Das neue Dschungelbuch - Rudyard Kipling - E-Book

Das neue Dschungelbuch E-Book

Rudyard Kipling

0,0

Beschreibung

Ein Wolfsrudel zieht den Indianerjungen Mowgli auf, der, herangewachsen, in sein Dorf zurückkehrt - um schon bald abermals zu einer Zeit der Abenteuer mit seinen Tierfreunden im Dschungel zu verschwinden.Rudyard Kipling, englischer Dichter, wurde am 30. Dezember 1865 in Bombay geboren und starb am 18. Januar 1936 in London. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Indien, kam dann nach England und unternahm später Reisen in alle Weltteile. (Quelle:Wikipedia)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 331

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das neue Dschungelbuch

Rudyard Kipling

Re-Image Publishing

Copyright: Dieses Werk ist für die Länder verfügbar, in denen das Urheberrecht Leben+ 70 beträgt und in den USA

Inhaltsverzeichnis
Wie Angst kam
Das Gesetz der Dschungel
Das Wunder des Purun Baghat
Ein Sang des Kabir
Die Dschungel los!
Moglis Gesang wider die Menschen
Die Leichenbestatter
Lied der Welle
Des Königs Ankus
Gesang des kleinen Jägers
Quiquern
Angutivun Tina
Rothund
Tschils Gesang
Der Frühlingslauf
Der Abgesang
Im Rukh

Wie Angst kam

Der Pfuhl verschrumpft, der Strom entwich, Nun sind wir Brüder, du und ich, Die Flanke matt, der Schlund verbrannt, Wir drängen uns zum Uferrand. Vom Schreck der Dürre stillgemacht, Schweigt das Gelüst nach Mord und Jagd. Das Rehkalb unterm Reh nicht schreckt Der hagre Wolf, nah hingestreckt, Der Hirsch scheut nicht das Mordgebiß, Das seines Vaters Brust zerriß. Der Pfuhl verschrumpft, der Strom entwich, Gefährten sind wir, du und ich. Doch birst die Wolke, strömt der Guß – Gut' Jagd und Wasserfriedens Schluß!

 

Das Dschungelgesetz – bei weitem das älteste Gesetz der Erde – enthält Bestimmungen für beinahe jederlei Art von Vorfällen, die sich unter dem Dschungelvolk ereignen können; und bis jetzt sind seine Gesetzestafeln so vollkommen, wie Zeit und Gewohnheit sie machen können. Wer die anderen Erzählungen über Mogli gelesen hat, wird sich erinnern, daß der Knabe einen großen Teil seines Lebens unter dem Rudel der Sioniwölfe verbrachte und von Balu, dem braunen Bären, im Dschungelgesetz unterwiesen wurde. Wenn Mogli über die ewigen Zurechtweisungen ungeduldig wurde, sagte ihm Balu, das Gesetz wäre wie eine Riesenliane, weil es sich an jedem festhänge und keiner sich ihm entziehen könnte. »Wenn du so lange gelebt haben wirst wie ich, kleiner Bruder«, fuhr Balu fort, »so wirst du sehen, wie die ganze Dschungel zumindest einem Gesetz folgt. Aber angenehm wird dir diese Erkenntnis nicht sein.«

Diese Rede ging bei Mogli zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder hinaus, denn ein Knabe, der sein Leben mit Essen und Schlafen verbringt, sieht die Sorge erst dann, wenn sie unmittelbar vor ihm steht. Aber es kam ein Jahr, da wurden Balus Worte zur Wahrheit; und Mogli erkannte, daß die ganze Dschungel nur einem einzigen Gesetz unterworfen war.

Es begann, als die Winterregen fast völlig ausblieben und Ikki, das Stachelschwein, dem Mogli in einem Bambusdickicht begegnete, ihm erzählte, daß die wilden Brotwurzeln verdorrten. Nun aber weiß man, wie lächerlich genau Ikki in der Wahl seiner Nahrung ist und daß nur das Auserlesenste und Vollsaftigste seiner Zunge genügt. So lachte Mogli und sagte: »Was kümmert das mich?«

»Jetzt vielleicht noch nicht viel«, sagte Ikki und rasselte verdrießlich mit den harten Stacheln, »aber wir werden ja sehen. Übrigens, kleiner Bruder, springst du noch immer in den tiefen Pfuhl unter den Bienenfelsen?«

»Nein. Das dumme Wasser geht immer mehr weg, und ich habe keine Lust, mir den Kopf einzuschlagen«, erwiderte Mogli, der sich in jenen Tagen klüger dünkte als fünf Dschungelgehirne zusammen.

»Dein eigener Schade. Denn ein kleines Loch in deinem Kopf würde vielleicht etwas Verstand hineinlassen.« Schnell duckte sich Ikki, damit Mogli ihn nicht an den Barthaaren zupfte. Mogli aber ging zu Balu und erzählte ihm, was Ikki gesagt hatte. Balu wurde sehr ernst und murmelte halblaut: »Wenn ich allein wäre, so würde ich jetzt schleunigst meine Jagdgründe nach einer anderen Gegend verlegen. Dennoch – unter Fremden jagen endet immer mit Kampf, und dabei könnte mein Menschenjunges zu Schaden kommen. Warten wir es ab, wie der Mohwabaum in Blüte stehen wird.«

In diesem Frühling aber trug der Mohwabaum, den Balu so liebte, keine Blüten. Die grünlichweißen, wächsernen Knospen wurden von der Hitze schon im Keim getötet; und als der Bär, auf den Hinterpranken stehend, den Baum schüttelte, fielen nur wenige übelduftende Blumenblätter herab. Dann kroch Zoll für Zoll die maßlose Hitze bis in das Herz der Dschungel, färbte sie anfangs gelb, dann braun und schließlich schwarz. Die grünen Hängegewächse an den Böschungen der Hohlwege verdorrten wie zu einem harten Drahtgewirr. In den Tümpeln im Waldesdickicht versank das Wasser, und der Boden wurde so hart, daß die letzte, leichte Fährte darin wie in Eisen gegossen abgedrückt blieb. Die saftigen Schlingpflanzen fielen von den Bäumen, die sie umschlungen gehalten, und starben zu deren Füßen. Der Bambus verdorrte und rasselte dürr, wenn der heiße Wind hindurchstrich. Das Moos schälte sich von den Felsen tief in der Dschungel, bis diese so nackt und heiß dalagen, wie das flimmernde blaue Geröll im Strombett.

