Das Prinzip der Wahrheit - Christine Schuhmann - E-Book

Das Prinzip der Wahrheit E-Book

Christine Schuhmann

0,0

Beschreibung

*Was bleibt zu tun, wenn sich alles und doch nichts geändert hat? Wenn sie ihn verlieren wird, ganz gleich wie die Geschichte ausgeht...* Joanna bleibt. Nur für drei Wochen. Nur um sicherzugehen, dass Louis nicht gleich wieder in sein paranoides Denken zurückfällt. Doch die zarte, freundschaftliche Verbindung, die sich in den vergangenen Wochen zwischen ihr und ihm entwickelt hat, ist stärker als ihre Enttäuschung und ihre Zweifel. Und während sie sich zwischen Musik, Skulpturen und Seelenkrisen wieder auf ihn einlässt, wachsen auch seine Gefühle für sie. Bis er die Worte ausspricht, die alles zwischen ihnen zerstören könnten. Triggerwarnungen findet ihr unter https://www.tine-schreibt.de/triggerwarnung-prinzipien-trilogie/

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 545

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Hase, Ela, Erik

Weitere Bücher von Christine Schuhmann Das Prinzip der Schönheit Das Prinzip der Harmonie

Triggerwarnungen

Findet ihr auf der letzten Seite.

Inhaltsverzeichnis

Tag 14

Tag 15

Tag 16

Tag 17

Tag 18

Tag 19

Tag 20

Tag 21

Tag 22

Tag 23

Tag 24

Tag 25

Tag 26

Tag 27

Tag 28

Tag 29

Tag 30

Tag 14

Als Joanna am nächsten Tag mit heftig klopfendem Herzen die Küche betritt, verstummt Sérafine und lächelt sie unsicher an. "Guten Morgen."

"Morgen."

"Louis würde gern kurz mit dir sprechen. Ist es dir recht, wenn ich mich solange auf die Terrasse setze?"

Joanna nickt. Dabei bemerkt sie ihr Handy und ihre Schlüssel, die neben dem für sie gedachten Teller auf dem Küchentisch liegen. Hastig geht sie hinüber und stopft beides in ihre Hosentasche.

Sérafine wirft ihr ein weiteres Lächeln zu, während ihre Hand kurz über der Schulter des Malers schwebt, ihn aber nicht berührt. Sie beugt sich zu ihm, um etwas in sein Ohr zu flüstern. Dann verlässt sie die Küche.

Joanna sieht ihr nach, bis sich der Maler schwerfällig erhebt und zu ihr herüber kommt. Sie hat den Impuls, vor ihm zurückzuweichen, aber sie schlingt nur die Arme fester um ihre Brust und beobachtet, wie er ein paar Schritte von ihr entfernt stehen bleibt.

Er zögert. Dann kniet er nieder.

Mit gesenktem Kopf öffnet er den Verschluss seiner Maske, um sie Joanna hinzuhalten. Aber statt die Geste anzunehmen, zieht sie sich von ihm zurück, so dass ihre nackten Füße, die er eben noch sehen konnte, aus seinem Sichtfeld verschwinden. Also legt er das schwarze Holzstück zwischen ihr und sich auf den Boden und atmet durch.

"Ich habe dir großes Unrecht angetan." sagt er leise. "Ich habe dich eingesperrt. Ich habe dir Angst gemacht. Ich-" Er schließt die Augen. "Ich wollte dich vergewaltigen." Er sinkt noch etwas mehr in sich zusammen und auch seine Stimme schrumpft zu einem heiseren Flüstern. "Es tut mir leid." Er schluckt. Presst seinen Ärmel an seine brennenden Augen. Dann verkrampft er seine Hände wieder im Schoß und fährt fort: "Ich habe akzeptiert, dass es kein Schicksal gibt. Du bist frei zu gehen. Sérafine wird dich nach Hause bringen und alles Weitere mit dir besprechen. Ich- ich wünsche dir alles Glück der Welt und- Das- das ist alles, was ich dir sagen wollte."

Sein Herz poltert schmerzhaft in seiner Brust, während er vergeblich auf eine Reaktion von Joanna wartet. Und als er schließlich wagt, den Kopf so weit zu heben, dass er ihr blasses Gesicht ausmachen kann, ist darin kaum etwas zu lesen.

Eine Sekunde später schnappt Joanna sich die Maske vom Boden und tritt an die Arbeitsplatte hinter ihm.

Die Luft im Raum fühlt sich dünn an, während sie dort steht, ihr Kopf leer, der mattschwarze Lack glatt unter ihren Fingern.

Als sie sich schließlich bereit fühlt, an ihren Platz zurückzukehren, erwartet sie der suchende, rotgeweinte Ausdruck des Malers bereits. Seine Entstellung, die ihn nicht wirken lässt wie einen Jemand, sondern wie ein Etwas. Ein bleiches, totes Etwas, das sich vor ihr erniedrigt. Voller Angst, dass sie es zerquetscht wie ein Insekt.

Sie schluckt. "Ich werde hier bleiben." sagt sie dann leise zu einer Fuge zwischen den Fliesen gleich neben den Knien des Malers. "Maximal drei Wochen, von heute an." Sie kann seine Verwirrung aus dem Augenwinkel erkennen, also erklärt sie: "Ich habe keine Lust, dass du übermorgen vor meiner Tür stehst, weil du es dir noch mal anders überlegt hast. Und ich habe Bedingungen. Ich will ins Internet können, ich will einen Schlüssel für die Haustür und das Tor, ich will-" Sie unterbricht sich, als der Maler mit zitternden Fingern seinen Schlüsselbund hervorkramt und ihn ihr entgegen streckt.

Etwas überrumpelt nimmt sie ihn und braucht einen Moment, um ihren Faden wiederzufinden. "Ich will, dass meine Freunde zu Besuch kommen dürfen, ich will kommen und gehen dürfen wie ich will, und du-" Sie zwingt sich, ihn direkt und mit hartem Nachdruck anzusehen. "Du wirst mir nie wieder solche Angst machen, verstanden? Nie wieder."

"Nie wieder." antwortet der Maler tonlos.

Einen halben Atemzug lang schafft Joanna es noch, ihn niederzustarren, dann gibt sie ihm hastig seine Maske zurück. "Jetzt steh bitte wieder auf. Komm." Ungeschickt packt sie ihn am Arm, um ihn auf die Füße zu ziehen, und kaum steht er wieder, tritt sie ein paar Schritte zurück, wobei sie seinen Blick fast schon verschämt meidet. "Ich frühstücke dann mal. Ist das okay?"

"N- natürlich." Mit zitternden Fingern setzt er seine Maske wieder auf. "Falls- falls es dir- recht ist, würde ich dir- zuvor gern etwas zeigen." Seine Stimme klingt sehr leise und klein, und während Joanna ihm in den ersten Stock hinauf folgt, wirkt seine steife Haltung aufgesetzt, so als würde er innerlich noch immer mit nacktem Gesicht am Boden kauern.

Auf der Galerie angekommen, öffnet er die Tür zu ihrem neuen Zimmer. "Es tut mir leid, dass die Fertigstellung so lange gedauert hat." erklärt er.

"Oh, wow." Erstaunt tritt Joanna über die Schwelle und sieht sich um. Es stehen all die Möbel hier, die sie bisher nur als halbfertige Holzkästen gesehen hat. Das breite Bett, der Kleiderschrank, das unregelmäßig geformte Regal, der Schreibtisch - alles hell und fein gemasert und mit schlichten, geschwungenen Schnitzereien verziert. In einer Ecke stehen das Sofa und der Sessel mit ihren dicken Kissen, davor der Tisch, der mehr wie eine Skulptur aussieht, und zwischen den Fenstern stehen die rankenartigen Holzgebilde, bei denen sie sich gefragt hatte, was sie sein sollen, und halten üppige Topfpflanzen in die Höhe.

"Und das ist alles für mich?" fragt sie, leicht überfordert.

Als sie keine Antwort erhält, dreht sie sich nach dem Maler um. Doch er ist schon wieder gegangen.

***

Eine Zigarette im Mundwinkel parkt Sérafine ihren verrosteten Volvo in zweiter Reihe vor dem grafittibeschmierten Mehrfamilienhaus am Rande der Lissabonner Innenstadt, in dem Joanna und ihr Freund wohnen. Mit dem schmuddeligen Internetcafé im Erdgeschoss erinnert das Gebäude an ihre Wohnung in Paris und sie lächelt unwillkürlich - ein grimmiges, müdes Lächeln, dem eine Rauchwolke folgt.

Sie ist spät dran, aber sie konnte nicht aufbrechen, ehe Louis sich wieder beruhigt und ihr erlaubt hatte, die frühmorgens für seinen Selbstmord bereitgelegten Utensilien in ihrer Schultertasche zu verstauen und mitzunehmen.

Vor dem Haus zückt sie ihr Telefon und schickt ihm eine Textnachricht mit einem Fragezeichen. Kurz darauf erhält sie die Antwort: Eine Tilde. Das Zeichen dafür, dass es ihm sehr schlecht geht, er aber keine Hilfe braucht.

Halbwegs beruhigt steckt sie das Telefon zurück in die Tasche und sucht nach Nicolas Soares' Namensschild.

Als der Summer geht, stemmt Sérafine ihre Schulter gegen die Tür - 'Sie klemmt manchmal.' hatte Joanna sie vorgewarnt - und stolpert in das kühle, von einem Kinderwagen, zwei Fahrrädern und einem kleinen, leicht nach Katzenurin riechenden Karton voller Werbeblättchen blockierte Treppenhaus.

