Das neue Paradies auf Erden - Oliver Brunotte - E-Book

Das neue Paradies auf Erden E-Book

Oliver Brunotte

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Beschreibung

Eine Welt, in der Probleme wie Krieg, Hunger, Umweltzerstörung und sogar der Tod selbst überwunden sind. Ein Gott, der die Gebete der Menschen erhöhrt, ihnen antwortet und gemeinsam mit seinen Engeln dafür sorgt, dass jeder auf Erden glücklich und zufrieden sein kann. Und zwei Jungen, die all das einfach nicht akzeptieren können. Die einen Blick hinter die Fassade des scheinbar perfekten Idylls werfen wollen. Und die mit jeder neuen Entdeckung immer mehr zu der Erkenntnis kommen , dass nichts wirklich ist, wie es zu sein scheint... ... im neuem Paradies auf Erden! In Oliver Brunottes erstem Roman geht es nur scheinbar vorrangig um den Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft. Mit einem gleichermaßen offenen wie auch kritischen Blick beleuchtet er komplexe Themen wie den Klimawandel, die Mobilität und moderne Computertechnik. Dass dabei trotzdem eine spannende, witzige und mitreißende Geschichte entstanden ist, liegt vor allem am Zusammenspiel der beiden Freunde Tim und Michael, die sich all den Herausforderungen, auf die sie im Laufe der Geschichte treffen, auf ihre ganz eigene Art und Weise stellen: mal neugierig, mal albern, mal nachdenklich... aber meistens ziemlich vorlaut und selbstbewusst. 'Das neue Paradies auf Erden' ist ein Buch für Jugendliche und Erwachsene, denen oberflächliche Antworten nicht genügen und die den Dingen lieber genau auf den Grund gehen wollen. Ein Buch darüber, wie schwer es ist, Erwachsen zu werden, schwierige Wahrheiten zu akzeptieren und eigene Entscheidungen zu treffen. Und ein Buch darüber, wie wichtig es ist, dabei gleichzeitig Kind zu bleiben und nie das Staunen und die Freude an den Wundern der Welt zu verlieren. -------------------------------- Klappentext des Buches -------------------------------- Tims Leben scheint perfekt. Ihm fehlt es an nichts, seine Eltern haben immer für ihn Zeit, die Schule macht Spaß und mit seinem besten Freund Michael erlebt er Tag für Tag den perfekten Sommer-Sonnentag. Er genießt das Leben in Gottes größtem Geschenk an die Menschheit: Dem neuen Paradies auf Erden. Doch als Michael irgendwann anfängt, unbequeme Fragen zu stellen und auch Gott höchstpersönlich beginnt, sich ziemlich seltsam zu verhalten, droht sich alles um sie herum zu verändern: Die perfekte Welt der beiden gerät mit jeder neuen Erkenntnis immer mehr ins Wanken, bis sie schließlich erkennen müssen, dass in Gottes neuem Paradies rein gar nichts so ist, wie es zu sein scheint.

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Das neue Paradies auf Erden

Oliver Brunotte

© 2021 Oliver Brunotte

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg.

ISBN:

978-3-347-42759-4 (Paperback)

978-3-347-42760-0 (Hardcover)

978-3-347-42761-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Linus,

für Willi,

für Kilian,

und für Hannah

Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken wird noch sie zu Herzen nehmen; sondern sie werden sich ewiglich freuen und fröhlich sein über dem, was ich schaffe.

Jesaja 65, 17-18

Kapitel 1: Der Sturz

Wenn die Gerechten schreien, so hört der HERR und errettet sie aus all ihrer Not. Psalm 34:17

Der Tag, an dem alles begann, war ein herrlicher Sonnentag. Es war einer der schönsten Tage des Jahres, keine Wolke an Gottes strahlend blauem Himmel und viel zu schön, um ihn in der Schule zu verbringen.

So schön, dass es definitiv eine Sünde sei, wenn man nicht sofort schwimmen gehen würde, meinte Michael. Und wenn Michael das sagte, musste es stimmen, denn Michael wusste immer alles. Er war zwei Jahre älter als Tim, sein bester Freund und schon so lange Tim denken konnte für ihn so etwas wie sein großer Bruder.

Naja, natürlich nicht wirklich. Große Brüder gab es nur in alten Büchern und Filmen. Aber so wie Michael hatte sich Tim immer einen großen Bruder vorgestellt und sie gaben sich beide alle Mühe, ihrem Ruf im Dorf als die 'Chaos-Brüder' alle Ehre zu machen. Heute jedoch hatte das Dorf ein paar Stunden Ruhe, weil die beiden unterwegs zum Fluss waren.

»Komm schon, ist das etwa alles, was du draufhast?«, rief Michael über die Schulter, während er den Hang in vollem Tempo mit seinem Rad herunter bretterte.

»Ich krieg dich schon noch«, gab Tim zurück, obwohl ihm klar war, dass er keine Chance hatte, Michaels Vorsprung einzuholen. Aber aufgeben? Niemals!

»Wetten, ich bin sogar vor dir im Fluss?«, stieß er keuchend vor Anstrengung hervor.

»Träum weiter, Kleiner«, lachte Michael und trat noch einmal stärker in die Pedale, um die letzte Anhöhe vor dem Fluss mit Schwung hinaufzurasen.

Nicht fair, dachte Tim. Mit seinen größeren Reifen hatte Michael natürlich bessere Karten. Als er es endlich bis oben auf den kleinen Hügel vor dem Fluss geschafft hatte, sah er Michael dort unten schon siegessicher auf seinen Lenker gelehnt am Ufer stehen und grinsen.

Es war eins von diesen ansteckenden Grinsen. Eins, das dich herausfordert, dich halb auslacht, halb mit dir lacht und dich fragt: 'Na…? Was machste jetzt, hmm…?'

Genau eins von der Sorte, die Tim schon viel zu oft in Schwierigkeiten gebracht hatte. Unausweichlich schlich sich das Grinsen von Michaels Gesicht auf sein eigenes.

Michael konnte nicht ganz umhin, seinen kleinen Beinahe-Bruder ein wenig zu bewundern. Manchmal hatte der es echt drauf. Aber das konnte er ihn natürlich nicht merken lassen. Also zog er lediglich eine Augenbraue hoch und versuchte, nach außen möglichst cool und unbeeindruckt zu wirken, während er beobachtete, wie Tim vom Hügel herab ungebremst auf ihn zu raste.

Innerlich musste er lächeln. Dieser kleine Verrückte trat dabei tatsächlich sogar noch in die Pedale. Natürlich bewegte Michael sich kein Stück und verzog auch keine Miene, als Tim nur Zentimeter entfernt an ihm vorbeischoss. Er spürte den Fahrtwind im Gesicht und fuhr sich mit einer schnellen Handbewegung durch die langen Haare, um seine Frisur halbwegs wieder in Ordnung zu bringen.

Kurz vor der Uferböschung riss Tim das Vorderrad nach oben, woraufhin sein Fahrrad einen mächtigen Sprung vollführte und ihn bis fast in die Mitte des Flusses trug. Am höchsten Punkt, als das Rad gerade begann, wieder Richtung Fluss zu stürzen, stieß Tim sich mit aller Kraft ab, so dass er selbst noch eine gute Sekunde länger durch die Luft flog, bevor auch er mit einem lauten Platschen in der Mitte des Flusses landete.

»Hab… ge… gewonnen«, rief Tim triumphierend zu Michael herüber, während er gleichzeitig Wasser spuckte und versuchte, mit einer Hand sein sinkendes Fahrrad festzuhalten.

Die hochgezogene Augenbraue bewegte sich noch ein Stückchen weiter nach oben. Schließlich sagte Michael: »Naja. Nicht schlecht…«

Tim wusste, was jetzt kommen musste, aber bevor er protestieren konnte, fügte Michael hinzu: »…für 'n Mädchen!«.

Er warf sein T-Shirt achtlos in einen Busch am Ufer, nahm Anlauf und landete mit lautem Platschen direkt neben Tim in der Mitte des Flusses, wo die beiden sofort begannen, einander gegenseitig zu tauchen, nass zu spritzen und abwechselnd nach dem inzwischen komplett gesunkenen Fahrrad zu tauchen.

Das Wasser war herrlich kühl, die Sonne heiß und der Reifen des Fahrrads nur ein ganz klein bisschen verbogen. Sie schwammen, lachten und genossen einen weiteren Tag in Gottes größtem Geschenk an seine Schöpfung:

Dem Paradies auf Erden.

