Das Prinzip der Harmonie - Christine Schuhmann - E-Book

Das Prinzip der Harmonie E-Book

Christine Schuhmann

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Beschreibung

*Er hatte noch zwei Tage mit ihr. Zwei Tage. Jetzt hat er nichts mehr.* Drei kleine Worte haben ihm alles genommen, und so wartet Louis auf Joannas Antwort. Auf den Tod. Doch weder seine Befürchtungen, noch seine kaum gewagten Hoffnungen treten ein. In dem undefinierten Dazwischen beginnt eine tiefe, schmerzhafte Leere zu wachsen, die er niemals füllen kann; nicht, ohne Joannas Grenzen zu überschreiten... Und als dann auch noch Nicolas am Tor auftaucht, droht alles in sich zusammenzustürzen. Triggerwarnungen findet ihr unter https://www.tine-schreibt.de/triggerwarnung-prinzipien-trilogie/

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Für Hase, Ela, Erik

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Triggerwarnungen

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Inhaltsverzeichnis

Tag 33

Tag 34

Tag 35

Tag 36

Tag 37

Tag 38

Tag 39

Tag 40

Tag 41

Tag 42

Tag 43

Tag 44

Tag 405

Tag 33

Er sitzt auf der Treppe. Seit über zwei Stunden schon, in denen er an seinen Werken an den Wänden vorbei gestarrt und mechanisch mit Lebenszeichen auf Sérafines unablässig eintreffende Anfragen geantwortet hat. Doch nun rührt sich endlich etwas in Joannas Zimmer.

Das Rascheln ihres Bettzeugs dringt leise durch die halb geöffnete Tür. Ein Gähnen, kaum hörbar. Sie ächzt. Erneute Stille, ehe es wieder raschelt. Dann erklingen Schritte, die ohne jede Hast ihr Zimmer durchqueren, Wasser, Zahnbürste, Toilettenspülung. Wieder Rascheln. Ein schweres Ausatmen. Stille.

Reglos sieht er auf den Ausschnitt von Joannas Zimmerdecke, den er von seiner Position aus erkennen kann, bis wieder Schritte erklingen. Langsam. Widerwillig. Stockend. Und schließlich tritt Joanna auf die Galerie hinaus.

Er springt auf. Schmerz schießt wie ein Dutzend rostiger Nägel in sein Bein und er beißt die Zähne zusammen, während er neben die Treppe humpelt, um nicht länger den Weg zur Haustür zu versperren.

"Hey." Zögernd bleibt Joanna stehen und sieht auf ihn hinunter.

Er nickt leicht, vertraut seiner Stimme nicht, räuspert sich, senkt den Kopf, möchte klein und unsichtbar werden, während Joanna unschlüssig mit einem nackten Fuß über den grauen Teppich streicht. Dann setzt sie sich wieder in Bewegung, geht die Treppe hinunter, nicht zur Tür, nicht fort, sondern zu ihm, Louis, bis sie die letzte Stufe erreicht. Dort bleibt sie stehen, beide Hände auf dem Geländer, dicht vor der kleinen Säule, die es abschließt.

"Hey." sagt sie noch einmal, leise und sanft, und atmet durch. "Hör mal, wegen gestern Abend—" Sie senkt den Blick auf ihre Finger. "Ich-"

"Würdest du-" bricht es unvermittelt aus ihm heraus und sie sieht auf, zu seinem abgewandten, maskierten Gesicht. "Würdest du- Wennwenn ich- wenn ich dich fragen würde, ob du- hier- hier bei mir bleibst für- für immerund-" Er blinzelt angestrengt. "Und mich zu- zu- deinem-Geliebten nimmst- Würdest- du darüber nachdenken? Nur- nur für einen Tag?"

Eine Art Schluchzen verklemmt sich in ihrer Brust und Tränen steigen ihr in die Augen, als sie kaum wahrnehmbar nickt. "Okay." flüstert sie.

"Und- und wirst du- morgen hierher zurück kommen und mir deine Antwort bringen?"

"Ja"

Er hebt den Kopf, nur eine Winzigkeit, um fast in ihr Gesicht zu sehen. "Ver- versprichst dus?"

Sie schnieft lächelnd. Nickt hastig. "Ich versprechs."

"Danke.” Damit wendet er sich ab.

"Warte!"

Er bleibt stehen, um vage in Joannas Richtung zu sehen.

"Du- du willst, dass ich gehe?"

Er nickt, den Kopf jetzt wieder gesenkt.

"O- okay."

Ein Atemzug verstreicht. Dann wendet er sich erneut ab, durchquert die Küche und schließt die Kellertür hinter sich.

Joanna bleibt noch einen Moment lang auf ihrem Platz stehen, ehe sie in ihr Zimmer hinauf hastet. Eilig schnappt sie ihr Handy.

Joe: Wo bist du? Serafine: Keller Joe: Passt du auf Louis auf? Serafine: Immer - was ist los? Joe: Er will dass ich gehe

Auf diese letzte Nachricht erhält sie keine Antwort mehr und sie lässt sich schwer auf ihr Bett fallen. Dort öffnet sie ihre Unterhaltung mit Nicolas, um auf die letzten Zeilen zu starren.

Sie stößt die Luft aus. Und tippt das Textfeld an.

***

"Bitte lösch das Bild, wenn Joannas Freund am Tor ankommt. Ich will es nicht sehen.” murmelt er, während er Sérafine im Vorbeigehen sein Telefon in die Hand drückt.

"Was ist denn passiert?" Besorgt folgt sie Louis zum Bad, wo er ihr die Tür vor der Nase zuknallt. "Louis?” Sie klopft aus Reflex an, ehe sie eintritt. "Du hast sie weggeschickt?"

Er lässt sich auf den geschlossenen Toilettendeckel fallen und krempelt sein Hosenbein hoch. "Sie wird heimfahren, sich entscheiden, es mir sagen.”

"Was hast du vor? — Louis, lass die Finger von deinem Verband!”

"Ich will sie nur ansehen." Ungeduldig kämpft er mit einem Zipfel des Pflasters und zieht es ab. Ein paar Lagen Gaze haften noch an seiner Haut, doch auch sie landen neben ihm auf dem Boden.

Da ist die Naht. Keine Klammern. Nur sauber verknotete schwarze Fäden zwischen den Klebestreifen, die die oberflächlicheren Wunden Zusammenhalten. Vier Stiche insgesamt. Viel weniger als erwartet.

Enttäuscht lehnt er sich mit dem Rücken an den Spülkasten, lässt seinen Kopf in den Nacken sinken und schließt die Augen, während Sérafine ihn vom Waschbecken aus mustert.

"Louis."

Er blinzelt.

"Darf ich deine Wunden jetzt bitte wieder verbinden?"

"Ich will zuerst duschen."

Sérafine seufzt. "Ich hol die Folie."

***

Sich selbst mit den Armen umklammernd stapft Joanna den Kiesweg entlang zum Tor. Sie hat ihren Rucksack dabei, hastig gepackt, ehe sie sich auf dem Sofa zusammengekauert hat, um dort auf Nicolas' Antwort auf ihre Nachricht zu warten.

Jetzt sind es nur noch ein paar Minuten bis er hier einrollt und sie ihm irgendwie erklären muss, was passiert ist.

Schniefend wirft sie den Rucksack auf den Tisch unter dem Sonnenschirm am Tor. Lässt sich auf einen Stuhl fallen. Putzt sich mit ihrem schon ziemlich durchweichten Küchentuch die Nase. Der Schlüssel in ihrer Gesäßtasche sticht sie, also holt sie ihn hervor, legt ihn ebenfalls auf den Tisch. Reibt sich über die Stirn, ehe sie aufspringt, ans Tor geht, hinaus sieht.

Auf dem Weg zurück zum Schirm fällt ihr Blick auf die Kamera, deren reglose Linse in Richtung des Tisches zeigt. Sie bleibt stehen, wartet, ob sich das Gerät doch noch zu ihr dreht, doch nichts rührt sich. Er sieht ihr nicht zu.

Plötzlich fühlt sie sich sehr verlassen. Und als sie wieder in den Sichtbereich der Kamera tritt, lächelt sie blinzelnd hinauf.