Auf der Fußmatte vor einer der Wohnungen im ersten Stock fläzt eine kleine, dicke, schwarze Katze, deren Laune sich schlagartig zu bessern scheint, als Sérafine sich kurz zu ihr hinunterbeugt, um sie zu streicheln.

Das Tier öffnet immer wieder sein Mäulchen, doch es gelingt ihm nur gelegentlich und unter Anspannung seines gesamten Körpers, ein leises "Öff!" herauszupressen. Eindeutig Tiffi.

Amüsiert geht Sérafine weiter, erst verfolgt, dann geführt von dem eifrig über die Stufen tippelnden Tier.

Im dritten Stock wartet Joannas Freund bereits in der geöffneten Wohnungstür.

Missmutig sieht er zu, wie die Katze ganz selbstverständlich an ihm vorbei in die Wohnung spaziert, um alle Räume zu kontrollieren, für ein paar Sekunden in einem zu verschwinden und sich dann auf der Schwelle zur Küche den Bauch zu putzen.

Er seufzt und mustert Sérafines blasse, ungepflegte Gestalt. "Ich dachte schon, Sie kommen nicht." sagt er laut.

"Tut mir leid. Es gab einen unerwarteten Zwischenfall, der mich aufgehalten hat."

"Ist Joanna was passiert?"

Sérafine zieht die Schultern hoch. "Könnten Sie vielleicht etwas leiser sprechen, ich habe Kopfschmerzen. Und nein, Joanna ist nichts passiert. Hat sie Sie noch nicht angerufen?"

Nicolas runzelt die Stirn. "Nein." antwortet er und tritt beiseite, damit Sérafine hereinkommen kann.

"Der Maler hat ihr aber ihr Telefon zurückgegeben." Es fühlt sich merkwürdig an, Louis mit diesem fremden Namen zu bezeichnen, aber angesichts der Feindseligkeit, die ihr von Joannas Freund entgegenschlägt, käme es ihr wie Verrat vor, seinen richtigen zu verwenden. "Vielleicht ist sie noch nicht dazu gekommen."

"Hm." Misstrauisch streckt Nicolas noch einmal den Kopf ins Treppenhaus und lauscht. "Sie sind allein gekommen?"

"Ja?" Sérafine mustert ihn kurz über ihre Schulter, während sie ins Wohnzimmer geht.

"Hm." Er schließt die Tür, holt sein Handy aus der Hosentasche, sucht Joannas Nummer im Adressbuch— "Besetzt." stellt er dann fest.

"Sie ruft Sie bestimmt als nächstes an, um Sie einzuladen."

"Mich einzuladen?"

Sérafine kneift gequält die Augen zu über Nicolas' fortgesetzte Lautstärke und lässt sich unaufgefordert auf das Sofa an der Wand gegenüber des Arbeitszimmers fallen. "Kaffee und Kuchen im Vorgarten."

"Wollen Sie mich verarschen?"

"Nein." antwortet sie betont leise und beugt sich vor, um die Katze anzulocken. "Na komm her, Süße." Sie reibt ihre Fingerkuppen aneinander. "Miez-miez."

"Und wann kommt sie zu mir zurück?"

"Soweit ich weiß, hat sie vor-" Sie unterbricht sich, als die Katze auf ihren Schoß springt. "Sie hat vor, zum Semesterbeginn wieder zu Ihnen zu ziehen."

"Sie hat vor, wieder zu mir zu ziehen? Sie wissen ganz genau, dass das Quatsch ist. Wenn Ihr durchgeknallter Freund sie nicht bedrohen würde, wäre sie längst wieder hier."

"Er ist nicht 'durchgeknallt', er ist krank." Sérafine wirft einen scharfen Blick in Nicolas' Richtung. "Und Joanna hat lange allein mit den Beamten gesprochen, die Sie uns vorbeigeschickt haben. In dieser Zeit hätte sie ihnen sagen können, was auch immer nötig gewesen wäre, damit sie mit Gewalt vom Maler weggeholt wird."

"Sie hatte Angst, deshalb hat sie nichts gesagt!" Gereizt schiebt Nicolas die Reisetasche beiseite, die er für Joanna gepackt hat, und hockt sich auf den Sitzsack dahinter.

"Sie können Joanna bitten, mit Ihnen zu kommen, wenn Sie sie besuchen."

"Ja klar. Und wann soll das passieren?"

"Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es geht dem Maler zurzeit sehr schlecht und er wird kaum Fremde auf dem Grundstück haben wollen, wenn er sich nicht einmal in seinem eigenen Haus sicher fühlt."

"Wie sich Ihr Freund fühlt, ist mir ja sowas von scheißegal. Er hat kein Recht, Joanna einzusperren!"

Sérafine schließt für einen Moment die Augen, und einzig das weiche Fell der Katze unter ihren Händen verhindert, dass sie ihre eigene Frustration und Erschöpfung an dem aufgebrachten jungen Mann auslässt. "Die gegenwärtige Situation ist für keinen von uns einfach." sagt sie steif.

Nicolas schnaubt und drückt zum vierten Mal die Wahlwiederholung. Noch immer besetzt. Er atmet durch. "Wird er dabei sein, wenn ich Joanna sehen darf? Ich will diesem- Menschen nicht noch mal über den Weg laufen."

Sérafine hebt den Kopf, um Nicolas kurz zu mustern. "Es ist unwahrscheinlich. Aber sollte er doch anwesend sein wollen, gebe ich Ihnen den Rat, sich Joannas Bitten entsprechend zu verhalten."

"Ja." Nicolas verdreht die Augen. "Sagen Sies mir auch noch mal, falls ichs immer noch nicht gerafft habe." Er steht auf. "Ich helfe Ihnen, das Gepäck runterzutragen."

***

Als Nicolas wenig später in die Wohnung zurückkehrt, haben Delgado und Mendes ihren Horchposten im Arbeitszimmer schon wieder verlassen und es sich im Wohnzimmer bequem gemacht - Delgado mit einer frisch aufgefüllten Tasse Kaffee auf dem Sofa, Mendes mit der sich wohlig räkelnden Katze auf dem Sitzsack.

"Das lief nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte." murmelt Nicolas, während er sich neben Delgado setzt. "Aber Frau Janvier hat eindeutig gesagt, dass dieser Typ meiner Freundin ihr Handy weggenommen hatte. Das ist doch ein starkes Indiz dafür, dass sie gegen ihren Willen festgehalten wird."

Delgado nickt zustimmend.

"Dann gehen Sie und holen Sie meine Freundin da raus!"

"Sie hat unsere Hilfe ausdrücklich abgelehnt."

"Weil sie Angst hatte! Verdammt noch mal, ist das so schwer zu begreifen?"

Die Polizistin lächelt kühl. "Frau Murrays Angst ist mir bei unserem Gespräch nicht entgangen."

"Warum helfen Sie ihr dann nicht?"

"Weil sie es nicht will."

"Das ist doch absurd!" Nicolas gestikuliert aufgebracht. "Lassen Sie jeden alleine, der eingeschüchtert wurde?"

"Wie meine und Mendes' Anwesenheit hier bezeugen, teilen wir Ihre Sorge sowohl um Ihr eigenes, als auch um Frau Murrays Wohlergehen, und lassen Sie mitnichten 'allein'. Was Sie nicht einzusehen scheinen, Herr Soares, ist, dass es sich bei Frau Murray um eine erwachsene Person handelt, die selbst entscheiden kann, an welchem Ort und in wessen Gesellschaft sie sich aufhalten will. Sie schien weder verwirrt zu sein, noch unter Drogeneinfluss zu stehen, als ich gestern mit ihr gesprochen habe, noch wurde sie für den gesamten Zeitraum unseres Gesprächs überwacht. Sie hat die Gelegenheit genutzt, uns mehrfach und ausdrücklich um Nicht-Einmischung zu bitten. Solche Entscheidungen über die eigenen Rechtsgüter müssen wir respektieren - zumal wir nicht wissen, welche zusätzlichen Gefahren für Frau Murray entstehen, wenn wir versuchen, einzugreifen. Es wäre fahrlässig, das zu ignorieren."

"Nichts zu tun, wäre fahrlässiger."

"Das ist Ihre Ansicht."

"Und ob es das ist." Unzufrieden steht Nicolas auf und drückt zum zigsten Mal die Wahlwiederholung. — Besetzt. "Dass ihr Handy gerade benutzt wird, beweist außerdem überhaupt nichts. Erst recht nicht, dass Joanna aus freien Stücken bei diesem Irren bleibt."

"Das stimmt. Und sollte Frau Murray uns doch noch um Hilfe bitten, werden wir umgehend eingreifen." Mit einem kräftigen Zug leert Delgado ihre Tasse. "Solange das nicht der Fall ist, und auch keine Beweise für andere erhebliche Rechtsverletzungen durch Herrn Janvier vorliegen, gibt es nichts, was wir für Sie tun könnten." Mit einem leichten Tritt gegen Mendes' Fuß reißt sie den jungen Polizisten aus seiner Konzentration auf die schnurrende Katze, damit er ebenfalls aufsteht.

Mürrisch stampft Nicolas den beiden hinterher zur Tür. "Ich glaub es einfach nicht. Wozu sind Sie gut, wenn Sie Joe so im Stich lassen?"

Die Geduld der Polizistin endet abrupt. "Jedenfalls nicht dazu, Ihre Freundin an den Haaren zu Ihnen zurück zu zerren." sagt sie kalt und folgt Mendes, der bereits die Treppe hinunter geht. Nach ein paar Schritten hält sie jedoch inne und mobilisiert ihre gesamte Professionalität, um Nicolas zum Abschied aufmunternd zuzunicken. "Jetzt machen Sie sich mal nicht verrückt. Ihre Freundin scheint mir eine fähige, vernünftige Person zu sein. Sie können darauf vertrauen, dass sie weiß, was sie tut, und dass sie auch ihre eigenen Grenzen kennt."

