklich. Während sie schweigt, verfolge ich mit den Augen ein Flugzeug, das einen weißen Streifen durch den perfekt blauen Himmel zieht. »Ich glaube, es wäre gut, wenn du Sport machst«, sagt sie schließlich. »Dabei kann dein Körper Stress abbauen und dein Kopf wäre abgelenkt. Wie wäre es mit einer Runde joggen oder mit Yoga?«
»Ich war seit Jahren nicht mehr laufen«, sage ich und schüttle unwillkürlich den Kopf. »Ich glaube, ich komme keine fünf Meter mehr weit. Und Yoga kann ich nicht. Du weißt doch, ich will schon ewig einen Kurs machen und schaffe es einfach nicht.«
»Dann ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um endlich anzufangen«, kontert sie und ich vermute, dass gerade ein spitzbübisches Lächeln über ihre Lippen huscht. »Also, keine weiteren Ausreden mehr. Such dir ein Anfängertutorial auf YouTube und leg los.«
»Aye, aye, Captain«, erwidere ich und muss schmunzeln, weil Judith ganz genau weiß, was für eine Drückebergerin ich bin, wenn es ums Thema Sport geht.
Fünfzehn Minuten später stehe ich, mit Leggins und T-Shirt bekleidet, in meinem Wohnzimmer. Auf dem Boden vor mir liegt die pinke Yogamatte, die ich vor etwa zwei Jahren gekauft und nur drei Mal benutzt habe. Seitdem fristet sie ein unbeachtetes Dasein in unserem Keller.
Seit Jahren nehme ich mir vor, Yoga zu machen, weil ich weiß, dass ich etwas als Ausgleich zu meinem Alltagsstress tun sollte, verschiebe es aber immer wieder auf den nächsten Tag oder die nächste Woche. Meine Ausrede: keine Zeit. Im Grunde stimmt das auch, mein Alltag ist extrem eng getaktet. Mein Job, der Haushalt und die Familie fordern mich fast rund um die Uhr. Vor allem unter der Woche, weil ich dann quasi alleinerziehend bin. Clemens, mein Mann, arbeitet seit drei Jahren in einer anderen Stadt und kommt nur am Wochenende nach Hause. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, könnte ich mir die Zeit nehmen. Oft genug sitze ich auf dem Sofa und daddle auf meinem Handy rum. Surfe auf Instagram, Facebook oder irgendwelchen Klatschseiten, um einfach mal ein paar Minuten runterzukommen. Zeit, die ich auch für eine kurze Yogaeinheit nutzen könnte. Warum ich es nicht mache? Weil ich mich meist fürchterlich erschöpft und kraftlos fühle. So, als hätte jemand meinen Stecker gezogen. Mich dann zu überwinden, fällt mir einfach zu schwer, obwohl ich weiß, dass mir die Bewegung wahrscheinlich guttun würde. Doch heute ist es anders. Ich bin zwar auch erschöpft, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, elektrisch aufgeladen zu sein. Und dass ich irgendetwas tun muss, damit diese schreckliche Unruhe endlich wieder verschwindet. Deshalb klappe ich meinen Laptop auf.
»Mami, mir ist langweilig.« Mein Sohn steht plötzlich im Türrahmen.
Mist, bis eben hat er noch so toll in seinem Zimmer Lego gespielt. Seine große Schwester ist bei einer Freundin, doch für ihn konnte ich heute Nachmittag keine Verabredung vereinbaren. Seine Freunde sind alle beim Fußballtraining, aber dafür interessiert er sich nicht.
»Willst du nicht mehr Lego spielen?«
»Nee, keine Lust.« Gelangweilt schüttelt er den Kopf. Dann blitzen seine runden blauen Kinderaugen auf. »Kannst du Cars mit mir spielen?«
»Tut mir leid, Bärchen, aber ich wollte gerade Sport machen.«
»Bitte, bitte, Mami, nur ein bisschen.«
Fieberhaft überlege ich, wie ich aus der Nummer wieder rauskomme. Ferngesehen hat er vorhin schon. Die Karte ist bereits verspielt.