Zurück unter dem Schirm kreuzt sie stöhnend die Arme auf dem Tisch. Lehnt ihre Stirn daran. Und da hört sie auch schon den Motor von Nicolas' Auto.

Seufzend wirft sie sich den Rucksack über, nimmt ihren Schlüsselbund, bleibt aber sitzen.

Das Auto kommt in Sicht. Nicolas, der durch das heruntergekurbelte Fenster gestikuliert. "Joe!"

Widerstrebend steht sie auf.

"Na komm schon! Worauf wartest du?" Er kämpft mit seinem Gurt, dann hastet er zu den geschlossenen Gitterstäben, um irritiert daran zu rütteln. "Joe, ich dachte, ich soll dich abholen?"

"Ja." Sie sucht den Schlüssel für das Vorhängeschloss an ihrem Bund und öffnet es.

"Joe, ich bin so froh!" Nicolas zieht sie zu einer stürmischen Umarmung an sich, aber nur kurz, ehe er sie mit sich zum Auto zerrt. "Steig ein!"

Sie gehorcht seufzend.

"Wo sind deine Sachen?" fragt Nicolas, während sie sich anschnallt. "Dein Cello?"

"Das regel ich morgen."

Er wirft ihr einen kurzen Blick zu, scheint etwas sagen zu wollen, legt aber nur den Rückwärtsgang ein und holpert so schnell es geht die Buckelpiste hinauf.

Auf der Bundesstraße angekommen sieht er immer wieder in den Rückspiegel. "Joe, hol mal bitte meine Tasche von hinten. Fußraum, hinter meinem Sitz."

Joanna wischt sich über die Nase und verrenkt sich, um blind mit der Hand herumzuangeln, bis sie die mit schweren Büchern vollgestopfte Tasche gut genug zu fassen bekommt, um sie auf ihren Schoß zu zerren.

"Links vorne ist mein Handy. Delgados Nummer ist in den Kontakten gespeichert. —Joe?" Er wirft ihr einen ungeduldigen Blick zu.

"Er wird uns nicht folgen, Nico."

"Bist du sicher?"

"Hundert Prozent.”

"Er hat also was er will?"

"Nein." Ächzend befördert sie die Tasche zurück an ihren Platz.

"Was ist dann passiert? — Joe?”

"Können wir das bereden wenn wir zuhause sind? Bitte?"

"Ist er tot? Hat Mister Emo sich umgebracht?"

Joanna wirft ihm einen strafenden Blick zu und Nicolas hebt beschwichtigend eine Hand vom Lenkrad.

"Hätte ja sein können."

"Bring mich einfach nach hause, okay?"

***

Die Fäuste in den Hosentaschen, die Schultern hochgezogen steht Joanna auf dem Gehsteig, während Nicolas noch irgendwas vom Rücksitz kramt.

Zuhause— Der vertraute Geruch der Imbissbude ein paar Häuser weiter, gemischt mit Zigarettenmief von einer wirklich hübschen jungen Frau mit Septumpiercing und einem kunstvoll zerwuschelten Undercut, die auf dem schmalen Mauerabsatz unter der Glasfront des Internetcafés hockt. Joanna lächelt ihr verhalten zu, worauf die Frau jedoch nur weg schaut, um einen Tabakbrösel von ihrer Zunge zu fummeln.

"Kommst du?" Nicolas, in der mittlerweile geöffneten Haustür.

Joanna seufzt und folgt ihm. Es ist Dienstag, aber der Zeitungskarton riecht noch nicht besonders stark. Stattdessen zieht der Duft von Sojasauce und Ingwer aus der Wohnung im ersten Stock.

Es fühlt sich sonderbar unwirklich an, die Treppe hinauf zu gehen. Als wäre heute ein ganz normaler Tag. Als wäre nichts passiert, während gleichzeitig alles vollkommen anders ist.

In der Wohnung schiebt sie ihre Sandalen unter die Garderobe, wirft ihren Rucksack vor dem Sofa auf den Boden und lässt sich auf die Polster fallen, neben die Katze, die dort in der Sonne liegt und Joanna faul ankniept.

"Na du hast mich ja ganz doll vermisst." sagt sie sarkastisch. Doch kaum beginnt sie, der Katze ihren dicken Bauch zu kraulen, robbt Tiffi auf der Seite zu ihr, schmiegt den Kopf an ihren Oberschenkel und fängt an zu schnurren.

"Also?" Nicolas lässt sich auf Joannas anderer Seite auf dem Sofa nieder. "Wir sind zuhause. Sagst du mir jetzt was los ist?"

Joanna schließt die Augen. "Er- er hat sich in mich verliebt."

"Oh Mann." Nicolas reibt sich über die Stirn. "Wieso wusste ich, dass sowas passiert?"

"Er wartet auf meine Antwort und ich weiß nicht, was ich sagen soll."

"Na sag Nein. Was denn sonst? Nimm dein Handy, schick ihm nen Text, fertig."

Sie schüttelt den Kopf. "Ich hab ihm versprochen, dass ich morgen noch mal zu ihm gehe und es ihm persönlich sage.”

"Na und?"

"Ich habs versprochen, Nico. Er ist mein Freund."

"Er ist dein Kidnapper!"

"Ich bin freiwillig geblieben.”

"Joe-"

"Hier." Sie kramt ihren Schlüsselbund aus dem Rucksack, um Nicolas den Ring mit Louis' Schlüsseln hinzuhalten. "Die hat er mir vor drei Wochen gegeben. Ich hätte gehen können, aber ich habs nicht getan, und ich hab es nicht bereut. Ich hab mir nicht eingebildet, dass es schön bei ihm war. Und letzte Woche-" Sie presst die Lippen zusammen. Blinzelt ein paar Tränen weg. "Er hat versucht, sich umzubringen, und ich- ich hab ihn gefunden und- versorgt bis Sérafine gekommen ist." Flehend sieht sie Nicolas an, doch in seinem Gesicht liegt alles andere als Verständnis.

"Du hättest seit Wochen schon wieder hier sein können.” sagt er kühl.

"Zu- zuerst wollte ich nur sicher gehen, dass er es sich nicht anders überlegt und mich wieder zu sich holt, aber- Er ist lieb. Ich hab ihn gern."

"Okay." Nicolas hebt die Hände, um alles, was Joanna gesagt hat, beiseite zu wischen. "Das ist-” Er schüttelt den Kopf. Dann stampft er in die Küche und knallt die Tür hinter sich zu.

Mürrisch lässt sich Joanna aufs Bett plumpsen.

Durch die geschlossenen Fenster über dem Kopfende dringen die vertrauten, gedämpften Geräusche der Straße, während sie auf ihre Nachttischlampe starrt. Ein Auto hier, ein Laster da, alles vor dem steigenden und fallenden Hintergrundrauschen der Hauptstraße zwei Blöcke weiter. Wenn sie sich unwohl fühlt, versucht sie, es wie Meeresrauschen zu hören, und manchmal funktioniert das sogar.

Die Katze ist ihr ins Schlafzimmer gefolgt, um sich neben ihr zu putzen. Jetzt knetet sie schnurrend Joannas unteren Rücken und sie wünscht sich, sie hätte ihr Handy greifbar, um es zu filmen. Aber das Gerät liegt auf dem Wohnzimmertisch, wo sie es zurückgelassen hat.

Sie schließt die Augen.

Meeresrauschen. Ein ganz normaler Tag. Ein ganz normaler Streit. Zuhause. Zuhause, wo sie hingehört. Aber alles hier fühlt sich leer an.

Sie bedeckt ihr Gesicht mit der Hand und fragt sich, wann sie aufgehört hat, Heimweh zu haben.

Vielleicht war einfach zu viel los, um noch an zuhause zu denken. Vielleicht war zuhause zu wenig los, um es noch als zuhause zu empfinden.

Die Katze seufzt ein letztes Schnurren heraus und springt vom Bett, um ins Wohnzimmer hinaus zu watscheln.

Joanna sieht ihr nach. Dann kugelt sie sich enger zusammen und lehnt die Stirn an ihre Knie.