Nicolas schnaubt nur.

"Falls sie sich bis morgen um diese Zeit nicht gemeldet hat, lassen Sie es uns wissen."

"Und was tun Sie dann?"

"Dann sehen wir weiter." Die Polizistin lächelt knapp. "Auf Wiedersehen, Herr Soares."

"Ja. Wiedersehen." Damit schließt er die Wohnungstür und stößt ein paar saftige Flüche aus.

Als er ins Wohnzimmer zurückkehrt, aalt sich die Katze in der Sonne. "Öff. Mpf." sagt sie zufrieden, worauf sich Nicolas neben ihr auf den Boden hockt, um ihr den Bauch zu streicheln.

"Du Pupsgranate hast hier drinnen überhaupt nichts verloren." erklärt er, während er noch einmal vergeblich versucht, Joanna auf dem Handy zu erreichen. "Beim ersten Gasangriff setz ich dich vor die Tür."

"Öff." Träge schnappt die Katze mit den Vorderpfoten nach Nicolas' Fingern, die vor ihrer Nase herumwackeln, und reckt den Hals, um sie zu beschnuppern. Dann lässt sie sich mit einem Gähnen zurücksinken.

"Dir geht es gut, was?" Er drückt noch einmal die Wahlwiederholung, doch schließlich reicht es ihm. Schlecht gelaunt setzt er erst die Katze vor die Tür und dann sich selbst wieder an seine Studienarbeit. Soll Joanna doch ihm hinterhertelefonieren - falls sie tatsächlich ihr Handy zurückbekommen hat."

***

Mit zusammengepressten Lippen hockt Joanna auf ihrem neuen Bett und starrt das Handy an, das mit dem Ladekabel verbunden auf dem Nachttisch liegt.

Sie sollte Nicolas anrufen. Ihm sagen, dass es ihr gut geht und dass sie bald wieder bei ihm sein wird. Sie sollte ihm erzählen, was gerade eben passiert ist und wie sie sich jetzt fühlt. Aber das Bedürfnis, von ihm getröstet zu werden, gerinnt zu einem bitteren, hoffnungslosen Kloß in ihrem Hals.

Schniefend wischt sie sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts über die Augen. Dann geht sie zum Sofa hinüber und ruft Judite an.

"Joe? Bist du das?"

Sie lächelt unwillkürlich. "Ja, hey."

"Joe! Geht es dir gut? Bist du wieder zuhause?"

"Noch nicht. Rufst du zurück, meine Prepaidkarte ist fast leer."

"Ja, klar, Moment." Judite legt auf und keine halbe Minute später ist sie wieder da. "Also du bist noch nicht zuhause? Aber du bist in Sicherheit, ja? Nico hat mir diese völlig schräge Geschichte erzählt—"

"Er hat es dir erzählt?" Joanna lässt den Kopf in den Nacken fallen.

"Ich hab ihn angepingt, nachdem du mich gestern versetzt hast. Und es stimmt also? Du wurdest entführt?"

Joanna seufzt schwer. "Ja, aber ich bin schon wieder frei. Er hat mich eben gehen lassen."

"Oh? Und wo bist du jetzt? Soll ich dich abholen?"

"Nein, das- das brauchst du nicht. Und bitte sag Nico nichts davon, sonst dreht der am Rad. Ich-" Sie reibt sich über das Gesicht. "Ich denke, ich bleib noch eine Weile hier."

"Was?"

"Nur ein paar Wochen, bis der Maler sich wieder stabilisiert hat. Sérafine hat mir dazu geraten, und ich denke, sie hat recht. Sie ist auch grad hier und kümmert sich. Es geht dem Maler ziemlich schlecht."

"Du bist also nicht allein mit ihm?"

"Nein. Und er ist auch nicht gefährlich, nur—" Sie reibt sich über die Augen. "Sag mal, könnten wir erst über was Normales reden? Ich brauch ne Auszeit."

"Klar. Aber du bist ganz sicher, dass es dir gut geht, ja? Du bist nicht in Gefahr?"

"Nein, ich bin nur müde und mag nicht mehr."

"Okay. Na gut—" Judite nimmt das Handy ans andere Ohr. "Worüber möchtest du denn reden?"

"Ich weiß nicht. Was machst du grad so?"

"Vorbereitungen für den Besuch von meiner Ma."

"Oh, schon?"

"Ja, ich hol sie nachher vom Bahnhof ab. Störts dich eigentlich, wenn ich hier ein bisschen Lärm mache?"

"Solange ich dich noch verstehen- — Okay, was tust du da?"

"Ich klopfe." antwortet Judite stolz.

"Das hör ich. Aber was klopfst du? Und warum?"

"Ich klopfe Fleisch, damit es weich wird."

"Du kochst?"

"Für Mutti."

"Aber Carmo kann das doch viel besser als du."

Eine kurze Stille tritt ein. "Danke. Ermutige mich. Das kann ich gebrauchen." gibt Judite schließlich gespielt spitz zurück und fährt fort, auf das Fleisch einzuschlagen.

Joanna grinst. "Ich mein doch nur, dass sie mehr Übung hat."

"Na und? Außerdem kannst du gar nichts dagegen tun, und es ist eine Überraschung für Mama, weil sie sich doch so sehr wünscht, dass ich wenigstens die gute alte Kikuyu-Küche lerne. Und als wir überlegt haben, was wir dieses Jahr zu Papas Gedenken machen wollen, hat Carmo vorgeschlagen, dass ich sein Lieblingsessen koche. Also klopfe ich jetzt das Fleisch für den Grill, und nachher mach ich noch Mais-Bohnen-Kartoffel-Püree und bunten Kohlsalat mit Zitronendressing, und zum Nachtisch röste ich ein paar Bananen, dann kann ich schön mit Mama darüber lamentieren, dass so eine Cavendish einer Kibunda niemals das Wasser reichen könnte." Judite seufzt voller Vorfreude. "Oh, sag mal, kommst du dann überhaupt mal vorbei, während Mama hier ist?"

"Ich weiß nicht. Ich glaub eher nicht."

"Schade. Soll ich eigentlich was Bestimmtes sagen, wenn sie nach dir fragt?"

"Uff—" Joanna lässt sich auf dem Sofa zur Seite umfallen, zieht die Knie an und balanciert das Handy auf ihrem Ohr. "Ich bin halt noch im Wald unterwegs. Aber ich schicke viele Grüße. Und ich mach auch noch Fotos. Versprochen."

"Hm. Und du willst nichtmal per Internet vorbeischaun? Tomás macht das dieses Jahr wieder so. Er kocht das Gleiche wie wir und ist nachher beim Essen dabei. So könntest du zum Beispiel morgen zum Filmeabend kommen. Und Mama hat gesagt, dass sie eine Überraschung für uns beide mitbringt."

Joanna atmet sehr tief aus.

"Ist schon okay, ich will dich nicht drängen." sagt Judite sanft. "Ich verstehs voll, wenn du da grad keinen Bock drauf hast, und Mama auch. Und wenn du dich noch umentscheidest, kannst du dich ja auch ganz spontan dazugesellen."

"Ja— Ich guck mal. — Was habt ihr denn sonst noch so geplant, außer Essen und Filme gucken?"

"Ach, nur das übliche. Bisschen durch die Stadt latschen, bisschen shoppen, bisschen Strand, bisschen wandern—"

"Wo?"

"Sintra-Cascais. Und wir wollen nach Buçaco radeln."

"Nach Buçaco? Nicht schlecht."

"Ja. Carmo will uns derweil ein Fünf-Gänge-Menü kreieren. Sie sagt, es wird episch, und ich kanns kaum erwarten."

"Das klingt toll." Joanna lächelt und es wird still, während Judite irgendetwas abspült. Schließlich wälzt sich Joanna auf den Rücken, stellt die Knie auf und legt einen Arm über ihre Augen.

"Er hat Möbel für mich gebaut." sagt sie langsam. "Er hat ein ganzes Zimmer eingerichtet, nur für mich. Er hat vier Flügel und ein Atelier und einen Ballsaal und einen Garten mit einem Heckenlabyrinth und einem zahmen Eichhörnchen und ganz vielen wunderschönen Statuen, die er gemacht hat, und er hat auch einen Badesee und einen ganzen Lagerraum voll mit selbstgebauten Instrumenten, und er ist super verschlossen und distanziert, und seine Kindheit war sogar noch beschissener als meine, aber er hat mir davon erzählt, obwohl es super schwer und schmerzhaft für ihn war, und ich hab ihm von Opa Folke erzählt und er hat sich dafür bedankt, und dann haben wir Duette gespielt und danach haben wir zusammen improvisiert und er hat mit mir mitgehalten! Judi, er hat mitgehalten! Und ich hab nicht vergessen, dass ich eingesperrt war, aber- Es war so schön und-" Sie schluckt, setzt sich auf. Tränen kullern über ihre Wangen. "Dann vor ein paar Tagen ist er total komisch geworden und ich weiß nichtmal genau warum. Und als Nico da war-" Sie kneift die Augen zu und schnieft. "Er dachte, er müsste mich dafür bestrafen, dass ich abhauen wollte. Er- er konnte es nicht. Aber er war kurz davor. Und eben hat er sich auf Knien dafür entschuldigt. Und ich- ich denke, er hat- alles nur für mich aufgegeben. Um mich freilassen zu können und mir nicht mehr weh tun zu müssen. Und ich bin so sauer auf ihn! So sauer! Und ich will nur weg hier." Sie schluchzt auf. "Ich will zu dir."