Gott hatte es gut gemeint mit den Menschen. Die Welt in der Tim und Michael aufwuchsen, war eine völlig andere als die ihrer Urgroßeltern. All die Probleme des »letzten« Zeitalters wie Krieg, Hunger oder die Zerstörung der Natur gab es im Paradies natürlich nicht mehr. In seinem Buch las Tim, dass…

»… Gott den Menschen das Paradies geschenkt hat, damit sie von nun an endlich frei leben konnten: Ihre Tage seien fortan immer wunderbare Sommertage, die Natur sei gesund und grünend und alle gute Gabe werde ihnen von GOTT allein gegeben, auf dass ihr Geist nie mehr durch tumbe Arbeit davon abgehalten werde, sich so frei zu entfalten, wie der HERR es vorgesehen habe.«

Tim schnaubte und wischte zum wiederholten Male mit dem Ärmel über die Seiten seines Buches die durch die aus seinen Haaren fallenden Wassertropfen immer wieder unleserlich wurden.

Das war mal wieder genau diese Art von Ungenauigkeit, die er überhaupt nicht leiden konnte. Natürlich war das Wetter immer perfekt. Seit Gottes Rückkehr zu den Menschen war jeder Tag ein perfekter, herrlicher Sommertag mit Temperaturen um die 20 bis 30 Grad. Und trotzdem grünte und gedieh die Natur.

Regnen ließ ER es fast ausschließlich in den Nächten. Einen echten Regentag hatte Tim in seinem Leben vielleicht drei oder vier Mal erlebt. Als er seinen Papa damals gefragt hatte, warum es denn auf einmal regnete, antwortete der mit dem Standardspruch vieler Erwachsenen: »Gottes Wege sind nun mal unergründlich«

Aber inzwischen ließ sich Tim mit solchen Binsenweisheiten längst nicht mehr abspeisen. In dem Buch, das er immer und überall mit sich herumschleppte, hatte er die genauen Wassermengen nachgeschlagen, die für die Bäume, das Gras und die Büsche in seinem Garten als ideal angegeben wurden. Demgegenüber stellte er die tatsächliche Wassermenge einer durchregneten Nachte - er hatte dafür extra nachts einen großen Messbecher aufgestellt - und kam zu dem Schluss, dass diese Menge hinten und vorne nicht reichen konnte für das viele Grünzeug.

Also schloss er, dass die seltenen durchregneten Tage wohl irgendwie zum Ausgleich des sonst immer perfekten Wetters gedacht waren.

Aber es ärgerte ihn, dass das so in seinem Buch nirgendwo auch nur im Ansatz erwähnt wurde. Besonders die Stellen über Gottes Rückkehr und das Paradies waren so schrecklich oberflächlich geschrieben, dass es zum Schreien war. Keine genauen Jahreszahlen, keine konkreten Verweise auf naturwissenschaftliche Fakten…

»Sag mal«, unterbrach eine Stimme von oben seinen Gedankengang, »Du schmökerst doch wohl nicht schon wieder heimlich in deinem Buch?«

Michaels Gesicht tauchte mit leicht tadelndem Blick zwischen den Zweigen über ihm auf. »Wir hatten doch gesagt, heute mal keine Schule! Heute mal nur Sonne, schwimmen und chillen!«

Sie waren zu ihrem Lieblingsplatz bei der uralten Eibe etwas weiter unten am Fluss gegangen. Hier, wo der ruhige Strom zu dem donnernden Wasserfall wurde, hatten sie schon oft gelegen, und sich von dem monotonen Rauschen des fallenden Wassers in sanfte Träume hinübertragen lassen.

»Ja, ja, schon gut«, nuschelte Tim und klappte das Buch zu. Es gab ein pflatschendes Geräusch von sich und Wasser spritzte aus den Seiten. Zum Glück war das Teil komplett wasserdicht und echt ziemlich stabil, sonst hätte es nicht so lange in Tims Hosentaschen überstanden.

Im Geschichtsunterricht hatte er gehört, dass Bücher früher viel dicker und unstabiler gewesen waren. Da waren richtig viele Seiten drin gewesen. Aus echtem Papier. Die hätten so ein Bad sicher nicht überstanden und auch nicht mehrfach gefaltet in seine Hosentasche gepasst. Da waren ihm die jetzigen Modelle doch viel lieber. Im Unterricht wurden die Bücher gerne als Beispiel dafür gebracht, wie Gott nach seiner Rückkehr mit der Technologie der Menschen umgegangen war: Unnötiges und Überflüssiges wurde abgeschafft, Gutes und Sinnvolles wurde bis zur Perfektion weiterentwickelt.

Klang soweit prima und leuchtete Tim auch alles ein. Sein Buch, das ihm alle Literatur der Welt anzeigen und ihm seine vielen naturwissenschaftlichen Fragen beantworten konnte, zählte für ihn definitiv zu den ganz besonders sinnvollen und besonders guten Dingen. Aber trotzdem hätte ihn schon sehr interessiert, was für unnötige und überflüssige Sachen das denn waren, die abgeschafft wurden. Genau darüber schwieg sich das allwissende Buch voller göttlicher Wahrheiten nämlich beharrlich aus.

Und warum wirklich bei jedem Modell – sowohl bei den ganz kleinen zusammenfaltbaren Hosentaschenbücher als auch bei den großen Varianten für Erstleser – auf der Rückseite ein angebissener Apfel prangen musste, konnte Tim auch niemand so richtig erklären. Ausgerechnet das Zeichen der Erbsünde auf jedem einzelnen Buch? Das musste doch irgendetwas bedeuten!

Seinen Gedanken nachhängend, lehnte sich Tim auf seinem Ast zurück. Zu schwierige Fragen für so einen schönen Tag. Er blinzelte verschlafen in die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach des uralten Baumes über ihnen fielen. Michael schnitzte etwas weiter oben mit seinem geliebten Taschenmesser an einem kleinen Stück Holz herum. Wenn Tim seinen Kopf leicht hin und her bewegte, konnte er immer wieder neue Muster im Spiel von Licht und Schatten entdecken.

Ihre T-Shirts trockneten auf den äußeren Ästen in der Sonne und all die Aufregung und Überdrehtheit von vorhin war einem angenehmen schläfrigen Nachmittagsdösen gewichen.

»Aber der Sprung war echt cool, oder?« bohrte Tim jetzt noch einmal nach. Irgendwie hatte Michael es geschafft, noch immer kein Sterbenswörtchen über seine Meisterleistung zu verlieren.

»Hmmm?« fragte Michael, voll darauf konzentriert, dem widerspenstigen Ast mit seinem Messer eine Form zu geben, die der aber einfach nicht annehmen wollte. »Was´n für´n Sprung? Au!«.

Tim hatte ihn von unten in die Seite gestoßen. »Na DER Sprung? Gib's doch endlich zu, das war saucool, mutig und echt heftig!«.

Michael setzte sich auf und rieb sich die Seite.

»Mutig…?« Da war sie wieder, die hochgezogene Augenbraue. Mann, der brachte es fertig, ihm die Augenbraue zu geben, während er völlig unbeeindruckt weiterschnitzte. Darf man beim Schnitzen nie machen. Augen immer aufs Messer. Aber für solche Regeln war er wohl auch zu cool. Egal. Diesmal würde Tim sich nicht so leicht geschlagen geben. »Ja. Voll mutig. Das hättest du dich nicht getraut«.

»Pfff…«, machte Michael und ließ ein paar Späne durch die Luft fliegen. Doch als er sah, wie Tim ihn halb enttäuscht, halb erwartungsvoll anschaute, musste er lächeln. »Naja, ein bisschen cool war's schon, wie du da durch die Luft gesegelt bist«.

»Mega-cool!«, beharrte Tim, jetzt mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Und super mutig!«.

Michael richtete sich auf, klappte die Klinge ein und steckte sein Messer in die Hosentasche. Er streckte sich. »Klar… mutig…« murmelte er, während er nach einem höher gelegenen Ast angelte, der weit über den Wasserfall hinausragte. »Dir ist schon klar, dass man hier eigentlich für gar nichts echten Mut braucht, oder? Ich meine, wo doch Gott immer über uns alle 'wacht und uns behütet… '« Er verfiel in einen albernen Singsang »dass du deinen Fuße nicht an einem Steine stoßest…«

So langsam wurde Tim doch etwas sauer. Michael war sonst immer der Mutige, Coole und nun hatte er sich selbst mal etwas echt Außergewöhnliches getraut und diesem Clown fiel nichts Besseres ein, als ihn mit blöden Bibelversen aufzuziehen?