Meeresrauschen. Meeresrauschen—

***

Sie sieht aus dem offenen Fenster, die Arme über ihrem Kissen auf der Fensterbank gekreuzt, als Nicolas etwas später zu ihr kommt. Er schweigt, während er Joannas Handy auf ihren Nachttisch legt, sein eigenes Kissen am Kopfende zurecht kramt und sich mit dem Rücken daran lehnt.

"Vielleicht war ich zu gut darin, nicht zu zeigen, wie sehr du mir fehlst und was ich für Angst um dich hatte." sagt er leise. "Du dachtest, ich wäre okay. Ich bin dir nicht böse, ich bin nur-" Er stößt die Luft aus. "Ich musste das alles erstmal verdauen." Er sieht zu ihr auf und streckt die Hand aus, um zärtlich ihre Seite zu kraulen. "Ich hab dich so vermisst, Joe. Jede Sekunde, die du weg warst. Es hat weh getan."

Jetzt sieht sie ihn an und er lächelt traurig.

"Komm her.”

Sie reibt sich über das Gesicht, ehe sie seiner Aufforderung folgt und sich neben ihn setzt, den Kopf an seine Schulter gelehnt.

"Meine liebe, süße Joe." Er zieht sie fest an sich, schmiegt das Gesicht in ihre Locken, streichelt sie, und nach und nach wird ihre Haltung weicher, entspannter, bis Nicolas mit ihr von der Wand wegrutscht, damit sie zusammen, seinen Bauch an ihren Rücken geschmiegt, daliegen können.

Für eine Weile spielt er mit Joannas Fingern, streicht ihren Arm hinauf, über ihre Schulter, ihre Seite, ihren Bauch, zu ihren Brüsten, die Stirn an ihren Nacken gepresst. "Du riechst so gut." murmelt er sanft. "Du bist so weich—" Er dreht sie zu sich, um sie zu küssen, und sie nimmt seine hungrigen Lippen an, seine Zunge, bis er seine Erektion an sie drückt.

Sofort zieht sie sich von ihm zurück, die Augen weiter fest geschlossen, und hört nur, wie er schwer seufzt, ehe er sich auf die andere Seite rollt, um die Beine über die Bettkante zu schwingen.

"Geh nicht weg, okay?" murmelt er.

"Hmm." Sie nickt, worauf er ihr liebevoll die Haare zerwuschelt.

Schweigend sieht sie ihm nach, wie er das Schlafzimmer in Richtung Bad verlässt, und plötzlich hat sie doch Lust, vorn in seine Hose zu greifen und ihn zu halten. Seinen Atem im Rhythmus ihrer Hand an ihren Lippen zu spüren. Seine nackte Brust zu küssen. Ihn danach lächeln zu sehen.

"Hey, warte." ruft sie. "Komm zurück. Und zieh dein Hemd aus—"

Ganz am Schluss landet dasselbe Hemd vollgesifft auf dem Boden neben dem Bett und Nicolas zieht seine Hose wieder ganz hoch, ehe er sich fest an Joanna anschmiegt.

"Du weißt überhaupt nicht, wie sehr ich dich liebe." murmelt er.

Sie grinst schief. "Ich habe eine vage Vorstellung."

"Und das mit unserer Beziehung kriegen wir schon wieder hin." Lächelnd gibt er ihr ein paar kleine Küsse auf die Wange. "Meine süße, süße Joe."

Dann sagt er nichts mehr. Da ist nur noch sein Atem, und ihr eigener. Seine Wärme an ihrem Rücken. Meeresrauschen.

Sie schließt die Augen und legt ihre Hände über ihr Gesicht. Greift in Gedanken nach dem zärtlichen Gefühl, das noch irgendwo in dieser Wärme zwischen ihren Körpern existieren muss, in Nicolas' Arm, der sie umfängt, seinem Geruch an ihren Handflächen.

Aber das Gefühl rührt sich nicht, und sie kann nicht sagen, ob es nur schläft und sich ausruht, oder ob es im Sterben liegt.

***

Sie blinzelt als ihr Handy surrt.

Auch Nicolas wird von dem Geräusch geweckt und hebt den Kopf. "Hm?"

Joanna hält ihm das Display hin, damit er Judites Nachricht lesen kann.

"Kaum zuhause hast du also schon wieder Pläne?" fragt er mit vom Schlaf belegter Stimme.

"Hm."

Joe: Kann ich vorbeikommen? Judi: Bin noch bis halb 4 auf station

Ist alles ok? Soll ich dich abholen?

Joanna lächelt und tippt.

Joe: Alles gut.Bin bei nico.

Judites nächste Antwort kommt sofort:

Judi: Oha? Da ist aber so einiges passiert in der letzten folge! Joe:Ja, ich erzähl dir alles wenn ich bei dir bin Judi: Kann es kaum erwarten!

Gähnend legt sie das Handy zurück auf den Nachttisch.

"Und morgen willst du wirklich zu diesem- zu Louis zurück?"

Sie nickt.

"Und du bist sicher, dass das nicht gefährlich ist?”

"Absolut."

"Wenn du ihm ins Gesicht sagst—?”

"Einhunderttausendprozentig." Schwerfällig dreht sie sich zu ihm um. "Eine Milliarde Prozent."

"Na gut—" Er drückt einen sachten Kuss auf ihren Haaransatz, ehe er mit seinen Lippen über den feinen Flaum streicht. "Ich wünschte, ich könnte mitkommen." flüstert er.

"Hm.” Joanna zieht ihren Kopf aus seiner Reichweite und rubbelt mit zusammengekniffenen Augen über das fiese, kribbelige Gefühl, das seine Berührung ausgelöst hat.

"Leider muss ich morgen nacharbeiten. Das war die einzige Möglichkeit, heute zu unterbrechen, um dich abzuholen. Wir sind grad völlig unterbesetzt. Samstag muss ich vielleicht auch. — Ach shit. Wie spät ist-" Er nimmt Joannas Handy, um die Uhrzeit zu sehen. "Ich muss spätestens in einer Dreiviertelstunde wieder weg. Es sei denn, du willst mich noch länger hier haben, dann nehm ich das Auto und hab noch ein bisschen mehr Zeit.—"

"Nee." Sie setzt sich auf und reckt sich gähnend. "Aber wir können noch schnell zusammen essen, oder?"

***

Die Tür schließt sich hinter Nicolas und der Katze, und plötzlich ist Joanna ganz allein.

Sie schlurft zum Sofa, um sich darauf fallen zu lassen, aber kaum hört sie, wie sich unten die Haustür schließt, springt sie wieder auf. Es ist noch viel zu früh, um zu Judite zu fahren. Trotzdem schnappt sie ihren Rucksack und huscht aus der Wohnung.

***

Draußen vor dem Internetcafé steht noch immer die junge Frau, noch immer mit einer Fluppe zwischen den Fingern, aber jetzt hält sie ein Handy an ihr Ohr, starrt auf ihre Füße und erklärt gelangweilt etwas in einer Sprache, die für Joanna wie Griechisch klingt.

'Nike.' denkt sie, auch wenn die Frau der Statue nur sehr entfernt ähnlich sieht.

Joanna bleibt stehen, um das Profil der Frau zu mustern. Ihr Piercing. Ihre sorgfältig mit Schwarz umrahmten Augen. Die Haarstoppeln an ihrer linken Kopfseite. Dann bemerkt sie, dass sie starrt, wendet den Blick ab und geht schuldbewusst los in Richtung Bushaltestelle.

Sie könnte Liseta eine Nachricht schreiben. Fragen, ob sie zuhause ist. Aber irgendwie hat sie keine Lust, im Voraus zu wissen, ob jemand da ist, oder ob sie in der Bäckerei um die Ecke wird warten müssen.

Und während sie die schattige Straße entlang geht, wird das unwirkliche Gefühl um sie herum wieder stärker.

In ihrem Leben hat sich etwas fundamental geändert, aber diese Veränderung ist unsichtbar. Man kann sie nur spüren. Sie kann sie nur spüren, und nun muss sie das alles mit dem Rest der Welt vereinbaren, der heute noch exakt genau so ist wie vor fünf Wochen.

Das alles wäre so viel einfacher, wenn sich Nicolas mit ihr zusammen verändert hätte. Wenn sie nicht alleine wäre.

Aber er hat sich ja verändert. Oder? Und sie ist nicht alleine.

Oder?