"Ist gut, ich hol dich. Du bist noch in der Colina Floresta, ja? Ich brauch nur- Moment. Lis? Lis, bist du wieder-"

Carmos heisere Stimme unterbricht sie: "Die ist noch einkaufen."

"Weißt du, ob sie das Auto genommen hat?"

"Judi—" sagt Joanna, aber Carmo spricht schon wieder: "Ich glaub ja. Warte, ich guck mal." Carmos Stimme entfernt sich bei den letzten Worten, ehe sie vom anderen Ende der Wohnung aus ruft: "Steht jedenfalls nicht vor der Tür."

"Shit. Joe, ich komm dich holen, sobald Lis wieder da ist, okay?"

Joanna schnieft lächelnd. "Das ist so lieb von dir, aber es ist wirklich besser, wenn ich noch ein bisschen hier bleibe. Ich vermisse dich nur und- es ist alles grad verdammt anstrengend."

"Ich könnte auch nur so vorbeikommen und dich ein bisschen in den Arm nehmen."

"Das wär voll schön, aber-" flüstert Joanna unter neuen Tränen. "Dann schaff ichs bestimmt nicht, hier zu bleiben, und du musst doch auch bald Njeri abholen." Sie reibt ihr Gesicht an ihrer Schulter und bemüht sich, fröhlich zu klingen. "Erzähl mir lieber noch was. Lenk mich ab. Wie läuft es mit deinem Praktikum?"

Judite grummelt leise. "Das willst du gar nicht wissen."

"Bist du immer noch auf der KJ?"

"Nein, auf der Geschlossenen. Aber da ist es auch nicht wirklich besser."

"Nicht?" Joanna kuschelt sich in die Sofaecke und stützt ihre Schläfe in die Hand, während Judite leise ächzt.

"Lass mich meine Erkenntnis so zusammenfassen: Als ich mir überlegt habe, was zu machen, bei dem ich anderen Menschen helfe, war ich mir nicht darüber im Klaren, dass das bedeutet, dass ich ständig von einem Haufen Menschen umgeben bin, denen es so richtig beschissen geht. Und es ist weniger krass, wenns keine Kinder sind, deren Eltern ich keine reinhauen darf, aber— Ich kann das einfach nicht. Ich kanns nicht. Und ich bin so froh, dass Mama heute kommt und wir drüber reden können. Ich weiß grad echt nicht, wie ich das alles noch zwei Wochen lang aushalten soll. Und als Beruf? Vergiss es."

"Scheiße." Joanna verzieht das Gesicht.

"Ja. Und dass Carmo jetzt schon wegen der Studie voll unter Strom steht, macht es auch nicht besser."

"Wann gehts denn da los? Auch in zwei Wochen?"

"Einer. Also nächste Woche Freitag. Sofern sie das mit dem Zimmer ausklamüsert kriegen."

"Ist das Einzelzimmer jetzt doch nicht frei?"

"Doch, aber eben erst ab Mittwoch. Und Carmo kann sich nicht entscheiden, ob es schlimmer wäre, bis dahin in einem Männerzimmer oder einem Frauenzimmer zu wohnen. Immerhin hat sie die Wahl, aber ist eben beides irgendwie falsch."

"Hm. Vielleicht ergibt sich ja noch was."

"Ja, ich hoffs."

"Ich drück ihr die Daumen."

"Richt ich aus."

"Und du hängst jetzt alles an den Nagel?"

"Nein, das nicht. Ich muss ja nicht in die Therapie gehen. Es gibt ja auch noch die Forschung. Oder ich könnte Pharmazie dazunehmen. Chemie und Medizin find ich schon auch sehr interessant. Aber ich muss trotzdem erst dieses beschissene Praktikum überstehen."

"Armes. Aber es ist doch auch schon fast rum. Und guck, was du schon alles geschafft hast! Auf der Psychosomatik nicht laut geschrien-"

"Erinner mich nicht dran."

"-auf der KJ keine Eltern verprügelt— Es gibt nichts, was du nicht schaffen kannst."

Judite lacht humorlos und wechselt das Handy ans andere Ohr. "Trotzdem danke für dein Vertrauen." Dann hört Joanna, wie sie sich im Wohnzimmer aufs Sofa fallen lässt. "Und was machst du jetzt? Auf vier Flügeln gleichzeitig spielen? In den Badesee springen?"

"Zuerst muss ich noch ein paar Stunden auf dem Cello nachholen. Aber jetzt wo dus sagst, könnt ich mich dazu an den See hocken. Und meine Yogamatte setzt auch langsam Staub an—"

***

Joanna hat ihr Handy gerade wieder beiseite gelegt, als es an der Tür klopft.

Draußen steht Sérafine, und neben ihr am Boden eine prall gefüllte Reisetasche.

"Hast du die ganz alleine hier rauf geschleppt?" fragt Joanna stirnrunzelnd, während sie die Tasche über die Schwelle wuchtet. "Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hätte dir doch geholfen."

"Keine Sorge, in meinem Kofferraum ist noch ein Wäschekorb voller Zeug, den du mit mir zusammen hertragen kannst." Sérafine bewegt ihre schmerzende Schulter. "Ich bin übrigens eurer Katze begegnet." bemerkt sie dann. "Was für ein witziges Tier!"

"Ja, ne?" Joanna zerrt die Tasche bis vor den Kleiderschrank, ehe sie Sérafine zur Haustür folgt.

"Der Name passt auch hervorragend. Tiffi. — Sag, dein Computer ist schon recht alt, oder?"

"Antik. Mein Handy auch. Aber sie funktionieren."

"Ich fahre trotzdem nachher noch mal in die Stadt und besorge dir einen neuen. Ein neues Telefon bekommst du auch." Sérafine lächelt über Joannas verwirrt hochgezogene Augenbrauen. "Louis wird dir ohnehin neue, schönere schenken wollen, wenn ihm auffällt, wie veraltet sie sind. Also warum warten? Und wenn du keine Geschenke annehmen willst, betrachte die Geräte einfach als Leihgaben."

"Hm." Blinzelnd tritt Joanna in die Sonne hinaus. "Aber er hat nicht das Bedürfnis, dir ein neues, schöneres Auto zu schenken?"

"Doch, natürlich. Ich will die Karre auch gar nicht mehr. Aber bis wir uns ein Elektroauto leisten können, fahr ich sie weiter, und wenn ich sie mit Klebeband zusammenhalten muss."

"Verstehe. Wo hast du eigentlich geparkt?"

"Vor dem Tor."

"Uff." Joanna steckt die Hände in ihre Gesäßtaschen. "Kannst du nicht bis hierher fahren?"

"Schon, aber Louis würde im Moment den Gedanken nicht verkraften, dass Reifenspuren auf seiner perfekt unbenutzt wirkenden Einfahrt sein könnten. Ich will nicht, dass er für den Rest des Tages Kies glätten und umgeknickte Unkrautstengel abschneiden muss."

"Du musst es ihm ja nicht verraten."

"Seine Kameras werden das tun."

"Hm. Es geht ihm also wirklich schlecht?"

Sérafine schüttelt nur den Kopf.

"Aber du bleibst hier, bis es ihm besser geht, ja?"

"Ich bleibe so lange du willst."

"Kannst du dir einfach so lang Urlaub nehmen?"

"Sicher. L.É.Mort ist einer unserer wertvollsten Künstler. Ich habe viel Freiraum, wenn es darum geht, für Louis zu sorgen."

Joanna runzelt die Stirn und fummelt an den fusseligen Überresten eines mehrfach mitgewaschenen Taschentuchs in ihrer Hosentasche herum. "Er macht Ausstellungen? Nach allem, was mit seiner Mutter war?"

"Oh, die meisten seiner Werke würde er niemals hergeben. Allein der Gedanke— Aber er hat immer wieder Phasen, da malt er nächtelang ein Bild nach dem anderen, und wenn es ihm wieder besser geht, will er sie nur noch loswerden. Irgendwann stellte sich heraus, dass diese Arbeiten gewissen Menschen etwas geben können, und da Louis sie nur vom Grundstück haben und vergessen will—" Sie hebt die Schultern.

"Hm." Nachdenklich sieht Joanna auf ihre Zehen hinunter. Dabei bemerkt sie, dass Sérafine Mühe hat, mit ihr mitzuhalten, und verlangsamt ihre Schritte. "Verarbeitet er sein Trauma in diesen Bildern?"

"Trauma ist sicher ihr Thema. Aber ob sie ihm helfen, es zu verarbeiten—? Er lässt mich nicht in seine Nähe, wenn er in einer L.É.Mort-Stimmung ist, und er spricht auch nicht darüber."

"Wofür steht eigentlich das E?"

"Für gar nichts. Der Name ist homophon zu elle est mort - sie ist tot."

"Und diese Bilder verkaufen sich?"

"Ja. Es hat sich überraschend schnell eine verschworene Gemeinde von Fans um Louis' Kunst zusammengefunden. Leider ist sie auch überraschend schnell über dieses Stadium hinausgewachsen. Und mittlerweile ist das Ganze zu dem gleichen Zirkus verkommen wie der Rest der populären Kunst. Wenn wir nicht auf das Geld angewiesen wären—" Sérafine macht eine unwillige Kopfbewegung und tritt durch das Tor auf den kaputten Asphalt.

"Hm. Was machen wir eigentlich mit meinem Rechner?" Joanna zieht die Schultern hoch. "Die Festplatte könnte ich schnell ausbauen, aber du hast wahrscheinlich keine Lust, den Rest zu Nico zurückzubringen?"

