Das Parfüm des Todes - Katniss Hsiao - E-Book

Das Parfüm des Todes E-Book

Katniss Hsiao

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Beschreibung

Taipeh: Yang Ning ist Tatortreinigerin und hatte früher den absoluten Geruchssinn. Nach dem Tod ihres Bruders ist sie allerdings mit dem partiellen Verlust dieser Gabe gestraft und kann sie nur noch an Orten des Todes und der Verwesung wieder zum Leben erwecken. Als sie zur Wohnung einer verschwundenen Person gerufen wird, wo sie aufräumen soll, merkt sie allerdings zu spät und nachdem die Räume von ihr schon gesäubert worden sind, dass sie in eine Falle gelockt wurde. Diese Wohnung ist ein Tatort, hier ist ein Mord geschehen. Prompt wird sie von der Polizei als Hauptverdächtige betrachtet.

Yang Ning begibt sich auf eine verzweifelte Suche, um sich zu entlasten. Sie folgt der schwer fassbaren Spur, die der Mörder hinterlassen hat – der Duft eines Parfüms namens Madame Rochas ‒, und nimmt dabei die Hilfe des berühmt-berüchtigten Serienmörders und Künstlers Cheng Chunjin in Anspruch, um das Innenleben eines psychopathischen Geistes zu verstehen. Um das Monster zu jagen, muss sie selbst zu einem Monster werden ...

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Seitenzahl: 551

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Cover

Titel

Katniss Hsiao

Das Parfüm des Todes

Thriller

Aus dem taiwanischen Chinesisch von Karin Betz

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel成為怪物以前 (Bevor wir Monster wurden) bei Ink Literary Monthly Publishing Co., Ltd., New Taipei City, Taiwan. Published by agreement with Ink Literary Monthly Publishing Co., Ltd. c/o The Grayhawk Agency Ltd. In association with Liepman AG, Literary Agency.Die Übersetzung des vorliegenden Werkes wurde vom Kultusministerium von Taiwan (R.O.C.) gefördert.Abweichungen vom Originaltext wurden von der Übersetzerin in Abstimmung mit der Autorin vorgenommen.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5443.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Copyright © 2022 by Katniss Hsiao (蕭瑋萱)

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: Tarzhanova/Getty Images (Frau), FinePic(R), München (Blutstropfen, Kratzer, Hintergrund)

eISBN 978-3-518-78078-7

www.suhrkamp.de

Widmung

Der Tod, ein Liebesbrief an meine Eltern

Motto

Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock eines Hochhauses fällt. Während er fällt, wiederholt er immer wieder wie ein Mantra: ›Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut …‹ Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung.

Mathieu Kassovitz, Der Hass

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

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Titel

Impressum

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Motto

Inhalt

I Der Tatort

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II Das Täterprofil

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III Das Raunen

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Danksagung der Autorin

Personenverzeichnis

Zur Aussprache und zu den Transkriptionssystemen des Chinesischen

Informationen zum Buch

I

Der Tatort

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Wale, sagtest du.

Ich sah hinaus aufs Meer, aber dort war nichts.

Von hier aus sieht man sie nicht, sagte ich. Ich musste schreien, um den Wind zu übertönen.

Du wirktest enttäuscht; gerne hätte ich dich getröstet, aber ich wusste nicht, wie. Also standen wir einfach da, an der Ufermauer, unweit des Strands. Vor uns der Ozean und hinter uns ein endloses Meer von blühendem Silbergras. Ringsum Wellen. Das Meer rauschte, eine Bö streifte unsere Wangen, ließ das Gras zittern, riss uns mit sich Richtung Wasser, ins unerträgliche Chaos.

Gehen wir, sagtest du.

Wohin?, fragten meine Augen, als ich zusah, wie du die Schuhe auszogst, die steile, raue Ufermauer hinunterglittest, über die Tetrapoden aus Beton klettertest. Entschlossen strebtest du vorwärts, grubst die Zehen wie Schaufeln in den Sand, als wolltest du dir jedes einzelne Sandkorn einverleiben.

Strauchelnd lief ich dir nach, trat in die von dir hinterlassenen Fußstapfen, ließ keinen aus. Sie waren weich und feucht und wimmerten leise bei jedem Schritt, so wie das Meer in den Muschelschnecken wimmert. Erst nach einer Weile merkte ich, dass du nicht in gerader Linie aufs Meer zuliefst. Du beschriebst einen Bogen, nahmst unbekanntes Terrain ein.

Ohne zu zögern, ranntest du ins Wasser. Sand und Wellen sind die Sprache des Meers, sagtest du, eine fragile Sprache; Worte, die sofort verschluckt werden und für das menschliche Ohr für immer unverständlich bleiben.

Die Wellen zerrten an deinen Waden, du gerietst aus dem Gleichgewicht. Im Licht des Sonnenuntergangs glänzte auf deinem Nacken eine Mischung aus Schweiß und Meerwasser, die sofort zu einem schimmernden Salzrand trocknete. Dazu die Meeresbrise, Salz auf Salz; der Geruch der Welt nahm mit einem Mal Farbe an.

Ich tauchte nur vorsichtig meine Zehen ins Wasser. Die sprühende Gischt attackierte meine Beine. Es war eiskalt. Rasch wich ich zurück auf den Sand, wie ein kleines Kind, das etwas falsch gemacht hat. Sand und Wasser gingen mir unter die Haut.

Du standest am Rand des Meers, dann wieder mitten im Meer, im Kommen und Gehen der Wellen, dem Wasser so nah, in seiner Umarmung, als wärst du immer schon ein Teil davon gewesen. Zerstört und heil zugleich, so sieht es aus, wenn man vom Meer verwundet wird. Ich konnte deine Gefühle lesen, aber mehr auch nicht; so wie die Gischt das Segelschiff nur umarmen, es aber nicht allein mit ihrer Liebe oben halten kann.

Wohin geht der Mensch nach dem Tod? Ich erinnere mich noch daran, wie du mir diese Frage gestellt hast, an einem stinklangweiligen Nachmittag. Vielleicht war er gar nicht so langweilig, außer uns wusste sowieso niemand, was wir trieben. Du öffnetest den Mund und die Worte strömten heraus, als hätte man ein Loch ins Meer gerissen, aus dem Blut quoll, wie Luftblasen, die aus den Tiefen des Wassers an die Oberfläche steigen, dorthin zurück, wo sie hingehören.

Ich antwortete nicht.

Die einen glauben an die ewige Wiedergeburt, die anderen an die Auferstehung. Sollte etwas davon wahr sein, findest du dann vielleicht irgendwann irgendwo ein Tagebuch, einen Brief, versteckt im doppelten Boden einer Schublade oder ganz hinten im Schrank. Wirst du dich in dieser Zukunft an mich erinnern, an uns, unsere Umarmungen, das wohlige Schaudern, die nächtliche Meeresbrise?

Wenn ja, dann wirst du verstehen, wie traurig ich war an dem Tag, an dem ich beschloss, dich zu töten. Wie viel Kraft es mich gekostet hat. Ich habe geweint.

1

Yang Ning zwang sich, die Augen zu öffnen, der Rest ihres Körpers gehorchte ihr nicht. Nach einer Nacht, die sie auf der Seite liegend verbracht hatte, war sie stocksteif, ihre Glieder fühlten sich taub an. Nur schwach hob und senkte sich ihr Brustkorb. Mit großer Anstrengung wälzte sie sich auf den Rücken. Etwas Klebrig-Feuchtes legte sich auf sie, ergriff von ihr Besitz, ihrer Wirbelsäule, ihrem Schlüsselbein, ihren Rippen, und zog sie langsam und stetig auf Grund.

Es war, als risse die Kraft des Wassers sie mit sich. Verzweifelt kämpfte sie gegen die gierige Umarmung an, doch ihre Brust schnürte sich immer weiter zusammen, sie bekam keine Luft mehr. Und da plötzlich dieser kalte Hauch, der sie berührte wie eine übergriffige Liebkosung. Die Angst drang in jede Faser ihres Körpers.

Da war noch jemand im Raum.

Eine dunkle Gestalt stand in der Ecke. Instinktiv wusste Yang Ning, dass es eine Frau war. Sie wollte schreien, die Augen zukneifen, aber es gelang ihr nicht. Sie fühlte sich wie eine Leiche mit Bewusstsein. So hatte sie ihren Zustand auch der Ärztin beschrieben. Die hatte bedächtig genickt und das Übliche geantwortet: Keine Sorge, das wird schon wieder. Bald geht es Ihnen besser. Entspannen Sie sich. Dann stellte sie ihr routiniert ein Rezept aus und ließ ihr von der Sprechstundenhilfe höflich, aber mit spürbarem Unbehagen, einen Folgetermin geben.

Die dunkle Gestalt fixierte Yang Ning mit einem Blick, von dem sie eine Gänsehaut bekam. Sie schauderte, kämpfte, ihr Körper und ihr Geist rangen miteinander. Fokussier dich, Yang Ning, konzentrier dich auf deinen Kehlkopf, schrei. Sie spürte, wie die kleinen Muskeln in ihrem Hals arbeiteten. Ein Hüsteln, das war alles. Nicht mehr als das Hüsteln eines alten Mannes auf dem Totenbett.

Uh. Noch einmal. Uh. Mach schon, Yang Ning, beeil dich, trieb sie sich tonlos an. Los jetzt, wach auf! Die Silhouette der Frau bewegte sich auf sie zu, flimmernd, schemenhaft. Gleich würde sie bei ihr sein.

Es roch nach Kohlenfeuer.

