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Thorben Mämecke

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Beschreibung

Im Jahr 2021 sind Self-Tracking-Technologien ein fester Bestandteil gesellschaftlicher Alltagspraxen. In der Gegenwart von Corona-Tracing-Apps und Social Scoring erinnert kaum noch etwas an die frühen Prototypen der technologieenthusiastischen Self-Tracker*innen. Thorben Mämecke wirft einen Blick auf die intensiven Beziehungen, die diese Pionierprojekte untereinander gepflegt haben, und zeichnet dabei die sie bestimmenden Phänomene nach: angefangen bei der Ellenbogenmentalität der prekären Kreativökonomie bis zum progressiven Selbstbestimmtheitsstreben von Self-Tracker*innen mit chronischen Erkrankungen.

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Dr. Thorben Mämecke ist wissenschaftlicher Geschäftsführer des Forschungsschwerpunktes digitale_kultur an der FernUniversität Hagen. Er forscht und lehrt mit besonderem Fokus auf Subjektivierung und Gouvernementalität im Kontext von progressiven Technologiediskursen, Dataveillance und Verhaltenskontrolle. www.dasquantifizierteselbst.de

Thorben Mämecke

Das quantifizierte Selbst

Zur Genealogie des Self-Trackings

Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministerium für Bildung und Forschung im Open Access bereitgestellt.

Diese Monografie wurde 2018 an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

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Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Thorben Mämecke

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagcredit: »DQS« von Thorben Mämecke

Print-ISBN 978-3-8376-5603-9

PDF-ISBN 978-3-8394-5603-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-5603-9

https://doi.org/10.14361/9783839456033

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

I. Einleitung

1Was ist Self-Tracking?

2Das Forschungsprogramm

II. Methodisches Vorgehen

1Die Beschreibung progressiver SelbstverdatungSelf-Tracking im Schnittfeld von Diskursanalyse und Gouvernementalitätsstudien

1.1Die Unordnung der Diskursforschung

1.2Zum Verhältnis von Gouvernementalitätsstudien und Diskursforschung

1.3Diskursanalyse als induktives Verfahren

1.4Aufsteigende Analyse und aufsteigende Methodenbildung

2Herausfinden, ob die Maschine läuft und was sie produziertDas Instrumentarium der Feinanalyse

2.1Gegenstände und Formationsregeln – Self-Tracking als Diskursgegenstand

2.2Datentypen und numerische Äußerungsmodalitäten

2.3Korpusbildung – Die selbstregistrative Praxis des Self-Trackings

2.4Herkunft und Ursprung – Diskursanalyse, Genealogie und Narrativität

2.5Populäre Ursprungsnarrative des Self-Trackings

III. Die Analyse des Self-Tracking-Diskurses

1Von Quetelet bis Quantified SelfStatistische Regulation im soziotechnischen Wandel

1.1Verdatung und Regulation – Von der Anthropometrie zur Sozialstatistik

1.2Verdatung und Selbstregulation – Reflexive Sozialstatistik und Verbreitungsmedien

1.3Selbstverdatung und Selbstregulation – Statistik und interaktive Internetmedien

2Self-Tracking im Schnittfeld progressiver Technologiekulturen und Kreativitätsdispositive

2.1Interdiskursbeziehungen: Technologieinnovation und Kreativwirtschaft

2.2Die diskursive Eigendynamik des Prekarisierungsbegriffs

2.3Self-Tracking und Kreativwirtschaft

2.4Datataining, Data Selfies, Data Artists

2.5Datenmacht

2.5.1Data is the new oil: Interdiskursbeziehungen zwischen Self-Tracking und Big Data

2.5.2Data is not the new oil: Naturalisierung und Politisierung von Daten und ihrer Erzeugung