"Das ist schon in Ordnung. Den Wäschekorb und die Tasche will er ja auch so bald wie möglich wiederhaben." Sérafine steckt den Schlüssel ins Kofferraumschloss, wackelt vorsichtig damit herum, bis sie spürt, dass der ausgeleierte Mechanismus greift, dreht ihn und stemmt schließlich die Klappe gegen den Widerstand der Scharniere auf. "Hältst du hier mal kurz fest?" Sie holt das verstaubte Gehäuse aus dem Kofferraum und stellt es auf den Boden. "Möchtest du wieder einen Computer dieser Machart haben?"

"Also, wenn ich es mir aussuchen darf, hätte ich gern einen Laptop." Joanna grinst.

"Ein bestimmtes Modell?"

Sie schüttelt den Kopf. "Ich will nur Ubuntu drauf installieren können. Oh, und ich brauch ein Gehäuse für die Platte."

"Ich habe keine Ahnung, was das alles bedeutet."

"Ich schreib dir einen Zettel; die Service-Menschen im Laden werden dann schon wissen, was gemeint ist."

"In Ordnung." Sérafine lächelt. "Schreib auch drauf, was für ein Telefon du gern hättest. — Und jetzt zeig mir doch mal, wie du die Festplatte ausbaust. Ich habe so etwas noch nie gesehen."

"Okay." Joanna lässt den Kofferraumdeckel los, der prompt zuscheppert. Dann wischt sie den schwarzen, schmierigen Rückstand, den die Klappe an ihren Fingern hinterlassen hat, an ihrer Hose ab und hockt sich neben den Rechner.

Die Metallabdeckung hat sich verkantet, als Nicolas das Gehäuse zwischen den Wäschekorb und den TFT-Monitor gestopft hat, und lässt sich nicht gleich öffnen. Aber die nur mit zwei losen Schrauben angebrachte Festplatte herauszunehmen, dauert tatsächlich keine zehn Sekunden. "Das wars auch schon." erklärt Joanna, während sie das Gehäuse wieder verschließt.

"Ab in den Wäschekorb damit."

Gemeinsam mit Sérafine wuchtet Joanna den Kofferraumdeckel wieder hoch, hängt sich den Rucksack mit ihrem Verstärker und ihrer Loop Station über die Schulter, stellt den Rechner zurück und hebt den vollgestopften Korb aus dem Wagen.

"Hast du eigentlich inzwischen mit deinem Freund telefoniert?" erkundigt sich Sérafine, während sie den Kofferraum wieder abschließt.

"Nein, nur mit Judi. Auf Nico hatte ich irgendwie noch keinen Bock." Sie seufzt und beugt leicht die Knie, um gleichzeitig mit Sérafine den Korb vom Boden zu heben und hinter ihr durch das Tor zu gehen.

"Ich glaube, er hat unser Gespräch aufgezeichnet."

"Was?" Joanna runzelt die Stirn.

"Ich bin nicht absolut sicher, aber vorsichtshalber habe ich ihm gegenüber auf der Geschichte beharrt, die du auch der Polizei erzählt hast. Ich hoffe, das war in deinem Sinne."

"Hat er dir geglaubt, dass ich heimkommen könnte?"

"Nein. Also solange du es ihm nicht selbst noch einmal sagst, sollte es deswegen keine Probleme geben."

"Hoffentlich." Joanna ändert ihren Griff am Wäschekorb und Sérafine mustert sie ein paar Schritte lang aufmerksam.

"Wie geht es dir eigentlich?"

Joanna zuckt nur mit den Schultern.

"Aber das Zimmer gefällt dir?"

Sie nickt und ein winziges, unwillkürliches Lächeln stupst ihren Mundwinkel nach oben. "Irgendwie ist es sogar zu schön. Ich fühl mich wie ein verranzter alter Sessel, wenn ich drin stehe. — Warum hat er dein Zimmer eigentlich noch nicht eingerichtet?"

Sérafines Antwort ist ein trockenes Lachen, und für eine Weile gehen sie schweigend, ehe Joanna die Luft ausstößt.

"Könnten wir mal die Plätze tauschen? Mein Arm wird langsam lahm."

"Gerne."

Vorsichtig stellen sie den Korb ab und Sérafine knurrt, als sie ihn auf Joannas deutlich schwererer Seite wieder hochzuheben versucht. "Dein Freund hat anscheinend etwas unausgewogen gepackt."

"Kommt mir auch so vor. Sollen wir wieder zurücktauschen?"

"Nein, es geht schon." versichert Sérafine tapfer. "Aber ich frage mich, was da so schwer ist. Bücher wahrscheinlich?"

Joanna schüttelt den Kopf. "Das sollten nicht so viele sein. Es sei denn—"

"Ja?" Sérafine nimmt den Korbgriff in die andere Hand und geht die nächsten Meter rückwärts, um ihren Arm zu entlasten.

"Ach, Nico will schon ewig, dass ich noch mal versuche, die Otherland-Saga zu lesen. Vielleicht hat er die einfach dazu gestopft. Viertausend Seiten würden das Gewicht jedenfalls erklären. — Bedeutet das, dass er hofft, dass ich noch lange hier festhänge?"

"Er klang eher so, als würde er dich am liebsten über seine Schulter werfen und nach Hause schleppen. Vielleicht will er nur nicht, dass du dich langweilst."

"Oder er will, dass ich durchschlafe, bis ich wieder heim darf."

***

Die Tür von Joannas neuem, frisch befüllten Kleiderschrank schließt sich mit einem Klacken. Zeit für das Bücherregal.

Sie holt die Noten aus ihrer Umhängetasche, und auch die paar, die in der Tasche an ihrem Cellokasten stecken, um sie erst einmal als Stapel auf ein Brett in der Mitte zu packen. Ganz zuoberst liegt der Block mit dem tanzenden blauen Elefanten. Joanna hält inne, um die verblichenen Buchstaben zu betrachten. 'Joannas wunderbare Kompositionen'.

Dann stopft sie den Block eilig ganz nach unten in den Stapel und geht zum Wäschekorb. Der ist so schwer, weil Nicolas seine komplette Terry Pratchett-Sammlung hineingeladen hat. Joanna hat ihn nicht daran erinnert, dass sie diese Bücher schon ewig mal lesen wollte; er hat es sich gemerkt und ist von selbst auf die Idee gekommen, dass sie sich freuen könnte.

Ein weicher Ausdruck schleicht sich auf ihr Gesicht, während sie die Bücher ins Regal stellt. Und schließlich gibt sie sich einen Ruck.

"Hey." sagt sie leise, als Nicolas ihren Anruf entgegen nimmt. "Danke für die Pratchetts."

"Joe! Du hast dein Handy also wirklich wiederbekommen?"

"Ja." Sie lächelt. "Rufst du zurück? Meine Prepaidkarte ist fast leer."

"Hm." Nicolas legt auf und kurz darauf ist er wieder am anderen Ende: "Schön, dass du doch noch anrufst."

Joannas Lächeln verpufft und sie sieht auf ihre Finger, die an einem losen Faden am Bündchen ihres T-Shirts herumspielen. "Tut mir leid. Ich hab mich bei Judi festgequatscht, und dann kam Sérafine—"

"Ich hab mir Sorgen gemacht."

"Ich weiß."

Schweigen. Dann seufzt Nicolas. "Du bist immer noch sauer auf mich, weil ich die Polizei gerufen hab. Joe, ich wollte dich einfach nur da raus holen!"

"Nachdem ich dich mindestens dreimal gebeten hatte, es nicht zu tun! Und wie du siehst, regelt Sérafine wirklich alles."

Nicolas schnaubt. "Glaubst du das im Ernst? Die Frau ist doch genau so gestört wie ihr Freund. Sie hat jedenfalls ernsthaft erwartet, dass ich ihr abnehme, dass du freiwillig noch auf dem Grundstück bist, und dass ich zu Kaffee und Kuchen vorbeikommen darf."

"Weil es stimmt. Also, dass du mich besuchen darfst."

Misstrauisch runzelt Nicolas die Stirn. "Wann?"

"Nächste Woche, schätze ich. Wir haben die Details noch nicht abgesprochen."

"Und was musst du für all das tun?"

"Nichts."

"Er hat dir einfach so dein Handy in die Hand gedrückt und gesagt: 'Ach, lad doch deine Freunde ein'?"

"Mehr oder weniger. Und dann hat er sich für alles entschuldigt, waswas er verbockt hat. Und ich glaube ihm."

"Aber gehen lässt er dich nicht."

"Doch. Bald. Okay? Ich versprechs."

"Bald!" Nicolas' Hand landet klatschend auf seinem Oberschenkel. "Ich dreh hier durch, Joe. Ich werde verrückt, wenn ich tatenlos dasitzen und mir Sorgen machen muss und darauf warten muss, dass-" Verärgert bricht er ab.

"Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wirklich nicht. Er wird mir nichts tun. Und außerdem bleibt Sérafine hier; ich bin also nicht mal allein mit ihm."

Wieder ein Rascheln, als Nicolas sich über den Nacken reibt. "Joe, ich trau dieser Sache einfach nicht. Diese beiden Leute sind viel zu schräg. Schicksal? Ein perfektes Kunstwerk? Was zur Hölle? Und hast du mal die Visage von dem Typen gesehen?"

"Er hat dir sein Gesicht gezeigt?"

"Ja, er ist noch mal rausgekommen, um mir zu drohen."

"Oh— Das wusste ich nicht."

"Auf den Anblick hätt ich echt verzichten können. Total abartig."

Unbehaglich schlingt Joanna einen Arm um ihre Knie. "Er hat viele schlimme Sachen erlebt deshalb."