Der Wind pfiff durch die Fensterritzen und bewegte sachte die ockerfarbenen Vorhänge, stellte eine Verbindung zur Außenwelt her. Die winterliche Sonne schien durch den Stoff auf den ramponierten Wecker auf dem Nachttisch. Schon lange war der Sekundenzeiger abgebrochen, der jedes Mal, wenn sie den Wecker schüttelte, im Inneren der Uhr klapperte. Es war, als ob sie die Zeit in der Hand hielt wie eine Kinderrassel.

Langsam nahm die Wirklichkeit Gestalt an. Raum und Zeit hatten wieder eine klare Bedeutung, ergänzten einander, verwoben sich zu dem, was wir die Erscheinungsformen der Welt nennen. Yang Ning blinzelte; einmal, zweimal. Ihr Kreislauf kam wieder in Gang. Langsam bewegte sie die Handgelenke, Ellbogen und Arme, als wären sie Bruchstücke der Erinnerung, die sie aus dem Abgrund gerettet hatte. Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht und betrachtete ihre Finger, als sähe sie sie zum ersten Mal. Mit ängstlicher Neugier starrte Yang Ning auf ihre Hand, versicherte sich ihrer Existenz.

Mühsam richtete sie sich auf, mit den steifen, unbeholfenen Bewegungen eines Kleinkinds, das eben erst zu sitzen gelernt hat. Ihr Körper fühlte sich fremd an.

Einatmen. Ausatmen.

Der erste Atemzug nach dem Aufwachen verursachte wie immer einen stechenden Schmerz.

Ihr Herz raste, trommelte förmlich gegen die Brust, wie um ihr zu versichern, dass sie lebte. Zitternd griff sie nach dem Wecker.

Elf Uhr siebenunddreißig, sagte sie sich vor. Ich bin soeben aufgewacht, sitze zuhause im Bett. Mein Name ist Yang Ning. Sie atmete tief durch.

Die Anfälle kamen immer häufiger und dauerten immer länger. Dennoch war jedes Mal so entsetzlich wie das erste Mal, brach erneut wie eine Katastrophe über sie herein. Sie stellte den Wecker hin, schlug die Decke zurück und schwang die Beine hinaus. Die unbarmherzige Kälte der Keramikfliesen biss in ihre Fußsohlen.

Scheißwinter, fluchte sie. Der November im Norden Taiwans war so nasskalt und trostlos wie immer, ständig steckte einem die Kälte in den Knochen. Verdammt, wo waren ihre Hausschuhe? Wohl oder übel musste sie mit nackten Füßen über den kalten Boden ins Badezimmer schlurfen, wobei sie wie ein Bulldozer den Müll zur Seite kickte, benutzte Taschentücher, Plastikbecher, schmutzige Klamotten, offene Tüten mit Cheetos extra scharf. Die Brösel knirschten unter ihren Fußsohlen und blieben daran kleben. Yang Ning streifte die krümeligen Füße am Türrahmen ab und sah sich dabei aus den Augenwinkeln nach ihrer großen Haarklammer um, der mit den Haifischzähnen.

Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass nicht nur der November in Taipeh trostlos aussah.

Ihre Augen wahren blutunterlaufen, darunter hingen blaugrüne Tränensäcke, aus jeder Pore schrie ihr die Müdigkeit entgegen. Die Nasenschleimhaut brannte beim Einatmen der kalten Luft, ihre Wimpern und Brauen waren struppig, die aufgekratzten Allergiebläschen an ihrem Hals bildeten roten Schorf. Als sie vorsichtig mit den Fingern ihre Schläfen massierte, regneten abgestorbene Hautpartikel herunter. Erst achtundzwanzig und schon vorzeitige Hautalterung, dachte sie.

Sie hatte hohe Wangenknochen, ihre Gesichtszüge waren streng und hager, ohne freundliche Rundungen. In den vergangenen Jahren war sie zu einem Schakal abgemagert, kein Gramm Fett mehr auf den Rippen. Die früher nur leicht eingefallenen Wangen waren hohl, ihre vordem gutsitzenden Wintersachen schlabberten. Doch gerade in diesem schroffen Äußeren lag eine eigentümliche Schönheit.

Sie war eher klein, eins sechsundfünfzig, jemand, der leicht in der Menge unterging. Trotzdem verströmte sie von Kopf bis Fuß die Aggressivität eines Raubtiers.

Mit einer gründlichen heißen Dusche wusch sie den widerlichen Schleier herunter, den sie auf sich spürte. Ah, wie ein Aufstieg aus der Hölle war das, als hätte jemand mit einem »Plopp« den Stöpsel gezogen und endlich konnte der Dreck abfließen. Sie riss das Handtuch vom Halter, um sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu wischen, und rubbelte sich gedankenverloren trocken. Dann lief sie bibbernd ins Wohnzimmer und zog einen Pullover vom Sofa, den sie dort achtlos hingeworfen hatte. Erst beim Anziehen bemerkte sie, dass der Fernseher lief.

»… die jungen Orcas müssen sich erst an die Uferströmung gewöhnen und üben zunächst mit Algen. Algen werden zwar von Ebbe und Flut vor- und zurückgeworfen, können aber nicht fliehen, weshalb die Orcas irgendwann lebende Beute als Übungsobjekte brauchen.« Die tiefe Stimme des Sprechers legte eine dramatische Pause ein. »Mit verborgener Finne lauert der Wal in seinem Schwarm unter Wasser vor dem Strand und wartet wie ein Surfer auf die passende Welle, mit der er sich gegen den Strand wirft, wo er mit dem Maul den Seelöwen packt und aufs Meer hinauszieht …«

Noch hatte er den Seelöwen nicht getötet. Noch nicht.

Der Seelöwe würde versuchen zu fliehen, aufs offene Meer hinaus, wo ein Schwarm Killerwale ihn umzingelte, wieder und wieder. Kenn deine Beute, hörte Yang Ning die Killerwale sagen. Achte auf die Strömung, die Tiefe. Nimm dir Zeit. Gib acht, dass du nicht strandest.

Schluss damit. Sie wollte das Meer nicht in ihrem Zimmer haben, fand aber unter dem Kleiderhaufen auf dem Sofa die Fernbedienung nicht sofort. Immerhin entdeckte sie in der Sofaritze ihr Smartphone.

»Der Orca, mit seinem ausgesprochenen Familiensinn, seiner hohen Intelligenz und seiner geschickten Technik, ist der beste Jäger des Ozeans. Um jeden Preis, selbst wenn er einen Artgenossen töten muss, wird er seine Familie beschützen.« Sie spürte den Ozean in ihren Venen, mit jedem Pulsschlag. »Aber nicht einmal dieser brutale Killer ist vor der Trauer gefeit. Erst kürzlich beobachteten Touristen auf Vancouver Island in Kanada, wie das Tahlequah genannte Orca-Weibchen J35 siebzehn Tage lang die Leiche ihres Kalbs mit sich trug …«

Immer noch schlotternd wischte Yang Ning sich mit dem Handrücken die Nase und steckte ihr Telefon ein. Im selben Augenblick vibrierte es. Sie warf einen Blick auf das Display, Xu Haoyang. Kurzerhand drückte sie den Anruf weg und tapste über die kalten Fliesen in die Küche.

Auf der Theke stand eine Reihe leerer Flaschen, umschwirrt von Fruchtfliegen, angezogen von den Resten auf den Flaschenböden, die sie nicht ausgespült hatte. In einer Schüssel lag noch ein vertrockneter Mantou, der schon ganz gelb war. Nein danke. Sie hob den Deckel von dem Topf, der auf dem Gasherd stand. Eine glibberige, gärende Flüssigkeit. Miso-Suppe? Sie nahm einen Löffel, rührte um und förderte angeschimmelte Wakame-Algen zutage. Sie zögerte kurz, hob den Löffel dann aber doch unter ihre Nase und schnüffelte.

Der Kühlschrank war leer. Sie suchte alles ab, aber in der ganzen Wohnung war nichts Essbares zu finden. Dann warf sie einen Blick auf den Müll, der sich im Wohnzimmer angehäuft hatte. Es war an der Zeit, einmal gründlich sauber zu machen. Welcher Tag war heute? Donnerstag oder Freitag? Sie war sich nicht sicher. Wieder vibrierte ihr Telefon. Diesmal war es Xiaozhi. Sie ging dran.

»Hi, Ning. Du hast gesagt, ich soll dich anrufen, wenn es einen Auftrag gibt.« Seine Stimme klang gedämpft, zittrig, verschwörerisch. »In Wanlong, nicht weit von dir, eine Zwanzigquadratmeterwohnung im zweiten Stock. Die Leiche haben sie schon abtransportiert. Ich schicke dir gleich die Adresse …«

Plötzlich verstummte er. Sie hörte, wie es im Hintergrund lärmte. Dann schrie eine andere Männerstimme: »Was zum Henker, hab ich dir nicht eingeschärft, dass sie Ruhe braucht? Rede ich mit der Wand? Ist sie nicht schon fertig genug oder ist dir alles, was ich sage, scheißegal …?«

Sie wollte sich gerade einmischen, als die Stimme sich nun an sie wandte: »He, Ning, hör mir gut zu! Du bleibst zuhause, ist das klar? Wenn du es wagst, herzukommen, dann schmeiß ich dich eigenhändig raus. Lass dich bloß nicht blicken. Den Job erledigen Xiaozhi und Xueli. Ich habe ihnen klipp und klar gesagt, dass du hier nichts zu suchen hast, kapiert?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, legte er auf. Derselbe Großkotz wie immer.