»Wie wäre es mit einem Hörspiel?«
Er runzelt seine kleine Stirn und scheint nachzudenken. »Ich will aber nicht alleine sein«, sagt er schließlich. »Kommst du mit in mein Zimmer?«
Sein Zimmer ist sehr klein und sehr vollgestopft. Da ist kein Platz für mich und meine Yogamatte.
»Das geht leider nicht.«
»Menno.« Enttäuscht rollt er die Unterlippe nach außen.
»Wie wär’s, wenn du deine Kopfhörer holst und dich damit aufs Sofa setzt? Dann kann ich Sport machen und du bist bei mir?«
»Au ja.« Begeistert flitzt er zur Tür hinaus.
Ich gehe auf YouTube und suche nach einem Yogatutorial. Gerade, als ich ein Anti-Stress-Programm für Anfängerinnen gefunden habe, kommt mein Kleiner mit Kopfhörern auf den Ohren angetrottet und lässt sich zwischen die Sofakissen fallen. Ich drücke auf Start. Eine sympathische Frau, Anfang zwanzig, begrüßt mich und gemeinsam verbringen wir die nächsten dreißig Minuten auf der Yogamatte. Viele Figuren fallen mir schwer. Zum einen, weil sich einige Muskelgruppen in meinem Körper offenbar schon in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet haben. Zum anderen, weil meine linke Schulter seit Monaten immer steifer wird. Seitdem schlafe ich nachts sehr schlecht, weil die Schulter so schmerzt, dass ich kaum darauf liegen kann. »Frozen Shoulder« heißt die Diagnose. In ein bis zwei Jahren wird sie von selbst langsam wieder auftauen und beweglicher werden. Bis dahin muss ich damit klarkommen. Aber egal. Hauptsache, ich kann jetzt etwas tun, das die Anspannung auflöst.
Tatsächlich geht es mir nach dem Yoga besser. Die Konzentration auf die Übungen hat meinen Kopf aus dem Grübeln herausgeholt und das gleichmäßige Atmen hat die körperliche Stresskaskade unterbrochen. Ich bin erleichtert.
Als ich mich wieder zu meinem Sohn umdrehe, hebt er grinsend den Daumen hoch. »Mami, du sahst voll komisch aus«, sagt er fröhlich.
Konzentrier dich, ermahne ich mich und starre auf meinen Computerbildschirm. Seit einer knappen halben Stunde sitze ich vor meinen Themenvorschlägen. Vier habe ich bereits geschrieben, fünf muss ich gleich abliefern. Und mir fällt einfach nichts mehr ein. Ich tippe ein paar Zeilen, lese sie durch, lösche sie wieder, fange von vorne an. Verdammt, nur noch zwanzig Minuten bis zur Konferenz, denke ich beim Blick auf meine Armbanduhr. Die Sonne scheint warm durch die elektrischen Jalousien, die sich schon lange nicht mehr richtig kippen lassen, weil der Motor streikt. Es ist 9:40 Uhr und schon so heiß und schwül, als wäre es Nachmittag. Der aufgestellte Ventilator, der hinter mir brummt, bringt kaum Abkühlung.
»Morgen.« Ella, meine siebenundzwanzigjährige Kollegin, betritt unser Großraumbüro, das diesen Namen eigentlich gar nicht verdient hat, weil es nur ein kleiner, enger Raum ist, und nickt mir zu.