»Ach ja? Ich hätte mir schon ordentlich weh tun können. Du bist doch nur eifersüchtig, weil du nicht so viel Mut hast.«

»Pfff…« machte Michael, richtete sich auf und stand nun auf dem langen Ast. »Mut hab ich mehr als genug. Nur braucht den hier doch niemand. Hier gibt's doch nirgendwo etwas, wovor man sich überhaupt fürchten könnte.«

Wie um seinen Punkt zu beweisen, balancierte er den Ast entlang, immer weiter hinaus, bis er schließlich eine Astgabel erreichte, in die er sich mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht hineinfläzte, mehrere Meter über dem rauschenden Wasserfall. Sein absoluter Lieblingsplatz. Und der Platz an den Tim sich noch nie getraut hätte. Er fing wieder an zu schnitzen. Ohne sich festzuhalten, saß er da direkt über dem Wasserfall und schnitzte. Mann, war der cool! Da kam Tim echt nicht mit. Michael wusste das natürlich und genau aus dem Grund hatte er es gemacht. Um Tim zu zeigen, wer hier der Coolste und der Mutigste war. Tim wurde langsam echt sauer.

»Du Angeber denkst wohl, du wärst der Einzige, der verrückt genug ist, so weit raus zu klettern«

Michael schaute belustigt zu Tim herunter. Dann sagte er in einer albernen hohen Stimme, die wohl irgendwie besonders 'höfisch' klingen sollte:

»So hat's der Höchste nun mal eingerichtet auf Erden: Daroben thronet der König und darunten hauset das niedere Volk. Auf dass ein jeder seinen Platze wisse…«

An jedem anderen Tag wäre Tim nicht auf Michaels Sticheleien eingegangen, hätte so getan, als würde ihn das alles gar nichts angehen. Oder er hätte sich einfach eine Ausrede einfallen lassen, warum er leider gerade jetzt nach Hause müsste. Aber nicht heute. Nicht nach diesem coolen Sprung. Heute war es an der Zeit, Michael zu zeigen, dass er nicht mehr 'der Kleine' war, sondern mindestens genau so cool, stark und mutig wie er.

Mit einem geschickten Schwung hangelte er sich auf den höheren Ast und balancierte ebenfalls in Richtung der Astgabel.

»Ich wette mit dir um dein oberheiliges Schnitzmesser, dass ich mich das auch traue!«, sagte er entschlossen.

»Äh, nein?«, hörte er aus Michaels Richtung. »Erstens ist das ´ne echt blöde Idee, du bist locker noch zehn Zentimeter zu kurz, um an die richtigen Äste ranzukommen und zweitens: nein. Mein Messer kriegst du nicht mal dann, wenn du einhändig den Elfenbeinturm hochklettern würdest.«

Er hielt Tim das zugeklappte Schnitzmesser entgegen, so dass der das von Michael persönlich eingeritzte große 'M' erkennen konnte.

»Da steht 'M' drauf. 'M' wie Michael. Und 'M' wie meins. Das ist meins und das bleibt auch meins und du kannst es mir mit so ´ner albernen Wette nicht abnehmen. Also lass den Mist, Kleiner.«

Doch Tim hörte ihn kaum. Er konzentrierte sich ganz auf den Ast unter sich. Der war breit und stabil genug, um darauf bequem zu laufen. Kein Problem. Solange man nicht am Ast vorbei in die tosende Gischt darunter blickte. Schritt für Schritt tastete er sich vor.

Als er es einmal wagte, seinen Blick vom Ast zu lösen und hochzuschauen, sah er, wie Michaels kritischer Blick langsam von einem erstaunten Gesichtsausdruck und schließlich von einem anerkennenden Nicken abgelöst wurde. Er sah wieder nach unten auf den Ast. Nur noch einen Meter, dann könnte er sich wie Michael in die Astgabel setzen und sich als der coolste Junge der Welt fühlen. Aber jetzt kam erst noch die Stelle, wo er über sich keine Zweige mehr zum Festhalten hatte. Michael hatte echt recht gehabt, die waren alle weit außerhalb seiner Reichweite. Er würde so das letzte Stück komplett freihändig balancieren müssen. Hatte Michael auch schon mal gemacht. Einfach nur so zum Angeben. Da hatte das total easy ausgesehen.

»Hey Mann. Lass mal lieber. Das ist ganz schön wackelig hier. Und so toll ist die Aussicht nun auch wieder nicht«. Michaels Stimme klang mit einem Mal echt besorgt. Aber jetzt umkehren? Wo er so weit gekommen war? Auf keinen Fall. Ein Schritt vorwärts, die Arme ausbreiten, gut auf das Gleichgewicht achten. Der Ast ist breit genug, ich brauche keine Angst zu haben. Ich schaffe das. Hatte er das eben laut gesagt oder nur gedacht? Egal. Ein Blick nach vorne zu Michael, der jetzt viel zu besorgt dreinschaute. Er hielt die Hand ausgestreckt. Noch ein Schritt und Tim konnte sie ergreifen. Geschafft! Er hörte wie Michael die angehaltene Luft ausstieß.

»Mann! Was machst du denn für Sachen! Ich hatte da zwischendurch echt ein bisschen Sorgen um dich. Als du in der Mitte warst hat der Ast total gewackelt.«

»Ist doch ´n Klacks für mich. Was du kannst, kann ich schon lange.«

Tim gab wieder den Mutigen, aber das Zittern in seiner Stimme konnte er nicht wirklich verstecken. Und Michaels Hand ließ er auch nicht los.

»Mein Messer kriegst du trotzdem nicht, nur dass das klar ist.« Jetzt aber legte sich endlich wieder das vertraute Grinsen auf Michaels Gesicht.

»Aber wo du jetzt schon mal da bist: Willkommen in meinem Reich. Das hier ist mein Platz, und den geb´ ich genauso wenig ab wie mein Messer. Aber da drüben ist auch noch ´ne nette kleine Astgabel, da kannst du dich ja…«

Doch das Ende des Satzes sollte Tim nie hören, weil sich die Welt um ihn herum mit einem Mal schräg neigte und sein linker Fuß plötzlich in der Luft hing. Irgendwie musste er auf einer moosigen Stelle weggerutscht sein und nun geriet er völlig aus dem Gleichgewicht.

Während sein linker Fuß im Freien baumelte, glitt sein rechtes Bein an der anderen Seite des Astes herab, bis er nur noch an der Kniekehle um den Ast hing. Sein Oberkörper folgte dem linken Bein und wie in Zeitlupe sah er den Wasserfall unter sich näherkommen. Mit dem rechten Bein alleine konnte er sich nicht halten, so dass Michaels Hand alles war, was ihm noch vor dem Sturz in die Tiefe bewahrte.

Er sah die Muskeln an Michaels Arm, sah, wie er sich abmühte, Tim wieder hochziehen, oder ihn zumindest nicht weiter abrutschen zu lassen. Aber er sah auch, wie ihre Hände Stück für Stück, Millimeter für Millimeter immer weiter auseinander glitten.

Tim wusste, dass all die viele Kraft, die Michael in sich trug, nicht reichen würde, um ihn zu retten. Er hatte einfach keinen guten Griff, um ihn zu halten. Tim versuchte mit seiner freien Hand nach Michaels Arm zu greifen, sich selbst wieder hochzuziehen, doch sein Hin- und Hergerudere führte nur dazu, dass Michael seinen stabilen Stand verlor und nun halb auf dem Ast kniend selbst nur noch weniger Halt hatte.

Tim sah nach unten in das tosende Wasser, sah die Felsen, die am Grunde des Wasserfalls die Gischt aufwirbelten, fühlte, wie sich seine Hand von Michaels löste und erkannte mit erstaunlicher Klarheit, dass er hier und heute, an diesem perfekten sonnigen Tag in Gottes Paradies sterben könnte. Die Erkenntnis sollte ihn eigentlich vor Schrecken lähmen, aber sein Verstand arbeitete weiter kühl und sachlich und analysierte erbarmungslos seine Situation.

Den Sturz an sich könnte er vermutlich noch mit einigen gebrochenen Knochen überstehen. So riesig war der große Wasserfall nun auch wieder nicht. Aber da unten erwartete ihn ja leider kein schöner großer See, in den er mit elegantem Kopfsprung eintauchen konnte, sondern viele große und unangenehm harte Felsbrocken. Die Chancen, das lebend zu überstehen waren gleich Null.

Tims Finger wurden immer rutschiger und Michaels Hand entglitt ihm immer mehr. Panik breitete sich in ihm aus. Sein Herz raste, doch sein Verstand suchte noch immer methodisch nach Auswegen aus dieser ausweglosen Situation. Mit einem Ruck glitt seine Hand ein ganzes Stück weiter aus Michaels Halt, so dass nur noch ihre Fingerspitzen ineinander verhakt waren. Jetzt würde ihn nur noch ein Wunder retten können.

