Das Primat des Körperlichen im Gesundheitssystem - Helmut Wilde - E-Book

Das Primat des Körperlichen im Gesundheitssystem E-Book

Helmut Wilde

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Das Leib-Seele Problem bzw. das Gehirn-Geist-Problem ist nicht vollständig auflösbar. Die damit in Zusammenhang stehenden Probleme haben einen großen Einfluss auf die Wissenschaften und das Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Die Neurowissenschaften haben unser humanistisches Menschenbild in Frage gestellt und behaupteten, dass der Mensch keinen freien Willen habe. Sie wenden naturwissenschaftliche Methoden an, um auf vielfältigste Weise die Prozesse und Mechanismen (Funktionalitäten) des Gehirns zu untersuchen. Eine methodologische und wissenschaftstheoretische Analyse zeigte, dass die Neurowissenschaften an die Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten gelangten. Bereits hier gibt es Evidenz dafür, weiteren Wissenschaftsdisziplinen einen Stellenwert einzuräumen. So haben Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte dazu geführt, das bereits lange bekannte biopsychosoziale Modell zu erweitern und auf dieser Grundlage ein ganzheitliches - mehrere Systemebenen umfassendes – Gesundheitsverständnis zu entwickeln und zu begründen. Gesundheit ist diesem Verständnis zu Folge stets durch Herstellung eines Gleichgewichts von medizinischen, psychischen und (öko-)sozialen Prozessen zu erbringen. Lebewesen sind untrennbar mit diesen Systemebenen vernetzt, die zudem hochkomplex zusammenwirken. Diese Konzeption von Gesundheit ermöglicht, im Sinne eines Zugewinns, körperliche und psychische Erkrankungen (Störungen) gleichzeitig auf mehreren Systemebenen zu diagnostizieren und zu therapieren.

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Seitenzahl: 143

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Das Primat des Körperlichen im Gesundheitssystem

Eine evidenzbasierte - mehrere Systemebenen umfassende - Perspektive zu einem ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit und Krankheit.

Helmut Wilde

Dipl. Psychologe

Email: [email protected]

© 2020 Helmut Wilde

Auflage (erste Auflage)

Autor & Umschlaggestaltung: Helmut Wilde

Lektorat: tredition

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

978-3-347-16360-7 (Paperback)

978-3-347-16361-4 (Hardcover)

978-3-347-16362-1 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gliederung