"Das macht es nicht besser. Und es macht es nicht okay, dass er dich einsperrt."

"Ich weiß. Und ich komm doch bald nach hause. In ein paar Wochen. Wirklich."

"Ja. Es sind immer 'ein paar Wochen', Joe. Und ich vermisse dich so sehr."

"Ich weiß."

"Ich will nur, dass du in Sicherheit bist."

"Das bin ich doch! Aber du musst mir glauben, dass ich das schon hinkriege. Bitte! Vertrau mir einfach, okay?"

Stille. Dann stößt Nicolas schwer und genervt die Luft aus. "Ja, ist ja gut."

"Danke." Joanna bemüht sich, zu lächeln und es auch in ihrer Stimme klingen zu lassen. "Mein Nico-Schatz."

"Hm. Aber Joe, ich muss jetzt mal auflegen. Hannibal kommt gleich und ich will vorher noch was CSS recherchieren."

"Okay. Habt ihr den Bug eigentlich gefixt?"

"Ja, die API hat sich nur an ein paar Steuerzeichen verschluckt, die noch in einem der Datensätze drin waren. War nicht schwer zu beheben; einmal nen trim drüber laufen gelassen und das wars. Heute fang ich an, die GUI zu überarbeiten."

"Cool!"

"Ja. Aber vorher muss ich eben noch ein bisschen CSS nachschlagen, also—"

"Okay. Und wir können ja nachher noch ein bisschen texten oder so."

"Hm. Und Joe? Ich liebe dich und du fehlst mir."

"Ich weiß."

"Pass auf dich auf, ja?"

"Immer."

"Na gut. Also bis bald."

"Bis bald." Langsam nimmt Joanna ihr Handy vom Ohr und wirft es neben sich aufs Sofa, reibt über ihre Schienbeine, über ihr Gesicht, ihren Nacken.

Dann steht sie auf, um endlich den Korb fertig auszuräumen.

***

"Und zuguterletzt—" Sérafine kramt einen Stapel 5-Euro-Guthabenkarten aus ihrer Segeltuchtasche und legt sie neben allem anderen auf Joannas Sofatisch. "Ich dachte mir, so musst du kaum überschüssiges Geld auf dein Telefon laden und bist nicht gezwungen, mehr von uns anzunehmen als du willst."

Joanna lächelt überrascht. "Danke."

Sérafine erwidert ihr Lächeln und räuspert sich. "Sag, stört es dich wenn ich hier bleibe und dir zusehe, wie du deinen Computer einrichtest?"

"Öh, nö? Bleib ruhig—" Joanna mustert sie noch einmal kurz, dann lässt sie das Netzteil aus seiner Plastikverpackung rutschen und schließt es urplötzlich gut gelaunt an die Steckdose an. "Du könntest das Handy auspacken. Und das externe Gehäuse. Und du könntest die alte Platte einbauen."

"Bist du sicher?" Sérafine lässt sich auf dem Sofa nieder und stellt ihre Tasche daneben ab. "Ich würde bestimmt nur etwas kaputtmachen."

"Ach Quatsch, das ist total einfach. Pack das Ding mal aus, ich sag dir dann, was du machen musst. "

"Auf deine Verantwortung."

"Klar." Breit grinsend lässt sich Joanna neben sie fallen und stöpselt das andere Ende des Netzteils an den Laptop. "Der erste nagelneue Rechner meines Lebens, und dann auch noch mit mitgeliefertem Ubuntu." Sie nimmt das Gerät auf den Schoß, klappt es auf, schaltet es ein und schiebt die Installations-DVD ins Laufwerk. "Voll geil."

"Ich habe überhaupt keinen Draht zu dieser ganzen modernen Technik. Ich muss für meine Arbeit e-Mails beantworten und hin und wieder etwas recherchieren, aber das mache ich nur im Büro. Wenn ich nicht Louis' Mediathek pflegen müsste, hätte ich zuhause weder einen Computer noch eine Internetverbindung."

"Seine Mediathek?"

"Bilder und Videos von seinen Reisen."

"Ah— Von den Frauen, die er gefunden hat?"

"Auch. Das Meiste sind Aufnahmen von seinen Ausflügen in die Wildnis. Tausende und abertausende von Fotos." Kopfschüttelnd kratzt Sérafine an dem Klebestreifen herum, der die Verpackung des Plattengehäuses geschlossen hält, ehe sie ihr Schweizer Messer aus der Tasche kramt und ihn kurzerhand durchschneidet. "Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich war, als digitale Kameras aufgekommen sind. Ich hatte diese Phantasie, dass ich von da an nicht mehr hunderte von Filmen zum Entwickeln bringen und nach Thema geordnet in Kartons sortieren muss. Aber Louis hat mich natürlich gebeten, all seine alten Sachen hochauflösend einzuscannen. Es gibt Dienstleister für so etwas, aber bei den Mengen, die er produziert hat— Nicht zu bezahlen." Seufzend dreht sie das Plattengehäuse in den Händen, legt es auf den Tisch, das Päckchen mit den Schrauben, das USB-Kabel. "Und seit er praktisch unbegrenzten Speicherplatz mit sich herumtragen kann, sieht er erst recht keinen Grund mehr, nicht jede noch so kleine Kleinigkeit, die ihm ins Auge fällt, zu fotografieren oder zu filmen, und dann darf ich alles nach Thema sortieren, weil er immer erst einmal einen Monat durchschläft, wenn er wieder zuhause ist, und nur gerade genug Energie hat, sich wegen seiner unsortierten Aufnahmen Stress zu machen. Manchmal bin ich kurz davor, alles auf einen Haufen zu werfen und anzuzünden. Oder zu löschen. Alles markieren und löschen."

Joanna griemelt. "Das kann ich verstehen."

"So, und wie bekomme ich die Platte jetzt da hinein?"

"Da ist ein innerer Teil, den kannst du rausziehen. Genau. Und auf diesen Stecker da stöpselst du die Platte."

Ein wenig übervorsichtig manövriert Sérafine die Platte an ihren Platz, doch schließlich sitzt sie fest. "Und jetzt schraube ich alles zusammen?"

"Genau. Siehst du, du bist ein Naturtalent."

Sérafine lacht und klappt den Schraubendreher an ihrem Messer auf. "Du übertreibst. — Wie ist eigentlich dein Gespräch mit deinem Freund gelaufen?"

Joanna zuckt mit den Schultern. "Er hat versprochen, sich rauszuhalten. Mal wieder—"

"Besser als nichts! Würdest du ihn fragen, wann ich ihm den alten Computer und den Wäschekorb vorbeibringen kann?"

"Klar."

"Danke." Schweigend legt Sérafine das fertige Gehäuse in seinen Karton zurück, während sich das Installationsprogramm auf dem Monitor dem Ende nähert.

Irgendwann bemerkt Joanna, dass Sérafine nicht die Fortschrittsanzeige, sondern sie mustert, und runzelt die Stirn. Aber ehe sie etwas sagen kann, räuspert sich Sérafine und erwidert ihren Blick beinahe schüchtern.

"Sag mal— Darf ich dich etwas zu unserem Gespräch gestern fragen?"

Joanna zögert. "Okay?"

"Hattest- hattest du wirklich das Gefühl, das ich dich manipuliere? Weil ich ehrlich meine Gabe nicht benutzt habe und-" Sérafine bricht ab. "Ich hatte das Gefühl, einfach dem- natürlichen Fluss unserer Unterhaltung zu folgen."

"Und ich hatte das Gefühl, dass du es ganz bewusst provozierst, dass ich mehr sage als ich will."

"Das tut mir leid, wirklich. Ich wollte nur für dich da sein." Zerknirscht verschränkt Sérafine ihre Finger miteinander. "Und du denkst, dass ich unbewusst meine Gabe benutzt habe?"

"Das wäre eine Erklärung."

"Also- Also du glaubst mir, dass ich Gefühle sehen kann?"

Joanna hebt eine Schulter. "Ich weiß nicht. Aber vielleicht ist es Synästhesie oder so?"

"Was?" Sérafine runzelt die Stirn.

"Synästhesie. Wenn Zahlen eine Farbe haben, oder Worte einen Geschmack. Vielleicht gibt es sowas auch für Körpersprache und Mimik und so."

"Sün-?"

"Synästhesie." Joanna buchstabiert das Wort und Sérafine scheint einen Moment lang darauf herumzukauen, ehe sie sich wieder an die Frage erinnert, die sie eigentlich hatte stellen wollen.

"Aber warum sollte ich dich unbewusst zu etwas zwingen, das du gar nicht willst?"

"Weil du denkst, dass ich es wollen sollte?"

Wieder verstreicht ein Moment in dem Sérafine nur vor sich hin starrt, stirnrunzelnd und sichtlich aufgewühlt, ehe sie Joanna ansieht. "Wenn- ich das alles unbewusst tue, dann- Es könnte öfter vorkommen."

"Bewahrheiten sich denn deine Vorurteile anderen Leuten gegenüber oft?"

"Das würde ich nicht sagen. Ich komme beruflich mit jedem sehr gut zurecht. Meine Künstlerinnen arbeiten alle gern mit mir und sind eigentlich immer glücklich mit ihren Ausstellungen."

"Und privat?"

Sérafine zuckt mit den Schultern. "Privat habe ich nicht so viel Glück."

"Also da bewahrheiten sich deine Vorurteile."

Ein kurzes, leeres Starren folgt, ehe Sérafine protestiert: "Aber du bist die erste, die jemals dachte, ich würde sie manipulieren!"

"Auch von denen, die von deiner 'Gabe' wussten?"

"Du und Louis, ihr seid die einzigen, denen ich davon erzählt habe."