»Morgen.« Ich nicke zurück und schaue wieder auf meinen Bildschirm. Früher haben wir hier zu fünft gesessen. Jetzt sind wir nur noch zu dritt. Arbeiten aber das gleiche Pensum ab. Vielleicht sogar noch mehr. Mein ehemaliger Kollege Ralf verkauft jetzt Brillen in einem Optikergeschäft, Sonja hält sich – mehr schlecht als recht – als Freelancerin über Wasser. Außer mir sind nur noch Ella und Hans-Peter geblieben. Hans-Peter, 53, graue Schläfen und gemütliches Bäuchlein, sitzt mir gegenüber. Ella, kurzes blondes Haar, Nasenpiercing und viele Tattoos, sitzt hinter mir. Die beiden haben Vollzeitstellen. Ich arbeite, seit ich Mutter bin, nur noch fünfundzwanzig Stunden pro Woche. Zumindest offiziell. Dafür werde ich bezahlt. Für die vielen Überstunden, die regelmäßig dazukommen, nicht. Oft schaffe ich es nicht, um dreizehn Uhr zu gehen, sondern bleibe länger. Meine Kinder haben einen Schlüssel und wissen, wie man sich Essen in der Mikrowelle warm macht. Abends, wenn sie schlafen, sitze ich meist noch am Laptop und schreibe Konzepte für die nächsten Drehs.
Noch fünfzehn Minuten. In meinen Ohren beginnt es leise zu rauschen. Bitte nicht, denke ich voller Sorge und versuche, mich zu konzentrieren. Doch es funktioniert nicht. Mir wird schummerig im Kopf. Ich stehe auf, verlasse den Raum und gehe über den Flur mit dem zweckmäßigen dunkelgrauen Filzteppich. Kurz darauf öffne ich die Tür zur Damentoilette, die schon vor zwölf Jahren, als ich hier angefangen habe, verkratzt und nicht mehr wirklich weiß war, und steuere direkt auf das Waschbecken zu. Ich drehe das Wasser auf, warte, bis es kalt ist, und lasse es über die Innenseiten meiner Unterarme laufen. Etwas später nehme ich ein Stück Papier aus dem Spender, der an der Wand hängt, mache es nass und tupfe mein Gesicht ab. Meine Pupillen sind größer als sonst, meine Haut wirkt trotz Sommerbräune blass.
Schon als Kind wollte ich beim Fernsehen arbeiten. Damals liebte ich vor allem Quizsendungen wie ›1, 2 oder 3‹ mit Biggi Lechtermann oder Serien wie ›Pipi Langstrumpf‹ und ›Der kleine Vampir‹, die nachmittags im Kinderprogramm liefen. Die meisten Erwachsenen schmunzelten, wenn sie von meinem Berufswunsch hörten. Beim Fernsehen zu arbeiten war einfach zu exotisch. Doch ich hielt an meinem Plan fest. Nach dem Abi ergatterte ich einen der heiß begehrten Studienplätze für Filmwissenschaft in Mainz. Während meines Studiums sah ich mich bereits in einem schicken Büro eines öffentlich-rechtlichen Senders sitzen, mit großen Fenstern und modernem Mobiliar, so wie ich es von verschiedenen Praktika her kannte. Mein Ziel: anspruchsvolle Reportagen und Dokumentationen drehen. Voller Ehrgeiz arbeitete ich darauf hin, beendete mein Studium mit Bestnoten. Doch das Schicksaal wollte es offenbar anders: Mein Abschluss fiel mit einer großen Medienkrise zusammen. So begann meine berufliche Karriere erst einmal mit einem Besuch beim Arbeitsamt. Ich erinnere mich noch genau an das demütigende Gefühl, das ich empfand, als ich eine Nummer zog, um mich anschließend zu den vielen anderen Menschen mit hoffnungslosen Gesichtern in den großen Warteraum zu setzen. Die Beraterin, die sich ein paar Stunden später meiner annahm, war freundlich, doch außer einem Bewerbungstraining konnte sie mir nichts anbieten. Nach unzähligen Bewerbungen und verschiedenen Gelegenheitsjobs zog ich schließlich doch noch meinen persönlichen Sechser im Lotto. Ein Volontariat bei einer kleinen Produktionsfirma, die überwiegend anspruchsvolle Magazinbeiträge für große Sender produzierte.