Schon früh im Jahr wanderten die Vögel und Affenvölker nordwärts, denn sie wußten, was bevorstand. Die Hirsche und Wildschweine flüchteten weit weg bis auf die erstorbenen Felder der Dörfer und verendeten oft unter den Augen der Menschen, die zu kraftlos waren, um sie zu töten. Tschil, der Geier, harrte aus und wurde ungewöhnlich fett, denn überall gab es reichlich Aas; und Abend für Abend brachte er den Tieren, die nicht mehr die Kraft besaßen, zu anderen Jagdgründen zu wechseln, die Nachricht, daß die Sonne auf drei Tage Flug in jeder Richtung die Dschungel morde.

Mogli, der nie zuvor wirklich Hunger gekannt hatte, mußte sich mit drei Jahre altem, hartem und schwarz gewordenem Honig begnügen, den er aus verlassenen Bienenstöcken zwischen den Felsen herauskratzte. Auch jagte er nach Würmern, die sich unter der Baumrinde tief eingebohrt hatten und raubte den Wespen die junge Brut. Alles Wild in der Dschungel war nur noch Haut und Knochen, und Baghira, der schwarze Panther, mußte dreimal in der Nacht auf Beute ausgehen und wurde doch nicht satt. Das schrecklichste aber war der Wassermangel, und wenn auch das Dschungelvolk nur selten trinkt, so muß es doch jeweils viel und reichlich trinken.

Und die Hitze hielt immer weiter und weiter an und sog jeden Tropfen Feuchtigkeit auf, so daß zuletzt nur noch der Hauptstrom des Waingunga als einziger weit und breit ein schmales Rinnsal Wasser zwischen seinen toten Ufern barg. Als dann Hathi, der wilde Elefant, der schon über hundert Jahre alt war, ein längliches, scharfes Felsriff gerade in der Mitte desStromes bläulich-trocken aufragen sah, da wußte er, daß er den Friedensfelsen erblickte. Darauf hob er seinen Rüssel und verkündete nach allen Seiten den Wasserfrieden, so wie es fünfzig Jahre zuvor schon sein Vater getan hatte. Hirsch, Wildschwein und Büffel nahmen den Ruf auf und gaben ihn mit heiserem Laut weiter, und Tschil, der Geier, verkündete ihn, mächtige Kreise über den Bäumen schlagend, pfeifend und krächzend weithin über die Dschungel.

Das Dschungelgesetz verbietet bei Todesstrafe jedem Tier, an den Tränkplätzen zu töten, sobald der Wasserfrieden verkündet ist. Denn Trinken ist immer noch wichtiger als Nahrung. Jeder in der Dschungel kann sich immer noch auf irgendeine Weise durchhelfen, wenn das Wildbret knapp wird; aber Wasser bleibt Wasser, und wenn nur noch eine Tränke vorhanden ist, so hört alle Jagd auf, solange das Dschungelvolk dort seinen Durst löscht. In guten Jahreszeiten, wenn es überall reichlich Wasser gab, kamen die Tiere zur Tränke des Waingunga oder irgendeiner anderen nur unter Gefahr ihres Lebens, und diese Gefahr bedeutete nicht den kleinsten der Reize bei diesem nächtlichen Tun. Sich ans Ufer hinabzuschleichen, daß kein Blatt sich rührte, knietief in den gurgelnden Schnellen des Stroms zu waten, die alles Geräusch übertönen, zu trinken mit rückwärts über die Schulter spähendem Blick, jede Muskel gespannt, bereit zum ersten verzweifelten Sprung des Entsetzens, sich im nassen Ufersande zu wälzen und dann mit feuchtem Geäse zum bewundernden Rudel zurückzukehren mit dem Bewußtsein, daß jeden Augenblick Baghira oder Schir Khan ihnen im Nacken sitzen könnten, um sie zu Boden zu schlagen, das war der Stolz und das Entzücken jedes jungen, glatt gehörnten Rehbocks. Aber nun war es mit all diesem Leben- und Todesspiel zu Ende, und das Dschungelvolk kam müde und verhungert zum spärlich rinnenden Fluß – Tiger, Bär, Rotwild, Büffel und Eber, sie alle schlürften einträchtig zusammen das faulende Wasser und lagen herum, zu erschöpft, um sich auch nur zu bewegen. Von morgens bis abends waren Hirsch und Wildschwein umhergestreift, um etwas Besseres zu finden als trockene Rinde und verwelkte Blätter. Die Büffel hatten nirgends Schlammpfützen gefunden, sich zu kühlen, noch einen grünen Halm zum Äsen. Die Schlangen hatten das Dickicht der Dschungel verlassen und lungerten am Flußufer herum in der Hoffnung, einen verirrten Frosch zu finden. Sie wanden sich um feuchte Steine und machten nicht einmal einen Versuch zu beißen, wenn die Schnauze eines wühlenden Keilers sie fortschob. Die Flußschildkröten waren schon längst von Baghira, dem klügsten der Jäger, weggefangen, und die Fische hatten sich tief in dem rissigen Schlamm vergraben. Der Friedensfelsen aber lag über den seichten Gewässern, einer riesigen Schlange vergleichbar, und die kleinen müden Wellen verdampften zischend an seinen glühendheißen Flanken.

Hierher kam Mogli allnächtlich, um Kühle zu finden und Gesellschaft. Selbst der hungrigste seiner Feinde würde jetzt kaum von dem Knaben Notiz genommen haben. Seine nackte Haut ließ ihn noch abgemagerter und elender erscheinen als alle seine Gefährten. Sein Haar war von der Sonne flachsfarben gebleicht. Die Rippen traten ihm hervor wie das Geflecht eines Korbes, und die Schwielen an Knien und Ellenbogen vom Laufen auf allen vieren auf der Erde sahen aus wie die Knoten in Grasstengeln. Aber sein Auge blickte kalt und gelassen unter dem lichten Haarschopf hervor, denn Baghira, sein Ratgeber in dieser Zeit der Not, hatte ihm ans Herz gelegt, sich immer ruhig zu bewegen, ganz gemächlich zu jagen, und vor allem niemals in Wut zu geraten.