Er versteht - wenn auch falsch - warum sie ihm vor drei Wochen nichts gesagt hat. Er hat sich entschuldigt. Er hat nachgegeben.

Aber irgendetwas wurmt sie noch, während der Bus hält und sie sich auf einen Platz gleich bei der Tür fallen lässt. Irgendetwas tut unglaublich weh. Und es ist nicht Nicolas' Mangel an Einsicht und auch nicht das schlafende oder sterbende Gefühl.

Nachdenklich starrt sie aus dem Fenster, das Kinn in die Hand, den Ellenbogen auf den Fensterrahmen gestützt.

Dabei treibt das Versprechen, das sie Louis gegeben hat, wieder in ihr Bewusstsein zurück. Und sie versucht, an ihn zu denken. An ihre Gefühle für ihn. Ohne in Tränen auszubrechen.

Und das funktioniert einfach nicht.

***

Sie will sich gerade wieder abwenden und zur Bäckerei gehen, als der Summer erklingt.

"Sorry, ich wollte den Run erst noch beenden.” begrüßt Liseta sie an der Wohnungstür. "Ich versuche gerade einen No Hit/No Kill mit Carmo."

"Sie ist schon wieder hier?" Überrascht streift Joanna ihre Sandalen ab und folgt Liseta ins Wohnzimmer.

"Nein, wir spielen online. Und Judi ist noch bei ihrem Praktikum."

"Ich weiß. — Die haben so gutes Netz in der Klinik, dass man drüber spielen kann?"

Liseta schüttelt den Kopf. "Internetcafé. Setz dich. Limo?"

"Wasser. Danke."

Liseta holt ein Glas für Joanna, während diese zu dem Schaukelstuhl in der Ecke hinüber geht, an dessen Armlehne ein Pult mit Lisetas Gaming-Laptop drauf angebracht ist. Sie meint, das Bild auf dem Monitor zu erkennen.

Dann poppt eine Nachricht von Carmo in den Messenger am Bildrand.

Carmolith: Hey Joe!

Das ist doch Joe was ich da höre?

Joanna lächelt und setzt sich Lisetas Headset auf. "Hey Carmo! Wie gehts?"

"Ziemlich super. Biste zum Zugucken gekommen?"

"Nee, aber das werd ich wohl einfach trotzdem machen, bis Judi wieder da ist."

"Drück uns mal die Daumen."

"Mach ich." In diesem Moment taucht Liseta neben ihr auf.

"Ich geb dich mal zurück." Sie tauscht das Headset gegen ihr Wasserglas und lässt sich auf den komfortablen Drehstuhl fallen, der an Carmos Gaming-Tisch steht. Dann deutet sie auf Lisetas Laptop. "Ist das nicht die Map, die ihr letztens erst nur gerade so überlebt habt?"

"Wir haben einen Haufen Maps nur gerade so überlebt."

"Die wo Carmo immer die Shotgun Ammo ausgegangen ist."

"Das ist so ziemlich jede zweite Map."

Joanna runzelt die Stirn und versucht, sich zu erinnern. "Die mit den Verkehrswarnhütchendingern."

"Ach so, nee. Aber die war geil, die könnten wir- auch noch mal wieder—" Lisetas Antwort verläuft sich in Schweigen, während sie die Ausrüstung ihres Avatars kontrolliert. Und schon hat sie vergessen, dass Joanna neben ihr sitzt, und stürzt sich in einen pazifistischen Wettlauf durch eine zombieverseuchte Reihenhaussiedlung.

Als Joanna später den Schlüssel in der Tür hört, steht sie leise auf, um Liseta nicht zu stören, und huscht, in den Flur.

"Joe!" Judite lässt ihre Tasche fallen und legt fest beide Arme um Joanna. "Was ist das schön, dass ich dich wieder hier hab!"

***

Lisetas Austausch mit Carmo wird kurz lauter, als Judite frisch geduscht, mit einem dampfenden Becher Tee in der Hand, durch den schallschluckenden Vorhang tritt, der das Wohnzimmer in eine Fernsehund eine Computerspielhälfte aufteilt.

"Also.” Sie setzt sich neben Joanna. "Du weißt nicht, was du tun sollst—"

Joanna nickt und starrt eine Weile vor sich hin, während Judite an ihrem Becher nippt. Schließlich seufzt sie. "Als ich heute morgen aufgestanden bin, dachte ich noch, dass das alles nicht mehr als-" Sie hebt die Schultern. "So ein kleiner unbeholfener Moment unter Freunden ist, und dass wir mal drüber reden und dann ist alles wieder normal. Ich wollte, dass es so ist. Ich wollte, dass wir einfach Freunde sein können. Dass ich ihn öfter mal besuche, um mit ihm zu improvisieren und zu quatschen. Dass ich zu ihm kommen kann, um draußen im Wald in Ruhe zu üben, und danach gucke, was er so in seinem Atelier treibt.— Sowas halt. Aber das wird nicht funktionieren. Das-" Sie schüttelt den Kopf. "Das packt er nicht. Emotional. Das wäre zu- zu viel. Ich kann nur gehen oder bleiben."

"Und das willst du beides nicht?”

Langsam sieht Joanna auf ihre Hände hinab. "Wenn ich gehe, bringt er sich um.”

"Scheiße. Bist du sicher?"

Sie nickt traurig. "Aber ich kann auch nicht einfach Ja sagen. Nico springt im Dreieck, wenn ich das tue. Und ich- ich bin einfach nicht in Louis verliebt. Ich meine, wir- wir sind uns- nahe gekommen, und-" Sie stößt die Luft aus und schlingt die Arme um ihre Knie. "Trotz allem, was passiert ist, vertraue ich ihm. Und ich glaube, er vertraut mir auch. Er ist super vorsichtig und zurückhaltend, aber er vertraut mir. Und das ist irgendwie schön." Sie blinzelt.

Und als sie dann länger nur vor sich hin starrt, rutscht Judite ein wenig näher zu ihr, gibt ihr einen Kuss auf die Schläfe und stützt den Ellenbogen auf die Sofalehne neben Joannas Schulter. "Ihr vertraut einander also—”

"Aber ich bin nun mal nicht in ihn verliebt, und ich kann mir auch nicht vorstellen, mit ihm eine Beziehung zu haben. Oder ich- ich meine, ich habs nie versucht, weil ich einfach nicht auf die Idee gekommen wäre, dass er sowas wollen könnte. Oder dass ich sowas wollen könnte. — Nein— Nein, so stimmt das nicht— Da ist schon irgendwie etwas-" Sie gestikuliert vage, weil sich die Worte 'zwischen uns' zu groß und schwer anfühlen, um sie auszusprechen. Auch wenn sie wahr sind.

Grübelnd beginnt sie, an ihren Haaren herumzufingern. "Aber ich wüsste zum Beispiel nicht, was er sich überhaupt unter einer romantischen Beziehung vorstellt. Er ist fast vierzig und hat noch nie eine Beziehung gehabt. Und könnte ich die Katze mitbringen? Ich hab keine Ahnung, ob er ein Haustier wollen würde. Er hat ein zahmes Eichhörnchen, aber das wohnt im Wald. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es toll fände, etwas in seiner Bude zu haben, das alles vollhaart. Aber er wollte eine Katze, als er klein war. Glaub ich—”

"Du könntest ihn fragen."

"Meinst du? Ich weiß nicht— Es würde ja nichts ändern.”

"Hm." Judite stellt ihren Becher weg. Dann dreht sie sich, um sanft mit den Fingern Joannas aufgelöste Locken durchzukämmen.

Die schließt die Augen und beißt die Zähne zusammen, als Judites Zärtlichkeit etwas in ihr losrüttelt, das als Schluchzen in ihre Kehle hinauf kriecht. "Was soll ich nur tun?” flüstert sie heiser.

"Ach mein Joe-Joe." Judite legt die Arme um sie. "Das wird schon. Er hat doch auch noch Sérafine. Die passt auf ihn auf.”

"Ich weiß, aber-" Tränen fangen an zu kullern. Und schließlich zieht Joanna ihr Handy aus ihrer Hosentasche und beginnt zu tippen.

***

Das kalte Wasser prasselt auf seinen gesenkten Kopf und seine Schultern. Er friert. Erschauert immer wieder.