Seine Augen weiteten sich. Wieso hatte er daran nicht schon längst gedacht? Hoffentlich war es jetzt nicht schon zu spät. Er zwang sich, die aufsteigende Panik zu bezwingen, einen ruhigen Atemzug zu machen. Seine Augen suchten die seines Freundes und er versuchte, seinen Blick festzuhalten. Es hing jetzt alles davon ab, dass Michael sofort verstand. Er öffnete seinen Mund, um Michael etwas zuzurufen, doch seine Worte kamen nur als heiseres Flüstern:

»Bete für mich!«

Michael blickte zunächst verwirrt, als hätte er nicht verstanden, doch dann nickte er. Er schluckte und als seine Finger sich endgültig von Tims lösten, faltete er sie zum Gebet.

»Herr Gott, erhöre mich! Rette uns aus der Not!«.

Tim begann in die Tiefe zu stürzen und hörte noch, wie Michael schrie

»Rette meinen Freund!«

Der Sturz dauerte genau zwei Sekunden, doch Tim hätte schwören können, dass er minutenlang fiel. Er hatte genügend Zeit, darüber nachzudenken, ob Michael jetzt eigentlich wirklich recht gehabt hatte. Im Anbetracht seiner aktuellen Lage gab es ja wohl doch etwas, wovor man sich in Gottes Paradies fürchten konnte. Jedenfalls wäre ein wenig mehr Furcht vor dem Abstürzen in seinem Fall echt hilfreich gewesen.

Aber andererseits fühlte er auch jetzt im Angesicht des sicheren Todes keine Angst. Sterben hatte zwar definitiv für heute nicht auf seiner To-Do-Liste gestanden, aber wenn es denn nun wirklich passieren sollte, wäre es jetzt auch nichts so furchtbar Schreckliches.

Gott würde ihn im Himmel willkommen heißen, ihn vermutlich auf seine großväterliche Art ein wenig in die Seite knuffen und sowas Witziges sagen wie »Na, wolltest wohl ´nen besonders coolen Köpper hinlegen, was?«, und sie würden über die ganze Sache lachen.

Klar, Mama und Papa wären traurig, aber sie könnten ihn da drüben ja besuchen. In den Wochen nach Opas Tod war Tim selbst ganz oft durch eins der Tore gegangen, um noch einmal mit ihm zu reden. Manchmal hatten sie auch stundenlang einfach schweigend nebeneinandergesessen und an einem ruhigen See in der Abenddämmerung geangelt. Opa wirkte völlig glücklich und zufrieden. Das Leben nach dem Tod schien ihm sehr zu gefallen. Kein Grund zur Sorge also.

All dies ging ihm durch den Kopf und eigentlich sollte ihn die Erkenntnis, dass es überhaupt keinen Anlass zur Panik gab, beruhigen. Sein Körper aber schien dieser Argumentation kein bisschen folgen zu wollen und schüttete so viel Adrenalin aus, dass die Welt sich für Tim fast wie im Zeitlupentempo bewegte.

Ganz langsam sah er die Kante des Wasserfalls an sich vorbeiziehen, erkannte in der sprühenden Gischt noch kleine kreisrunde Regenbögen, die mal hier, mal dort auftauchten, dann war er schon eingehüllt von schäumendem Weiß. Er wartete auf die Schmerzen und hatte noch genügend Zeit, sich zu fragen, ob er schon während des Sturzes oder erst am Grunde des Wasserfalls auf Felsen aufschlagen würde.

Doch der Schmerz kam nicht. Stattdessen fühlte er einen sanften Ruck und spürte warme, weiche Arme, die ihn hielten. Er sah nach oben in das Gesicht eines Engels.

«Du schon wieder?«, fragte Gabriel mit einem gütigen Lächeln.

»Ich schon wieder«, nuschelte Tim und dann verlor er das Bewusstsein.

Kapitel 2: Zu Gast

Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt Lukas 24:29

Markus hörte, wie seine Frau zum dritten Mal nach den Kindern rief. Das Essen war inzwischen fertig, der Tisch gedeckt und Martha entsprechend sauer, dass mal wieder keiner der beiden Jungs dabei geholfen hatte. Ihr war das immer sehr wichtig. Es war eine Art Ritual, dass Tim beim Vorbereiten der Mahlzeiten mithalf und wenn er sich seinen Freund zum Übernachten eingeladen hatte, galt für den natürlich das Gleiche. Teller und Besteck auf den Tisch stellen, Saftkrug befüllen, vielleicht noch eine Kerze anzünden - das sollte auch für zwei pubertierende Jungs noch möglich sein. Aber heute schienen sie mal wieder die Zeit vergessen zu haben. Vermutlich würde Markus sich also gleich aufs Rad schwingen und nach den Bengeln suchen dürfen.

Also schnell noch einmal die kritische Stelle anhören. Er wischte auf der aufgeschlagenen Buchseite einmal nach links, bis er den Anfang der Phrase fand. Ein kurzes Tippen auf das zweite Notensystem und schon erfüllten Orchesterklänge sein kleines Arbeitszimmer. Nein, an den Geigen lag es definitiv nicht. Die gingen schön sanft in absteigenden Ganztönen auf die Tonika zu. Er probierte es mit dem Klavier und fügte mit ein paar Gesten seiner linken Hand an verschiedenen Stellen ein paar Töne hinzu.

Inzwischen war er darin schon ziemlich gut und das Buch interpretierte seine Bewegungen meistens genau richtig. Trotzdem kam es ihm seltsam und künstlich vor, die Musik auf diese Art aufzuschreiben. Lieber saß er an seinem Flügel und spielte einfach drauf los, während das Buch brav jede Nuance seines Spiels fein säuberlich in Noten wiedergab.

Aber heute war dafür ja leider keine Zeit. Also nur Feinkorrekturen per Gesteneingabe. Das Ergebnis machte ihn trotzdem zufrieden. Er schaute auf die Partitur. Jetzt sollten sich Geige, Cello und Klavier am Schluss auf der Mollparallele treffen. Viel besser. Wirkte interessanter, machte aber auch den Übergang komplizierter. Vielleicht sollte er doch noch eine ganz zarte Klarinette…

»Markus? Könntest du bitte mal schauen, was jetzt mit den Jungs ist? Das Essen steht auf dem Tisch und ich esse gleich alleine, wenn ihr alle nicht kommt!«

An ihrer Stimme konnte er erkennen, dass jetzt wirklich keine Zeit mehr für die zusätzliche Klarinette blieb. Mit einem »Klar Schatz!« klappte er das Buch zu und warf es achtlos auf den schon überquellenden Schreibtisch wo es zwischen Saxofon und Akkordeon zum Liegen kam. Da musste er echt mal aufräumen, wenn irgendwann mal Zeit war. War aber grad nicht. Jetzt war erstmal Kindereinfangen dran.

Er war schon durch die Tür und auf halben Weg durch den Garten zu seinem Rad, als er die große Gestalt mit dem vertrauten Lächeln im Gesicht sah, die an der Gartenpforte stand.

Und seinen Sohn in den Armen hielt.

»Gabriel« rief er, doch da hatte seine Frau sich schon an ihm vorbei gedrängt und schloss Tim in ihre Arme.

»Was ist denn passiert? Bist du verletzt? Wo warst du?« sprudelte es aus ihr heraus.

Tim, der gerade erst wieder die Augen geöffnet hatte, blickte sie zunächst verwirrt an. »Mama«, sagte er leise, und schlang seine Arme um sie.

»Alles ist gut«, hörten sie Gabriel, der an der Gartenpforte stehen geblieben war. »Ihm fehlt nichts. Gott liebt alle seine Schäfchen und immer hält er seine schützende Hand über sie.«

Etwas nachdenklich setzte er hinzu »Aber vielleicht sollten diese beiden Schäfchen in Zukunft nicht mehr unbedingt direkt beim Wasserfall spielen.«

Sofort durchbohrten Marthas Blicke Michael, der hinter Gabriel ungewöhnlich still und mit gesenktem Kopf hergetrottet war.

»Michael Alexander Simons! Was habt ihr beiden schon wieder …«

»Schatz«, schaltete sich Markus ein, dem das Ganze ein wenig unangenehm war und der vor einem Engel des Herrn jeden Streit vermeiden wollte. »Es ist doch alles gut gegangen. Sicher hat Michael gut auf unseren Tim aufgepasst«.