»… ihre grenzenlose Trauer hat etwas Obsessives, geradezu Menschliches. Kaum vorstellbar bei einem Killerwal …« Begleitet von Tahlequahs Trauergesang schwappten unaufhörlich die in der Sonne glitzernden Wellen in ihr Zimmer.

Yang Ning hielt es keinen Augenblick länger in den Fluten aus. Sie packte sich warm ein, zwei Hosen übereinander, schnappte sich ihren Parka und den Schlüsselbund mit dem Wal-Anhänger und verließ das Haus.

2

Der Novemberhimmel war jämmerlich grau. Die Fensterscheiben und die Blechdächer reflektierten nur hier und dort ein paar träge und kraftlose Sonnenstrahlen, als hätten sie sonst nichts zu tun, wüssten nicht, wohin mit sich; als ob nicht Tag für Tag Menschen zerstört würden, als ob nicht alles am Ende vergebens wäre.

Eben erst war ein rotglühender Herbst zu Ende gegangen, und der Winter wirkte eher uninspiriert, so als würde er nur darauf warten, endlich von der nächsten Jahreszeit erlöst zu werden. Immerhin konnte man sich glücklich schätzen, wenn es in diesem Nest im Süden Taipehs nicht regnete. Fußgänger hasteten vorüber, zumeist schweigend. Später am Tag, wenn die Schule aus war und die Eltern auf ihren Motorrollern ausschwärmten, würde eine Kakophonie aus ihrem schrillen Hupen, den Trillerpfeifen der Schülerlotsen und dem Kreischen der herumrennenden Schulkinder die Straßen erfüllen. Darauf konnte Yang Ning gut verzichten.

Sie wohnte im Liuhe-Markt von Yonghe, einem Gewirr von kleinen Gassen und Gässchen, die irgendwann alle in einen Tunnel mündeten, eine überdachte Fußgängerpassage, in der Straßenhändler Essen und allen möglichen Krimskrams feilboten. Ein einziger wirrer Haufen, in dem nichts miteinander zu tun hatte. Scheppernd stieß Yang Ning die Eisentür im Erdgeschoss auf, die, genauso wie das ganze Gebäude, schon ziemlich in die Jahre gekommen war. Sie musste die Tür kräftig zuschlagen, um den rostigen Schnappverschluss wieder einrasten zu lassen, weshalb sie mehrere Anläufe unternahm, um sicherzugehen, dass die Tür wirklich fest verschlossen war. Dann navigierte sie geübt und mit großen Schritten durch das Gassengewirr zu ihrem Motorrad, das irgendwo unter einer Laterne geparkt war.

Obwohl vermummt wie ein Bär, ging sie schlotternd, die Hände tief in den Taschen ihres Parkas vergraben, den Kopf zwischen den Schultern eingezogen. Sie war so auffällig dick eingepackt, dass einige der viel leichter gekleideten älteren Frauen in den Gassen erstaunt die Köpfe nach ihr umdrehten.

Ihr Arbeitsplatz lag nicht weit von ihrer Wohnung in der Wolong-Straße, gleich um die Ecke des Großen Leichenschauhauses, kurz hinter der Brücke und nur wenige Stationen mit dem Bus, wirklich bequem zu erreichen; aber wer einer Tätigkeit wie der ihren nachging, fuhr nicht gern mit dem Bus. Yang Ning fand ihre alte schwarze Hundertfünfundzwanziger, stellte den etwas lose gewordenen Rückspiegel ein, vergewisserte sich mehrfach, dass der Reißverschluss ihres Parkas auch gut zugezogen war, hauchte in die Hände. Dann zog sie den Helm und die Lederhandschuhe aus dem Kofferfach und bereitete sich mental auf den Härtetest für ihre Kälteempfindlichkeit vor: Die Brücke.

Der fiese Wind fand trotz der eng zugezogenen Schließe den Weg unter ihren Helm und hinter das Visier, biss in ihre Kopfhaut und ließ ihre Augen tränen. Das Zugband des Helmverschlusses schlug hart gegen ihr Schlüsselbein. Ihr Parka blähte sich leicht auf. Dann hatte sie es geschafft.

Sie zwängte ihr Motorrad zwischen einen Strommast und einen dieser kleinen Fünfzig-Kubik-Roller Marke Lämmchen und bockte es auf. Dann zog sie den Helm ab und betrat den unauffälligen Wohnblock, von dem der rosafarbene Außenputz abblätterte.

Im Aufzug hingen zwei farbige Werbeplakate ihrer Firma: Keine Sorge: Überlassen sie uns Ihre Trauer und Ihren Schmerz und Wir kümmern uns drum! NEXT STOP Company jeweils vor dem Hintergrund der Silhouette zweier Menschen, die sich im Sonnenuntergang umarmen. Darunter Adresse und Telefonnummer.

Plakate, die Immobilienverwalter ansprechen sollten. Schon klar, dachte Yang Ning, die die bescheuerte Werbung nicht mehr sehen konnte, aber jedes Mal wieder hinsehen musste und jedes Mal wieder angewidert war. Wie russische Matrioschkas kamen die Plakate in Sets, reproduzierten sich endlos neu.

Die Firma NEXT STOP war auf Tatortreinigung spezialisiert. Wohnung ausräumen, die Leiche abtransportieren, den Ort so wiederherstellen, dass er den Lebenden übergeben werden konnte, in der Hoffnung, dass die Lebenden wie die Toten dann »das nächste Kapitel aufschlagen konnten«, wie es die Firmenwebseite formulierte. Ihr Chef fand, dass ein englischer Firmenname »internationaler« wirke und eine breitere Kundschaft anziehe. Quatsch, dachte Yang Nin. Aber das war typisch für die pragmatische, plumpe Art dieses alten Sacks.

Vom Erdgeschoss bis zum vierten Stock residierte das Beerdigungsinstitut Barmherziges Leben, auch das eine Investition ihres Chefs. Das Büro von NEXT STOP lag im Untergeschoss. Sie drückte auf B1, und es dauerte keine fünf Sekunden, bis der Metallkasten sie in eine andere Welt befördert hatte.

In den Jahren seit der Gründung der Firma war die Zahl der Angestellten stets dieselbe geblieben, außer ihr und dem Chef waren da noch Xiaozhi, Einsneunfünf und Xueli, die sich abwechselnd um die Aufträge kümmerten. Das Büro war für ihre kleine Truppe ziemlich geräumig. Gleich hinter der großen Glastür stieß man auf einen Stehtisch mit einem goldenen Räuchergefäß. Der daraus aufsteigende Rauch lenkte den Blick automatisch auf die riesige, bestimmt fünf Meter breite Tafel an der dahinterliegenden Wand. Die Gnade Buddhas stand dort in goldenen Schriftzeichen auf schwarzem Grund.

Weiter rechts standen vier Schreibtische, einer neben dem anderen. Yang Ning warf die Tasche auf den ihren. Er war so gut wie leer, keine Topfpflanze, keine Post-its, kein Buch, kein Schreibblock und keine Stifte. Nur ein azurblauer Kaffeebecher stand einsam in einer Ecke, dekoriert mit dem Bild einer Riesenschildkröte, die den Mittelfinger reckte, darunter die Aufschrift: Don’t fucking touch me.

Die fleckigen Betonwände waren mit Kalligrafien, Rollbildern, gerahmten Fotos und Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten gepflastert, so dass kaum eine leere Stelle blieb, was den Raum trotz seiner Größe vollgestopft wirken ließ. Außerdem waren nach den Regeln des Fengshui ein achteckiger daoistischer Bagua-Konvexspiegel und ein Messing-Flaschenkürbis im Raum platziert worden. Ob es an seinem Umgang mit zu vielen alten Leuten lag oder ob er in seiner Jugend zu viel angestellt hatte, ihr Chef wurde jedenfalls immer abergläubischer. An Neujahr ließ er sogar einen Schamanen kommen, um die bösen Geister des alten Jahres zu vertreiben. Vielleicht war er auch nur einer von denen, die, auf einer gewissen beruflichen Höhe angekommen, Angst vor dem Fall hatten. Yang Ning, ohnehin von der Regelbesessenheit ihres Chefs genervt, konnte den Anblick der vielen mit roten Quasten versehenen Glücksbringer nicht ertragen. Geschmackloser Kitsch.

»Yang Ning?«

Wortlos hatte sie die Teeküche betreten, warf einen Blick in den Kühlschrank, zog einen Milchkarton heraus, riss die Tülle ab und trank wie ein gieriges Tier. Xiaozhi kam ihr entgeistert hinterher. »He, die Milch ist schon …«

Er starrte auf den leeren Milchkarton, den sie ins Spülbecken gefeuert hatte, als würden Pilze aus dem Karton sprießen, wenn er nur lange genug hinsah.

Yang Ning leckte sich die Lippen, wischte sich den Mund ab und sah sich nach etwas Essbarem um. Kein Reis, kein Brot, nur ein halbleeres Glas Nudelsoße, eine Dose rote Misopaste mit längst abgelaufenem Verfallsdatum, ein Glas Fuyuan-Erdnussbutter, in dem vielleicht gerade noch genug für eine Scheibe Brot war, und eine Flasche achtunddreißigprozentiger Jinmen-Hirseschnaps.

»Der Chef ist nicht da, oder?« Yang Ning überlegte noch, was ihr unter der vorhandenen Auswahl am ehesten behagte. Misopaste oder Erdnussbutter? Egal, davon wird kein Mensch satt.

»Der ist oben und macht mit Qian die Buchhaltung.« Xiaozhi riss sich vom Anblick des Kartons mit der abgelaufenen Milch los. Unwillkürlich hatte er die Stimme gesenkt. Er wirkte verschreckt, so als hätte ihm jemand schwer zugesetzt. »Der hat heute offenbar Dynamit gefrühstückt, supermies drauf ist er.«

Seufzend schloss Yang Ning den Kühlschrank und setzte die Suche nach etwas Essbarem im Schrank fort.