Joanna ist fort. Das Haus über ihm leer. Egal, wo er nun hin geht, auf welche Etage, in welches Zimmer, er wird sie nicht finden. Auch nicht im Garten oder im Wald oder am Tor.

Er hat sich längst, ausgeweint, geschluchzt, geschrien, sich mit Fäusten und Stirn an die Wand gedrückt, als könnte er sich so auf eine andere Seite der Realität hinüber zwängen, wo Joanna vielleicht noch bei ihm ist.

Und morgen wird er sie nur noch ein einziges, letztes Mal sehen.

Er hatte zwei Tage. Zwei Tage zu leben. Zwei Tage mit ihr. Und in seiner Dummheit hat er einen einzigen, kurzen Moment daraus gemacht. Falls sie überhaupt kommt. Er wüsste nicht, warum sie sich die Zeit nehmen sollte. Warum sie sich das antun sollte. Kilometerweit zu fahren, nur um einem traurigen, kranken Mann etwas zu sagen, das er längst weiß. Er hätte ihr kein Versprechen abnötigen sollen. Das war grausam von ihm. Egoistisch. Eine Verletzung zum Abschied.

"Schatz, es reicht jetzt. Ich kann dich schon schlottern hören. Komm raus oder stell das Wasser wieder warm. — Schatz. — Es reicht wirklich."

Er steht noch immer mit der Stirn an die Wand gelehnt da, als Sérafine die Tür aufschiebt, die Temperatur des Wassers fühlt, ehe sie es abdreht und Louis ein großes, weiches, an der Heizung gewärmtes Handtuch um die Schultern legt.

"Na komm." Sie tritt beiseite, doch Louis rührt sich nicht. "Schatz. Komm, leg dich ein bisschen hin. Du hast doch letzte Nacht kaum geschlafen. Im Bett wird dir auch wieder warm. — Louis." Sie streicht ihm über den Rücken, worauf er sich endlich regt, um ihre Berührung abzuschütteln.

Mit einem Zipfel des Handtuchs wischt er sich das Wasser aus dem Gesicht. Zögernd und steif, als wäre er nicht ganz sicher, wie diese Bewegung funktioniert.. Braucht lange, um das Tuch so zurechtzukramen, dass es ihn ausreichend bedeckt.

Auch sein Gang ist unsicher, über das Hinken hinaus, als er wortlos das Bad verlässt. Er fühlt sich fern von seinem Körper, auch wenn er genau spürt, wie Wasser aus seinen Haaren tropft und seine Schultern hinab rinnt. Wie etwas Warmes aus der Folie über dem Schmerz an seinem Knie sickert. Wie sich die Wärme des Bodens in seine Fußsohlen brennt. Das ist das Einzige, was noch existiert. Das Einzige, was nicht völlig leer ist.

Er lässt sich bäuchlings aufs Bett fallen. Zieht die Decke über sich.

Einen Moment später schaltet sich sein kalter, übermüdeter Kopf ab und er schläft ein.

***

Als er Stunden später wieder erwacht, kommt es ihm vor, als hätte er nur für ein paar Minuten gedöst, und er beobachtet eine genervte Energie, die in ihm aufsteigt. Aggressive Unruhe.

Er beginnt mit dem Fuß zu zucken. Bewegt die Finger. Dreht sich auf die Seite. Das Bettzeug riecht unangenehm feucht, ist noch immer feucht genug, um an seinen Schultern und Waden zu kleben, hält die Wärme seines Körpers auf eine unangenehm erdrückende Art und Weise.

Angewidert befreit er sich. Steht auf.

Sérafine wälzt sich ebenfalls herum und sieht verschlafen zu, wie er zur Chaise humpelt, um sich eine Unterhose überzustreifen. Dann läuft er weiter, einmal im Kreis um den Raum herum, während er mit dem Handtuch über seine Haare rubbelt.

Als er die Chaise wieder erreicht, tauscht er das Handtuch gegen ein Hemd, streift es sich über, ohne stehen zu bleiben. Und dabei reift in ihm die Erkenntnis, dass er Joanna nicht gehen lassen kann. Er kann nicht. Er kann es einfach nicht.

Wenn er noch sterben wollte, wäre das etwas Anderes. Aber gerade will er leben. Mit ihr zusammen, weil es ohne sie kein Leben ist.

Verbissen zupft er im Gehen am Plastik über seinem Knie herum, unter dem sich jetzt Blut ausbreitet, findet jedoch den Anfang nicht, macht kehrt und kramt eine Verbandsschere aus der Kiste am Boden, um das verdammte Zeug herunterzuschneiden.

Er muss Joanna bei sich halten. Falls sie ihrem Versprechen treu ist. Er muss irgendetwas finden, das sie anzieht. Irgendetwas, das es ihr lohnenswert erscheinen lässt, sich weiter seiner Gesellschaft auszusetzen.

Aber was hat er noch, das sie nicht längst kennt?

Nichts.

Er rupft die Folie ab, richtet sich auf und presst die Fäuste gegen seinen Kopf.

Er hat nur sich selbst, um sie zu reizen. Seine lebhafte, gewinnende Art. Sein ansprechendes Äußeres. Seinen Humor.

Er grunzt bitter. Wut ballt sich in seinem Brustkorb zusammen. Das Bedürfnis, Kraft auszuüben. Sich zu verausgaben. Zugrunde zu richten. Tränen des Selbstekels kleben in seinen Augenwinkeln, als er zum Ergometer hinüber hinkt, das noch in zwei Teilen nahe der Wand herumsteht, und sich, sein verletztes Bein abgespreizt, davor auf den Boden setzt.

"Du willst rudern?" Sérafine, näher kommend. "Das ist keine gute Idee, Schatz. Du reißt nur deine Nähte auf. Und du blutest sowieso schon.” Sie kniet sich neben ihn, bemüht, seine Wunden jetzt noch nicht genauer zu betrachten. "Schatz. — Mit diesen Gefühlen kannst du doch auch anders umgehen. — Schatz!"

Er ignoriert sie weiter und sie sieht, wie sich ein Teil seiner Wut ihr zuwendet.

"Setz dich doch lieber ans Klavier. Da kannst du Lärm machen und dich bewegen, ohne dein Bein noch weiter zu verletzen. — Bitte Schatz, das Ergometer ist nicht dazu da-" Sie bricht ab, als er wortlos auf das Gerät steigt und sich daran macht, seine nackten Füße festzuschnallen. "Du könntest stattdessen auch was nehmen. Du- du hast schon so lange kein Morphin mehr genommen, vermisst du das nicht?"

Vom nun einsetzenden rhythmischen Rauschen des Ergometers angetrieben hastet sie zur Chaise, wo die Schatulle steht. Dann läuft sie zu Louis zurück; watet durch seine Wut und Verzweiflung wie durch zähen Morast, während sie sich vergeblich bemüht, nicht das Blut zu bemerken, das bereits seinen Oberschenkel hinab rinnt, seine offene Hemdbrust färbt, auf den Boden tropft.

"Schatz, schau her." Sie hockt sich neben ihn und hält ihm mit zitternden Fingern eine Ampulle hin, eine steril verpackte Spritze, die ganze Schatulle, drückt sie ihm fast ins Gesicht, doch er ignoriert sie. Nimmt sie kaum wahr über dem tiefschwarzen Chaos in seinem Kopf. "Schatz, bitte! — Louis! — Ich- ich will dich nicht wieder ruhigstellen müssen. — Schatz— Bitte tu mir das nicht an, Schatz. — Ach verdammt!" Verzweifelt lässt sie sich auf den Hintern sinken und vergräbt die Stirn in ihrer Hand, während sein Blut unaufhaltsam, Tropfen für Tropfen, eine Spur unter das Ergometer zeichnet.

Sérafine stößt die Luft aus und reibt sich das Gesicht. Sie hat nur eine vage Erinnerung an die Höhe der Dosis, mit der Louis nach seinem letzten Entzug wieder eingestiegen ist. Zu vage, um ihm einfach diese Menge zu spritzen. Also rappelt sie sich wieder auf, um sich hektisch auf die Suche nach seinem Dosisheft zu machen.