"Äh—" Baff schüttelt Joanna den Kopf. "Du hast deinen anderen Freunden nichts davon erzählt?"

"Ich setze meine Gabe doch nur ganz selten ein. Eigentlich nur, wenn es in einer Beziehung Probleme gibt und ich nachsehen will-"

Joanna unterdrückt den Impuls, eine Hand vor die Stirn zu schlagen, und Sérafine senkt beschämt den Blick.

"Aber du hast bestimmt einen guten Grund, warum du diese Sache verheimlichst. Oder?"

"Ja. Natürlich." Sérafine stößt die Luft aus. "Ich will normal wirken."

"Und das will doch jeder." Joanna lächelt aufmunternd.

Aber Sérafine erwidert den Ausdruck nur unverbindlich und mit zusammengepressten Lippen. "Das mag sein, aber die wenigsten haben so viel zu verbergen wie ich. — Na gut." Sie nimmt ihre Tasche vom Boden, ehe sie aufsteht. "Ich danke dir für deine Aufrichtigkeit. Ich fahre gleich noch einmal in die Stadt, um Schlüssel nachmachen zu lassen und ein Gerät namens 'wLAN-Repeater' zu besorgen. Brauchst du noch irgendetwas, das ich dir mitbringen könnte?"

"Mmh— Nein, im Moment nicht. Danke."

"Dann bis später."

"Bis später."

Tag 15

Es ist drei Uhr Morgens. Seit Stunden schon liegt er schlaflos auf der Seite und starrt in die Dunkelheit. Sérafine schläft, doch erst seit kurzem.

Vorgestern, als endlich alle Furcht von ihm abgefallen war, hatte er solche Erleichterung empfunden.

Die Welt, seine Welt, hatte geendet und er war endlich frei. Die Schwere, gegen die er so lange angekämpft hatte, senkte sich über ihn wie eine warme Decke, und er durfte es zulassen. Durfte aufgeben, alles loslassen, und war bereit zu sterben, in einer so friedvollen Weise, dass er es kaum glauben konnte.

Doch wie immer fand Sérafine einen Weg, ihn am Leben zu halten. Gerade lange genug, damit seine innere Bereitschaft abebben und etwas anderes ihren Platz einnehmen konnte. Das Gefühl, noch nicht gehen zu dürfen. Das Gefühl, noch immer in fundamentaler Weise eingesperrt zu sein. Es sitzt in seiner Brust, wie ein Nachbild, das auf der Netzhaut flimmert, wenn man längst wieder aus dem Licht in die sichere Dunkelheit geflohen ist.

Er muss sich den Tod erst noch verdienen. Muss etwas leisten, etwas beweisen, etwas rechtfertigen. Aber was, oder wie? Und wem sollte er das Resultat seiner Mühen präsentieren? Ohne das Schicksal gibt es doch niemanden mehr, der über ihn und sein Leben richten kann.

Und es ist egal.

Es ist egal. Es ist egal! Alles ist egal, wenn er erst tot ist!

Doch es dringt nicht zu ihm durch. Er fühlt sich weiter gehetzt und nicht als Herr über sein Leben.

Grimmig kämpft er sich auf die Füße, um im Schein der Anzeige seines Telefons die Holzdose aus Sérafines Tasche zu nehmen. Erstarrt, als ein leises Rascheln und Murmeln vom Bett herüber klingt. Harrt reglos aus, bis wieder ruhige, tiefe Atemzüge zu hören sind, und steigt ins Atelier hinauf.

Dort, in einem Rechteck aus Mondlicht auf dem Arbeitstisch, liegt noch immer das Notizbuch. Die schwarze Mappe, abgenutzt von all den Transporten in Rucksäcken und Koffern, von Hitze, Staub und Luftfeuchtigkeit.

Wo auch immer er war, von der ersten Reise an, dieses Buch war bei ihm. Genau so wie die uralte SX-70, für die seit Jahren schon keine Filme mehr hergestellt werden, und die er nun von ihrem Platz auf dem Aktenschrank herunter holt.

Sacht legt er sie neben dem Notizbuch auf den Tisch, berührt ihre Ecken und Kanten, als wäre es das erste Mal, dass er einen solchen Gegenstand in der Hand hält. Denn so fühlt es sich an. Als wäre diese Kamera fremd. Genau wie die Mappe, über deren geöffneten Reißverschluss er nun streicht. Das Notizbuch. Als wären beide nur sonderbare, namenlose Artefakte aus einer lang vergangenen Zeit.

Nachdenklich steht er auf und trägt die Kamera in die Holzwerkstatt hinüber, wo er sie im Licht einer Arbeitslampe mit einem Schraubendreher in ihre Einzelteile zerlegt, und alles verbiegt und zerbricht, was sich biegen und brechen lässt.

Danach, zurück am Arbeitstisch, schlägt er das Notizbuch auf, um all die Fotografien herauszunehmen. Fremd-bekannte Gesichter, die er neben sich auf einen Stapel legt, bis er zuletzt Joanna erreicht, deren Abbild nur lose zwischen die Seiten geklemmt ist.

Sie sieht schrecklich blass aus. Verwirrt. Ängstlich. Es presst die Luft aus seinen Lungen. Ein Brennen in seine Augen.

Sérafine hatte behauptet, es würde Joanna verletzen, wenn er sich umbringt. Er war zu durcheinander gewesen, um darüber zu diskutieren.

Später, als er wieder sprechen konnte, musterte Sérafine ihn ernst. "Willst du wirklich, dass sie dich tot daliegen sieht?"

Er zögerte.

"Außerdem wird sie denken, sie hätte etwas damit zu tun. Ganz egal was ich zu ihr sage, sie wird sich schuldig fühlen."

"Sie wird dankbar sein, dass ich fort bin, genau wie du." Er sagte es ruhig, denn es war nur ein Fakt. Aber es schmerzte doch, eine Last zu sein. Nicht besser oder liebenswerter zu sein.

Er begann zu weinen, genau wie Sérafine, nur dass sie untröstlich war, während seine Tränen schnell wieder versiegten. Er schämte sich zu sehr dafür, dass er Sérafine oder gar Joanna gern etwas bedeutet hätte.

Und nun—

Leise trägt er das Notizbuch in die dunkle Glaswerkstatt. Dort reißt er ein Blatt nach dem anderen heraus. Entzündet den Rand des Papiers am Tischbrenner. Sieht zu, wie das Feuer langsam zu seinen Fingern hinüber wandert. Und mit jeder Zahlenreihe, die als weiße Asche zu Boden fällt, stellt er sich vor, dass auch der geistige Käfig weggebrannt wird, in den ihn zwei Jahrzehnte der Angst eingesperrt haben. Doch es dringt nicht zu ihm durch.

Blatt für Blatt. Doch es dringt nicht zu ihm durch.

'Es ist vorbei. Ich darf gehen. Ich muss nicht mehr hier sein.' Doch es dringt nicht zu ihm durch.

Er hält seinen Unterarm an die Flamme des Brenners. Schlägt seine nackte Stirn gegen die Kante des Arbeitstisches. Doch es dringt nicht zu ihm durch.

Und schließlich, schwer atmend auf seine Hände gestützt, wird ihm bewusst, dass er gerade gar nicht einmal unbedingt sterben will. Es wäre ihm recht, wenn es geschehen würde, aber er empfindet nicht das Grauen, das ihn so oft zerfrisst. Die schreiende Verzweiflung, deren Schmerz ihn zerreißt, während die schiere, unerträgliche Anstrengung des bloßen Existierenmüssens seinen Körper, seine Seele und alles, was er ist, unter sich zermalmt.

Er verspürt nicht einmal den Drang, sich zu verletzen; nur die übliche Niedergeschlagenheit, Müdigkeit und Unruhe. So als hätte sich in den vergangenen sechsunddreißig Stunden nichts von Bedeutung verändert.

Und was hat sich schon verändert?

Langsam richtet er sich auf. Streift seine Maske über. Schließt die Augen.

Er könnte jetzt mit mutwilligen Gedanken eine Abwärtsspirale anstoßen, die ihn über kurz oder lang in eine kompromisslos suizidale Stimmung bringen würde. Aber während er da steht, leicht schwankend, die Flamme des Tischbrenners warm in seiner Nähe, erkennt er, dass er genau so gut entscheiden könnte, es nicht zu tun.

Er könnte entscheiden, nach all der Fremdbestimmtheit und Angst einfach noch ein wenig zu leben. Einfach ein paar angenehme Dinge zu tun, solange er noch kann. Vielleicht wird sich sogar wieder Erleichterung einstellen, wenn er ein wenig Klavier spielen, malen oder in den Garten gehen kann, ohne dass dabei ein unausweichliches Muss wie eine Drohung in seinem Nacken sitzt.

Damit würde er Joanna in gewisser Weise hier festhalten, doch andererseits hat Sérafine möglicherweise Recht, dass sie sich zuerst eine Rolle bei seinem Tod zuschreiben würde. Sicherlich käme sie schnell darüber hinweg, doch warum sollte er ihr einen Schmerz zufügen, für den sie sich in keiner Weise entschieden hat, wenn er stattdessen einem von ihr gefassten Entschluss folgen und mit dem Sterben warten kann, bis sie nach hause zurückgekehrt ist.

Ja— Er nickt leicht. Löscht den Tischbrenner.

Es gibt nur eine Sache, die er noch herausfinden muss.

***

Der Nachthimmel ist schwarz, klar und wunderschön, die Milchstraße ein funkelndes Band, das sich von Horizont zu Horizont erstreckt. Kühles Gras raschelt unter seinen nackten Füßen. Grillen zirpen in der stillen Luft.