Einführung

1. Die Begrenzung auf den Körper in der Medizin

1.1 Fallbeispiel

2. Historische Begrenzung auf den Körper

3. Kausalität

3.1 Kausalität in der Philosophie des Geistes

3.2 Kausalität in den Neurowissenschaften

3.3 Kausalität von Organismen

4. Neurowissenschaftliche Begrenzungen auf den Körper

4.1 Die Philosophie des Geistes und ihr Bezug zur Hirnforschung

4.2 Die Dominanz des naturwissenschaftlichen Zugangs in der Hirnforschung

4.3 Neuronaler Determinismus

4.4. Abschließende Betrachtungen und Schlussfolgerungen

5. Philosophische Grundlagen und Probleme der Neurowissenschaften

5.1 Monismus (reduktiver Physikalismus)

5.1.1 Semantischer Physikalismus

5.1.2 Identitätstheorie

5.1.2 Naturalisierung des Mentalen

5.2 Dualismus (nichtreduktiver Physikalismus)

5.2.1 Funktionalismus

5.2.2 Panpsychismus

6. Ganzheitliche Perspektiven

6.1 Biopsychosoziale Medizin

6.1.1 Biomedizinisches vs. biopsychosoziales Krankheitsverständnis

6.1.2 Praxis des biopsychosozialen Modells

6.1.3 Somatoforme Störungen

6.1.4 Somatoforme Störungen (Merkblatt)

6.1.5 Protektive Faktoren für die seelische Gesundheit

6.1.6 Gesundheitszentren

6.2 Psychoneuroimmunologie (PNI)

6.2.1 Das Immune-neuro-endokrine Netzwerk

6.2.2 Psychosozialer Stress

6.2.3 Die immunologische Stressreaktion

6.2.4 Modell eines chronisch belasteten Stresssystems

6.3 Psychokardiologie

6.3.1 Herzrhythmusstörungen

6.3.2 Stress als Auslöser von Herzrhythmusstörungen

6.4 Depression als Störung des Gleichgewichts

6.4.1 Modell der depressiven Gleichgewichtsstörung

6.4.2 Therapie der Depression anhand des Depressionsmodells

6.4.3 ICD-10-Kriterien einer depressiven Episode

6.5 Bindungsmuster und psychische Störungen

6.5.1 Sicheres Bindungsmuster

6.5.2 Unsicheres Bindungsmuster

6.5.3 Desorganisiertes Bindungsmuster

6.5.4 Zusammenhang zwischen Depressionen und Bindungsstilen

6.5.5 Therapeutische Interventionen bei unsicherem Bindungsstil und Depression

6.5.6 Therapiekonzepte bei unsicherem Bindungsstil und psychischen Störungen

7. Psychiatrische Perspektiven

7.1 Wirkungen von Psychotherapie und Pharmakotherapie auf das Gehirn

7.2 Überbewertung des Materiellen in der Psychiatrie

7.3 Der Begriff der psychischen Krankheit

7.4 Exklusion schwerwiegender Erkrankungen

7.5 Genetik als Konstrukt für die Erklärung von Krankheiten

7.5.1 Epigenetik

7.5.2 Springende Gene (Transposons)

8. Systemische Perspektiven

8.1 Die moderne westliche Medizin

8.1.1 Wandel in der modernen westlichen Medizin

8.2 Emergenztheorien

8.2.1 Emergenz im Konnektionismus

8.2.2 Emergenz in der Synergetik

8.2.3 Emergenz in chaotischen Systemen

9. Gesundheit und Krankheit in der beruflichen Rehabilitation

9.1 Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM)

9.2. Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz

10. Der mündige Patient

11. Diskussion

12. Schlusswort

Abbildungsverzeichnis

Weiterführende Literatur

Einführung

In einer ersten Annäherung an das Thema wird die körperliche Dominanz im Gesundheitssystem aufgegriffen und durch ein selbst erlebtes Beispiel exemplarisch verdeutlicht.

Die im Gesundheitssystem tätigen Fachkräfte sind z.T. wissenschaftlich ausgebildet oder partizipieren von dem Wissen, das in den Grundlagenfächern Physik, Biologie, Chemie und in den Anwendungsfächern Psychologie, Medizin, Psychiatrie bereitgestellt wird, die alle naturwissenschaftlich ausgerichtet sind.

Die Trennung verschiedener für Gesundheit und Krankheit maßgeblicher Systemebenen wird besonders häufig auf das 17 Jhd. zurückgeführt, deren Wurzeln jedoch offenbar bis in die Antike (vgl. Böhme) reichen. In den Wissenschaften habe sich diese Trennung und die Dominanz einer getrennten Betrachtung von Gesundheit und Krankheit bis in die Gegenwart hinein weitgehend erhalten (vgl. Damasio).

Im Abschnitt 3 werden verschiedene Formen von Kausalität besprochen. Insbesondere die Kausalität von Organismen verdient eine besondere Aufmerksamkeit. Darüber hinaus wurden Hirntheorien (vgl. Thomas Fuchs und Hans-Joachim Scheurle), die eine mehrere Systemebenen umfassende Perspektive als zwingend ansehen, in das vorliegende Manuskript eingearbeitet.

Als bedeutende Forschungsrichtung, zudem mit dem Anspruch auf Deutungshoheit, haben sich insbesondere seit den 1990-ziger Jahren die naturwissenschaftlich ausgerichtete Hirnforschung (Neurowissenschaft) und die Neurobiologie etabliert und die Neurowissenschaften durch die Behauptung, dass der Mensch „keinen freien Wille“ (vgl. Singer, Roth) habe, eine größere wissenschaftliche, jedoch auch gesellschaftlich bedeutsame Debatte ausgelöst, die in der Mitte des ersten Jahrzehnts zur Jahrtausendwende (Millennium) ihren Höhepunkt erreicht hatte. Von neueren neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen ausgehend, entstand der Anspruch, das Gehirn als alleinige „omnipotente“ Erklärungsebene zur Lösung des Leib-Seele-Problems (Gehirn-Geist-Problem) in Anspruch zu nehmen sowie darüber hinaus Gesundheit und Krankheit auf Hirnprozesse zu reduzieren, was jedoch nicht gelang. Um diese Ansprüche und ihr Scheitern verständlich zu machen, beziehe ich mich auf eine hervorragend gelungene Analyse der Physikerin und Philosophin Frau Brigitte Falkenburg, die historisch, methodologisch und wissenschaftstheoretisch, von den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Physik ausgehend, sowie mit Einbezug der Befunde der Hirnforschung, diesen Anspruch und deren Möglichkeiten zurückweist.