»Böse Zeiten sind's«, sagte der schwarze Panther zu ihm an einem glühendheißen Abend, »doch auch sie werden vorübergehen, falls wir bis dahin noch am Leben sind. Ist dein Magen gefüllt, Menschenjunges?«

»Allerlei ist in meinem Wanst, aber es gibt mir keine Kraft. Was glaubst du, Bahira, haben die Regen uns vergessen, und werden sie niemals wiederkommen?«

»Das glaube ich nicht. Wir werden die Mohwa wieder in Blüte stehen sehen und das Rehkitz aufgetrieben vom jungen Gras. Komm mit mir zum Friedensfelsen, um zu hören, was es Neues gibt. Auf meinen Rücken, kleiner Bruder!«

»Jetzt ist nicht Zeit, Lasten zu tragen. Noch kann ich allein gehen, aber – wahrlich, Mastochsen sind wir gerade nicht, wir beiden.« Baghira blickte auf seine eingesunkenen, staubigen Flanken und sagte leise: »Vergangene Nacht tötete ich einen Ochsen im Joch. So tief bin ich heruntergekommen, daß ich wahrscheinlich den Sprung nicht gewagt hätte, wäre er frei gestanden. Uuah!«

Mogli lachte. »Wahrhaftig, große Jäger sind wir jetzt«, sagte er. »Ich bin sehr tapfer – im Würmerfressen!« Die beiden stiegen zusammen durch knackendes Gehölz zum Ufer des Flusses hinunter, wo die Sandbänke gleich einem Netzwerk den Strom nach allen Richtungen durchzogen.

»Lange kann das Wasser nicht mehr leben«, sagte Balu, der sich zu ihnen gesellte. »Schaut hinüber. Fährten sind dort, so breit wie Menschenstraßen.«

Auf dem flachen Hang am jenseitigen Ufer war das spröde Dschungelgras stehend verwelkt und im Verwelken gleichsam mumifiziert. Die Fährten des Rot- und Schwarzwildes, die alle zum Fluß hinunterführten, hatten durch das zehn Fuß hohe Gras breite staubige Gassen getreten, wie Hohlwege; und obwohl es früh am Abend war, drängte sich schon allerlei Getier durch die Gasse, das eilig zum Wasser strebte. Man konnte das heisere Husten der Hirschkühe und Rehkälber in der stauberfüllten Luft hören.

Weiter stromaufwärts, da, wo das nun fast stillstehende Wasser eine Biegung um den Friedensfelsen, den Hüter des Wasserfriedens machte, stand Hathi, der Elefant, mit seinen Söhnen, hager und grau vom Mondlicht beschienen, sich rastlos hin und her wiegend. Etwas unterhalb stand die eingetroffene Vorhut des Rotwildes, und weiter dann war der Platz für Wildschweine und Büffel. Am anderen Ufer aber, da, wo die mächtigen Bäume sich bis an den Rand des Wassers hinzogen, war getrennt die Tränke für fleischfressende Tiere – Tiger, Wölfe, Panther, Bären und andere. »Wahrlich, wir stehen alle unter einem einzigen Gesetz«, sagte Baghira, ins Wasser planschend, und blickte begehrlich hinüber zu den Reihen klappernder Gehörne und furchtsam starrender Augen, da, wo Rotwild und Schweine sich hin und her schoben. »Gute Jagd euch allen, ihr von meinem Blute«, fügte er hinzu und legte sich lang in das flache Wasser, wobei die eine seiner mageren Flanken herausragte. Dann stieß er zwischen den Zähnen hervor: »Wäre das Gesetz nicht, so könnte die Jagd wirklich großartig sein.«

Die scharfen Gehöre des Wildes hörten die Drohung, und angstvolles Gemurmel lief durch die Reihen: »Der Wasserfrieden! Achte den Frieden!«

»Ruhe da! Ruhe!« gurgelte Hathi, der Elefant. »Der Friede besteht zu Recht, Baghira! Zur Unzeit sprichst du von Jagd.«

»Wer wüßte das besser als ich!« antwortete Baghira und richtete die fahlen Augen stromaufwärts. »Ein Schildkrötenfresser bin ich geworden – ein Froschfänger. Ngayah! Könnte ich nur vom Benagen der Äste Kraft bekommen!«

»Auch wir wünschen das, sogar sehr«, blökte ein junger Bock, der erst im Frühling geboren war und der Zukunft nicht traute. Hier konnte selbst Hathi ein Schmunzeln nicht unterdrücken, so elend es auch allem Dschungelvolk ging, und Mogli, der auf die Ellenbogen gestützt im warmen Wasser lag, lachte laut auf und schlug Schaum mit den Füßen.

»Gut gesprochen, kleines Knospenhorn«, schnurrte Baghira. »Wenn der Frieden zu Ende geht, werde ich dich schonen«, und er spähte scharf durch die Dämmerung, um den jungen Bock später wiederzuerkennen.

So gingen die Reden stromauf und stromab an den Tränkplätzen. Schweine hörte man grunzen und stoßen, die sich um den Platz balgten; die Büffel stöhnten und schnaubten, wenn sie sich auf den Sandbänken drängten, und das Wild erzählte sich traurige Geschichten von langer, mühseliger Nahrungssuche und wundgelaufenen Füßen. Hier und da warf man Fragen zu den Fleischfressern an den anderen Ufern des Stroms hinüber, aber nur trostloser Bescheid kam zurück. Und der heiße Wind der Dschungel heulte in langgezogenen Stößen zwischen den Felsen und wirbelte Staub und trockene Äste über den Strom.

»Auch das Menschenvolk stirbt jetzt neben der Pflugschar«, raunte ein junger Samburhirsch.

»An dreien zog ich vorüber, zwischen Sonnenuntergang und Nacht. Still lagen sie, und neben ihnen ihre Ochsen. Bald werden wir auch stilliegen.«

»Seit der letzten Nacht ist der Strom noch gefallen«, sagte Balu. »O Hathi! Hast du je eine solche Dürre gesehen?«

»Sie wird vorübergehen, wird vorübergehen«, sprach Hathi, sich Rücken und Seiten mit Wasser bespritzend.

»Einer ist hier, der es nicht mehr lange aushält«, sagte Balu, und er blickte nach dem Knaben, den er liebte.

»Ich?« sagte Mogli entrüstet und setzte sich im Wasser auf. »Zwar habe ich kein dichtes Fell, um meine Knochen zu bedecken, aber wenn man dir das Fell abzöge, Balu… «

Hathi schüttelte sich unwillig, und Balu sagte streng:

»Unschicklich ist es, Menschenjunges, so zu einem Gesetzeslehrer zu sprechen. Noch nie hat mich einer ohne mein Fell gesehen.«

»Na, ich habe es nicht bös gemeint, Balu. Ich meinte nur, du gleichst einer Kokosnuß in der Schale, und ich bin wie eine abgeschälte Kokosnuß. Nun sieh: deine braune Schale… « Mogli saß mit gekreuzten Beinen und erklärte, wie er es immer tat, mit erhobenem Zeigefinger, als Baghira ihn mit sanftem Pfotenschlag kopfüber ins Wasser warf.