2.5.3Doing Data

2.5.4Self-Tracking und Privacy

3Subjekt und Daten

3.1Das Selbst des Körpers und des Gefühls

3.2Das Selbst der zeitlichen Entwicklung

3.3Das Selbst der Routinen

4Der Datenhoheit den Kopf abschlagen

4.1Optimierung und Empowerment bei Quantified Self

4.2Die Mechanik der Macht und die soziale Orthopädie des Taylorismus

4.3Über den »bebenden Sockel der Kräfteverhältnisse« – Zur Ambivalenz des Begriffs der Arbeitskraft

4.4»In praise of a paradox« – Der Freiheitszwang des Empowerment

4.5Selbstoptimierung oder »die Zeit anders leben«

4.6Disziplin und Selbstdisziplin

4.7»A Calling to Account«

5Quantrepreneure und der Individualismus der Prototypen

5.1Quantified Self und die Verbreitung von Self-Tracking-Technologien

5.2A Community of like-minded others – Individuelles Tracking und überindividuelle Vergleiche

5.3Selbstwertsteigerung und Ressourcenplanung im Ich-Unternehmen

5.4Work/Workout-Balance – Resilienzstrategien im Home Office

6Selbstvermessung und Betriebliches Gesundheitsmanagement

6.1Interdiskursbeziehungen: Burnout und Self-Tracking in Unternehmen

6.2Interdiskursbeziehungen: Quantified Self und Self-Tracking in Unternehmen

6.3Belastung und Anpassung – Partizipative Approximation nachhaltiger Leistungsfähigkeit

6.4Self-Tracking als Teil einer kompetetiven Selbstsorgekultur

6.5Interdiskursbeziehungen: Self-Tracking und partizipatives Risikomanagement im Gesundheitswesen

IV.Schluss

1Progressive Selbstverdatung oder die Pflicht zum Wissen

2N=1 taugt nicht zum Prinzip

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

I.Einleitung

1Was ist Self-Tracking?

Was sind Self-Tracking-Technologien und worin begründet sich ihre rasante Karriere, die sie in nur wenigen Jahren aus den Makerspaces in die App-Stores und das Inventar der Elektrofachgeschäfte befördert hat? Um diese Fragen beantworten zu können und dabei die Ebene der reinen Deskription zu verlassen, erscheint es zunächst vielversprechend, sich anzusehen, was diese Tracking-Technologien in ihrer Unterschiedlichkeit verbindet, worauf hin sie sich ausrichten und zur Erfüllung welcher Vorstellungen sie entwickelt und hergestellt werden. Oder genauer, was diese Technologien selbst herstellen. Die voraussetzungsvolle Antwort, die zugleich eine weiterführende Frage ist, gibt den Titel dieser Forschung vor: Das quantifizierte Selbst.

Dieses Selbst ist keine essentielle Kategorie. Kein Element eines im Innern von Menschen liegenden Wesens. Es ist vielmehr selbst ein heuristisches Konzept und beschreibt keine vorfindbare Entität.

Die Skizzierung des quantifizierten Selbstes erfolgt hier auch nicht auf der Ebene von Individuen und der Beobachtung ihrer Praktiken, sondern auf der Ebene ihres diskursiven Austausches. D.h. das quantifizierte Selbst wird im Folgenden subjekttheoretisch apostrophiert und als das vorläufige Ergebnis und das Ziel der Bemühungen, Zwänge, Deutungskämpfe und der Probleme betrachtet, die durch die Herstellung eines bestimmten Selbstbezugs gelöst werden sollen. Eine solche Analyse betrachtet Self-Tracking und quantifiziertes Selbst nicht als kausalen Zusammenhang, sondern als voneinander abhängige Elemente des gleichen Diskurses, wobei sie gerade die Netzwerkartigkeit und Verweisungsvielfalt dieser Elemente betont und sich der Suche nach genuinen Ursprüngen oder individuell identifizierbaren Produzent*innen verwehrt. Aus dieser Perspektive erscheint der Diskurs somit als »Produktionsort« dieses Selbstverhältnisses und der dafür angewendeten Technologien.