Am Ende dieses gehe ich noch auf eine Konzeption von Thomas Nagel ein, der einen Ausblick gibt, wie eine zukünftige wissenschaftliche Perspektive aussehen könnte (sollte), die zum einen durch den Befunden der letzten ca. 300 Jahren naturwissenschaftlicher Forschung geschuldet und zum andern aufgrund der nicht vorhandenen kausalen Geschlossenheit der (materiellen) Natur (vgl. Falkenburg) gegeben sei.

Daran anschließend werden mehrere Ansätze, Konzeptionen und deren Befunde vorgestellt, die einerseits einen Beitrag zur Lösung des Leib-Seele-Problems anbieten und andererseits ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit begründen. Diese basieren zum einen auf das erweiterte biopsychosoziale Modell, inclusive der Konzeption von Spinoza und zum anderen auf den Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie und der Psychokardiologie. Auch das in der medizinischen Literatur stets dominante Konzept Stress (HPA Achse) ist hier einzubeziehen, das jedoch wenig in der Praxis zur Anwendung kommt. Darüber hinaus wird das Zusammenwirken von biologischen, psychologischen und (öko-)sozialen Faktoren am Beispiel der Diagnose und Behandlung von Depressionen aufgezeigt. Seltener wird die Bedeutung von Bindungsmustern für die Entstehung von psychischen Störungen (Erkrankungen) thematisiert. Daher habe ich dieses Thema mit aufgenommen und in weiteren Abschnitt mit aufgenommen. Über den Ansatz von Hell hinaus gehend, der die Relevanz von Bindungsmustern ebenfalls thematisiert, gehe ich kurz auf weitere psychotherapeutische Behandlungsansätze zu deren Möglichkeiten einer Veränderung ein. Weiterhin war es für mich bedeutsam die psychotherapeutischen Wirkungen auf das Gehirn zu zeigen und zu belegen.

Sodann gehe ich zum einen auf die Überbewertung des Materiellen in der Psychiatrie (Brunner) ein und stelle zum anderen eine psychiatrische Perspektive vor, die den Begriff der psychischen Krankheiten eingrenzt. Weiterhin wird für das in der Medizin dominante Konzept Genetik eine neue, kritische bzw. erweiterte Perspektive angeboten.

Die Begrenzungen naturwissenschaftlicher Forschung (vgl. Nagel, Falkenburg, Finzer) könnte durch eine systemtheoretische Perspektive überwunden werden. Die Variabilität und der Verlauf von Erkrankungen (Finzer) beispielsweise könnten somit wissenschaftlich untersucht werden. Das Konzept der Emergenz gewinnt in diesem Zusammenhang wieder an Bedeutung.

Um einen praktischen Bezug und einen meiner Bezugspunkte für die Ausarbeitungen in diesem Manuskript herzustellen, gehe ich im Folgenden auf das Thema Gesundheit und Krankheit in der beruflichen Rehabilitation ein. Dabei gehe ich auf ein auf Selbsteinschätzung basierendes standardisiertes Verfahren (AVEM) ein, dass Teilnehmern einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) regelmäßig zu Beginn vorgelegt wird. Es erfasst überfachliche Kompetenzbereiche, die für die erfolgreiche Aufnahme und Ausübung einer beruflichen Tätigkeit von Bedeutung sind und macht zudem eine Aussage zu den möglichen gesundheitlichen Auswirkungen.

Danach gehe ich auf die Zunahme von „psychischen Erkrankungen“ am Arbeitsplatz ein.

Um eine inflationäre Verwendung des Begriffs „psychische Erkrankung“ einzugrenzen, wird auf die Ausführungen des Psychiaters und Direktors der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin, Andreas Heinz, Bezug genommen, der ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht hat.

Daran anschließend entnehme ich der Philosophie des Leibes und Technikphilosophie von Gernot Böhme - Aussagen zum „mündigen Patienten“.

Abschließend resümiere ich meine Arbeit und ziehe eine Gesamtschlussfolgerung.

Ein Abbildverzeichnis sowie die Liste weiterführender Literatur runden das Thema ab und geben Gelegenheit sich weiter, eingehender und tiefer mit angesprochenen Themen zu befassen.