Xiaozhi murmelte irgendetwas, vielleicht beschwerte er sich immer noch über den übelgelaunten Chef, vielleicht ging es um seine Freundin, aber Yang Ning hörte nicht zu, es war ihr gerade vollkommen gleichgültig, was er sagte. Sie hatte Hunger. Endlich wurde sie fündig. Ausgerechnet auf der Glasplatte in der Mikrowelle lagen sechs Riegel Twinkies. Mit einem erleichterten Grunzen riss sie einen auf und schlang ihn hinunter.

Eigentlich konnte sie diese »goldenen Küchlein mit weißer Cremefüllung« nicht ausstehen. Der Kuchen schmeckte nach nichts, die Füllung war dafür widerlich süß, das ganze Ding so fettig, dass man nach einem Bissen genug hatte. Seelenloses Industriefutter, nannte Yang Ning solches Zeug normalerweise. Aber jetzt war sie schon beim dritten.

Die Twinkies hatte der Chef in der Mikrowelle versteckt, für den Nachmittagstee, keine Frage. Xiaozhi wollte etwas sagen, aber als er sah, mit welcher Gier sich Yang Ning über die Dinger hermachte, schluckte er seine Einwände hinunter. Wir kriegen sowieso eins auf den Deckel, Twinkies hin oder her, dachte er.

»Kunde schon am Tatort?«, stieß Yang Ning mit vollem Mund hervor.

»Nein. Der Vermieter hat uns die Schlüssel gegeben. Wir sollen nicht erst auf die Eltern des Verstorbenen warten, weil es so furchtbar stinkt. Die sind noch unterwegs, kommen aus Zhanghua.«

»Details?«

»Laut Polizeibericht ein männlicher Jugendlicher, der sich in einer alten Zwanzigquadratmeterwohnung die Pulsadern aufgeschnitten hat. Lag dort einige Tage in seinem Blut, bevor sie ihn gefunden haben.« Er nahm einen Kaffeebecher vom Gestell und ließ heißes Wasser hineinlaufen. »Die Leiche wurde heute Morgen abtransportiert. Der Chef war schon dort, um sich die Sache anzusehen. Ziemlich übel, sagt er.«

Endlich satt. Yang Ning leckte die letzten Krümel von den Lippen. Ein bloßer Reflex, denn sie schmeckte nichts. Xiaozhi reichte ihr den Kaffeebecher. Sie nahm einen großen Schluck. Nass. So viel konnte sie immerhin noch unterscheiden.

»Schick mir die Adresse aufs Handy.« Yang Ning stellte den Becher ab, ließ den Müll auf dem Küchentresen liegen und ging zur Tür.

»Bist du dir sicher?« Xiaozhi klaubte hastig die leeren Verpackungen zusammen, warf alles in den Mülleimer und lief ihr nach. »Du arbeitest seit Wochen ohne Unterbrechung. Du brauchst Erholung …«

»Wie lange braucht ihr?«, unterbrach Yang Ning.

Er runzelte entnervt die Stirn. »Xueli braucht eine halbe Stunde, bis sie hier ist. Bis ich die Chemikalien zusammengesucht, alles eingeladen habe und rübergefahren bin, noch einmal eine halbe Stunde. Eine gute Stunde also.«

Bring du alles Nötige mit, ich fahre vor und warte dort.« Sie ging in die Kammer, um ihre Ausrüstung zu holen. Schutzanzug, Schutzmaske, Plastiküberzieher für die Schuhe, jede Menge Einweghandschuhe und ihre Gürteltasche. Dann baute sie sich vor Xiaozhi auf und streckte die Hand aus.

Xiaozhi sah sie fragend an. Dann begriff er, klaubte den Schlüsselbund aus einem Metallkasten und ließ ihn klimpernd in Yang Nings Handfläche fallen. Sie schloss die Faust und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.

3

Immer, wenn mein Körper zur Ruhe kommt, läuft mein Gehirn auf Hochtouren, als ob es meine Trägheit ausgleichen wollte. Meine Gedanken rasen. Jetzt zum Beispiel, wo ich mich still und heimlich in einer Ecke zwischen Strommast und Trafostation verstecke, während es in meinem Schädel rumort.

Jedes Mal, wenn ich sie sehe, ist es das Gleiche; das heißt, ich beobachte aus der Distanz, wie sie ihr Motorrad abstellt, den Helm herunternimmt, ihr Haar schüttelt, es mit den Fingern kämmt und zu einem Zopf zusammenbindet. Ihr Blick wandert zwischen Smartphone und Briefkasten hin und her, um sich der Adresse zu vergewissern; dann tritt sie ein paar Schritte zurück und sieht hinauf, in diesem Fall zu einem Balkon mit weißem Gitter.

Sie wirkt bedrückt. Mehrere Schichten Kleidung verbergen ihre Figur, aber ihre Gesichtszüge sind noch hagerer als beim letzten Mal. Sie steckt das Smartphone wieder ein, geht zu ihrem Motorrad, hebt ihre Werkzeugkiste hoch, als wäre nichts drin, zieht einen Schlüsselbund aus der Jacke und schließt die Metalltür des Wohnblocks auf.

Fasziniert starre ich ihr nach, bis nichts mehr von ihr zu sehen ist und ihr Geruch verschwindet. Es fällt mir schwer, mich loszureißen.

4

Die Aufzugstür öffnete sich mit einem Klingeln. Sie wollte die Türschilder unter die Lupe nehmen, aber dann bemerkte sie die Stahltür, die weit hinten im Flur an der Wand lehnte. Stumm erzählte die ramponierte Tür von der Zumutung, brutal aus den Angeln gerissen zu werden. Jemand hatte einen rosa Zettel mit dem Gaszählerstand daran zurückgelassen.

Im niedrigen Schuhschrank neben der Tür standen zwei Paar schmutzige weiße Stoffschuhe und ein paar Flipflops, obenauf lagen Gummihandschuhe, Schuhüberzieher aus Plastik und die Plastikhülle eines Leichensacks, die die Leichenträger zurückgelassen hatten.

Ein unfassbares Chaos.

Yang Ning stellte ihre Werkzeugkiste ab und legte ihr Outfit an, in dem man wie ein weißer Hase aussieht. Sie hatte Glück. Keine Nachbarn in der Nähe. Vergangene Woche hatte der Chef das ganze Team für einen Eilauftrag mobilisiert. Innerhalb von drei Tagen mussten sie die Verheerungen beseitigen, die ein Feuer in einem Laden für chinesische Medizin mitten in der Einkaufszone angerichtet hatte. Der Fall hatte eine Menge Schaulustiger angezogen, täglich waren es mehr geworden, die sich das Maul über die Angelegenheit zerrissen hatten.

Mittags um zwölf tauchte dann eine dieser Nachbarstanten auf, eine Frau über fünfzig, gewappnet mit einem Plastikschutzhelm, der an Wassermelonenschalen erinnerte, in einer Hand eine Bento-Box, in der anderen einen klimpernden Schlüsselbund, und versuchte hartnäckig, sich Zugang zum Tatort zu verschaffen. Als Xiaozhi höflich versuchte, sie loszuwerden, blieb sie stur und begann eine Diskussion. »Ich kenne die Besitzer! Seit bestimmt zwanzig Jahren verkaufe ich da unten in der Gasse Tofu-Pudding, nie habe ich den Preis erhöht, nur fünfunddreißig die Schale, jeden Tag habe ich auf einen Plausch bei diesen Leuten vorbeigeschaut. Wer hat Sie eigentlich herbestellt, hm? Was nehmen Sie denn die Stunde, wenn ich fragen darf?«

Das geht dich einen Scheißdreck an. Yang Ning hatte gerade Handschuhe und Maske abgestreift und sich für einen Augenblick am Straßenrand ausgeruht. Gierig und laut gluckernd schüttete sie eine halbe Flasche Mineralwasser in sich hinein, bis ihr das Wasser an den Mundwinkeln herunterlief und auf den Hasenoverall tropfte. Der weiße Schutzanzug bestand aus besonders widerstandsfähigem Material, um sie vor Schmutz und Keimen zu schützen; es wurde einem aber auch verdammt heiß darin. Jeder in ihrem Team litt an einer gravierenden Beeinträchtigung der natürlichen Thermoregulierung. Man verlor das richtige Gefühl für Hitze und Kälte, und Hautausschläge waren an der Tagesordnung.

Vor allem bei Yang Ning, die ständig fror und einen regelrechten Kältehorror entwickelt hatte. Weil sie ständig den nervigen Ausschlag am Hals aufkratzte, prangten dort hässliche violette Narben.

Xiaozhi war die Tofutante immer noch nicht losgeworden.

»Ahui soll immer noch im Koma liegen. Ich kenne die nämlich wirklich gut, ob Sie’s glauben oder nicht. Wollte ihn ja besuchen gehen, aber Sie wissen ja, Unglück färbt ab, das bekommt meinem Geschäft nicht. Und Sie? Wie wär’s damit, den Toten Respekt zu zollen und Räucherstäbchen abzubrennen, he? Gleich da hinten liegt der Fu-An-Tempel. Ich kenne den Tempelwärter, wir waren zusammen in der Schule … Um ehrlich zu sein, der Sohn war schon immer ein Nichtsnutz, zu faul für die Schule, mit zwanzig immer noch keinen Job, und im Laden hat er auch nicht ausgeholfen. Was haben die sich gestritten bei denen! Die ganze Nachbarschaft hat es gehört.« Sie trat an Xiaozhi heran, als wollte sie ihm ein Geheimnis verraten, sprach aber weiter so laut, dass es jeder hörte: »Ich frage mich ja, ob der es nicht gewesen ist, zuzutrauen wär’s ihm, diesem Balg, den sie großgezogen haben …«

Yang Ning räusperte sich geräuschvoll und spuckte einmal kräftig auf den heißen Asphalt, was vorerst genügte, um die Tofutante verstummen zu lassen.