Am Ufer des Sees legt er sich auf den Rücken, alle Viere von sich gestreckt, und starrt hinauf in das endlose Nichts zwischen den Sternen.

Er war die Galerie entlang geschlichen, bis zu Joannas geschlossener Zimmertür, und hatte sich an die Zarge gelehnt. Er hatte sich gefürchtet. Vor den Gefühlen, die er vielleicht haben würde. Er wollte nicht so empfinden, so-

Langsam hatte er die Luft aus seinem Mund entweichen lassen und sich Joannas friedlich schlafendes Gesicht vorgestellt. Ihren Körper, schwer und warm. Ihren leisen Atem. Ein wohliger Schauer überlief ihn. Das Bedürfnis, sie in die Arme zu schließen und zu streicheln.

Reflexhaft verkrampfte er sich. Auch das Gefühl ballte sich zusammen, verhärtete sich, und erst nachdem er eine Hand fest um das Geländer der Galerie geschlossen hatte, wagte er es, die Spannung loszulassen.

Und zu seinem Erstaunen und seiner Freude wurde das Gefühl nicht stärker oder beißend. Nein, es begann, frei durch ihn hindurchzufließen. Füllte ihn aus. Ließ in weit und leicht werden, während es Türen in seinem Innern aufstieß und Räume flutete, die gestern noch gähnend leer dagelegen hatten.

Es war so wie damals, als er Anjali im Arm hielt und die Nähe und alles Andere zwischen ihnen Sinn ergab. Wie damals löste er sich auf in Zärtlichkeit, und alles an ihm wollte ihre Nähe, wollte sie berühren; auch sein Geschlecht. Aber nicht mit dem fremdartigen, übersteigerten Drängen, das ihn so erschreckt hatte, sondern als Teil von ihm. Als etwas, das sich nicht von seinen Händen, seinen Armen, seiner Brust unterscheidet. Etwas, das trotz der Anziehungskraft still und einfach nur da sein kann, wo es ist, fühlen kann, was es fühlt, nichts tuend, außer weiter zu atmen, in diesem warmen, erfüllenden Sehnen.

Es war berauschend, wieder in dieser Weise ganz zu sein. Ganz er selbst.

Seine Augen fielen zu und er fühlte nur noch. Spürte Joannas Gegenwart. Ihren unhörbaren Atem. Lächelte. Bekam eine Gänsehaut. Überwältigt davon, wie schön dieser Moment war, in dem nichts geschah, nichts getan werden musste, nichts existierte, weder in ihm, noch außerhalb von ihm, das eine Bedrohung darstellte.

Locker verschränkte er seine Arme vor dem Bauch, lächelte noch etwas breiter, und nach einer langen, langen Weile wandte er sich ab.

Langsam setzt er sich im Gras auf. Atmet ein. Atmet aus. Streift seinen Shalwar Kameez ab. Seine Unterwäsche. Seine Maske.

Der schwarze, klare, wunderschöne Nachthimmel spiegelt sich im See und die kleinen Wellen, die von seinem Körper angestoßen über die Oberfläche huschen, lassen die Sterne zittern und tanzen. Vorsichtig hockt er sich nieder und wirft mit beiden Händen das beruhigend kühle Wasser über seinen Scheitel, seine Brust, seine langsam heilenden Wunden.

Er wird noch ein wenig leben. Nur ein kleines bisschen. Bis Joanna ihn wieder verlässt oder die Verzweiflung zurückkehrt.

***

Joanna kämpft gerade darum, die angeschmolzene Margarine nicht von ihrem Messer auf den Terrassentisch rutschen zu lassen, als der Maler aus dem Labyrinth spaziert. Aber sie sieht auf, als Sérafine von der Bank springt.

"Schatz, wo zur Hölle warst du?" ruft sie auf Französisch, während sie zu ihm hastet und all ihre Selbstbeherrschung aufbringen muss, um ihm nicht vor Erleichterung um den Hals zu fallen. "Ich habe überall nach dir gesucht!"

Er bleibt stehen. "Ich bin nur etwas spazieren gegangen."

"Warum hast du dein Telefon nicht mitgenommen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!"

"Ich habe das Heroin und alles bis auf eine Dosis Morphin auf dem Küchentisch zurückgelassen."

"Das habe ich gesehen. Aber mit deiner verfluchten Scherbe hättest du dir immer noch etwas antun-" Ihre Stimme bricht. "Du kostest mich wirklich den letzten Nerv, Louis."

Er reißt seinen Blick von Joanna los, um zuzusehen, wie Sérafine ihre Brille abnimmt und sich über das Gesicht reibt. "Du musst aufhören, so viel darauf zu geben, ob ich lebe oder nicht." sagt er sanft, als sie die Brille wieder aufgesetzt hat.

"Einen Scheiß muss ich!" Damit dreht sie sich um und stampft schniefend zur Terrasse zurück.

"Es tut mir leid."

Sérafine macht eine wegwerfende Geste und Louis sieht ihr unsicher nach, ehe er ihr schließlich folgt.

"Du hast mit ihr gesprochen." stellt er leise fest, als sie sich zurück auf die Bank fallen lässt und ihre Zigarette vom Deckel des leeren Marmeladenglases nimmt, das sie als Aschenbecher verwendet. "Du hast ihr gesagt, dass ich sie gehen lassen würde. Warum hast du das getan?"

Sérafine breitet die Hände aus. "Ich wollte, dass sie Zeit hat, sich über ihre Optionen klarzuwerden. Wenn du dich darüber beschweren willst, schön, aber es war richtig."

"Sie wäre gegangen, wenn du es nicht getan hättest. — Danke."

Überrascht sieht Sérafine ihn an.

Doch er lässt nur die Holzdose an seiner Hüfte klappern, verschränkt seine freie Hand hinter dem Rücken und schenkt Joanna ein strahlendes Lächeln. "Guten Morgen." sagt er auf Portugiesisch.

"Morgen." Sie lächelt schmal und mustert seine ungewohnte, weit fallende Kleidung, ehe sie sich wieder ihrem Frühstück zuwendet.

Der Maler wippt derweil ein paar mal zwischen Ballen und Fersen seiner nackten Füße hin und her. Dann macht er sich beschwingt auf den Weg in die Küche.

Joanna hebt eine Augenbraue und beugt sich zu Sérafine. "Der ist breit, oder?"

"Nein, nur völlig übermüdet." Hustend zwickt Sérafine die brennende Spitze ihrer Kippe ab, ehe sie sie zurück in die Packung stopft. "Ich sehe mal nach, was er jetzt vorhat." Sie will aufstehen, doch in diesem Moment tritt Louis wieder auf die Schwelle zur Terrasse.

"Ich benötige Brandsalbe." sagt er auf Französisch.

"Hast du gerade-?"

"Nein, in der Nacht."

Sie sinkt eine Winzigkeit in sich zusammen und lässt den Kopf zur Seite kippen. "Bitte sag mir, dass es ein Versehen war."

Sie erhält keine Antwort, nur einen ausweichenden Blick, und so kramt sie seufzend eine mit Paketschnur umwickelte Plastikdose aus ihrer Tasche und reicht sie Louis. "Sieh darin nach. Und leg einen Verband an, hörst du?"

"Natürlich." Er will sich abwenden, doch Sérafine kommt ihm zuvor. "Moment, mein Freund. Hast du heute schon etwas gegessen?"

Ein weiches, spöttisches Schulterzucken. Und schon schlendert er in die Küche zurück.

"Manchmal könnt ich ihn an die Wand klatschen." murmelt Sérafine in Joannas Richtung, als ein paar Sekunden später drinnen die Kellertür zufällt. "Seine verdammten Launen. Das macht mich fertig. Wenn er wenigstens darüber reden würde! Aber er sperrt mich aus. In einer Tour, und ich-" Sie bricht ab, seufzt und zieht an ihrer Kippe.

Joanna beobachtet sie unsicher. Dann leert sie ihren Becher und reibt sich über die Schienbeine. "Isst du noch was? Sonst räum ich jetzt den Tisch ab."

"Lass nur. Ich mach das nachher."

"Aber du hast schon gedeckt." Joanna steht auf und stützt die Fäuste auf die Hüften. "Also. Isst du noch was?"

Sérafine lächelt. "Nein danke, Liebes, ich bin satt."

"Gut. Dann räum ich jetzt ab und du rauchst in Ruhe."

***

Sie hat bereits eine SMS an Judite und Nicolas geschickt, um den beiden mitzuteilen, dass sie wahrscheinlich bald online sein wird, und ist gerade damit beschäftigt, mit ihrem neuen Handy herumzuspielen, als der Maler anklopft.

"Ich habe soeben den zusätzlichen Repeater eingerichtet." erklärt er, während Joanna ihren Rechner auf den Schoß nimmt und die Netzwerkeinstellungen aufruft. "Der Empfang sollte also sehr gut sein."

"Und das Netzwerk heißt 'Réseau'?"

"Ja."

"Willst du das Passwort selber eintippen?"

"Nein." Er streckt ihr seine Hand hin, eine Visitenkarte mit einem langen französischen Satz darauf zwischen seinen dürren Fingern.

Joanna nimmt sie entgegen. "Der ganze Satz?"

"Ja."

Sie tippt, bestätigt und öffnet ihren Browser, der auch gleich brav die Startseite lädt. "Funktioniert."

"Sag mir bescheid, sollte die Verbindung Probleme machen."

"M-hm." Sie hebt den Kopf, als er sich abwendet. Zögert. Dann räuspert sie sich. "Ach so, Maler?"

Er hält inne und dreht sich langsam zu ihr. "Louis." sagt er leise.

"Hm?"

"Mein- mein Name ist Louis."