1. Die Begrenzung auf den Körper in der Medizin

Erfahrbar wird diese Begrenzung vor allem beim Aufsuchen eines Arztes. In den Arztpraxen werden die Ursachen von Erkrankungen auf der körperlichen Ebene liegend gesehen. Der Arzt filtert, aus einem in der Regel sehr kurzen Gespräch, die für eine Diagnosestellung relevanten Informationen heraus, verdichtet diese, und stellt eine Diagnose. Ergänzend erfolgen ggf. Laboruntersuchungen und Bildaufnahmen, wie MRT, CT oder Sonographie. Ist die Diagnose einigermaßen gesichert, werden in der Regel Medikamente, z.T. auch manuelle Therapien oder falls erforderlich Operationen veranlasst, d.h. Diagnostik und Therapie verbleiben in der Regel auf der körperlichen Ebene.

Da in den Praxen in der Regel Medikamente verschrieben werden, soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass diese Nebenwirkungen haben können und je gravierender eine Erkrankung ist, die Liste möglicher Nebenwirkungen zum einen ansteigt und zum anderen drastischer sein dürften. Bereits bei freiverkäuflichen Schmerzmitteln können sehr gravierende Nebenwirkungen auftreten. Deshalb sollten diese nicht öfter als 5x pro Monat eingenommen werden (Gottschling 2017).

Die Diagnostik und Therapie sollte im Sinne des erweiterten bio-psycho-ökosozialen Verständnisses von Gesundheit und Krankheit (vgl. Egger 2015), stets und gleichzeitig auf diesen Systemebenen erfolgen, da dadurch vielfältigere Möglichkeiten vorhanden sind, Krankheiten zu behandeln und Gesundheit wiederherzustellen bzw. zu erhalten. Diese Systemebenen sind in wechselseitiger Kausalität (Brunner 2017) miteinander verbunden, d.h. Interventionen auf der biologischen, der mentalen, der sozialen Ebene und den Lebensverhältnissen wirken sich jeweils auf die anderen Systemebenen und auf das Gehirn aus.

Insbesondere Schmerz ist ein bio-psycho-soziales Phänomen, das in der Medizin in dieser Form bereits in den 60-ziger Jahren durch Gorge Engel (vgl. Engel et al. 2011) bekannt gemacht wurde, jedoch in der täglichen Praxis höchst selten zur Anwendung gelangt. Stattdessen werden in biomedizinisch orientierten Behandlungseinrichtungen hochpotente Opioide verschrieben.

Infolge der Nichtintegration dieser Systemebenen werden mangels vorhandener Konzepte, bereits zu einem frühen Zeitpunkt, im Sinne einer Ausschlussdiagnostik, drastische Erkrankungen (z.B. Alzheimer oder Krebs) angenommen, welche entsprechende diagnostische Abklärungen und dadurch entstehende Kosten zur Folge haben, die jedoch i. d. Regel nicht bestätigt werden. Präventive Untersuchungen, z.B. Mammographie, PSA Tests (z.B. Cochrane.de), sind wegen der Möglichkeit häufiger falsch positiver Diagnosen fragwürdig.

Literatur:

Brunner, Jürgen (2017): Psychotherapie und Neurobiologie. – Neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die psychotherapeutische Praxis.

Egger, Josef W. (2015): Integrative Verhaltenstherapie und psychotherapeutische Medizin. - Ein biopsychosoziales Modell.

Engel, George L., Adler, Rolf H. & Grögler, Andreas (2011): Schmerz umfassend verstehen: Der biopsychosoziale Ansatz zeigt den Weg.

Gottschling, S. (2017): Schmerz Los werden. - Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft.

1.1 Fallbeispiel

Ich hatte gesundheitliche Beschwerden, die insbesondere beim Mountainbike fahren auftraten, jedoch zunächst unspezifisch und undeutlich waren.

Ich testete über mehrere Monate viele verschiedene Hypothesen, die nach jeweiliger Erprobung die Beschwerden nicht schlüssig erklärten. Schließlich fand ich eine Erklärung, die sich, wie sich später herausstellte, als zutreffend erweisen sollte. Es handelte sich bei den Beschwerden um die Symptome einer Angina pectoris und zwar in der belastungsabhängigen Form. Auch ein Ödem in den Sprunggelenken, dass seinerzeit medikamentös bedingt aufgetreten war und sich nach Absetzen des Medikaments nicht vollständig zurückbildet hatte, war ein Grund, eine Herzuntersuchung anzustreben, da Ärzte annehmen, dass dies auch durch eine Herzinsuffizienz (ggf. auch Niere) verursacht sein könnte. Zusammen genommen ließ ich mir jedoch Zeit, zu entscheiden, wann die Herzuntersuchung erfolgen sollte.