Schon seit einigen Jahren hat die Ausrufung von Selbsten durch poststrukturalistische Analysen und Theorien regelrecht Konjunktur. Das quantifizierte Selbst ist dieser Konjunktur sicher zuzurechnen, es ist aber kein antagonistisches Konzept, das an Stelle anderer Konzeptionen für sich beansprucht, die zentrale Erklärungsfolie für zeitgenössische gesellschaftliche Entwicklungsprozesse abbilden zu können. Es ist allerdings auch nicht auf einen singulären Technologieentwicklungsdiskurs reduzierbar; denn die Analyse die es konturiert beschränkt sich nicht im Sinne einer Organisationsforschung auf die formalen Strukturen der Communities die es umgeben. Das quantifizierte Selbst stellt auch nicht lediglich ein weiteres Exempel für die verschiedenen Varianten dar, in denen sich Selbstverständnisse als Ergebnis unternehmerischer Selbstführungs-, Kreativitäts- oder Gesundheitsimperative herausbilden. Vielmehr ist es eine Mischung aus Selbst- und Fremdbeschreibungen, die zeitgleich neben anderen Subjektivationszielen auf Individuen einwirken kann und auch nur in Überschneidung mit ihnen existiert.

So setzt es etwa die gesellschaftlichen Leitbilder der unternehmerischen Selbstrationalisierung ebenso voraus, wie die Imperative der kreativen Selbstverwirklichung oder die immer selbstverständlicher werdende Erwartung, das eigene Leben nach Maßgabe der körperlichen und geistigen Gesunderhaltung zu organisieren.

Die Skizzierung der Modi, in denen sich diese mitunter verschiedenen und teilweise gegenläufigen Erwartungen zu einer konsistenten Zielfolie für Selbstentwürfe verbinden, ist daher einer der Ansatzpunkte dieser Analyse.

Anders als die meisten gouvernementalitätstheoretisch ausgerichteten Analysen, die vornehmlich Agenturen und Institutionen in den Blick nehmen, die zu einer bestimmten Selbstwahrnehmung drängen, steht im Zentrum dieser Analyse, das Drängen des Diskurses selbst, in dem politische oder medizinische Autoritäten, Life-Coaches oder Ökonom*innen eine Rolle spielen, der sich aber nicht auf ihre Empfehlungen und Ermahnungen beschränkt.

Die Analyse des Self-Tracking-Diskurses trägt damit dem Umstand Rechnung, dass es lange offenkundig keine gouvernementale Agentur gab, die forderte: »Vermiss dich selbst!« Vielmehr beginnt die Analyse in entgegengesetzter Perspektive und rekonstruiert Teile des umfangreichen dezentralen Austauschprozesses, der nach und nach zur Entwicklung und Anwendung von Selbstvermessungstechnologien geführt hat, ehe das Self-Tracking schließlich auch zum Ziel von Vereinnahmungsstrategien z.B. gesundheitswirtschaftlicher Akteure wurde.

Eine Besonderheit dieses Diskurses liegt dabei darin, dass die Suche nach der Definition des quantifizierten Selbst eine Forschungsfrage ist, die auch die numerischen Selbsterforschungen des untersuchten Diskurses anleitet. Als Quantified-Self-Community beschreibt sich ein Zusammenschluss von Self-Tracker*innen, der sich nicht nur der Entwicklung, sondern auch an der Verbreitung von Self-Tracking-Technologien verschrieben hat und der eine entscheidende Rolle in der formalen Organisation des Diskurses einnimmt. Schon an den Titeln ihrer Konferenzvorträge, Blog-Einträge oder Feuilleton-Artikel lässt sich deutlich ablesen, dass sie Selbstquantifizierungstechnologien als Emanzipationsstrategie und Möglichkeit zur Erlangung von Selbstbestimmtheit ansehen. Durch die Selbstbeschreibung als progressive Bewegung ergibt sich aus der induktiven Analyse, der im Diskurs des Selbstvermessens artikulierten Motive, so auch ein unmittelbarer Zusammenhang mit machttheoretischen Fragen.