Die ersten Jahre waren großartig. Mein Chef ließ mich von Anfang an als vollwertige Kraft mitarbeiten. Ich schrieb Konzepte, war mit Kamerateams auf Drehs, saß mit Cutterinnen und Cuttern beim Schnitt, schrieb Texte für Beiträge, die ich selbst vertonte. Überstunden gehörten damals schon dazu, aber sie störten mich kaum. Ich war Mitte zwanzig und liebte meinen Job. Was machten ein paar Überstunden da schon aus?
Doch die Medienwelt rutschte immer tiefer in die Krise. Sendungen, für die wir gearbeitet hatten, wurden eingestellt. Unsere Umsätze brachen ein. Nach vier Jahren bekamen wir einen neuen Chef. Und damit setzte sich ein schleichender Prozess in Gang, der unsere Arbeitsbedingungen und das Betriebsklima immer weiter verschlechterte.
Mir ist flau im Magen. Ich beuge mich vor und trinke ein paar Schlucke Wasser. Am liebsten würde ich abhauen. Nach Hause laufen und mich im Bett unter meiner Decke verkriechen. Zusammengerollt wie ein Embryo und nie wieder aufstehen. Ich spüre, dass meine Augen feucht werden. Jetzt bloß nicht heulen, denke ich. Du schaffst das, so wie du es immer geschafft hast. Ich tupfe mir noch mal mit dem feuchten Tuch übers Gesicht, dann werfe ich es in den Abfalleimer und verlasse die Toilette.
»Hast du schon alles fertig?«, fragt mich Ella, als ich mich kurz darauf wieder an meinen Schreibtisch setze.
»Bin noch dran«, murmle ich und versuche, mich wieder auf meinen Text zu konzentrieren. Noch zehn Minuten bis zur Konferenz.
Endlich habe ich eine Idee. Ich atme tief ein und fange an zu tippen. Zeile für Zeile füllt sich das Dokument. Mit jedem Satz, der dazukommt, spüre ich, wie sich die Erleichterung in mir ausbreitet. Meine Schultern sinken leicht nach unten, mein zusammengepresster Kiefer lockert sich.
»Ladys, wir müssen los«, höre ich Hans-Peter irgendwann von gegenüber sagen. Gleichzeitig vernehme ich, wie Ella ihren Stuhl nach hinten schiebt und aufsteht. Hastig überfliege ich meine Zeilen, verbessere drei Rechtschreibfehler, die der Computer rot unterkringelt hat. Der Schwindel ist weg. Ich drücke die Tastenkombination »Steuerung P«. Der Drucker beginnt zu surren. Ich stehe auf, hole das Blatt und flitze eilig hinter den beiden her.
»Hallo Mamilein, ich bin’s«, rufe ich, während ich den Schlüssel aus dem Schloss ziehe und die Haustür mit der rechten Hüfte aufdrücke. Ein Schwall warmer Luft schlägt mir entgegen. Es riecht muffig. Nach alten Perserteppichen und Möbelpolitur.
»Mami?«, rufe ich noch mal, während ich meine Turnschuhe im Flur meines Elternhauses abstreife. Weil ich in jeder Hand eine schwere Einkaufstasche halte und zu faul bin, um sie abzustellen und mich zu bücken, um die Schnürbänder zu öffnen, trete ich mit dem einen Fuß jeweils auf die Ferse des anderen.
»Schatz, bist du es?«, höre ich die Stimme meiner Mutter. Sie klingt nah. Ich vermute sie im Arbeitszimmer und gehe nach links. Die Tür steht offen, ich sehe, dass sie am Schreibtisch vor dem Computer sitzt.
»Hallo.«
Meine Mutter blickt auf und dreht sich mit ihrem Bürostuhl in meine Richtung »Ach, du bringst mir die Einkäufe vorbei. Das ist lieb.« Sie lächelt mich an.