»Das wird ja immer toller«, brummte der schwarze Panther, indes sich der Knabe pustend wieder herausarbeitete, »erst ziehst du Balu das Fell ab, und dann soll er eine Kokosnuß sein. Nimm dich nur in acht, daß er dir nicht tut, was reife Kokosnüsse oft tun«.

»Und das wäre?« fragte Mogli, der im Augenblick nicht auf seiner Hut war, obwohl das einer der ältesten Scherze in der Dschungel ist.

»Dir den Kopf einschlagen«, sagte Baghira ruhig, ihn abermals ins Wasser tauchend.

»Das kommt davon, wenn man sich über seinen Lehrer lustig macht«, meinte der Bär, als Mogli zum drittenmal untergetaucht war.

»Was könnt ihr auch anderes erwarten von so einem nackten Ding, das umherrennt und mit denen, die einst gute Jäger waren, seinen Affenspaß treibt. Die Besten unter uns zupfte er an ihren Bartborsten aus Übermut.«

Also sprach Schir Khan, der lahme Tiger, zum Wasser hinkend. Er wartete ein wenig, um sich an dem Schreck zu weiden, der unter das Jagdwild am anderen Ufer bei seinem Erscheinen gefahren war; dann senkte er den eckigen Kopf und begann knurrend zu saufen. »Ein Tummelplatz ist jetzt die Dschungel geworden für nacktes Gezücht. Sieh mich an, Menschenjunges!«

Mogli blickte ihm ins Auge – er starrte vielmehr, so herausfordernd er konnte, und nach kurzem wandte Schir Khan sich ab. »Menschenjunges hin und Menschenjunges her«, grollte er weitersaufend; »das Junge ist weder Mensch noch Tier, sonst hätte es Furcht bekommen. Nächstens werde ich wohl noch um Erlaubnis fragen müssen, ob ich hier trinken darf. Auruff!«

»Leicht möglich«, sagte Baghira, ihm ruhig zwischen die Augen blickend, »das kann leicht so kommen… Faoh, Schir Khan, welch neue Schmach schleppst du hierher?«

Der lahme Tiger hatte sein Maul tief ins Wasser getaucht, und dunkle ölige Streifen flossen von ihm stromab.

»Menschenwild«, gähnte Schir Khan kühl, »ich erlegte es vor einer Stunde.« Und er schnurrte und knurrte in sich hinein.

Unruhe wogte durch die Reihen der Tiere, und ein Flüstern kam auf, das zum Schrei anwuchs. »Menschen, Menschen! Er hat Menschen getötet!« Dann blickten alle nach Hathi, dem Elefanten, aber er schien nicht zu hören. Niemals handelte Hathi vor der Zeit, und das ist einer der Gründe seines langen Lebens.

»Menschen zu töten in so schlimmer Zeit! Kam dir denn kein anderes Wild in den Weg?« sagte Baghira verächtlich und erhob sich aus dem nun besudelten Wasser, die Tatzen nach Katzenart schüttelnd.

»Zum Zeitvertreib tötete ich – nicht zur Nahrung.«

Wieder erhob sich entsetztes Flüstern, und Hathis kleines weißes wachsames Auge richtete sich auf Schir Khan. »Zum Zeitvertreib«, wiederholte Schir Khan gedehnt. »Jetzt komme ich zur Tränke, um mich zu säubern, hat jemand etwas dagegen?«

Baghiras Rücken krümmte sich wie Bambus im Sturm. Hathi jedoch erhob seinen Rüssel und fragte ruhig:

»Aus Willkür hast du getötet?« Und wenn Hathi eine Frage stellt, ist es geraten zu antworten.

»Das tat ich. Mein Recht war es und meine Nacht. Du weißt es, o Hathi!« Fast unterwürfig hatte Schir Khan gesprochen.»Ich weiß«, erwiderte Hathi; und nach einem kurzen Schweigen: »Hast du dich satt getrunken?«

»Für heute nacht, ja.«

»So geh' denn. Der Fluß ist zum Trinken da und nicht zum Besudeln. Nur der lahme Tiger bringt es fertig, sich mit seinem Recht zu brüsten in einer Zeit wie dieser, wo wir alle gemeinsam leiden, Menschen- und Dschungelvolk, rein oder unrein. Troll' dich in deine Höhle, Schir Khan!«

Die letzten Worte dröhnten hell wie Trompetenklang, und Hathis drei Söhne schoben sich einen halben Schritt vor; doch es war nicht nötig. Schir Khan schlich sich davon und wagte nicht einmal zu knurren; denn er wußte wie alle – kommt es zum letzten, so ist Hathi Meister der Dschungel.

»Von welchem Recht sprach Schir Khan?« flüsterte Mogli in Baghiras Ohr. »Menschen zu töten ist immer schmachvoll. So lautet das Gesetz. Jetzt aber sagt Hathi – –«

»Frag' ihn selbst. Ich weiß es nicht, kleiner Bruder. Recht oder nicht recht, hätte Hathi geschwiegen, so hätte ich den hinkenden Schlächter schon gelehrt, das Gesetz zu achten. Zum Friedensfelsen zu kommen, frisch vom Menschenmord, und sich dessen noch zu rühmen, das ist Schakalstreich! Außerdem besudelt er uns das gute Wasser!«

Mogli wartete noch ein wenig, um Mut zu sammeln, denn es ist wahrlich keine Kleinigkeit, Hathi so direkt anzureden. Dann rief er: »Was ist das Recht Schir Khans, o Hathi?«

Auf beiden Ufern wurde der Ruf aufgenommen und wiederholt, denn die Bewohner der Dschungel sind immer begierig, Neues zu hören; auch war ihnen unverständlich geblieben, was sich eben ereignet hatte. Nur Balu, der sehr nachdenklich blickte, schien es zu wissen.

»Es ist eine alte Geschichte«, sagte Hathi, »eine Geschichte, älter als die Dschungel. Haltet Ruhe, ihr da an den Ufern, und ich will euch die Geschichte erzählen.«

Unter den Schweinen und Büffeln entstand ein kurzes Schieben und Drängen, und dann riefen die Leittiere eins nach dem anderen: »Wir hören.« Hathi schritt vor, bis er knietief im Wasser bei dem Friedensfelsen stand. Faltig, abgemagert, mit gelblichen Stoßzähnen blieb er doch, wofür das Volk der Dschungel ihn hielt, ihr Meister.

»Ihr wißt, Kinder«, begann er, »daß ihr am meisten von allen den Menschen fürchtet.«

Zustimmendes Gemurmel erklang aus den Reihen der Tiere.