Sie wollte eben auf die Frau zugehen und sie Mores lehren, als ihr Chef aus dem Laden kam und dazwischenging.

Rasch hatte er seine Schutzmaske abgezogen und sich freundlich lächelnd der Frau zugewandt. »Danke für Ihre Fürsorglichkeit, das wissen wir sehr zu schätzen. Lassen Sie uns bitte erst unsere Arbeit machen, danach erzähle ich Ihnen gerne, was Sie wissen wollen …«

Er wusste, wie man sich solche Leute vom Hals schaffte.

Der Chef wollte sie immer dazu bringen, unangenehme Situationen mit pfiffiger Nachsicht zu handhaben. Damit hatte er bei Yang Ning keine Chance. Sie zuckte nur mit den Schultern. So etwas liegt mir eben nicht.

»Du willst nicht. Nicht einmal so viel willst du dazulernen«, sagte er dann. Sie erinnerte sich gut daran. Wollte sie nichts dazulernen?

Mit geübten Handgriffen machte Yang Ning sich bereit, legte ihre Anziehsachen bis auf die Unterwäsche ab und stopfte sie in eine große Plastiktüte, stieg in den weißen Hasenoverall, streifte die Plastiküberzieher über die Schuhe und zwei Paar Plastikhandschuhe über die Hände und zog die Gürteltasche fest, in die sie ihr Smartphone und weitere Einweghandschuhe steckte.

Zuletzt zog sie die Atemschutzmaske aus der Kiste. Einen Moment lang hielt sie die Maske in der Hand und betrachtete sie, schließlich streifte sie das Ding über.

Yang Ning stieß die zweite, ebenfalls ramponierte Metalltür auf, verbeugte sich kurz mit zusammengelegten Handflächen und betrat vorsichtig die Wohnung.

Der Ventilator lief, mehr schlecht als recht, er baumelte bedenklich von der Deckenhalterung. Von den Kabelsträngen schälte sich schon die Ummantelung und legte die schwarzen, roten und grünen Kabel bloß. Bei jeder Umdrehung ein schrilles Quietschen.

Das Licht war an und der Fernseher lief, eine dieser politischen Mittagsdebatten. Der Ton war leise, nur ein Hintergrundrauschen. Ein paar fette Kakerlaken liefen über den Bildschirm. Eine davon breitete gerade die Flügel aus und flog weg. Das Wohnzimmer war weder besonders unordentlich noch besonders schmutzig, nur ein paar leere Essenskartons und Getränkedosen lagen auf dem Boden, umschwirrt von Fliegen. Immer schon hatte es Yang Ning fasziniert, wie das organische Leben sich nach dem Tod des Bewohners in so einer Wohnung einfach fortsetzte, nein, vervielfachte, lauter und lebhafter wurde als zu dessen Lebzeiten.

Vom Schlafzimmer über das Wohnzimmer bis zur Eingangstür verliefen relativ große, blutige Schuhsohlenabdrücke; wahrscheinlich von den Leichenträgern. Yang Ning beugte sich über einen der klebrigen Blutflecke, dekoriert mit etlichen Maden und Kakerlaken, die sich mit zitternden Fühlern und schabenden Mundwerkzeugen hemmungslos an ihrem Mahl labten.

Auf einem Beistelltisch lagen Briefumschläge und diverse Papiere. Sie fingerte den dicken Stapel durch. Ein Flyer mit Weihnachtsangeboten vom Supermarkt, eine Kreditkartenabrechnung, ein Bußgeldbescheid wegen Geschwindigkeitsüberschreitung.

Yang Nings Blick fiel auf einen Haufen ungeordneter Kleidung und Wäsche auf dem Wohnzimmersofa. Als sie anfing, die Kleidungsstücke einzeln in die Hand zu nehmen und aufzufalten, störte sie eine Kakerlake auf, die mit tanzenden Fühlern aus dem Haufen flog und sich dann eilig in eine Sofaritze verkroch. Yang Ning hielt ein weißes Kleidungsstück in der Hand, die Uniform eines Krankenpflegers. Sie schüttelte sie aus. Kakerlakenteile, Hautschuppen. Schließ die Augen und atme tief ein. Faulig, säuerlich, ranzig, fischig. Sie müsste es riechen, selbst durch die Schutzmaske hindurch müsste der widerliche Gestank in ihre Nasenlöcher stechen. Jeder andere würde angeekelt die Flucht ergreifen vor diesem Gestank, der drei Jahre zuvor auch ihr Tränen in die Augen getrieben hatte. Beinahe ohnmächtig war sie davon geworden, von diesen Gerüchen. Jetzt sehnte sie sich danach.

Wie jeder wusste, der einmal am Fundort einer Leiche war, war der Anblick einer solchen Szene bei Weitem nicht das Schlimmste, das Entscheidende war der Gestank. Eine olfaktorische Folterkammer, in die man sich freiwillig begab. Früher, als sie mit diesem Job anfing, hatte sie sich jedes Mal übergeben müssen, ausnahmslos jedes Mal, und für den Rest des Tages diesen gallenbitteren Geschmack im Mund verspürt und den beißenden Geruch von Magensäure in der Nase. Statt nach Hause war sie nach der Arbeit erst zurück ins Büro gegangen und hatte sich geduscht und geduscht, mit den Fingern die Nase zugekniffen und das Wasser hinausgeschneuzt, wieder und wieder, dann mit der Drahtbürste ihre Fingernägel gesäubert. Anschließend hatte sie an sich geschnüffelt, von oben bis unten, ihre Haut rotgeschwollen vom hartnäckigen Schrubben. Und immer war das Gedächtnis ihres Geruchssinns stärker gewesen und hatte sie noch einmal unter die Dusche gezwungen.

Nach dem Abtrocknen hatte sie sich dann mit Zitronenöl eingerieben und sich mit schwarzem Tee getränkte Wattebäusche in die Nase gestopft. Nie war sie ins Bett gegangen, ohne ihren Hals mit einem Erfrischungstuch abzureiben und ihre Haare unter einer Duschhaube zu verstauen. Und trotzdem hatte sie weiter diesen Leichengeruch an sich haften gefühlt.

»Ich mache das schon seit einer Ewigkeit und kann mich immer noch nicht daran gewöhnen«, pflegte der Chef zu sagen. »Und du mit deiner feinen Hundenase kannst erst recht nichts dagegen machen, glaub mir.« Noch nie im Leben sei ihm jemand mit einem so ausgezeichneten Geruchssinn begegnet, sagte er. Er hatte alles versucht, um sie davon abzuhalten, aber jedes Mal ging sie wieder hin, jedes Mal übergab sie sich, aber jedes Mal blieb sie. Als könnte sie nicht genug davon kriegen.

Niemand hatte sie davon abbringen können. Der Chef hatte sie immer wieder nach dem Grund gefragt, auch Xu Haoyang, ihre Freunde, sogar ihr Tutor an der Uni. Warum ausgerechnet dieser Job? Wo sie doch einen recht guten Abschluss am Institut für Medienwissenschaften gemacht habe, wo sie doch eine recht nette Frau sei, wo es doch keinen rechten Grund für diese absurde Berufswahl gebe? Ihr Tutor hatte seufzend die Stirn gerunzelt, ihre Freunde den Kopf geschüttelt.

Des Geldes wegen. Das war ihre Antwort. Es war eine ehrliche Antwort. Sie brauchte schnellverdientes Geld, um ihren jüngeren Bruder zu sich nach Taipeh zu holen.

Ihr damaliges Ich, das war Yang Ning immer klar gewesen, war bereit gewesen, mit Freuden all ihre Zeit, ihren Körper, ihren Fluchtinstinkt zu opfern, um schnelles Geld zu machen.

Und jetzt wäre sie bereit, alles für eine Zeitmaschine zu opfern.

Langsam erwachte Yang Ning aus ihrer Versunkenheit. Sie brauchte etwas Heftigeres, um ihre Sinne zu stimulieren.

Sie konzentrierte sich. Endlich regte sich ihr paralysierter Geruchssinn ein wenig, nahm eine hauchdünne Spur auf, eine faulige Süße, die unter der Tür hervorkroch. Dort, hinter der Holztür lag das, wonach sie verlangte, ihre Droge. Mit dem weißen Kittel des Jungen in der linken Hand drehte sie mit der rechten den Türgriff.

Mit ohrenbetäubendem Summen stürzte sich ein Schwarm Schmeißfliegen auf sie, prallte gegen ihren Kopf. Mit einer heftigen Handbewegung wehrte sie den Angriff ab, wobei sie sich gleichzeitig die Kakerlaken abklopfte, die an ihr hochkrochen.

Eine dicke, breite Spur aus Blut und Fett hatte sich den Weg vom Bett bis zur Tür gebahnt, klebte in einem glibberigen Dunkelrot an den Dielen fest, wie ein Kunstwerk, schockierend und faszinierend zugleich. Der Dielenboden schien zu leben, vollgesaugt mit einer schleimigen Mischung aus Blut, Körpersäften und Dreck, glitschig und klebrig zugleich. Vorsichtig setzte Yang Ning einen Fuß vor den anderen.