Die Schublade, in der Louis seine diversen anderen Drogen aufbewahrt. Nichts. Die nächste Schublade. Nichts. Sie richtet sich wieder auf. Im selben Moment empfängt ihr Telefon eine Nachricht, und bei dem plötzlichen, nahen Ton zuckt sie zusammen. Sie lässt sich jedoch nicht von ihrer Suche ablenken und kniet sich vor die Chaise, um darunter zu sehen. Nichts. Eine weitere Nachricht trifft ein. Sérafine hebt Louis' Kleider hoch. Auch darunter, kein Dosisheft.. Aber es kommt noch eine dritte Nachricht an, und nun zieht Sérafine das Telefon aus ihrer Tasche, genervt und in der Absicht, es stummzuschalten.

Doch es wird angezeigt, dass die Nachrichten von Joanna stammen. Also tippt sie stirnrunzelnd darauf und liest:

Joanna: Louis mag Katzen, oder?

Meinst du, er hätte was dagegen, wenn ich meine mitbringen würde? Also, rein hypothetisch?

"Schatz!” Zutiefst dankbar springt Sérafine auf und läuft zu Louis hinüber. "Schatz, du hast eine Nachricht von Joanna. — Schatz. Joanna will dich etwas fragen."

Endlich hört er auf zu rudern, sieht desorientiert in Sérafines Richtung, auf das Telefon. Nimmt es ihr aus der Hand. Sitzt reglos, starrt auf die Anzeige, zu sehr außer Atem, um Joannas Worte ganz zu verstehen. Doch schließlich dringt es zu ihm durch. Dass sie fragt, ob ihre Katze bei ihm willkommen wäre, so als ob tatsächlich die Möglichkeit eines Ja bestünde. Dass sie sich die Mühe gemacht hat, eine Nachricht zu tippen, die ihm Hoffnung schenkt.

Seine Hände zittern. Teils vom Rudern, teils von dem reißenden, brennenden, stechenden Bohren in seinem Bein. Doch weder Schmerz noch Überanstrengung kommen gegen das warme Glühen an, das Joannas Geste in seiner Brust entfacht hat.

Blinzelnd hinkt er zur Chaiselongue, zieht eine Hose über und lässt sich auf die Sitzfläche fallen, um zu antworten.

Die Anzeige verschwimmt vor seinen Augen. Auch seine unsteten Finger helfen nicht, so dass es eine Weile dauert, ehe er die Worte fehlerfrei eingegeben hat.

Séra: Louis liebt Katzen.

Wie heißt deine Katze?

Einige Sekunden vergehen, ehe angezeigt wird, dass Joanna eine Antwort verfasst.

Joanna: Tiffi... Séra: Wie sieht sie aus?

Wieder dauert es einen Moment. Dann erreicht ihn ein Foto von einem zufrieden auf dem Rücken faulenzenden schwarzen Tier mit einem länglichen weißen Flecken auf der Brust.

Séra: Sie ist hübsch. Ist sie zutraulich? Joanna: Total :)

Wie geht es Louis? Ich mach mir Sorgen um ihn :/

'Bitte tu das nicht!' tippt er eilig. 'Sérafine passt auf mich auf.

Seinen Fehler bemerkt er erst, als es zu spät ist und er die Nachricht bereits gesendet hat. Doch Joanna übergeht es gnädig, schickt nur ein 'Okay' und einen Smiley, der die Wärme in seine Brust zurück schwappen lässt.

Er lächelt ebenfalls, codiert dieses Lächeln als Doppelpunkt und Klammer und schickt es an Joanna. Doch kaum hat er seine Nachricht abgesendet, zerreißt Sérafines Stimme seinen wohligen kleinen Traum: "Darf ich jetzt dein Bein versorgen?"

In plötzlichem, explosivem Zorn knallt er das Mobiltelefon neben sich auf die Sitzfläche und hinkt mit weiten Schritten aus dem Zimmer.

Sérafine sieht ihm bestürzt nach, ehe sie ihrerseits ihre Segeltuchtasche und die Schatulle schnappt und ihm folgt.

"Schatz! " Sie bleibt am Fuß der Wendeltreppe stehen und streckt ihm die Schatulle hin. "Louis."

Er sieht nicht zu ihr, kämpft sich nur weiter ungelenk die Stufen hinauf. Also setzt sie sich wieder in Bewegung.

"Schatz." Sie klappert mit der Schatulle, was ihr einen grantigen Blick beschert. "Es tut mir leid, dass ich dich gestört habe." Ein paar Stufen unter ihm bleibt sie stehen und streckt ihm die Schatulle hin. "Du kannst das Gefühl wiederhaben."

Er hält ebenfalls an, um mit einem unlesbar verschlossenen Ausdruck die Intarsien zwischen ihren Fingern zu mustern. Schließlich nimmt er sie ihr ab; mit einer langsamen Bewegung, die Sérafine erwarten lässt, dass er die Schatulle an die Wand hinter ihr pfeffert. Doch er wendet sich nur ab, die Schatulle unter dem Arm, und hinkt weiter die Treppe hinauf, in die Küche und hinaus ins Labyrinth.

***

Auf der Wiese mit der Trauerweide lässt er sich ächzend im Gras nieder. Sein blutiges Hemd landet zusammengeknüllt dort, wo er seinen Kopf hinzulegen gedenkt. Dann öffnet er die Holzdose.

Sérafine beobachtet ihn angespannt. "Keine Überdosis, in Ordnung?"

Er lächelt nur schief.

"Na gut." murmelt sie und kramt verärgert nach der Plastikdose mit dem Naloxon.

Louis spritzt unterdessen eine hübsche kleine Beule aus Morphin unter die Haut seines Handrückens.

Er macht eine Faust, spreizt die Finger wieder, schließt die Augen und wartet. Herzschläge, Atemzüge, Minuten, bis die erste weiche Wärme in seinen Körper sickert. Langsam, langsam wird die Welt um sein Bewusstsein herum leichter. Tritt in den Hintergrund. In einen zunehmend schwerelosen Zustand der Irrelevanz. Das Pochen in seinem Bein. Die Verzweiflung in seiner Brust. Joannas Abwesenheit— Nein. Ein kurzer Widerstand regt sich. Gedanken. Doch auch sie werden egal, während die Bedeutung des Wortes 'Schmerz' an den Rändern verschwimmt. Transparent wird.

Und alles Unangenehme löst sich auf, wie Salzkristalle in einem Glas mit warmem Wasser. Auch seine Erschöpfung lässt nach und wandelt sich zu einer wohligen Schläfrigkeit, die ihn davonträgt, während er langsam zur Seite umsinkt.

Er kramt das Hemd unter seinem Kopf zurecht. Seufzt. Ein letzter tiefer Atemzug.

Sérafine wartet, während das Nichts des Drogenkomas auch den letzten Rest seines inneren Glühens verschluckt. Doch schließlich hält sie es nicht mehr aus, packt ihn unter den Achseln und zieht ihn aus der Sonne. Sein schlaffer Körper ist schwer, aber sie kann seinen Herzschlag unter seinen Rippen fühlen. Mit zusammengebissenen Zähnen bringt sie ihn in die stabile Seitenlage, stopft das zerknüllte Hemd unter seinen Kopf, kramt das Pulsoxymeter hervor und steckt es auf Louis' Zeigefinger.

Dann fischt sie nach der Gebrauchsanweisung, auf die sie die Sauerstoffsättigung gekritzelt hat, ab der es gefährlich wird: Fünfundsiebzig.

Sie stopft das zerlotterte Heft zurück an seinen Platz, tastet nach Louis' Puls und starrt auf die Zahlen am Oxymeter. Dreiundneunzig. Eine gute Zahl. Eine sichere Zahl.

Doch das Reservoir aus Morphin in Louis' Handrücken ist noch nicht aufgebraucht. Langsam und tödlich sickert der Stoff in sein Blut. Legt seinen Körper lahm. Lässt die Zahl unbarmherzig dahinschmelzen.

Sérafine zwingt sich, den Blick abzuwenden, ganz auf das Pochen unter ihren Fingern zu fokussieren und nur einmal alle zweihundert Schläge auf die Anzeige zu sehen, doch am Abwärtstrend ändert das nichts.

Schließlich erreicht die Zahl Fünfundachtzig.