»Dich geht diese Geschichte an, kleiner Bruder«, sagte Baghira zu Mogli.

»Mich? Wieso? Ich gehöre zum Rudel, bin Jäger eines freien Volkes. Was habe ich mit den Menschen zu tun!«

»Unbekannt ist euch, warum ihr den Menschen fürchtet«, fuhr Hathi fort. »Dies ist der Grund: Ganz im Anfang, als die Dschungel entstand – und keiner weiß, wann das war –, lebten wir von der Dschungel alle friedlich beisammen, und keiner hatte Furcht vor dem anderen. Keine Trockenheit gab es in jenen Tagen, und Blätter, Blüten und Frucht wuchsen auf gleichem Baum, und wir aßen nur Frucht und Blätter und Blüten und Gras und Rinde.«

»Gut, daß ich damals noch nicht lebte«, meinte Baghira. »Rinde ist nur gut, um sich die Klauen daran zu schärfen.«

»Und der Herr der Dschungel war Tha, der Urvater der Elefanten. Mit seinem Rüssel zog er aus tiefen Wassern die Dschungel, und wo er mit den Hauern Furchen in die Erdrinde grub, da rannen Flüsse, und wo er aufstampfte mit seinem Fuß, da entstanden Teiche mit gutem kühlem Wasser, und blies er Wind durch den Rüssel – – so – – dann fielen die Bäume tun. Also schuf Tha die Dschungel, und so wurde mir die Geschichte überliefert.«

»An Fett hat sie in der langen Zeit nichts verloren«, flüsterte Baghira, und Mogli lachte verstohlen hinter seiner Hand.

»In jenen Tagen gab es weder Mais noch Melonen noch Pfeffer oder Zuckerrohr, auch nicht jene kleinen Hütten, wie ihr sie alle schon gesehen habt. Und das Dschungelvolk wußte nichts vom Menschen und lebte einträchtig beisammen als ein Volk. Doch bald hoben sie an, über das Futter zu streiten, obgleich Nahrung genug für alle war. Träge wurden sie. Jeder wünschte da zu fressen, wo er gerade lag, wie wir es noch heute zuweilen tun, wenn die Frühlingsregen reichlich gefallen sind. Tha, der erste Elefant, war eifrig beschäftigt, neue Dschungel zu schaffen und das Wasser in die Flußbetten zu leiten. Er konnte nicht überall sein, und so ernannte er den ersten Tiger zum Meister und Richter über die Dschungel; vor ihn sollte das Dschungelvolk all seine Streitigkeiten bringen. In jenen Tagen fraß der Stammvater der Tiger nur Früchte und Gras gleich den anderen. So groß war er wie ich, und sehr schön war er anzusehen, ganz in der Farbe der gelben Lianenblüte. Keinen Streifen oder Flecken hatte sein Fell in jenen guten Tagen, als die Dschungel eben erst erschaffen war. Alle Bewohner der Dschungel kamen zu ihm ohne Furcht, und sein Wort war Gesetz. Denn, denkt daran, damals waren wir ein einziges Volk.

In einer Nacht aber entbrannte wiederum Streit zwischen zwei Böcken – ein Futterstreit, wie ihr ihn jetzt mit Kopf und Vorderläufen austragt –, und als nun die beiden mit ihrem Streit vor den Stammvater der Tiger kamen, der unter Blumen ruhte, da stieß ihn einer der Böcke mit dem Gehörn, und der erste Tiger vergaß, daß er der Herr war und Richter der Dschungel, er warf sich über den Bock und brach ihm den Nacken.

Bis zu dieser Nacht war niemals einer von uns gestorben; und als der erste Tiger sah, was er getan hatte, und der Geruch des Blutes ihm die Sinne verwirrte, da entwich er nach den Sümpfen des Nordens; und wir, das Dschungelvolk, waren nun ohne Richter und begannen untereinander zu kämpfen. Tha vernahm das Getöse und kam zurück. Einige von uns sagten dies, einige das; aber Tha sah den toten Bock zwischen den Blumen liegen und fragte nach dem Mörder. Aber wir vom Dschungelvolk wollten es nicht sagen, weil der Geruch des Blutes auch uns verwirrte, so wie er uns heute verwirrt hat. Wir rannten im Kreise umher, machten Luftsprünge, schrien und warfen die Köpfe. Da gab Tha den Bäumen mit tiefhängenden Zweigen und den rankenden Schlingpflanzen der Dschungel den Befehl, den Mörder des Bockes zu zeichnen, und sagte dann: ›Wer will nun Herr sein über das Dschungelvolk?‹ Da sprang der graue Affe, der in den Bäumen lebt, herbei und sagte: ›Ich will jetzt Herr sein in der Dschungel!‹ Tha lachte und sagte: ›So sei es denn‹, und ging zornig von dannen.

Ihr kennt, meine Kinder, den grauen Affen. Wie er heute ist, so war er damals. Zu Anfang machte er ein weises Gesicht, bald aber begann er sich zu kratzen und auf und ab zu hüpfen. Als Tha zurückkehrte, fand er den grauen Affen Kopf nach unten an einem Ast baumeln und die Untenstehenden nachäffen, die ihn wiederum verspotteten. Und so gab es kein Gesetz in der Dschungel, nur dummes Geschwätz und Worte ohne Sinn.

Da aber rief Tha uns alle zusammen und sagte also: ›Der erste eurer Meister brachte den Tod in die Dschungel und der zweite die Schande. Nun ist es an der Zeit, ein Gesetz zu schaffen, ein Gesetz, das ihr nicht brechen könnt. Jetzt sollt ihr Angst kennenlernen, und wenn ihr ihn gefunden habt, so wisset, soll er euer Meister sein – und das andere wird folgen.‹ Da fragten wir von der Dschungel: ›Wer ist Angst?‹ Und Tha sagte: ›Suchet, bis ihr findet!‹ So eilten wir kreuz und quer durch die Dschungel und suchten Angst, und da kamen auf einmal die Büffel – – «

»Uff!« schnaubte Mysa, der Leitstier der Büffel, von der Sandbank her.