''Oh ja, das hat er wirklich«, schaltete sich Gabriel in versöhnlichem Ton ein. »Beim Versuch ihn vor dem Sturz in den Wasserfall zu bewahren hat er sogar…«

»Sturz in den Wasserfall?!«, fuhr ihm Martha dazwischen. »Mein Kind ist in den großen Wasserfall gestürzt und ich soll mir keine Sorgen machen?«

»Mir geht es wirklich gut, Mama«, nuschelte Tim in ihrem Arm, aber es klang selbst für ihn nicht so richtig überzeugend.

Markus fühlte, dass die Situation kurz davor war zu eskalieren. Er war nicht sicher, ob es eine Sünde war, vor einem Engel des Herrn zu fluchen, wollte es aber ungern herausfinden. Und dass seine sonst so liebe, sanfte und verständnisvolle Frau kurz davor war, zu explodieren, spürte er mit jeder Faser seines Körpers.

»Ich finde«, sagte er daher mit etwas zu lauter Stimme, »dass wir dem Herrn danken sollten, dass er uns vor großem Unglück bewahrt hat. Und statt jetzt weiter nach dem Wie oder Warum zu fragen, sollten wir uns lieber an dem erfreuen, was er uns geschenkt hat.«

Zu dick aufgetragen? Ausreichend besänftigend, um die Kernschmelze seiner Frau verhindern zu können? Plötzlich hatte Markus eine Idee, wie er die Situation weiter entschärfen könnte.

»Lieber Gabriel«, sagte er, »meine Frau hat einen köstlichen Braten zubereitet und wo vier satt werden, ist auch sicher noch genug für einen Fünften. Bitte sei doch unser Gast.«

Martha warf ihm einen eisigen Blick zu, machte auf dem Absatz kehrt und ging ohne ein weiteres Wort zurück ins Haus, den Kopf eng an den von Tim geschmiegt. Naja. War doch eigentlich noch halbwegs gut gegangen. Mit einem halb schiefen 'Was-soll-man-machen' Grinsen und einer einladenden Geste wandte sich nun auch Markus dem Haus zu. Michael und Gabriel folgten ihm.

Das erdrückende Schweigen, als sie sich alle an den gedeckten Tisch setzen, war für Tim kaum erträglich. Für gewöhnlich waren ihre gemeinsamen Mahlzeiten fröhliche, quirlige Treffen, bei denen jeder von ihnen von seinem Tag berichtete, wo sie scherzten, lachten und ihre Freude am Leben miteinander teilten.

Papa hatte immer spannende Geschichten von seinen Konzerten in New York oder Tokio zum Besten zu geben und Mama erzählte gern den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Dorf, wobei sie jeden einzelnen Dorfbewohner so treffend und doch übertrieben nachmachte, dass Tim und Papa vor Lachen oft kaum zum Essen kamen.

Dann musste Papa sie alle mit einem '…uuuund Haps!' ans Essen erinnern. Das hatte er schon gemacht, als Tim noch ein klitzekleiner Knirps war und irgendwie war es dann zum festen Ritual geworden. Papa sagte 'Haps!' und alle steckten sich umgehend eine Portion Essen in den Mund um dann mit großen Gesten und viel Getöne bei geschlossenem Mund auf die anderen einzu'reden', bis alle in lautes Gelächter ausbrachen.

Aber heute Abend war es still am Abendbrottisch. Viel zu still. Tim fand das schade, denn gerade auf dieses Essen hatte er sich doch so gefreut. Weil Michael heute bei ihnen übernachten durfte, gab es heute nicht nur Brot und Käse, sondern einen köstlich duftenden Braten mit Klößen und Pilzsoße. Mama hatte den halben Nachmittag mit der Zubereitung verbracht und es duftete herrlich. Aber statt fröhlicher Vorfreude auf das leckere Essen herrschte jetzt unangenehmes Schweigen. Tim wollte, dass alles wieder wie immer war, wollte die schrecklichen Sekunden am Wasserfall einfach wegwischen.

In der unangenehmen Stille sog er übertrieben laut die Luft ein und sagte: »Hmm, wie lecker das riecht, Mama!«

Dann sprach er das Tischgebet: »Lieber Gott, wir danken dir für die Speisen auf unseren Tellern, für den Trank in unserem Glas und für die wunderbare Welt, die du uns Menschen geschenkt hast«.

»Gern geschehen«, antwortete die Stimme Gottes, die wie immer tief, warm und voller Güte klang. Sie schien von überall zugleich zu kommen.

»Aber ich schenke euch doch nur die Zutaten. Für die köstliche Zubereitung gebührt allein deiner lieben Mutter der Dank.«

Mama schaffte es nur mit großer Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken und als Tim sie mit seinem patentierten Dackelblick von unten ansah und »Danke, liebe Mama«, hauchte, begann ihre eiserne Miene zu schmelzen.

»Hey… Ich hab zwei Zwiebeln geschnitten!« sagte Papa. »Kein Gotteslob für mich?« Und dann mussten sie doch noch alle lachen.

Alle bis auf Michael.

Auch den restlichen Abend über blieb Michael schweigsam, aß wenig und schaffte es komplett, die Blicke und die Tritte unter dem Tisch zu ignorieren mit denen Tim versuchte, seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Das Gespräch hatte sich inzwischen in eine Richtung entwickelt, die Tim gar nicht gefiel.

»…Und wisst ihr noch, wie Gabriel einmal den gesamten steilen Berg hinter seinem Dreirad hergerannt ist und ihn erst ganz knapp vor der Mauer unten eingeholt hatte?« Papa packte schon wieder die uralten Geschichten aus.

»Pfff… ganz knapp«, schnaubte Michael, so laut, dass nur Tim ihn hören konnte.

»Es stimmt schon«, sagte Gabriel mit seinem Dauerlächeln im Gesicht, »euer Sohn hat mich schon ganz schön auf Trab gehalten in den letzten Jahren. Neben der Sache mit dem Dreirad waren da ja auch noch diverse Stürze, Explosionen und von dem Chemiekasten will ich erst gar nicht anfangen…«

Alle lachten. Auch Tim selbst musste ein bisschen mitlachen. Es stimmte ja wirklich. Gabriel hatte ihn schon viel zu oft aus der Klemme helfen müssen.

Doch dann setzte Mama ihr ´jetzt-mal-ehrlich´-Gesicht auf und sagte: »Gabriel, wir danken dir von ganzem Herzen für alles. Ich weiß, dass jedes Kind seinen eigenen Schutzengel hat, aber sicher hat keiner von denen so viele Überstunden und Sondereinsätze einlegen müssen wie du.«

»Dank gebührt allein dem Herrn, der alles so wunderbar gemacht hat«, erwiderte Gabriel.

Michael schnaubte. Und diesmal war Tim sich sicher, dass auch Mama und Papa es gehört hatten.

»Was ist denn eigentlich los, Michael?« fragte Papa. »Du bist doch sicher auch froh, dass Gabriel euch heute in letzter Sekunde gerettet hat, oder?«

»In letzter Sekunde…«, äffte Michael ihn nach. »Genau das ist es doch!«

Er war aufgestanden und schaute nun nacheinander jeden von ihnen herausfordernd an.

»Ist das nicht ein wenig seltsam?«, fragte er. »Diese ganzen 'Rettungen in allerletzter Sekunde'? Findet ihr das nicht auch ein wenig … verdächtig?«

Bei dem letzten Wort blickte er Gabriel direkt ins Gesicht. Markus war nun ebenfalls aufgestanden und Tim sah etwas, das er sonst in dem sanften, freundlichen Gesicht seines Vaters fast nie sah: Zorn und Furcht.

»Junger Mann!«, sagte er und seine Stimme überschlug sich dabei ein wenig. »Ich habe keine Ahnung was du hier andeuten willst, aber in meinem Haus hütest du deine Zunge und sprichst einen Engel des Herrn mit dem ihm gebührenden Respekt an!«

Tim zupft nervös an Michaels Schulter. »Komm schon, lass gut sein, Micha«, flüsterte er. »Wir gehen hoch in mein Zimmer.«

Doch Michael ließ sich nun durch nichts und niemanden mehr bremsen.

»Dann fragt ihn doch, den ehrenwerten Herrn…«, schleuderte er ihnen die Worte entgegen, »…fragt ihn, warum Tim in den Wasserfall stürzen musste. Warum hat er mir nicht einfach geholfen, ihn wieder hochzuziehen? Oder noch besser: Warum hat uns nicht einfach Gott zwei Minuten vorher warnen können?«

Und nun machte er tatsächlich Gottes tiefe Stimme nach: »'Hey, Jungs. Dumme Idee, das mit dem Ast… Lasst das mal lieber!' Und alles wäre gut gewesen! Auch ohne Superhelden-Auftritt in letzter Sekunde von dem da!«

Tim war der Erste, der die Sprache wiederfand. »Ich finde«, sagte er mit leicht zitternder und gleichzeitig viel zu lauter Stimme, »wir sollten jetzt echt mal mein neues Spiel ausprobieren. Oben!« Und diesmal zog er kräftig genug an Michaels Arm, um ihn zum Mitkommen zu bewegen.