Auf dem mit einem rosa Laken bezogenen Bett bildete die Masse aus Blut und Fett eine auf der Seite liegende menschliche Silhouette nach. Maden und Kakerlaken wuselten über das Kopfkissen und die Matratze, erweckten sie zum Leben, dicht an dicht, Schicht um Schicht türmten sich die fetten weißen Maden auf der Körperform, und unter dem schwarzweißen Gewirr, den Fühlern und den körnchengroßen Exkrementen war ein Loch in der Matratze zu erkennen, in dem säuberlich nebeneinander pralle, dunkelrot glänzende Kakerlakeneier lagen.

Yang Ning ignorierte die um sie herumhuschenden Kakerlaken. Allmählich kam Leben in ihre unter der Schutzmaske verborgene Nase; ihre Nasenlöcher bebten heftig, während sie instinktiv den Raum erforschte. Sie roch. Ein Gemisch aus verfaulten Algen, schimmeliger scharfer Bohnenpaste und einem Haufen toter Ratten. Ein Gestank, bei dem jeder normale Mensch würgen und sofort die Flucht ergreifen würde. Ein Teil von ihr wollte fliehen. Lauf, Yang Ning, lauf! Der andere Teil war erregt, der Mund trocken vor Aufregung, gebannt.

Der Geruch nahm Gestalt an und produzierte ein Bild von dem Toten, als er noch am Leben war.

Sie öffnete den Kleiderschrank. Außer drei weißen Krankenpflegeruniformen hatte er nicht viel zum Anziehen. Ein paar stonewashed Bluejeans, karierte Hemden, weiße T-Shirts, Jacke. Als Unterwäsche ausschließlich beige Boxershorts. Auf dem Schrankboden fand sie noch einen leuchtend gelben Schal, ein paar Lederhandschuhe, sauber und angenehm weich; offenbar nicht mehr neu, aber gut gepflegt. Sein Innenleben und sein äußeres Auftreten passten offenbar nicht ganz zusammen. Ein gewisser Lebenshunger, Abenteuerlust, der Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden, was ihn wiederum unsicher und zögerlich machte.

Ein billiger weißer IKEA-Pressspan-Schreibtisch, darauf an der Seite ein Stapel Bücher, in der Mitte ein Laptop, an dem das Ladegerät blinkte, eine einfache Plastikbox mit Bleistiften, Radiergummi, eine Schwammbürste, Zeichenutensilien; daneben zwei Päckchen Post-its. Alles sehr sauber und ordentlich.

Yang Ning ließ sich in den Drehsessel fallen, legte den Kopf in den Nacken, stieß sich mit dem rechten Fuß ab und machte eine volle Drehung. Sie dachte daran, wie sie das erste Mal einen Tatort betreten hatte.

Kaum, dass der Chef den Schlüssel in der Tür herumgedreht hatte, war ihr vom grässlichen Leichengestank das Tunfischsandwich vom Abendessen wieder hochgekommen. Sie taumelte zurück Richtung Flur, stürmte die Treppe hinunter, so schnell, dass sie beinahe strauchelte. Draußen ging sie in die Knie, riss ihre Maske herunter und übergab sich. Ihr Gesicht war nur noch Rotz und Tränen, so fest sie auch die Augen zukniff, die Tränen flossen weiter. Sie fühlte sich beschissen, wollte abhauen, laut schreiend davonlaufen. Aber was würde dann aus Yang Han? Sie riss sich mit aller Kraft zusammen, stemmte sich hoch auf die Füße. Denk an Yang Han, sagte sie sich. Du brauchst Geld, Yang Ning. Sobald du das Geld zusammenhast, wird alles gut.

Niemand hatte gesehen, wie sie zusammengebrochen war, und niemand hatte mitbekommen, wie sie sich wieder zusammengerissen hatte. Ruhig stand sie auf und ging zurück, um durch Leichensäfte zu waten.

Wie glitschig. Wie tief. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, und beinahe wären ihr wieder Tränen aus den Augen geschossen. Tief durch den Mund atmen, Yang Ning, los, du kannst es. Bloß nicht gehen lassen, nicht ablenken lassen, sonst würde sie sich zersetzen, auflösen. Beängstigend, wirklich beängstigend war das. Sie hatte nichts außer einem klopfenden Herzen, Kurzatmigkeit, einen zum Platzen geschwollenen Kopf, um diesen Angriff abzuwehren. Halte durch! Du schaffst das.

Alles in Ordnung? Irgendwann hatte der Chef sich zu ihr umgedreht. Sicher, hatte sie geantwortet, mit Mühe die Tränen zurückhaltend.

Yang Ning wirbelte noch einmal auf dem Sessel herum zum Schreibtisch. An der Wand hing ein Gruppenfoto, das den Krankenpfleger mit Freunden auf einer Geburtstagsfeier zeigte. Es war sorgfältig mit Papierkleber befestigt.

Auf dem Foto strahlte er über das ganze Gesicht. Ein junger Mann, schätzungsweise zwischen fünfzehn und achtzehn, kurzes, schwarzes Haar, groß und schlaksig, feingliedrig. Sachte glitt Yang Ning mit den Fingerspitzen über jeden einzelnen Gegenstand. Die Fragmente in ihrem Kopf verbanden sich, schwebten, schlitterten, gewannen allmählich Struktur, setzten sich vorsichtig zu einem Bild des jungen Mannes zusammen.

Auf dem Laptop klebten zwei Haftnotizen, darauf war etwas gekritzelt, in verblasster Tinte und kaum leserlicher Schrift. Yang Ning konnte nur wenige Worte entziffern: »Freitag … getroffen … Vorschläge, die ich zuhause umsetzen will …« stand auf der einen, »Von der Haltestelle Krankenhaus nach …«

Auf dem Bücherregal an der Seite standen hauptsächlich Mangas und auf dem oberen Regalbrett ein paar Mangafiguren, die Yang Ning nichts sagten, aber dem Anschein nach die wertvollsten Gegenstände im Raum waren. Sie schnippte mit den Fingern gegen den vertrockneten Zierspargel, der in einer Ecke des Schreibtischs stand. Blattfragmente bröselten leise herab und verteilten sich als Staub auf dem Tisch.

Sie nahm das Inventar noch einmal genauer unter die Lupe. Rechnungen, Briefe, Mangafiguren, Notizbücher, Glückwunschkarten. Wendete eine Zigarettenschachtel zwischen den Fingern, klopfte sachte damit auf den Tisch. Schüchtern, intelligent, introvertiert. Leidenschaftlich, aber extrem zurückhaltend. Keiner, der gut mit Worten war, unsicher im Umgang mit anderen. Jemand, der sich zurückzog und lieber allein blieb, um nicht verletzt zu werden. Wie es aussah, hatte er aufgrund seiner netten Art dennoch ein paar Freunde gewonnen, die ihn für seine Aufrichtigkeit schätzten.

In einer Schublade entdeckte sie seine Brieftasche. Studentenausweis, Praktikumsausweis, Rabattkarten von Kaufhäusern und Läden in Ximending und der B-Ebene der U-Bahn-Station Sun Yatsen. Schließlich sein Personalausweis: Name: Zheng Wenliang. Geburtsdatum: 8. Juni 2002.

Eine Kakerlake kletterte an ihrer Wade hoch, reckte ihre Fühler, um dort einen Blutfleck zu kosten. Yang Ning schüttelte sie ab, aber schon krabbelte das Insekt flink an ihrem Arm hinauf.

Früher hatte sie diesen Job des Geldes wegen gemacht. Jetzt arbeitete sie wegen etwas anderem.

An die Arbeit.

Yang Ning beugte sich über das Bett und schnüffelte am Bettlaken. Und tatsächlich roch sie etwas. Furchtbaren Leichengeruch. Beinahe hätte sie laut gejubelt. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie. Sie stöhnte leise. Das war ihre Droge, ihr Weg zum höchsten Glück.

Mit zitternden Fingern drückte sie den Timer: 0:29:59.

Ihr blieb noch eine halbe Stunde, um es zu genießen.

Sie riss die Maske herunter.

Leichengeruch war ihre Medizin, ihr einziges Mittel gegen den Geruchsverlust, den kein Arzt zu heilen verstand.

Yang Ning schloss die Augen und vergrub den Kopf in der Krankenpflegeruniform. Sie roch nach Notarzt, Klimaanlagenschimmel, Gips, Jodtinktur, Pflaster, Bleiche, Alkohol, Fruchtwasser, diversen menschlichen Ausdünstungen … Dutzende verschiedener Gerüche, einschließlich dem von Snuggle-Weichspüler. Eine verwirrende Mischung. Sie schnüffelte, konzentrierte sich, fokussierte ihre Gedanken auf den jungen Mann.

Vom vielen Händedesinfizieren hatte er rissige Haut, die er mit Vaseline und Calendula-Salbe behandelte. Der Kragen roch nach Seven-Stars-Zigaretten, und er trank Milchtee, der süß riechende Flecken auf dem Kittel hinterließ.

Je tiefer sie inhalierte, desto deutlicher stand ihr der junge Mann vor Augen. Er hatte fettige Haare und benutzte ein nach Minze duftendes Shampoo. Und dann war da noch ein schwacher, blumiger Parfümgeruch, Rose vielleicht. Sie konnte nicht sagen, welche Marke es war.

All diese Gerüche waren zwischen diesen vier Wänden gefangen. Und sie war ein Schwamm, der sie alle in sich aufsog, mit allen Poren, bis sie genug hatte. Herrlich. Jede Faser ihres Körpers leistete Widerstand und genoss es zugleich.