»Ja, Mysa, es waren Büffel. Sie kamen zurück mit der Nachricht, in einer Höhle der Dschungel säße Angst, und er sei unbehaart und stünde und liefe auf den Hinterbeinen. Wir von der Dschungel aber folgten den Büffeln, bis wir zur Höhle kamen, und Angst stand am Eingang, und er war, wie die Büffel gemeldet, haarlos, und stand auf den Hinterbeinen. Als er uns sah, schrie er laut, und seine Stimme erfüllte uns mit der Angst, die wir jetzt haben, und fort stoben wir, uns tretend und stoßend, denn wir hatten Angst. In jener Nacht nun, so wird erzählt, lagen wir nicht alle zusammen, nach alter Gewohnheit, sondern jeder Stamm zog allein für sich davon – Schwein mit Schwein, Wild mit Wild; Horn gesellte sich zu Horn und Huf zu Huf –, Art hielt sich an Art und lag zitternd in der Dschungel. Nur der Stammvater der Tiger war nicht unter uns, denn er hielt sich noch in den Sümpfen des Nordens verborgen. Als ihm nun Kunde kam von dem Ding, das wir in der Höhle gesehen hatten, da sagte er: ›Ich werde hingehen zu dem Ding und ihm das Genick brechen.‹ Also lief er die ganze Nacht durch, bis er zur Höhle kam; aber die Bäume und Schlingpflanzen auf seinem Wege gedachten Thas Befehl und senkten ihre Zweige, als er vorüberkam, und zeichneten ihn über Rücken und Flanken, über Kopf und Lefzen. Wo immer sie ihn berührten, da entstanden Streifen und Flecken auf seinem gelben Fell. Und diese Streifen tragen seine Kinder noch heute. Als er nun zu der Höhle kam, streckte Angst, der Haarlose, die Hand aus und nannte ihn: ›Der Gestreifte, der nächtens hier herumstreift‹, und der erste Tiger fürchtete sich vor dem Haarlosen und lief heulend zurück nach den Sümpfen.«

Hier lachte Mogli leise, mit dem Kinn unter Wasser.

»So laut heulte und schrie er, daß Tha ihn hörte und fragte: ›Was hast du für Kummer?‹ Und der Stammvater der Tiger hob seinen Kopf zu dem eben erst geschaffenen Himmel, der jetzt so alt ist, und rief: ›Gib mir meine Macht zurück, o Tha! Geschändet stehe ich vor allem Volk in der Dschungel, geflohen bin ich vor dem Haarlosen, und er gab mir einen schmachvollen Namen.‹ ›Und weshalb?‹ fragte Tha. ›Weil ich beschmutzt bin mit dem Schlamm der Moräste‹, sagte der erste Tiger. ›Dann geh' schwimmen‹, sagte Tha, ›und rolle dich im nassen Gras; wenn es Schlamm ist, wird es sicher abgehen.‹ Und der erste der Tiger schwamm umher im Wasser und rollte und rollte sich im Grase, bis die Dschungel sich vor seinen Augen drehte, aber nicht der kleinste Streifen auf seiner Haut verschwand, und Tha, der ihm zugesehen hatte, lachte. Da sagte der erste der Tiger: ›Was habe ich getan, daß dies über mich kommen mußte?‹

Tha aber sprach: ›Du hast den Bock gemordet und hast so den Tod in die Dschungel gebracht. Nur mit dem Tod kam Angst, daß die Völker in der Dschungel einander fürchten, wie du dich vor dem Haarlosen gefürchtet hast.‹ Der Stammvater der Tiger sagte darauf: ›Mich werden sie niemals fürchten; denn ich kannte sie von Anfang an.' Tha antwortete: ,Geh' und überzeuge dich!‹

Und der erste Tiger rannte umher, laut dem Wild, dem Sambar rufend, dem Stachelschwein und allen Dschungelbewohnern; aber sie flüchteten vor ihm, der ihr Richter gewesen war – – – denn nun kannten sie Angst.

Da kam der Stammvater der Tiger zurück; sein Stolz war gebrochen, er schlug seinen Kopf gegen den Boden, riß die Erde mit seinen Tatzen auf und sagte: ›Bedenke, o Tha, daß ich einst Herr war über die Dschungel! Vergiß mich nicht! Mache, daß meine Kinder sich immer daran erinnern, daß ich einst ohne Angst war und ohne Schande.‹ Und Tha sagte: ›Dies eine will ich für dich tun, weil du und ich, wir beide gesehen haben, wie die Dschungel entstand. Für eine Nacht in jedem Jahr soll es sein wie vordem, ehe du den Bock getötet hast. In dieser einen Nacht aber, so ihr treffet den Haarlosen – und sein Name ist Mensch –, sollt ihr vor ihm nicht Angst noch Entsetzen verspüren, sondern er soll sich fürchten vor dir und deinem Geschlecht, als wäret ihr noch Richter und Meister der Dschungel. Aber zeige ihm Gnade und Mitleid in dieser Nacht seiner Angst, denn du weißt nun, was Angst ist.‹

Darauf erwiderte der Stammvater der Tiger: ›Ich bin es zufrieden.‹ Aber als er das nächste Mal trank, sah er im Wasser die schwärzlichen Streifen auf seinen Flanken; und er gedachte des Namens, den der Haarlose ihm gegeben hatte, und war zornig. Ein Jahr lebte er in den Sümpfen und wartete ab, ob Tha sein Versprechen halten würde. Und in einer Nacht, da der Schakal des Mondes, der Abendstern, klar und hell über der Dschungel stand, fühlte er, daß seine Nacht gekommen war, und er ging zu der Höhle, den Haarlosen zu treffen. Das geschah, wie Tha versprochen, denn der Haarlose fiel nieder vor ihm und lag hingestreckt am Boden, und der erste der Tiger schlug ihn und zerbrach ihm das Rückgrat. Und er glaubte, daß nur ein einziges solches Ding in der Dschungel wäre und daß er Angst getötet habe. Als er aber, über dem Opfer stehend, im Wind witterte, hörte er Tha von den Wäldern des Nordens herabsteigen, und dann hörte er die Stimme des Urvaters der Elefanten, welches die Stimme ist, die wir jetzt vernehmen – –«

Hier rollte der Donner zwischen den zerfurchten kahlen Hügeln auf und ab; aber er brachte keinen Regen, nur Wetterleuchten zuckte über das Felsgezack hin, und Hathi fuhr fort:

»Das war die Stimme, die der Tiger hörte; und sie sprach: ›Ist das dein Mitleid?‹ Der erste Tiger aber leckte sich die Lefzen und sagte: ›Was tut's? Ich habe Angst getötet!‹

Und Tha sagte: ›Oh, du blinder Tor, du! Die Füße des Todes hast du entfesselt, und folgen wird er deiner Spur, bis du stirbst. Den Menschen hast du das Töten gelehrt.‹

Der erste Tiger aber stand zu seinem Mord und sprach: ›Er ist nun so, wie der Bock war. Angst ist nicht mehr. Nun will ich wieder Richter sein über das Volk der Dschungel.‹