Aus dem Augenwinkel sah Tim noch, wie sein Vater Luft holte, um ihnen etwas hinterher zu rufen. Doch dann hörte er statt Papas wieder die sanfte Stimme des Engels:

»Alles ist gut, Markus. Lass sie gehen. Gott weiß, dass ihr gute Menschen seid. Und natürlich weiß er auch, dass ein Vierzehnjähriger nicht immer Herr dessen ist, was er redet. So sind sie halt in diesem Alter. Da ist das Hirn oft wegen Umbau außer Betrieb. Michael wird seinen Weg noch finden, glaube mir.«

Natürlich kam jetzt auch beim Spielen keine richtige Stimmung mehr auf. Dabei war das Spiel doch eigentlich so cool. Es war die Neuauflage eines uralten Brettspiels bei dem man Dörfer, Straßen und Städte aufbauen musste. Aber statt kleiner Holzfiguren und aufgemalten Spielfeldern war bei diesem Spiel einfach alles lebendig! Man konnte den kleinen Bauern beim Ernten und den Dörfern beim Wachsen zusehen.

In winzigen Wäldern flogen Vögel und wenn man ganz genau hinsah, konnte man in den Bächen spielende Kinder und bunte Fische entdecken. Tim fragte sich, ob die Welt und die Menschen darin aus Gottes Perspektive genauso aussahen. Vor allem aber fragte er sich, warum Michael von diesem tollen Geschenk Gottes nicht genau so begeistert war wie er. Er versuchte noch einmal, seine Begeisterung zu wecken.

»Guck doch mal hier!«, sagte er und zog das Spielfeld noch etwas größer auf, so dass nun fast der halbe Kinderzimmerboden mit Dörfern, Wäldern und großen Dorfbewohnern überzogen war. »Der da baut gerade eine Kirche. Guck doch mal, man sieht sogar den kleinen Hammer!«

»Sieben. Vulkanausbruch«, sagte Michael unbeteiligt und sah nicht mal hin, als Tims Dorf von einer brodelnden Lava Flut überrollt wurde und seine Spielfiguren wild mit den Händen über ihren Köpfen wedelnd in den nächsten Wald rannten.

»Oh Mann hast du ´ne Laune«, grummelte Tim. Er wischte einmal über das Spielbrett, um ihr Spiel zu beenden, klatschte es an die Wand und passte die Größe als Bildschirm neu an. »Star Wars?«, fragte er.

Auf Michaels Gesicht begann sich der Hauch eines Lächelns anzudeuten »Star Wars klingt gut«, meinte er. »Aber bitte einen von den Alten. Von den ganzen Neuen bekomme ich Kopfschmerzen. »

Das ging Tim genauso. Natürlich hatten sie die Originaltrilogie im Unterricht durchgenommen, auf Anhieb abgöttisch geliebt und bis ins kleinste Detail analysiert. Aber inzwischen gab es so viele Fortsetzungen, Prequels, Reboots, Serien und Spinnoffs, dass es auch den größten Fans schwerfiel, den aktuellen Handlungssträngen zu folgen. Tim und Michael waren da eher Puristen: In ihrer Hierarchie gab es die Star Wars Trilogie und dann kam erstmal lange gar nichts. Dann vielleicht Star Trek.

Entschlossen sagte Tim: »Na los. Teil vier ohne Vorspann!«, und auf dem Bildschirm begann eine kleine corellianische Corvette ihren verzweifelten Wettlauf gegen einen übermächtigen Sternenzerstörer.

Star Wars war definitiv die richtige Wahl gewesen, fand Tim. Ablenkung war jetzt genau das Richtige, sowohl für Michael als auch für ihn selbst. Trotzdem dauerte es noch bis zum Aufleuchten des ersten Lichtschwerts bis das verloren gegangene Lächeln es wagte, sich wieder ganz im Gesicht seines Freundes zu zeigen. 'Eine elegantere Waffe aus zivilisierten Tagen' murmelten sie beide ihre Lieblingsstelle mit. Dann sahen sie sich an und lachten.

Erst spät nachts, als Tim in seinem Bett und Michael auf der Matratze am Boden lag, stellte Tim die Frage, die den ganzen Abend schon unausgesprochen im Raum gestanden hatte.

»Glaubst du wirklich, Gott hätte mich heute schon eher retten können?«

Er flüsterte so leise, als wollte er die Frage am liebsten gar nicht stellen und befürchtete fast, dass Michael ihn gar nicht gehört hatte.

Doch der schien auch schon den ganzen Abend lang über die Sache nachgedacht zu haben.

»Hey. Denk doch mal nach. Ist er allmächtig? Ist er allwissend? Warum sollte er denn darauf angewiesen sein, dass wir ihn im Gebet anrufen? Er sieht doch sowieso alles.«

»Aber er liebt uns doch. Das ganze Paradies und alles, das hat er doch nur für uns Menschen gemacht. Warum sollte er mich in den Wasserfall stürzen lassen?«

»Ich weiß es nicht, Kleiner. Echt nicht. Aber irgendwas stimmt da nicht.«

»Hmmm…« machte Tim. Und da auch er nicht weiterwusste, beschränkte er sich darauf noch ein »bin gar nich´ klein…« zu murmeln und darauf zu warten, dass der Schlaf ihn übermannte. Er war sich sicher, dass er heute Abend lange darauf warten müsste. Erst als ihn Michaels Stimme halb aus dem Schlaf riss, merkte er, dass er wohl doch schon weggenickt sein musste.

»Ich hatte da heute echt große Angst um dich. Tut mir leid, dass ich dich nicht halten konnte«

»`s schon okay… Bin wohl zu fett«, nuschelte Tim und glitt schon wieder in seine Träume ab.

Michael lachte leise in sich hinein »Klar… Du halbes Hähnchen bist zu fett…Träum weiter… »

Erst als er an Tims ruhigem, gleichmäßigem Atem erkannte, dass er fest eingeschlafen war, fügte Michael leise hinzu: »Schlaf gut, du mutiges, halbes Hähnchen.«

Er schlich zu Tims Klamottenstapel, der wie immer als wilder Haufen in der hintersten Ecke des Zimmers lag. Kurz hielt er inne, als er auf dem Schreibtisch Tims Bastelschere sah. Eine weitere Idee kam ihm. Eine kleine Geste nur, aber Tim würde sich sicher freuen wie verrückt. Als er fertig war, betrachtete er kurz sein Werk. Naja, nicht schön, aber doch erkennbar. Er steckte es in Tims Hosentasche. Michael lächelte, als er sich wieder auf seine Matratze legte und beinahe sofort einschlief.

Kapitel 3: Dankbarkeit

Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von obenherab, von dem Vater des Lichts Jakobus 1:17

Der nächste Morgen begann, wie eigentlich jeder Tag im Paradies auf Erden mit einem wahrhaftigen Bilderbuchsonnenaufgang. Während die ersten Strahlen eines weiteren perfekten Sommertages sich ihren Weg durch die dichten grünen Blätter der Apfelbäume im Garten suchten, glitzerten auf den Wiesen und Blumen noch die Tautropfen der vergangenen Nacht.

Markus stand wie immer um diese Uhrzeit auf der Terrasse, sog die kühle saubere Luft ein, und genoss den Zauber des anbrechenden Tages. Er war sich sicher, in diesen Momenten die Liebe Gottes noch deutlicher zu spüren als sonst. Und er war von ganzem Herzen dankbar dafür.

Er hatte schon einmal versucht, dieses Erlebnis mit seinem Sohn zu teilen, aber der vertrat die Meinung, dass er Gottes Liebe auch richtig gut in seinem Kopfkissen spüren konnte und dass der frühe Morgen sich gerne an sich selbst erfreuen konnte. Markus lächelte beim Gedanken an seinen großen Langschläfer, als er hörte wie die Haustür ganz leise zugezogen wurde.

Außer ihm war sonst so früh niemand wach und er beobachtete von seinem Platz auf der Terrasse neugierig, wie ein Schatten sich leise aus dem Haus schlich. Die Gestalt blickte sich mehrfach um, öffnete ohne ein Geräusch das Gartentor und fuhr schließlich mit einem der Fahrräder davon. Ob Michael das schlechte Gewissen über seinen Auftritt gestern Abend quälte? Auf jeden Fall wollte er heute wohl unbedingt jeglichem Gespräch aus dem Weg gehen. Das kam Markus eigentlich ganz recht.