Ich stelle meine Taschen auf dem Boden ab, lege beide Arme um ihren Oberkörper und drücke sie fest an mich. Dabei nehme ich einen leicht säuerlichen Geruch wahr. Als ich mich wieder aufrichte, sehe ich, dass ihr Haar zerdrückt ist. Es wirkt, als wäre es schon länger nicht mehr gewaschen worden.
»Puh, ist das stickig hier. Ich lass mal Luft rein.« Ich beuge mich vor, um das Fenster zu kippen. »Na, alles gut?« Ich versuche, möglichst fröhlich zu klingen. Sie soll nicht merken, wie abgehetzt ich bin.
»Ja, ich lege gerade ein paar Patiencen.« Sie wendet sich wieder dem Bildschirm zu, auf dem verschiedene Spielkarten zu sehen sind.
»Wieso setzt du dich bei dem schönen Wetter nicht raus auf die Terrasse und liest ein Buch? Hier drin kann man es ja kaum aushalten.« Ich höre selbst den erzieherischen Unterton, der mitschwingt, so als würde ich gerade mit einem Kind sprechen. Wann hat das bloß angefangen?, frage ich mich und ärgere mich über mich selbst.
Meine Mutter nimmt es gelassen. »Da hast du recht, mein Schatz«, sagt sie, während sie auf eine Herzdame klickt. »Sobald ich fertig bin, gehe ich raus.«
»Ich bringe schnell die Einkäufe in den Kühlschrank und dann setzen wir uns gemeinsam ein bisschen hin, okay?«, schlage ich vor. Auf dem Weg zur Küche kippe ich auch die Fenster im Wohnzimmer, anschließend räume ich den Inhalt meiner Taschen in den Kühlschrank, der für eine Person eigentlich viel zu groß ist.
Zwei Mal pro Woche gehe ich für meine Mutter einkaufen. Seit sie – vor knapp zwei Jahren – wieder einmal gestürzt ist und mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus lag. Seitdem kann sie nur noch schlecht laufen und braucht außerhalb des Hauses einen Rollator. An diesen Tagen hetze ich um dreizehn Uhr aus dem Büro, meist noch mit Arbeit im Gepäck, hole die Kinder von der Schule ab und fahre mit ihnen zum Supermarkt. Dort haste ich durch die Gänge, während die zwei im Auto sitzen und eine Brezel essen, die ich beim Bäcker geholt habe. Danach geht es weiter zu meiner Mutter, die dreißig Kilometer von uns entfernt wohnt.
Heute habe ich die Kinder bei Freunden untergebracht, zu denen sie direkt nach der Schule mitgehen durften. Ich bin froh, endlich einmal wieder mit ihr allein sein zu können. Ich merke, dass sie die Besuche mit den Kindern mehr und mehr anstrengen, auch wenn sie meine beiden abgöttisch liebt. Aber die Kinder sind oft laut und streiten. Manchmal sind sie auch motzig, weil ihnen langweilig ist. Das zerrt an den Nerven meiner Mutter – und auch an meinen.
Nachdem ich die Taschen ausgeräumt habe, öffne ich den Hängeschrank mit den Gläsern, dessen Tür schon länger nicht mehr richtig in den Angeln hängt. Ich muss das Scharnier nachziehen, denke ich – nicht zum ersten Mal –, während ich ein Glas herausnehme, zum Hahn gehe und es mit Leitungswasser fülle. Mit wenigen Zügen trinke ich es leer. Mir ist wieder ein bisschen schwindelig. Und auch die nervöse Unruhe ist wieder da. Ich lehne mich an die geflieste Arbeitsfläche und schaue mich um. Hängeschränke in Eiche rustikal, weiße Vorhänge mit leichtem Gelbstich. Hier ist alles in die Jahre gekommen. Eigentlich hatten meine Eltern die Küche renovieren wollen. Die Pläne waren bereits fertig. Doch dann starb mein Vater. Das ist jetzt elf Jahre her. Seitdem scheint die Zeit hier stillzustehen.