Sérafine presst die Lippen zusammen und packt einen Injektor aus, setzt die Ampulle mit dem Naloxon an, bereit, sie in den Mechanismus zu drücken, sobald das erste Mal Neunundsiebzig auf der Anzeige erscheint.

Doch ehe dies geschieht, stabilisiert sich Louis' Atmung endlich und seine Sauerstoffsättigung schwankt nur noch träge im unteren Achtzig-Prozent-Bereich.

Sie wartet lange, ehe sie glaubt, was sie sieht.

Schließlich stößt sie zittrig die Luft aus, packt Injektor und Ampulle in die Plastikdose zurück, lehnt ihre Schläfe an Louis' Schulter und tastet mit geschlossenen Augen wieder nach dem Pochen in seinem Handgelenk.

Es geht noch immer langsam. Fast zögerlich. So wie er selbst sich durch die Welt bewegt. Langsam und zögerlich.

Als sie irgendwann wieder blinzelt, hat sich seine Sauerstoffsättigung in den oberen Achtziger-Bereich hinauf verbessert. Und als sich dieser Wert über die nächste Viertelstunde hält, wagt sie es endlich, ihn allein zu lassen, um die Verbandskiste zu holen.

***

Ein Surren und ein lautes Piepsen erklingen von der Chaise, wo ihr Telefon noch immer liegt, und Sérafine macht auf halbem Weg zur Tür kehrt, um es an sich zu nehmen.

Seit sie das Zimmer verlassen hat, ist eine ganze Reihe von Nachrichten von Joanna eingegangen.

Joanna: Könntest du Louis von mir fragen, wie er sich eine romantische Beziehung vorstellt?

Hallo? Alles okay bei euch? Könntest du kurz was sagen, dass ich weiß das alles okay ist? Bitte? Serafine? Langsam mach ich mir echt Sorgen...

Séra: Es ist alles in Ordnung ich habe nur das Telefon auf dem Sofa vergessen

Sie stopft das Gerät in ihre Hosentasche und ignoriert das erneute Surren. Erst als sie die Küche erreicht, hält sie wieder an, stellt die Verbandskiste auf der Arbeitsplatte ab und zückt erneut das Telefon.

Joanna: Könntest du ihm dann meine Frage weiterleiten? Sera: Mach ihm bitte keine falschen Hoffnungen

Das Telefon wieder in der Hosentasche packt sie noch eine Plastikschüssel und zwei Flaschen mit warmem Leitungswasser zu den Kleidern, Waschlappen und Handtüchern, die die Kiste überquellen lassen. Dabei kreisen ihre eigenen Worte in ihrem Kopf.

Hoffnung. Falsche Hoffnung. Mach dir keine falschen Hoffnungen.

Und als sie ins Labyrinth einbiegt, sieht sie ihn plötzlich vor ihrem inneren Auge. Was er empfinden wird, wenn Joanna wieder geht. Was er tun wird. Und da wird diese Möglichkeit, diese grauenvollen Möglichkeit, die immer bestanden hat, derer sie sich immer bewusst war, die in den letzten Wochen zum Greifen nahe und doch eine ganze Realität weit entfernt war - sie wird zur Absehbarkeit. Unausweichlichkeit. Nicht nächstes Jahr oder nächsten Monat, sondern morgen.

Morgen.

Oder heute. Jetzt. In diesem Moment, Wenn sie leichtsinnig war, wenn das Oxymeter defekt ist, wenn Louis' Atem und sein Herz stehen geblieben sind, dann wird sein Körper kalt und starr werden, seine Bernsteinaugen trüb, seine Fingerspitzen vertrocknet und schwarz-

Ein unwillkürlicher, schriller Laut kratzt in ihrer Kehle.

Sie lässt, die Kiste ins Gras fallen und rennt los.

***

Er liegt noch genau so da, wie sie ihn verlassen hat, reglos auf der Seite, und ihre bebenden Finger finden nicht gleich seinen Puls. Doch dann fühlt sie das erste Pochen, wie die Berührung eines winzigen, lebenslustigen Tieres, das in Louis' Körper auf sie gewartet hat. Noch ein Pochen, und noch eines, in unbeirrbarer Folge.

Schwach vor Erleichterung schluchzt sie auf.

"Schatz—" Sie presst ihre Stirn an seine Schläfe, hält seinen Kopf in ihren Händen, streichelt sein zerzaustes Haar, während ihre Tränen über seine Wange laufen. "Mein süßer Schatz."

Sie braucht lange, um sich wieder zu beruhigen und ihr Bedürfnis, die Arme um ihn zu legen und sein Gesicht zu küssen, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch schließlich setzt sie sich auf.

Und erinnert sich, dass ihr Telefon in der Zwischenzeit zweimal geklingelt hat.

Joanna: Das ist nicht fair

Würdest du mir Louis handynummer geben?

Sie reibt sich über die Augen.

Séra: Wenn er wieder wach ist frage ich ob es ihm recht ist

Damit wirft sie das Telefon neben sich ins Gras und verlässt die Wiese, um die Verbandskiste zu holen.

Als sie zurückkehrt, liegt Louis' Hand mit dem Oxymeter etwas anders - zumindest bildet sie sich das ein. Aber er reagiert nicht, als sie seine Schulter berührt.

"Schatz?"

Nichts. Kein Laut, kein Flattern seiner Augenlider, keine sich regenden Formen.

"Ich zieh dir jetzt deine Hose aus, damit ich dein Bein versorgen kann. In Ordnung?" Sie wartet. Lauscht. Beobachtet. Und schließlich füllt sie Wasser in die Plastikschüssel, legt Waschlappen, Handtuch, frische Kleider bereit, ein Naht-Kit, und dreht Louis vorsichtig auf den Rücken.

Noch feuchtes Blut lässt den Stoff seiner Hose an seinem Bein kleben. Der Geruch ist überwältigend. Das dunkle Rot an seiner Wade, seinem Knie, seinem Oberschenkel, wo es bis zu seinem Gesäß hinab gelaufen ist.

Die Fäden sitzen noch, haben aber in seine Haut geschnitten. Die von Blut durchweichten Klebestreifen haben sich abgelöst. Und bei all diesem sichtbaren Schmerz, seiner Zerbrechlichkeit, Fleischlichkeit, wird ihr übel.

Torkelnd steht sie auf und schafft es ein paar Meter weit, ehe sie sich ins Gras übergibt.

Als sie sich wieder neben Louis setzt, fällt ihr Blick auf das Telefon. Sie starrt, es ein paar Atemzüge lang nur an, ehe sie die Hand ausstreckt, es aufhebt und ihr Gespräch mit Mariana öffnet.

'Es tut mir leid.' tippt sie langsam. 'Ich dachte ich könnte das hier, aber ich habe mich geirrt. Bitte vergib mir.'

Ein leises Piepsen bestätigt den Versand ihrer Nachricht. Dann schaltet sie das Gerät ab, ganz ab, legt es hinter sich und macht sich daran, Louis' Blut fort zu waschen.

***

Später verzwirbelt Sérafine liebevoll das überstehende Papier an ihrem sechsten Joint und legt ihn zu den anderen auf das Tablett, das neben ihr im Gras steht. Langsam hat sie den Bogen wieder raus.

Sie nickt, nimmt ihre Zigarette von der Kante der Bank und zieht kräftig daran. Sie hat eine Schachtelzigarette für den Filter geopfert. Kein schlechter Tausch. Louis’ naturbelassener Edeltabak schmeckt nicht halb so widerlich wie das, was sie seit über zehn Jahren raucht. Ehrlich gesagt wundert sie sich über das Ausmaß an Faulheit, das sie seinerzeit das Selberdrehen hat aufgeben lassen.

Sie hüstelt und reibt die Glut von ihrer Kippe, ehe sie ein neues Blättchen Hanfpapier aus der Packung zieht. Sie legt den vorbereiteten Pappfilter hinein, zupft ein gemütliches, weiches Bett aus Tabak zurecht, bröselt duftendes grünes Kraut darauf und rollt beides zusammen.