Ja, irgendwann würde er mit dem Jungen reden müssen. Gott missfiel es, wenn seine Schäfchen im Streit miteinander standen. Aber jetzt noch nicht. Vielleicht morgen. Oder übermorgen. Im Moment fiel Markus jedenfalls noch überhaupt nichts ein, was er Michael auf seine seltsamen Fragen hätte antworten können. Und überhaupt musste er sich jetzt erstmal dem Gespräch mit seinem eigenen Sohn stellen.

Erst als die Sonne schon längst die letzten Tautropfen verdunstet und hoch über den Apfelbäumen stand, hörte Markus, wie Tim aus seinem Hochbett polterte und verschlafen die Treppe heruntergeschlurft kam.

»Guten Morgen, Langschläfer«, begrüßte er ihn. Zur Antwort bekam er ein abwesendes »Hmpf« - eine Mischung aus Grunzen, Gähnen und dem Versuch seinen Vater zu begrüßen, ohne dabei auch nur einen Muskel zu viel zu bewegen.

Tim war an den Kühlschrank gegangen, hatte sich Milch herausgeholt und vor sich auf dem Tisch platziert. Nun saß er etwas unschlüssig da und schien zu überlegen, wie es weitergehen sollte.

Sanft stupste ihn Markus von hinten mit der Müslipackung auf die Schulter, was mit einem weiteren »Hmpf« quittiert wurde.

Naja, schon etwas freundlicher. Als Tim es endlich geschafft hatte, Löffel, Schale, Milch und Müsli zu einem vollständigen Frühstück zu kombinieren, legte Markus das Buch, das er gelesen hatte auf den Tisch, setzt sich Tim gegenüber und lächelte ihn freundlich an.

Tim starrte mit halb geöffneten Augen in die Müslischüssel und schien alle seine Konzentration auf die hohe Kunst des Löffelns und Kauens aufwenden zu müssen.

Innerlich seufzte Markus. Er wusste, dass Tim es ihm krumm nahm, wie er seinen Freund gestern Abend angefahren hatte. Und ja, ein bisschen hatte er ja auch recht, man hätte das Ganze doch auch mit einem flapsigen Spruch abtun können. Michael einfach ins Leere laufen lassen mit seinen Provokationen. So sollte man doch eigentlich mit pubertierenden Teenagern umgehen, oder nicht? Markus probierte es erstmal ganz locker.

»Und? Wer hat das Spiel gestern gewonnen?«, fragte er.

Ganz kurzer Augenkontakt. Dann schnell wieder löffeln, die Milch vom Löffel schlürfen, das Müsli kauen.

»Hmm… Ham mittendrin aufgehört«, kam die Antwort mit vollem Mund.

Oh oh, das klang nicht gut.

»Wieso das denn? Auf das Spiel hattest du dich doch so gefreut. Hattet ihr etwa Streit?«

Löffeln, schlürfen, kauen.

»Hm-Hmm«, machte Tim wieder und schaffte es dann tatsächlich, mit vollem Mund »Star wars geguckt« zu sagen ohne dass größere Teile seines Frühstücks auf Markus landeten.

»Oje«, lachte Markus. »Ihr seid ja echt besessen von den uralten Schinken«

Jetzt sah Tim ihn doch noch direkt an. Er kaute kurz, schluckte sein Müsli runter und sprach dann zum ersten Mal heute Morgen einigermaßen verständlich.

»War aber gut«, sagte er. »Hat uns beide auf andere Gedanken gebracht«, sagte er ernst und sah seinem Vater dabei direkt in die Augen.

Okay. Keine Spielchen mehr. Markus überlegte kurz und wählte seine Worte mit viel Bedacht.

»Hey Tim. Der Ausbruch von gestern Abend tut mir wirklich leid«, sagte er und meinte es auch.

»Ich war noch ganz aufgewühlt, weil du doch gerade eben erst fast einen schlimmen Unfall gehabt hattest. Und Michaels Worte klangen so, als wären sie gegen den Herrn und seine Engel gerichtet. Und das hat mich echt getroffen, weil ich Gott gegenüber so viel Dankbarkeit empfinde für all das Gute, das er für uns getan hat.«

Tim hatte wieder begonnen zu löffeln, aber er sah Markus weiter offen an. Er hört mir zu, dachte Markus. Das ist schon mal gut. Er seufzte.

»Ich meine damit nicht nur deine Rettung gestern. Die natürlich auch. Es ist schon ein gutes Gefühl, zu wissen, dass da jemand ist, der immer auf meinen kleinen Stieselstoffel aufpasst.«

Unwillkürlich musste Tim ein klein wenig grinsen. Er schob sich schnell einen Löffel Müsli in den Mund, um den Anflug von guter Laune vor seinem Papa zu verbergen.

»Aber es ist doch noch so viel mehr, was er jeden Tag für uns tut. Denk doch mal an die viele Zeit, die wir alle füreinander haben. Wie oft wir miteinander spielen, gemeinsam singen, wandern, und, und, und… Bevor Gott uns allen das Paradies schenkte, hatten Eltern nicht so viel Zeit für ihre Kinder. Die mussten dauernd arbeiten oder irgendetwas Wichtiges tun und hatten eigentlich nie richtig Zeit für ihre Familie.«

»Ja, ich weiß«, antwortete Tim zwischen zwei Hapsen. So richtig überzeugt klang er noch immer nicht.

Markus seufzte innerlich. Ihm war es so wichtig, auch bei Tim dieses große Gefühl der Dankbarkeit zu wecken.

»Oder denk an die Natur um uns«, probierte er es erneut, »die herrliche Natur, die Gott so wunderbar wachsen und gedeihen lässt.«

Er wies auf das Fenster. »Die grünenden Bäume, die blühenden Blumen und das tolle Wetter. Nur dank ihm ist jeder Tag im Paradies immer aufs Neue der perfekte Sommertag.«

»Hmmm. Ja stimmt schon.«

»Und…«, machte Markus einen letzten Anlauf und vollführte mit den Armen eine ausufernde Geste »…all das hier!«

»Der Kühlschrank?«, fragte Tim stirnrunzelnd.

Das brachte Markus ein wenig aus dem Tritt. »Nein…«, sagte er unsicher, »Naja, doch, irgendwie schon… Also alles eben…«

»Was Papa meint«, mischte sich Martha jetzt vom Flur her ein, »ist, dass Gott uns einfach alles gegeben hat.«

Schubladen klapperten. Wahrscheinlich war sie wieder auf der Suche nach ihrer Handtasche. Gleichzeitig begann sie in einer etwas gewöhnungsbedürftigen Tonlage zu singen: »Aller gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn…«

Dankbarerweise hörte sie gleich nach dieser Zeile wieder auf zu singen. Markus liebte sie von ganzem Herzen mit allen ihren Eigenschaften. Aber eine musikalische Ader hatte sie nie entwickelt und wann immer sie beschloss zu singen, hieß es für ihre Familie einfach: Zähne zusammenbeißen.

»Uraltes Lied. Stimmt aber trotzdem«, sagte sie, noch immer in den Schubladen kramend. »Alles was wir haben, hat er uns geschenkt. Und wir sollten ihm dafür danken, was wir haben, statt dauernd zu hinterfragen, warum er etwas tut oder nicht.«

Sie schien gefunden zu haben, wonach sie suchte, kam nun in die Küche gehuscht und gab Markus einen flüchtigen ich-muss-jetzt-wirklich-los-Kuss auf die Stirn. An sich liebte er den Elan seiner Frau und wie sie voller Energie auf alles was sie sich im Leben vornahm zustürmte, ohne sich durch Hindernisse oder Probleme im Geringsten ausbremsen zu lassen. Aber besonders morgens hätte er es auch mal schön gefunden, mit ihr in Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken, gemeinsam ein gutes Buch zu lesen oder sogar nochmal kurz wieder ins Bett zu schlüpfen, sobald Tim auf dem Weg in die Schule war.

Keine Chance heute. Mit schnellen Schritten hatte sie die Küche durchquert, sich ihre Kaffeetasse und ein Brötchen geschnappt und war schon wieder halb zur Tür hinaus, als sie plötzlich innehielt. Sie ging noch einmal zurück zu Tim, legte ihre Hände auf seine Schultern und sah ihm eindringlich in die Augen.

»Und jeden Tag danke ich dem Herrn für das größte Geschenk, das er mir je gemacht hat.«, sagte sie mit einem Mal voller Ruhe und ganz und gar im hier und jetzt angekommen. Sie küsste Tim sanft auf die Stirn.