Auf dem Weg zurück sehe ich, dass meine Mutter inzwischen im Wohnzimmer auf der grauen Velourscouch sitzt. Warum geht sie nicht raus?, frage ich mich erneut. Doch diesmal gelingt es mir, den Kommentar, der mir bereits auf den Lippen liegt, für mich zu behalten. Sie ist erwachsen, kann selbst entscheiden, was sie für richtig hält.
Meine Mutter wirkt etwas verloren, so allein in diesem großen Raum, der einmal für eine fünfköpfige Familie gedacht war. Wie schmal sie geworden ist, denke ich. Früher hat sie immer mit ihrem Gewicht gehadert, zig Diäten gemacht. Wenn die Großeltern oder Freunde zum Kaffeetrinken kamen, war sie die Einzige, die statt Kuchen eine Banane oder einen Apfel aß. Jetzt, wie sie so dasitzt, erinnert sie mich stark an meine Großmutter. Der kleine Hubbel in ihrem Nacken, die nach vorne geneigten Schultern, das kurze graue Haar, in dem noch ein paar schwarze Strähnen aufblitzen, die dünne Haut, die immer mehr an Pergament erinnert. Sie wirkt so zart, zerbrechlich. So als würde sie von Besuch zu Besuch weniger werden.
Ich setze mich neben meine Mutter und reiche ihr einen kleinen geblümten Teller, auf dem eine Nussecke liegt.
»Schau mal, hab ich dir mitgebracht.«
»Danke«, sagt sie und stellt den Teller auf ihren Schoß. Wir plaudern ein bisschen über dies und das. Ihre linke Kniescheibe, die seit Neuestem Ärger macht. Ihre Haushaltshilfe, die zum ersten Mal Oma geworden ist. Die Preise, die immer mehr explodieren, sodass man für fünfzig Euro kaum noch etwas im Einkaufswagen liegen hat. Die Trockenheit der letzten Wochen.
Es fällt mir schwer, bei der Sache zu bleiben. Ständig gehen mir Dinge durch den Kopf, die ich noch erledigen muss. Die Sportklamotten von Felix waschen, weil er sie morgen fürs Leichtathletiktraining braucht. Die Rechnung vom Kinderarzt bezahlen. Die muss heute noch raus, wenn ich keine Mahnung kassieren will. Das Konzept für den Beitrag, das ich heute im Büro nicht fertigbekommen habe. Zwischendurch brummt mein Handy. Ich schaue schnell aufs Display, vielleicht ist was mit den Kindern. Aber es ist nur eine Info von der Schule meiner Großen, dass morgen früh einige Buslinien aufgrund eines Streiks ausfallen. Muss nachher prüfen, ob unsere Linie betroffen ist, mache ich mir im Geist eine Notiz. Jetzt will ich nicht nachschauen. Die kurze Zeit, die ich hier bin, will ich meiner Mutter widmen. Zwischendurch ein verstohlener Blick auf die Uhr. Schon so spät?
»Ich muss leider gleich schon wieder los«, sage ich und schäme mich gleichzeitig. Immer habe ich zu wenig Zeit.
»Nicht schlimm, Schatz, ich weiß ja, dass du viel um die Ohren hast.« Sie tätschelt verständnisvoll meine Hand. Nie macht sie mir Vorwürfe. Nimmt dankbar das, was sie bekommt. Dabei ist sie einsam, das weiß ich. Früher sprühte sie nur so vor Lebensfreude, war immer unterwegs. Doch nach dem Tod meines Vaters hat sie sich mehr und mehr zurückgezogen. Und seit dem letzten Sturz verlässt sie kaum noch das Haus. Vermutlich kostet sie das Laufen mit dem Rollator zu viel Kraft. Vielleicht schmerzt es sie aber auch zu sehr, mit ihrer Gehhilfe im Dorf gesehen zu werden. Nicht mehr die aufrechte, schöne Frau zu sein, der noch bis vor wenigen Jahren die Blicke der Männer folgten, wenn sie über die Straße ging.