"Weißt du—" murmelt sie in Louis’ Richtung, ehe sie die Klebefläche anleckt. "Langsam wird es albern. Ich kann sehen, dass du wach bist, und dass deine ganze rechte Seite eingeschlafen ist." Sie dreht den Joint mit einer einzigen, langen Bewegung, den Kopf schiefgelegt, und bewundert dann stolz ihr Werk. "Ich verspreche, ich werde nicht versuchen, dich zum Essen zu überreden. Du musst nur deine Pille nehmen."

Louis stellt sich weiter tot, während er über ihr Angebot nachdenkt. Doch als sie auch ihren letzten - ihren perfekten - Joint zu den anderen gelegt hat, setzt er sich endlich auf, massiert seine rechte Schulter und versucht erfolglos, sein verletztes Knie zu beugen.

"Was hast du mit meinem Bein gemacht?"

"Es ruhiggestellt.” Sie füllt einen Schluck Wasser in ein Glas, wirft die Tablette hinein, die wartend daneben gelegen hat, und hält es Louis hin.

Der tut so, als würde er es nicht bemerken, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, das frische Hemd überzustreifen, das Sérafine für ihn bereitgelegt hat.

"Na komm. Es ist entweder das oder ein Butterbrot."

Er starrt betont in die andere Richtung, ehe er das Glas nimmt, es austrinkt und an Sérafine zurück reicht.

"Danke." Sie griemelt ihn an, ehe sie kichert: "Van Gogh war hier, als du noch geschlafen hast. Deine nackte Brust schien ihn sehr zu verwirren. Dann hat er versucht, in deine Hosentasche zu kriechen. Und er hat sich streicheln lassen."

"Hm." Louis knöpft das Hemd zu. "Hat Joanna noch etwas geschrieben?"

"Ich weiß nicht."

"Du weißt es nicht?" Stirnrunzelnd tastet er nach dem Mobiltelefon, das noch zwischen ihm und Sérafine herumliegt, und versucht, die Anzeige zu aktivieren.

"Du musst lange drücken. Ich hab es ganz abgeschaltet."

Louis wendet den Blick von der Startanimation des Telefons ab, um zuzusehen, wie Sérafine den Filter des ersten Joints auf ihren Daumennagel klopft, den Zipfel abflämmt, pafft und schließlich einen tiefen Zug davon nimmt. "Sag mir deine PIN."

Sie schüttelt den Kopf.

"Sag mir deine PIN.”

"Nein." Sie bläst den Rauch aus und bietet Louis den Joint an.

Ohne hinzusehen nimmt er die Tüte entgegen und zieht daran. Seine Finger geben eine Nummer aus dem Gedächtnis ein, während er den Rauch in seiner Lunge hält. Es ist die richtige. Zufrieden pustet er ein Wölkchen in die Luft.

Sérafine lächelt unwillkürlich und spürt ihr Herz höher schlagen. Diese Geste. Dieses leichte Heben seines Kinns, seine schmale, gestraffte Unterlippe, seine an den Mund gehobene Hand mit dem Joint. Das alles lässt ihn so offen wirken. So nah und berührbar. Es bringt ihr den Abend zurück, als sie zum ersten Mal gemeinsam gekifft haben und ihr wirklich bewusst wurde, dass sie erwachsen ist, und dass Louis neben ihr, mit dem völlig in die Ekstase gekraulten Maxi auf seinem Schoß, ebenfalls erwachsen ist.

Das Kind aus ihrer Erinnerung, das sich in ein abstraktes, skizzenhaftes Selbstportrait aus Worten verwandelt hat, ist zu einem vollständigen, realen, gegenwärtigen jungen Mann geworden. Zu jemandem, den sie in den Arm nehmen, den sie küssen, mit dem sie schlafen könnte. Und er teilt dieses einfache Ritual mit ihr. Den langsam einsetzenden Rausch.

Ihr Lächeln wird breiter, als es ihr gelingt, nur das zu sehen, und nicht die düstere Hoffnungslosigkeit die den Gedanken umgibt.

"Was?"

Ihr Blick stellt wieder auf die Gegenwart scharf und sie zieht fragend die Augenbrauen hoch.

"Du starrst mich an."

"Ich finde dich unglaublich hübsch, wenn du rauchst."

Louis grunzt. "Witzig.”

"Warum lachst du dann nicht? Du könntest ruhig lachen. Das wäre doch mal eine schöne Abwechslung. Wann hast du das letzte Mal gelacht?"

"Als ich heute morgen in den Spiegel gesehen habe." antwortet er trocken und reicht ihr den Joint zurück.

Einen Moment später hat das Telefon endlich eine Verbindung etabliert und meldet prompt einige neue Nachrichten. "Mariana hat versucht, dich anzurufen."

"Hm. Was schreibt Joanna?" Sérafine nimmt einen Zug und schließt die Augen, während Louis die letzten Nachrichten betrachtet.

"Nichts weiter." sagt er tonlos.

"Was wirst du ihr antworten?"

Louis starrt ein paar Sekunden lang reglos, ehe er sagt: "Mariana hat dir auch geschrieben. Soll ich es vorlesen?"

"Nein." Betont gelassen reicht Sérafine ihm den Joint und unterdrückt ein erleichtertes Seufzen, als Louis die Anzeige abschaltet, ohne das Gespräch mit Mariana geöffnet zu haben.

Sie kann das erste Kribbeln des Rausches in ihrem Nacken und ihrer Brust fühlen. Eine beginnende Weite und Ruhe.

Mit ihrem nächsten Zug sprießt daraus eine tiefe, warme Klarheit. Ein Gefühl, als könnte sie jetzt erst wirklich sehen, und sie betrachtet das Gras vor ihren untergeschlagenen Beinen. Jeden einzelnen grünen Halm. Die strahlend blauen, gelben und weißen Blüten, die weiter hinten in der Wiese sprießen. Die Blätter der Hecke, fern und klein am Horizont.

Als sie Louis den Blick zuwendet, um ihm erneut den Joint zu reichen, ist er unglaublich nah. Sein wirres Haar. Die Windungen seiner Ohrmuschel.

Sie kann das leise Prickeln seines eigenen Rausches erkennen, schwächer als ihres, weil er mehr verträgt und skeptischer ist, aber die leuchtenden Schemen, die das Morphin in seinem Körper zurückgelassen hat, regen sich wieder. Glimmen heller, schweben leichter.

Sie legt den Kopf schief, als der Joint in ihre Hand zurückkehrt und Louis, noch mit angehaltenem Atem, die Anzeige des Telefons wieder aktiviert.

Er tippt herum, bis er Joannas Eintrag im Adressbuch vor sich hat.

"Du willst sie anrufen?”

Er atmet aus. "Ich weiß nicht." Er spürt den Wunsch, ihre Stimme zu hören, und sein Daumen sinkt langsam, doch nur zu einem sehr kleinen Teil bewusst auf das Anruf-Symbol zu, während er die Zahlenfolge daneben in Gedanken immer wieder wiederholt. Dann berührt er die kühle Anzeige. Hält seinen Finger erschrocken still. Zieht ihn zurück—

'Verbinde...'

Er starrt auf das Wort, sein Kopf leer. Wie beendet man einen Anruf? Schon erklingt das Rufzeichen. Leise und blechern. Das reißt ihn aus seiner Erstarrung. Er tippt auf das rote Symbol in der Mitte der Anzeige und wirft das Gerät von sich.

Sérafine zieht amüsiert eine Augenbraue hoch, während er ihr den Joint abnimmt. Nicht um zu rauchen, sondern um ihn festzuhalten. Und ein paar Sekunden später klingelt das Telefon. Joanna.

Fragend sieht Sérafine Louis an. "Soll ich rangehen? — Das ist übrigens kein Räucherstäbchen."

Er schüttelt, den Kopf und nimmt einen tiefen Zug.

"Doch, ich geh ran, sonst macht sie sich nur Sorgen. Du musst ja nicht mit ihr reden. — Hallo Joanna. — Nein, das war Louis. Aus Versehen. Telefonieren ist nicht seine Stärke. — Ja, aber ich weiß nicht, ob er schon eine Antwort für dich hat. Er ist gerade erst aufgewacht." Sie sieht zu Louis.

Der zieht noch einmal am Joint, den Blick gesenkt, die Finger im Haar über seinem Scheitel. Gibt sich einen Ruck und streckt die Hand aus.