Es vergingen mehrere Monate, bis ich einen Arzt konsultierte, zunächst meinen Hausarzt, der mich, da ich in einem kurzen Anamnesegespräch exakt die Symptome einer Angina pectoris (eigene Diagnosestellung) beschrieb, zu einem Facharzt überwies.

In der kardiologischen Praxis wurden zunächst die in der Eingangsuntersuchung üblichen Blutdruckmessungen und danach ein Belastungs-EKG durchgeführt. Der Fachkraft war Anspannung anzumerken, die das EKG nach relativ kurzer Zeit beendete, da sie wohl etwas Auffallendes auf dem Monitor bemerkte, dass jedoch weder durch diese Fachkraft noch später durch den Arzt expliziert wurde. Nun wurde vom Kardiologen eine Sonographie-Untersuchung durchgeführt. Der Arzt teilte mit, dass sich kein Herzinfarkt ereignet habe und schloss zudem eine Herzinsuffizienz aus.

Für eine weitere Untersuchung sollte ich mir am übernächsten Tag mehrere Stunden Zeit nehmen, da ich nach der Untersuchung nicht direkt nach Hause gehen dürfte. An diesem Tag wurde eine Herzkatheteruntersuchung durchgeführt, die der Arzt nicht vollumfänglich, so wie er wollte durchgeführt hatte, da ein Infusionsmittel, das während der Untersuchung verwendet wurde, plötzlich nicht mehr ausreichend vorhanden war. Er schaute und kommunizierte kurz mit seinem Personal, das diesen Hinweis schweigend aufnahm. Der Arzt entschied sich die Untersuchung zu beenden. Ich war mehrere Stunden im Ruheraum, der Arzt hatte mich vergessen. Als er mich bemerkte, da die Praxis geschlossen wurde, erinnerte er sich an mich und nahm mich nun mit in ein Sprechzimmer. Er hatte seinen PC bereits runtergefahren. Er fuhr diesen wieder hoch, was lange dauerte. Es war ein „alter“ XP-Rechner. Als der Rechner endlich betriebsbereit war, der Arzt zeigte deutlich Müdigkeitserscheinungen, eines wohl anstrengenden Tages, zeigte er mir auf verschiedenen Bildern seine Befunde, um eine Noteinweisung zu begründen. Ich habe diese Bilder, auch durch das Zeigen des Arztes, nicht verstanden bzw. nicht erkennen können, was erkannt werden sollte. Der Befunde und die damit verbundene Aussage sei eineindeutig, aufgrund dessen der Kardiologe deutlich und kompromisslos die Notwendigkeit einer sofortigen Bypassoperation, alternativlos und ohne darüber aufzuklären verordnete. Er teilte zudem mit, wie gefährlich mein Zustand sei, zudem dass mich keiner mehr retten könnte, wenn es zu einem Herzinfarkt käme. Eine Entscheidungsfreiheit war in dieser Situation nicht mehr gegeben. Später fand ich einen Terminus, der Aspekte des Verhaltens des Arztes beschreiben könnte. Es handelte sich vermutlich um eine sogenannte „autoritäre ärztliche Verschreibung“ (Egger 2017), die offenbar unter Ärzten (Kardiologen) nicht selten auftreten dürfte.

Da ich diese Dramatisierung meines Gesundheitszustandes nicht nachvollziehen konnte und ich mich wohlfühlte, da meine Beschwerden ja belastungsabhängig auftraten und sofort wieder verschwanden, wenn ich diese reduzierte, entschied ich mich in dieser emotional brisanten Situation (dennoch) dazu, dieser autoritären Anweisung nicht zu folgen. Der Arzt vereinbarte mit mir für den nächsten Tag einen neuen Termin in seiner Praxis, um mir vermutlich Zeit zu geben, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken.

Als ich zu Hause war informierte ich mich im Internet darüber, was eine Bypassoperation ist und wie die Operation durchgeführt wird. Bei der Recherche erhielt ich zudem Kenntnis davon, dass diese Operation nicht die einzige Behandlungsmöglichkeit war.