Der Raum war ein organisches Gebilde, dessen Geruch sich von Sekunde zu Sekunde, von Minute zu Minute veränderte.

Unvermittelt hob sie den Kopf. Ihr Blick fiel auf die zerknüllten Papiertaschentücher im Papierkorb, voll mit dem Rotz und den Tränen des jungen Mannes.

Seine heißen, salzigen Tränen waren in der Luft verdampft, hatten ihre Spuren in den Staubmilben und der abgestandenen Feuchtigkeit hinterlassen, zusammen mit einer speziellen Mischung von Empfindungen, seiner Entschlossenheit, seiner Einsamkeit, seiner Trauer, seiner Angst und seinen Schuldgefühlen. Jedes Gefühl klar und ursprünglich.

Sie musste an Yang Han denken.

5

Als Yang Hans Todestag sich zum ersten Mal jährte, war Yang Ning die Einzige der Familie, die nicht zur Gedenkfeier auftauchte.

Ihr Nichterscheinen sorgte für großen Verdruss unter den Verwandten, vor allem ihre Großeltern väterlicherseits waren empört. Yang Ning konnte sich die sarkastischen Kommentare vorstellen, die ihre Mutter sich ihretwegen hatte anhören müssen, mit gesenktem Kopf, stummen Tränen, zuckenden Mundwinkeln, unterwürfig wie immer. Nie wagte sie ein Widerwort, nie zog sie vor ihnen eine Show ab. Jetzt, wo Yang Han nicht mehr war, hatte sie niemanden, an dem sie ihre Hysterie auslassen konnte, ihr fehlte das Publikum für ihre emotionale Erpressung, ihr ständiges Gaslighting.

Xu Haoyang hatte sich Sonderurlaub genommen, um einen Tag vor der Zeremonie an Yang Nings Stelle nach Miaoli zu reisen. Anstelle seiner Freundin rezitierte er Sutren für Yang Han, ertrug er die theatralischen Zusammenbrüche ihrer Mutter, den stummen Ernst ihres Vaters, selbst das Gezeter und Gejammer ihrer Großeltern. Was Yang Ning ihm verschwiegen hatte: Auch sie fuhr an dem Tag nach Süden. Die Waggons des alten Zugs rumpelten über die Gleise, quietschten, schaukelten den ganzen Weg bis hinunter nach Xinpu. Als der Zug den Küstenbogen entlangfuhr, verlangsamte er seine Fahrt. Wie sehr hätte sie sich gewünscht, die Fenster öffnen zu können und die Meeresbrise auf der Haut zu spüren.

All das, was sich einmal in der Luft ereignet hat. Ob der Wind sich daran erinnerte? Den Geruch und den Geschmack nach zärtlicher Zuneigung, die Tränen, die vor langer Zeit über Wangen gerollt waren? Wenn jemand gestorben war, die Asche in alle Winde verstreut – ob der Wind dann aus der Erinnerung der Berührung mit einem Menschen die Gestalt der Verstorbenen zu rekonstruieren vermochte?

Der Zug machte kurz Halt und Yang Ning stieg aus.

Sie stand am Bahnsteig und dachte an das Zirpen der Zikaden im Sommer. Jetzt war es Winter und der Winter war totenstill, nur das Rattern der Züge, die in großen Abständen hier durchkamen.

Yang Han und Yang Ning waren Kinder des Meeres. Sie wuchsen in einem kleinen Dorf auf, das nur eine Viertelstunde mit dem Fahrrad von der Küste entfernt lag.

Einmal draußen, ließen sie es langsam angehen, ließen die Streitereien ihrer Eltern hinter sich. Nie gingen sie ins Wasser, und dennoch gehörte ihnen alles, was das Meer war. Im Sommer öffneten Restaurants mit Livemusik, Imbisswagen mit Tacos, Bierstände. Binnen kürzester Zeit verwandelte sich ihr Refugium zu einem lärmenden Rummelplatz. Einmal wurde Yang Han vom Surfboard eines Strandtouristen einfach umgehauen. Als sie sah, wie hilflos und unbedarft ihr kleiner Bruder war, wusste sie, dass sie losziehen und einen anderen Zufluchtsort finden musste, um seinetwillen.

Daher hatte sie ihn in jenem Sommer, er war dreizehn, bei der Hand genommen, und sie waren kurzentschlossen mit dem Zug hierher gefahren, zu eben dieser Bahnstation, um einen Ort nur für sie beide zu finden. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an die Gerüche.

Die salzige Feuchtigkeit des Windes, faulendes Holz, abblätternde Farbe, Hundepisse; der süßeste Geruch stammte vom Rudelführer. Süßer sogar als die Früchte. Dieser Hund war bullig und stark und begegnete Hund und Mensch mit Ingrimm, fletschte laut bellend die Zähne und ließ jeden wissen, mit wem er es zu tun hatte. Bei Yang Han dagegen verhielt er sich, als hätte er die Frau seiner Träume gefunden, schnaubte leise wimmernd durch die Nase, rieb sich an ihm, leckte ihn ab, wollte ihn verwöhnen. Und Yang Han liebte den Hund, nannte ihn zärtlich Kapitän. Jedes Mal, wenn sie sich wiedertrafen, benahmen sie sich wie zwei Verliebte nach einer langen Trennung, verharrten Nase an Nase, Stirn an Stirn, stundenlang.

Yang Ning konnte Kapitän nicht ausstehen und wusste, dass der Hund sie genauso wenig mochte. Sie konnte auch den rostigen, fauligen Geruch des Bahnhofs nicht ausstehen. Sie hasste den Geruch des Meeres, viel zu komplex, wie ein überkochender Eintopf, in dem die Herren über Leben und Tod wie wild herumrührten, jede Sekunde tausend Tode, jede Sekunde tausend Leben. Zu dick, zu gesättigt, erdrückend, erstickend. Unerträglich.

Aber Yang Han liebte es, aufs Meer hinauszuschauen und in die Wellen zu laufen. Er liebte seine Weite und seine Farbe. Nur ihm zuliebe hockte sich Yang Ning an den Rand dieses Eintopfs, atmete sein feuchtfauliges Salzaroma ein und beobachtete, wie Yang Han und sein vierbeiniger Freund mit den Wellen spielten. Beobachtete, wie ihr Bruder den Schaum kickte, den die Wellen beim Abebben am Strand zurückließen, und dann kichernd zu ihr zurückrannte.

»Yang Ning!«

»Hm?«

»Ob es da draußen Wale gibt?« Er deutete aufs Meer hinaus.

»Was glaubst du?«

»Bestimmt!« Wie klein er damals war, wie pummelig. »Eine Walkuh mit einem Baby im Bauch.«

»Dann ist es wohl so«, sagte sie. »Wenn du glaubst, dass es welche gibt, gibt es sie auch.«

»Und Haie?«

»Und ob!« Sie packte ihren kichernden Bruder und knabberte spielerisch an seinem Nacken. »Pass auf, dich frisst er zuerst!«

Um ans Meer zu kommen, musste man zuerst das Haus verlassen, dann aus dem Zug steigen, von der Station aus fünf hinter Maschendraht grasende Schafe passieren. Dann ging es weiter, über von Feuersalbei und Hibiskus gesäumte Wege und über eine Holzbrücke. Um ans Meer zu kommen, musste sie die Strandmauer überwinden, hinunterschlittern, über Tetrapoden klettern, durch Seegras und Kletterpflanzen stapfen. Einen Schritt nach dem anderen.

In einem Sommer, Yang Han war gerade sieben geworden, gerieten die Geschwister in ein plötzliches Nachmittagsgewitter. Laut schreiend sprangen sie über die Wasserpfützen, suchten Hals über Kopf Zuflucht unter einer löchrigen Plane, dem Vordach einer Wellblechhütte. Die Hütte wirkte alt und schäbig und jemand hortete daneben eine Reihe am Strand gefundener Schutzhelme und anderes Zeug.

»Ich bin klatschnass.« Yang Han hüpfte mit seinen Flipflops fröhlich in den Wasserpfützen herum. Yang Ning war weniger begeistert. Sie wischte sich das Wasser von der Stirn, zog ihre durchnässte Geldbörse aus der Hosentasche und beäugte den Inhalt, der zu einer breiigen Masse geworden war. Hoffentlich würde der Mann am Bahnhofsschalter nachher den durchweichten Hundertdollarschein akzeptieren. Plötzlich ging die Tür der Hütte auf. Instinktiv zog Yang Ning ihren Bruder schützend hinter sich, mitten in den Regen. Er schrie auf und sprang zurück unter das Dach, neben seine Schwester. Eine alte Frau stand im Türrahmen, die sie in einem derben Hakka-Dialekt anredete. Yang Ning verstand kein Wort, aber die Gesten der Frau machten deutlich, dass sie die beiden hereinbat.

In den Ecken dieser schlichten Behausung standen Blechwannen, um das eindringende Regenwasser aufzufangen. Ansonsten war es dort erstaunlich aufgeräumt und gemütlich. Die alte Frau, die sich mit anmutigen kleinen Schritten durch den Raum bewegte, reichte ihnen ein Handtuch, setzte den Teekessel auf und stellte den Kindern sogar ein paar Kleinigkeiten zum Essen hin. Außer ihrem starken Akzent fiel Yang Ning die große Nase der Frau auf. Sie sprach leise und freundlich, ihr ganzes Benehmen war höflich und zurückhaltend; kein Wort, keine Geste waren zu viel oder zu wenig. Später nannten die Geschwister, wenn sie unter sich waren, die Frau scherzhaft Hexe Yubaba. Fortan würden sie der freundlichen Hexe Yubaba auf dem Weg zum Meer stets einen Besuch abstatten. Sie sprachen nie viel, hockten einfach eine Weile mit ihr zusammen, auf eine Tasse Tee und ein paar Süßigkeiten, bis sie dann losliefen, um den Zug nach Hause zu erwischen.