Und Tha sagte: ›Niemals wird das Dschungelvolk zu dir kommen. Sie werden nie deine Spur kreuzen, noch neben dir ruhen, noch dir folgen, noch weiden bei deinem Lager. Nur Angst wird dir folgen, und mit dem Schlag, den du nicht sehen kannst, wird er dich zwingen nach seinem Willen. Er wird machen, daß der Boden sich unter dir öffnet und daß sich dir die Schlingpflanzen um den Hals legen und die Baumstämme um dich zusammenwachsen, höher, als du springen kannst, und zuletzt wird er dir dein Fell nehmen, um seine Jungen darein zu hüllen, wenn sie frieren. Du hattest kein Mitleid mit ihm, und kein Mitleid mit dir wird er je haben.‹

Der erste Tiger war aber sehr kühn, denn noch war seine Nacht über ihm, und er sagte: ›Thas Wort ist Thas Wort! Meine Nacht wird er mir nicht nehmen!‹

Und Tha antwortete: ›Diese eine Nacht bleibt dein, wie ich dir gesagt habe; doch ein Preis ist dafür zu zahlen. Du hast den Menschen das Töten gelehrt, und der Mensch ist kein langsamer Schüler.‹

Darauf der erste der Tiger: ›Hier liegt er unter meiner Tatze mit gebrochenem Rücken. Verkünde der Dschungel, daß ich Angst getötet habe.‹

Da lachte Tha und sagte: ›Getötet hast du nur einen unter vielen; aber du magst es selbst der Dschungel verkünden – denn deine Nacht ist um.‹

So dämmerte der Tag, und aus der Tiefe der Höhle trat wiederum ein Haarloser hervor, und er sah den Ermordeten auf dem Wege und den ersten Tiger über ihm. Da ergriff er einen spitzen Stab – –«

»Jetzt werfen sie ein Ding, das schneidet«, sagte Ikki, das Stachelschwein, und rasselte an der Uferbank. Denn Ikki galt als ungemein schmackhaft bei den Gonds – Ho Igu nennen sie es –, so konnte er einiges erzählen von den kleinen Gondäxten, die durch die Luft wirbeln wie eine Libelle.

»Ein spitzer Stab war es«, fuhr Hathi fort, »so wie sie ihn in den Boden der Grubenfalle stecken, und der Haarlose schleuderte ihn tief in die Flanke des ersten der Tiger. So kam es, wie Tha gesagt hatte, denn der erste Tiger lief heulend umher in der Dschungel, bis er den Stab herausgezerrt hatte; und das ganze Dschungelvolk wußte nun, daß der Haarlose aus der Ferne treffen konnte, und Angst ergriff sie mehr denn zuvor. So also kam es, daß der Stammvater der Tiger den Menschen das Töten lehrte, und ihr alle wißt, wieviel Leid dadurch über unser Volk kam – durch die Schlinge, die Grube, die verborgene Falle, den schwirrenden Stab und die stechende Fliege, die aus dem weißen Rauch hervorkommt (Hathi meinte die Flinte), und die rote Blume, die uns hinaustreibt ins offene Land. Dennoch in einer Nacht in jedem Jahr fürchtet der Haarlose den Tiger, wie Tha es versprochen, und stets hat der Tiger diese Furcht wachgehalten. Wo er den Haarlosen in dieser Nacht findet, tötet er ihn, eingedenk der Schande, die über den Stammvater der Tiger kam. Sonst aber geht Angst um in der Dschungel bei Tag und bei Nacht.«

»Ahi! Auuh!« seufzte das Wild in Gedanken daran, was das für alle bedeutete.

»Und nur, wenn eine große Angst über uns allen liegt, wie jetzt, dann können wir von der Dschungel unsere kleinen Ängste abwerfen und alle an einem Ort zusammenkommen, wie wir es heute tun.«

»Nur für eine Nacht fürchtet der Mensch den Tiger?« fragte Mogli.

»Nur für eine Nacht«, antwortete Hathi.

»Aber ich – aber wir – aber die ganze Dschungel weiß, daß Schir Khan zwei- und dreimal Menschen tötet in einem Mond.«

»So ist es. Dann aber springt er von hinten an und dreht den Kopf weg, wenn er schlägt, denn er ist voller Angst. Wenn der Mensch ihn ansähe, würde er entfliehen. In seiner Nacht aber geht er ganz offen hinunter in die Dörfer. Zwischen den Hütten schreitet er und steckt den Kopf durch die Türen, und die Menschen fallen auf ihr Antlitz, und dann vollbringt er sein Töten. Einen Mord nur in dieser Nacht.«

»Aha!« sagte Mogli für sich und drehte sich im Wasser um. »Nun weiß ich auch, warum Schir Khan mich aufforderte, ihm in die Augen zu sehen. Aber es hat ihm nichts genutzt; denn er konnte meinen Blick nicht aushalten, und ich fiel auch keinen Augenblick vor ihm nieder. Aber ich bin ja auch kein Mensch, sondern einer vom freien Volke.«

»Wumm!« brummte Baghira, tief in seiner pelzigen Kehle. »Weiß denn der Tiger, wann seine Nacht über ihm ist?«

»Erst dann weiß er es, wenn der Mondschakal klar über den Abendnebeln steht. Manchmal fällt sie in den trockenen Sommer, manchmal in die nasse Regenzeit – diese eine Nacht des Tigers. Wäre nicht der Stammvater der Tiger gewesen, würde das niemals geschehen sein, noch hätte einer von uns je Angst gekannt.«

Das Wild stöhnte kummervoll; aber Baghiras Lippen kräuselte ein böses Lächeln. »Kennen die Menschen diese – diese Geschichte?« fragte er.

»Niemand kennt sie, nur die Tiger und wir, die Kinder des Elefanten Tha. Nun aber habt ihr gehört, ihr alle hier am Fluß – und ich habe gesprochen.«

Und Hathi tauchte seinen Rüssel in das Wasser zum Zeichen, daß er nicht mehr reden wollte.

»Aber – aber«, wandte sich Mogli an Balu, »warum fraß denn der erste Tiger nicht weiter Gras und Blumen und Blätter? Er brach dem Bock wohl das Genick, aber er fraß ihn nicht auf. Was führte ihn denn zu dem dampfenden Fleisch?«

»Die Bäume und Schlingpflanzen zeichneten ihn zu dem Gestreiften, als den wir ihn kennen, kleiner Bruder, niemals wieder seitdem wollte er Frucht und Gras fressen; und von dem Tage an rächte er sich an dem Wild und den anderen Grasfressern«, sagte Balu.