Am nächsten Tag in der Praxis des Arztes erwähnte ich meine Internetrecherche. Der Arzt würdigte meine Recherche und bessere Kenntnisnahme meiner gesundheitlichen Situation nicht. Stattdessen reagierte er gereizt, da das Internet für ihn wohl so etwas wie ein „rotes Tuch“ war, vor allem fühlte er sich in seiner Fachkompetenz angegriffen. Es war nicht meine Absicht, diese in Frage zu stellen. Mein nun erfolgter Hinweis, dass seine Einschätzung nicht mit meiner Erfahrung übereinstimmte - ich fuhr zu diesem Zeitpunkt noch mehrfach Mountainbike mit Strecken von bis zu 50 km - ignorierte er einfach, was ich nicht nachvollziehen konnte. Für den Arzt war offenbar mit dieser erneuten Nichtbeachtung seiner „eineindeutigen“ Aufforderung, mich operieren zu lassen, das Gespräch beendet und ließ er mich im Gesprächszimmer stehen, also ging ich wieder.

Da ich meinen Zustand als nicht so dramatisch wahrnahm und ich durch die Recherche erfahren hatte, dass die Bypassoperation, aufgrund von Fortschritten in der Medizin, nicht mehr die einzige Möglichkeit war, mich behandeln zu lassen, ließ ich mir erneut Zeit. So recherchierte ich häufiger im Internet nach neuen und für mich relevanten Informationen und habe dadurch erfahren, dass eine „interventionelle Behandlung“ mit der Setzung von Stents ebenfalls in meiner Situation indiziert sein könnte.

Die Aussagen des Arztes blieben jedoch nicht ohne Wirkung. Immer mal wieder erinnerte ich mich daran und beschäftigte mich mit den möglichen Folgen der Nichtbehandlung, die der Arzt seinerzeit sehr unausgewogen, u.a. mit dem Hinweis eines Herzinfarkttods, mitteilte. Diese Dramatisierung hatte vor allem psychische Folgen, die Ängste hervorriefen. Diese zu überwinden, gelang, jedoch nicht vollständig, da sie von Zeit zu Zeit wiederkehrten. Ein paar Wochen später fuhr ich wieder, jedoch mit geringerer Intensität Mountainbike, da ich körperliche Betätigung als günstig für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ansah, obwohl der Arzt mir dies seinerzeit verboten hatte.

Ich erprobte meinen Gesundheitszustand noch weitere dreieinhalb Monate und entschloss mich dann, mich interventionell behandeln zu lassen. Ich informierte mich, wieder über das Internet, über Kliniken, die diese Behandlung anboten und meldete mich nach Auswahl derselben zu einer interventionellen Behandlung an. Während der vorbereitenden Untersuchungen, zudem erfolgte an diesem Tag eine Aufklärung über den Eingriff, der am nächsten Tag erfolgen sollte, ereignete sich im ärztlichen Gespräch etwas, das mich an meiner Entscheidung, mich interventionell behandeln zu lassen, zweifeln ließ. Der Arzt erwähnte die Möglichkeit des Todes infolge der Behandlung.

Ich recherchierte nach Abschluss dieser Voruntersuchungen erneut, ich hatte ein Zimmer direkt neben der Klinik angemietet, die Verunsicherung, die ausgelöst wurde, zu klären, was jedoch mangels verfügbarer Zeit nicht vollständig möglich war. Da es absehbar war, dass mir dies in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr möglich sein würde und es bereits spät war, legte ich mich schlafen.

Am nächsten Morgen ging ich, innerlich ungeklärt und mich nicht wohl fühlend, wie vereinbart in die Klinik und entschloss mich dazu, darum zu bitten, den Arzt vom Vortag erneut sprechen zu dürfen. Diese Möglichkeit war gegeben und ich kam mit dem Arzt ins Gespräch. Es konnten einige Fragen, die ich hatte, geklärt werden, jedoch nicht alle. Nun wurde es schwierig für mich, da der Behandlungsbeginn unmittelbar bevorstand. Ich setzte mich noch einmal eine Weile im Anmeldebereich hin und überlegte, was ich nun tun sollte. Schließlich traf ich die Entscheidung, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt diesem Eingriff nicht zustimmen konnte und wollte und teilte dies in der Anmeldung mit, die sehr verständnisvoll reagierte.