Es war an einem Morgen zu Beginn des Winters, als sie zum letzten Mal an ihre Tür klopften. Sie fanden die Tür von einer Eisenkette mit Vorhängeschloss verriegelt. Yang Han und Yang Ning riefen im Duett nach der alten Frau. Keine Antwort. Ein Nachbar, vermutlich verärgert über den Lärm, kam in einem dünnen Morgenmantel und Pantoffeln aus seinem Häuschen und erklärte, dass die alte Dame mit ihrer Tochter ins Ausland gegangen sei.

Sie war fort und ihr Haus lag verlassen da.

Yang Han war lange Zeit untröstlich. Yang Ning verstand ihn. Es war nicht wegen der heruntergekommenen alten Wellblechhütte. Ihr Bruder hatte die gemütliche, ruhige Wärme in der Hütte geliebt, und vor allem die gute Hexe Yubaba.

Er mochte Wale, wie überhaupt alle Tiere, sogar – nach Yang Nings Empfinden – grässliche Krachmacher wie Spatzen oder noch grauenhaftere Wesen wie Säuglinge. Außerdem mochte er Filme, sammelte DVDs, die er wie einen Schatz auf einem Regal hütete; jede Wand seines Zimmers war mit Filmpostern in allen Größen gepflastert. Wenn sie sich spätabends in sein Zimmer schlich, grummelte er im Halbschlaf: »Ning … bist du auch gewaschen?« Dann würde sie sich verschmitzt unter seine Decke kuscheln und absichtlich ihr Gesicht an seinem Kopfkissen abwischen.

»Warum tauschst du die nie aus?«, fragte sie, auf dem Rücken liegend, mit offenem Haar, die Füße an der Wand hochgereckt, wo sie mit den Zehen die Klebestreifen von den Postern zu lösen versuchte. »Unter deinem Bett liegen doch noch zig Rollen. Die an der Wand sind schon ganz vergilbt.«

Yang Han setzte sich im Bett auf, zog die Füße seiner Schwester zu sich herunter und verpasste ihnen eine sanfte Massage.

»Weiß nicht. Ich kann mich nur schwer davon trennen.«

Yang Ning grinste. Er war so sentimental. Damals konnte sie mit seiner zärtlichen Beziehung zu Dingen nichts anfangen. Erst viele Jahre später, als sie an einer Bushaltestelle ein Filmplakat sah, begriff sie plötzlich das Gefühl, etwas schon zu vermissen, bevor es weg war.

Ihr kleiner Bruder trank lieber Ziegen- als Kuhmilch. Sie schmecke nach Sehnsucht, sagte er, intensiv und nachgiebig zugleich. »Mama hat mir jeden Tag eine Bento-Box für den Kindergarten mitgegeben. Mit Ziegenmilch. Das Glas der Milchflasche war so schön kühl«, erzählte er lächelnd. »Die fühlte sich toll an.«

Yang Ning fand, dass Ziegenmilch stank. Dennoch besorgte sie ihm jeden Tag nach der Schule eine Flasche im Seven Eleven. Früher hatte ihre Mutter das gemacht, später war es an Yang Ning. Immer war der Kühlschrank voll mit den kleinen Glasflaschen, auf denen sich beim Herausnehmen feine Wasserperlen bildeten.

»Wie kann man sich ständig für alles begeistern?«, fragte sie ihn. »Gibt es nichts, das du nicht magst?«

»Ich mag alles«, sagte er.

»Spinner.« Sie verzog spöttisch den Mund.

»Aber es gibt eine Sache, die ich mir wünsche.« Er hielt den Mund dicht an ihr Ohr und flüsterte: »Ich hätte gern deine Nase.«

»Nichts zu machen.« Sie zuckte mit den Schultern, geschmeichelt.

Ihr raffinierter Geruchssinn war in der Lage, die feinsten, subtilsten, selbst bewusst versteckten Gerüche zu identifizieren. Für sie war es ein Kinderspiel, zu erschnüffeln, was das Mädchen mit dem müden Gesicht und der goldgeränderten rosa Haarspange hinter dem Ticketschalter mit ihrem Parfüm verbergen wollte: das süßliche Aroma des Sake, den sie gestern bis spät in die Nacht getrunken hatte, den herben Zigarettengeruch an ihren Fingerspitzen, den Hauch eines weiteren Krauts an ihrer Uniform, das Yang Ning nicht zu benennen wusste.

Ein Rülpser des Kioskbetreibers an der Ecke verriet ihr, dass er zu Mittag kalte Nudeln und Misosuppe gegessen hatte und dass auch das Taiwan-Bier, das er sich schon zuvor gegönnt hatte, ihm noch unverdaut im Magen lag. Er schwitzte gehörig, was er mit einem billigen Eau de Cologne an Nacken und Handgelenken überdecken wollte, es roch stark nach Alkohol, hatte etwas Stechendes; ganz anders als seine Frau, die sich vor dem Laden hockend Luft zufächelte.

Gerüche konnten sich nicht verstecken. Yang Nings Nase deckte ihre Geschichten auf.

Sie erspürte den krankmachenden Rotz an der Nase eines Passanten und die Sojasprossen in der rotweiß gestreiften Plastiktüte der Frau an der Ecke. Ihr kleiner Bruder packte sie oft am Arm, deutete verstohlen auf Passanten und flüsterte: »He, Ning, was ist mit dem da?«

Für Yang Ning war ihr ausgezeichneter Geruchssinn ein Fluch. Der unvermeidbare Instinkt erschöpfte sie und führte dazu, dass sie sich ständig physisch und mental von Menschen und Dingen angewidert fühlte. Sie litt, von der Grundschule bis zur Uni; der Geruchsmix im Ranzen eines Mitschülers, die fettigen Haare der Sitznachbarin, der auf- und abebbende Menstruationsgeruch im Klassenzimmer machten sie wahnsinnig.

So echt ihr Leiden auch war, so überheblich wirkten ihre ständigen Klagen auf andere.

Die Bilder, die uns das Sehvermögen vermittelt, bleiben an der Oberfläche, sind nur Erinnerung, aber Geruch dringt ein, in jede Pore. Yang Ning wusste um die Macht der Gerüche. Niemand entkam dieser Macht.

Doch dann, als sie wieder alles hinter sich gelassen hatte und noch einmal aus dem Zug gestiegen war, im Heulen des Winds, der den Sand und die Gischt vom Meer herüberwehte, während ein alter Mann mit einem Beutel Wechselkleidung an ihr vorüberging, stand sie dort am Gleis und roch nichts mehr. In ihrer Nase herrschte Leere.

6

Der Erste, der es bemerkte, war Xu Haoyang.

Wenige Wochen nach Yang Hans Tod entdeckte er, dass Yang Ning den Milchtee, der schon seit Tagen in der Küche stand und längst sauer geworden war, ohne Weiteres ausgetrunken hatte. Ein anderes Mal war der Mülleimer umgekippt und die ganze Küche stank nach fauligen Abfällen, ohne dass Yang Ning reagierte. Zunächst nahm er an, dass es an ihrer Trauer lag, die sie vollkommen teilnahmslos machte, aber das erschien allzu abwegig. Er suchte im Internet und stieß auf einen Artikel auf einer Gesundheitsseite, der ihn dazu brachte, sie zu testen. Egal, ob er ihr Schokolade, Kaffee oder Mottenkugeln unter die Nase hielt – Yang Ning roch nichts.

Es folgten Termine beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Neurologen, Zahnarzt, Rheumatologen, Gastroenterologen, sogar zu einem MRT nötigte er sie, aber jeder Arztbesuch blieb ohne Befund. Yang Ning nahm es achselzuckend hin, aber Haoyang war außer sich. Wenn sie jetzt daran zurückdachte, erinnerte sie sich kaum an die vielen Arztbesuche, die ganze Episode bildete in ihrem Gedächtnis einen nutzlosen, verworrenen Haufen; nur das Bild Haoyangs, der nervös vor den Behandlungszimmern auf und ab ging, stand ihr noch vor Augen.

Nach etwa vier Monaten, die sie mit Besuchen bei den besten Spezialisten Taiwans verbrachte, bekam sie von einem Psychiater die Diagnose: Gefühls- und Geschmacksverlust infolge einer posttraumatischen Belastungsstörung. Eine ungewöhnlich lange Bezeichnung für eine Krankheit, die sich trotzdem nicht sehr wissenschaftlich anhörte. Yang Ning war nicht klar, was posttraumatische Belastungsstörung heißen sollte. Ein geliebtes Haustier stirbt, Mobbing durch Kollegen, vom Lehrer getadelt werden, weil man sich nicht traut, den Badeanzug für den Schwimmunterricht anzuziehen, Zeugin zu werden, wie ein Mensch, der dir nahesteht, bei einem Autounfall stirbt … was davon war schlimm genug, um ein Trauma zu provozieren?

Eine Psychotherapeutin riet ihr zu lernen, loszulassen, bevor sie ihr gewohntes Leben wieder aufnahm. Was immer das hieß.

»Sie setzen sich zu sehr unter Druck«, sagte die Therapeutin freundlich. »Wir alle müssen lernen, loszulassen.«

Wir? Alle? Als ginge das jeden an, als hätten wir alle die gleichen Enttäuschungen und Rückschläge durchgemacht. Als ob, wenn du weinst, die ganze Welt mit dir weinte. Bullshit