»Du kanntest also die Geschichte? He, warum habe ich sie nie von dir gehört?«

»In der Dschungel gibt es eine Unzahl solcher Geschichten. Finge ich erst an zu erzählen, wäre kein Ende abzusehen. Laß mein Ohr los, kleiner Bruder.«

Das Gesetz der Dschungel

Um einen Begriff zu geben von der ungeheuren Mannigfaltigkeit des Dschungelrechts, habe ich einige Gesetze, die den Wölfen gelten, in Verse gesetzt (Balu trug sie stets in einer Art Singsang vor).

       

Dies sind die Gesetze der Dschungel,     so alt und so klar wie das Licht; Der Wolf, der sie hält, wird gedeihen,     und sterben der Wolf, der sie bricht. Lianengleich schlingt das Gesetz sich,     voran und zurück, auf und ab; Die Stärke des Packs ist der Wolf,     und die des Wolfs ist das Pack. Wasch' täglich vom Kopf bis zum Schwanz dich –     trink' tief, aber trink' mit Bedacht; Und wisse, bei Tag sollst du schlafen,     und jagen sollst du bei Nacht. Der Schakal mag folgen dem Tiger,     doch Kind, wenn gewachsen dein Bart – Bedenke, der Wolf ist ein Jäger –,     such' Nahrung, wie's ziemt deiner Art. Halt' Ruh' mit dem Tiger und Panther,     dem Bären, der Dschungel Herr'n, Und störe nicht Hathi, den Stillen,     dem Eber im Lager bleib' fern. Wenn Pack stößt auf Pack in der Dschungel,     wer fügt sich, wer weicht zur Seite? Lieg' still, bis die Führer geredet,     gut Wort oft schlichtet den Streit. Bekämpfst du den Wolf aus dem Packe,     kämpf' fernab und kämpfe allein. Sonst frißt der Streit auch die andren     und lichtet befreundete Reih'n.  Die Höhle des Wolfs ist ihm Zuflucht,     grub er sie offen am Licht, So macht ihm der Rat durch Boten     das Wechseln der Höhle zur Pflicht. Und wenn ihr vor Mitternacht jaget,     so weckt nicht den Wald mit Geschrei, Denn schnell flieht das Wild aus den Ähren,     eure Brüder geh'n leer aus dabei. Für dich, für den Wurf, für die Wölfin     tot' reichlich, doch niemals zur Lust, Und siebenmal: Tot' nicht den Menschen,     der Satzung bleibe bewußt! Nicht ganz verschlinge die Beute,     die stolz du dem Schwächern geraubt, Packrecht gilt auch für den Schwächsten,     drum laß ihm die Haut und das Haupt. Die Beute des Packs gehört allen,     sie teilen und fressen sofort, Dem Tode bist du verfallen,     verschleppst du ein Stück nur vom Ort. Die Beute des Wolfs gehört ihm nur,     er macht mit ihr, was ihm beliebt, Das Pack darf nur daran rühren,     wenn er die Erlaubnis ihm gibt. Wurf recht ist das Recht des Jährlings,     vom Pack heischt er es allein, »Maulvoll«, wenn der Jäger gefressen,     und keiner darf knurren: nein. Das Lagerrecht eignet der Mutter,     wer mit ihr vom gleichen Jahr, Bringt einen Schenkel der Beute     den hungrigen Wölflingen dar. Das Höhenrecht eignet dem Vater –     zu jagen, wie ihm gefällt, Dem Packe ist er nicht pflichtig,     dem Rate nur unterstellt.  Leitwolf ist der Älteste, Schlauste,     der Stärkste an Zahn und Pfot'! Und läßt das Gesetz eine Lücke,     so gilt sein Wort als Gebot. Das sind die Gesetze der Dschungel,     und zahlreich sind sie und stark, Doch »Gehorch!« ist Kopf des Gesetzes,     sein Buckel, Huf, Hüfte und Mark

Das Wunder des Purun Baghat

Denn wir liebten ihn mit der Liebe Macht, Da schlichen wir hin und berührten ihn leis', Als die Erd' zu wanken begann in der Nacht, Die nicht versteht, aber fühlt und weiß.

Und als mit Brüllen der Berg zerbrach, Im Regensturz unsere Welt zerfiel, Wir Kleinen schützten ihn – doch ach! Nun lauscht er nie mehr unsrem Spiel.

Mit scheuer Lieb', nach Wildlings Art, Hat unsre Schar ihn treu bewacht, Weh! Unser Bruder schläft, und hart Von hinnen seine Sipp' uns jagt.

Klagelied des Langurs

 

Einst lebte ein Mann in Indien, der war Erster Minister eines der halb unabhängigen Eingeborenenstaaten im nordwestlichen Teil des Landes. Ein Brahmane war er, von so hoher Kaste, daß Kaste aufhörte, eine besondere Bedeutung für ihn zu haben. Sein Vater war ein wichtiger Beamter gewesen in dem farbig heiteren und bequemen Trott eines altmodischen Hinduhofes. Aber als Purun Daß heranwuchs, erkannte er, daß die alten Zeiten im Schwinden waren, und daß man, um vorwärtszukommen, sich mit den Engländern freundlich stellen und alles nachahmen müßte, was sie für gut hielten. Gleichzeitig aber mußte ein eingeborener Beamter sich auch die Gunst seines eigenen Herrn zu erhalten suchen. Das war eine schwierige Aufgabe, aber der ruhige, wortkarge junge Brahmane, dem auch eine gute englische Erziehung an der Universität in Bombay dabei half, faßte die Sache mit kühlem Kopf an und stieg Stufe für Stufe höher auf, bis er zuletzt Erster Minister des Königreichs wurde. Das will heißen, daß er mehr wirkliche Macht besaß als sein Herr, der Maharadscha.

Als der alte König – der den Engländern mit ihren Eisenbahnen und Telegraphen immer mißtraut hatte – starb, stand Purun Daß in hoher Gunst bei dem jungen Thronerben, der von einem Engländer erzogen worden war. Beide zusammen gründeten nun Schulen für Mädchen, legten Straßen an, eröffneten Staatsapotheken, landwirtschaftliche Ausstellungen und gaben ein jährliches Blaubuch heraus über den »moralischen und materiellen Fortschritt des Staates«. Das Auswärtige Amt in London und die Regierung in Indien waren natürlich entzückt darüber; aber Purun Daß trug stets Sorge, daß alle Ehre seinem Herrn und König zuteil wurde.