Meine Mutter war immer einfühlsam und sanft. Und trotzdem eine starke Frau. Hat nie gejammert, keine ihrer Sorgen nach außen getragen. Gab uns Kindern stets das Gefühl, alles im Griff zu haben. Sie war der ruhende Pol, der die schwankenden Stimmungen meines Vaters gekonnt ausglich. Auch jetzt kommt sie gut zurecht. Macht alles langsam. Sogar in die obere Etage gelangt sie problemlos, weil sie, noch während sie mit frisch operiertem Oberschenkel im Krankenhausbett lag, zum Handy griff und einen Handwerker beauftragte, einen Treppenlift einzubauen. Ich musste ihm nur die Tür aufschließen, alles andere organisierte sie selbst.
Ich weiß, wie schwer es für sie ist, jetzt auf meine Hilfe angewiesen zu sein. Sie will niemandem zur Last fallen. Mir nicht. Und auch meinen beiden Geschwistern nicht. Sie kommen zwei, drei Mal im Jahr. Weihnachten. Geburtstag. Muttertag. Für mehr reicht es nicht. Sie wohnen mit ihren Familien zu weit weg. Auch darüber beschwert sie sich nie.
»Soll ich dir noch kurz von Hamburg erzählen?«
»Hamburg?« Fragend hebt sie ihre Augenbrauen und ihr Blick verrät mir, dass sie nicht weiß, wovon ich gerade spreche. In letzter Zeit vergisst sie häufiger etwas.
»Da war ich doch letztes Wochenende, zusammen mit den Kindern.«
»Stimmt, ja.« Ich sehe die Erleichterung in ihrem Gesicht darüber, dass ihr Kopf offenbar die richtige Information wiedergefunden hat. »Wie war es bei Judith und Jonas?«
Ich erzähle ihr von unserem Kurztrip – allerdings nur die schönen Dinge. Meinen ganzen Frust und die Panikattacke im Zug lasse ich weg. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.
»Ach, das klingt ja schön«, sagt sie, als ich fertig bin. »So, jetzt mach dich aber mal auf den Weg.« Sie stellt ihren Teller mit der unberührten Nussecke auf den Glastisch vor sich, stützt sich auf der Sofalehne ab, steht mühsam auf. »Ich bring dich noch zur Tür«. Langsam schlurft sie voraus. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten.
»Ach Mami«, seufze ich, als wir die Haustür erreicht haben, lege meine Arme um ihre Schultern und drücke sie fest an mich. »Warum ist die Zeit jedes Mal zu kurz?«
»So ist das Leben, Schätzlein.« Sie lächelt. Ihr runzliges Gesicht ist immer noch schön.
Als ich die Haustür hinter mir zuziehe, spüre ich ein Kratzen im Hals. In meinen Augen sammeln sich Tränen. Ich habe meine Mutter unendlich lieb. Immer war sie für mich da. Und ich würde ihr so gerne viel mehr zurückgeben.
Seit drei Tagen mache ich Yoga, doch die Nervosität geht nicht mehr weg. Ständig muss ich an den Zug denken und fühle mich, als säße ich drin: Mein Herz schlägt schneller. Mein Kopf fühlt sich leer an. Mir ist schwindelig. Meine Nackenmuskulatur spannt sich an. Meine Backenzähne pressen aufeinander. In mir ist das Gefühl von Bedrohung. Von Gefahr.
Nicht mehr drüber nachdenken, ermahne ich mich. Doch das hilft nicht. Meine Gedanken verselbstständigen sich. Kehren immer wieder zu dem Ereignis zurück, lassen sich nicht stoppen. Was ist, wenn dieses schreckliche Gefühl bleibt?, frage ich mich. Oder verschwindet und mich abermals aus dem Nichts überfällt? In einem Meeting, im Büro oder beim Einkaufen im Supermarkt?
Ich habe Angst.
Angst vor der Angst.