»Passt du bitte heute besser auf dich auf?«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Noch einen Engelsbesuch in diesem Monat verkrafte ich nämlich nicht.«

Tim schenkte ihr sein süßestes Lächeln

»Versprochen, Mama.«

Noch gute zwei Sekunden lang blieb sie lächelnd vor ihm stehen. Dann schaltete sie zurück in den Turbogang

»Also dann. Machts gut, ihr Lieben. Ich bin in zehn Minuten mit Sigrid verabredet. Sie hat ein paar neue Zeichnungen für mein Buch.«

Und zu Markus gewandt: »Hab mir ´n Auto gerufen, schaffe es jetzt nicht mehr mit dem Rad. Hab euch lieb.«

Und wusch, war sie schon aus der Haustür raus. Der kleine Wagen war genau in diesem Moment um die Ecke gefahren und Martha stieg ein, ohne den Schritt zu verlangsamen.

Während der Einsitzer beschleunigte, hatte sie bereits ihr Buch geöffnet und begonnen, weiter an der Geschichte zu schreiben, die sie vor Tim und Markus bisher komplett geheim gehalten hatte, trotz bitten, nörgeln, betteln, auskitzeln, und einmal sogar eines höchst sündhaften Angebotes ihres Mannes.

Tim sah seiner Mutter nach, wie sie davonrauschte. Irgendetwas Wichtiges war ihm gerade durch den Kopf gegangen. Aber dann hatte Papa wieder angefangen von Gott zu schwafeln und wie toll doch alles war und wie dankbar alle immer sein mussten, bla bla bla… War ihm doch alles klar. Musste man doch nicht immer wieder durchkauen. Gott hatte uns alle gerettet, danke schön, nächstes Thema. Er nickte an den richtigen Stellen, kaute sein Müsli (Yey… danke Gott für Schokomüsli…) und sagte »Hmmm« und »Ja stimmt«, bis Papa endlich aufhörte zu reden und sich wieder seinem Buch widmete. Nach einer Weile blickte Papa noch einmal hoch und sagte schließlich

»Ich finde, das war ein richtig gutes Gespräch, meinst du nicht auch?«

Na gut, noch ein 'Hmmm', diesmal mit Kopfnicken und Augenkontakt. Das schien das Thema dann wirklich zu beenden.

Ein Blick auf die Uhr. Kurz nach neun. Michael war sicher schon seit einer guten Stunde in der Schule, der alte Streber.

Dass man auch in Gottes Paradies in die Schule gehen musste, war etwas, das Tim anfangs nur schwer hatte verstehen können. Wozu sollte man sich denn bitte mit Mathe, Deutsch und Geschichte herumschlagen, wenn man doch alles, was man für ein glückliches Leben brauchte, von Gott geschenkt bekam?

Na klar, die klassische Antwort, die einem die Lehrer gaben, war, dass Gott den Menschen ja auch das Gehirn geschenkt hatte und wollte, dass sie es auch nutzten, und nicht als stumpfsinnige Zombies durch die Gegend liefen. Aber besonders beim Aufstehen fiel es Tim noch immer schwer, dieser Argumentation zu folgen. Wenigstens hatte Gott niemandem vorgeschrieben, wann er zur Schule gehen musste. Solange du dich in etwa vier Stunden täglich dort aufhieltst, war es Gott soweit egal, ob du ein Frühaufsteher oder Langschläfer warst.

Trotzdem versuchte Tim immer »schon« gegen zehn dort zu sein. Zum einen, damit er dann ab zwei noch etwas von den paradiesischen Nachmittagen hatte, zum anderen, damit er die Chance hatte, Michael vielleicht noch zu treffen, bevor der Schluss machte. Dann also jetzt schnell.

»Muss los zur Schule« sagte er mit vollem Mund. »Hab dich lieb, Papa«.

Und bevor Papa noch »Hast du die Zähne geputzt?« fragen konnte, war er auch schon aufgestanden und aus dem Haus gelaufen.

Genau Vierzig Sekunden später öffnete sich die Küchentür erneut und als Markus von seinem Buch hoch sah stand da ein wesentlich unsicherer Tim vor ihm.

»Was vergessen?« fragte er.

»Äh…. ja… Also… », druckste Tim herum. »Bei der ganzen Aufregung gestern hab ich anscheinend irgendwie vergessen eine klitzekleine Kleinigkeit zu erwähnen… »

Markus sagte nichts, zog aber eine Augenbraue hoch und wartete. Tim sah sich in der Küche um, als könnte ihm der Wasserkocher zu Hilfe kommen und für ihn weiterreden. Tat der aber nicht.

»Also, äh… wegen meinem Fahrrad…«

Kapitel 4: Geschenke

Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubt nur, dass ihr´s empfangt, so wird´s euch zuteil werden. Markus 11, 24

Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden Mathäus 7.7

Sie standen draußen am Gartenzaun und begutachteten zusammen das Fahrrad. Markus hatte sein Werkzeug mitgebracht und versuchte jetzt mit einem Hammer, einer Zange und mehreren Flüchen das verbogene Vorderrad wieder in eine einigermaßen vernünftige Form zu bringen.

»Von wegen 'ein bisschen verbogen' …«, grummelte er und versuchte den Stiel des Hammers als Hebel für die Zange zu benutzen. Nachdem er zum dritten Mal abgerutscht war, ohne das verbogene Rad auch nur einen Millimeter gerader zu biegen, gab er stöhnend auf.

»Nix zu machen«, schnaubte er. »Das Ding ist echt hin. Wie hast du das denn bloß geschafft?«

Tim nuschelt etwas das »ein Stein« hätte heißen können, aber auch genug Platz für freie Interpretation offenließ.

»Hilft ja nichts.«, sagte Markus. »dann müssen wir halt mal schauen.«

Er schlug sein Buch wieder auf und sagte: »Guter Gott. Unser Tim braucht anscheinend ein neues Fahrrad.«

Im selben Moment erschienen auf den Seiten des Buches Bilder von Mountainbikes, Stadträdern, E-Bikes und anderen Modellen.

»Also eigentlich«, meinte Timm kleinlaut, »würde ich gern einfach genau so eins wieder haben« Er zeigte auf das verbogene Fahrrad. »Das war toll«.

Markus suchte ein wenig im Buch herum, fand schließlich das entsprechende Modell und tippte darauf.

»Wird aber ein bisschen dauern«, sagte er. »Größere Sachen kommen nicht gleich am nächsten Tag.«

Tim nickte stumm und stellte sich darauf ein, heute zu Fuß zur Schule zu gehen.

»Kurze Frage… », hörten sie plötzlich die Stimme Gottes. Sie klang hier draußen etwas weniger beeindruckend als gestern und schien direkt aus dem Buch in Papas Hand zu ihnen zu sprechen. »Brauchst du das wirklich?«

Na klar. War ja zu erwarten, dass der alte Mann da oben seine Standardfrage stellt. Tim hatte sich schon oft gefragt, warum Gott manchmal so knauserig wirkte und bei allen größeren Anschaffungen immer mehrfach nachhakte. Ja, ja, es passte zu seinen neuen Geboten von wegen 'die Schöpfung achten', 'Ressourcen schonen' und so weiter, aber mal ehrlich: Konnte er nicht einfach per Wunder neue Ressourcen erschaffen? Wozu der Geiz?

Trotzdem hatte er natürlich mal wieder Recht.

»Naja«, gab Tim also zu, »eigentlich ist ja vor allem das Vorderrad richtig kaputt. Der Rest hat nur 'n paar Kratzer abbekommen und der Gepäckträger ist ein bisschen schief«

»Ein Vorderrad geht schnell«, antwortete Gott sofort, »das könnte ich dir in zehn Minuten in den Laden schicken. «

Jetzt freute sich Tim doch. »Super«, sagte er, »dann brauch ich nur bis dahin zu schieben und kann den Rest fahren. Danke!«

»Doppelt super«, freute sich Markus, »dann kannst du da ja auch gleich noch die Einkäufe fürs Mittagessen abholen«

Sofort verfinsterte sich Tims Miene wieder ein wenig.

»Manno Papa…«, nörgelte er. »Ich bin doch schon so spät dran. Wenn ich jetzt auch noch die Einkäufe wieder hochschleppen muss, dann …«

Markus wedelte nur mit dem inzwischen zugeklappten Buch.

Okay… Da konnte Tim natürlich nichts gegen sagen. Er zog eine leidende Grimasse, streckte seufzend die Hand nach dem Buch aus und klemmte es sich auf den Gepäckträger.