Während das Versprechen der Quantified-Self-Community allerdings darin besteht, durch mehr Wissen über sich selbst auch mehr Macht zu erlangen, lässt sich durch eine an Foucault anschließende Analyse zeigen, auf welche Weise Macht vielmehr das Wissen formt, das durch Self-Tracking generiert wird.

Bei der Untersuchung der Frage wie die Begriffe Emanzipation und Selbstbestimmung im Self-Tracking-Diskurs mit Bedeutung ausgestattet werden und welche Wege für ihre Verwirklichung beschritten werden, tritt die Analyse in Distanz zu den im Diskurs vorherrschenden Motiven und rekontextualisiert dominante Narrative (wie z.B. den Fortschrittsoptimismus der Quantified-Self-Mitglieder, der Emanzipation und Selbstbestimmung mit Individualität gleichsetzt) als diskursive Subjektivierungsprozesse, die im Zeichen der Individualisierung neue Formen der Selbstüberwachung und -kontrolle forcieren.

Diese Verschiebung bewegt sich somit vor allem im Spannungsfeld zwischen Aspekten der Selbstbestimmung und der Selbstregierung. D.h. das quantifizierte Selbst fordert vor allem in den gesellschaftlichen Bereichen Gesundheit und Arbeit das vormals alternativlos erscheinende Vertrauen in die Expertisen fachlicher Autoritäten und gesellschaftlicher Wissensreservoirs wie z.B. Bevölkerungsstatistiken heraus, stellt ihnen das individuelle Wissen der Selbstvermessung entgegen und wendet es letztlich nach ganz ähnlichen Prinzipien auf sich selbst an. Diese Untersuchung widmet sich daher dezidiert der Frage in welcher Weise Selbstbestimmung, (Selbst-)Disziplinierung und biopolitische Regulierung im Diskurs der Selbstvermessung miteinander verschmolzen sind.

2Das Forschungsprogramm

Nach einer Beschreibung des methodischen Aufbaus der Arbeit, und der epistemologischen Grundprämissen (Abschnitt II. 1ff.), die mit einer Verhandlung der Konzepte »Ursprung« und »Herkunft« schließt (Abschnitt II. 2.4), beginnt die Analyse bei der Beschreibung von Ursprungsnarrativen, die innerhalb des Diskurses selbst verhandelt werden (Abschnitt II. 2.5).

Abseits der dort vorherrschenden Suche nach genuinen ersten Self-Tracker*innen, wird das Aufkommen von Selbstvermessungstechnologien hier wissenshistorisch im Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung von numerischem Wissen im Allgemeinen betrachtet. Den im Diskurs überwiegenden Versuchen eine Ursprungsgeschichte der Self-Tracking-Technologien zu zeichnen, stellt dieser genealogische Exkurs die Herleitung des quantifizierten Selbst gegenüber, das sich zunächst unabhängig von Self-Tracking-Technologien, parallel mit statistischen Fremd- und Selbstbeschreibungsformen der Gesellschaft entwickelt (Abschnitt III. 1ff.).

Der Abschnitt folgt der Annahme, dass sich der Wandel von Vermessungsformen in weiten Teilen äquivalent zu einem Wandel entsprechender Subjektivationsformen vollzieht. Während die biopolitische und zentralistische Vermessung des Individuums im Zusammenhang mit seiner Disziplinierung auftritt, sind mit der Veröffentlichung von Statistiken, also der medialen Verbreitung numerischer Wissensformen, zunehmend Selbstregulationsprozesse zu verzeichnen. In Ergänzung zu diesen idealtypisch unterschiedenen Verdatungsphasen wird im Zuge der vorliegenden Analyse nun eine dritte Verdatungsphase ergänzt, in der sich neben der regulativen Subjektivation anhand von statistischen Daten über Individuen nun auch eine Dezentralisierung der Erhebungs- und Analysemittel derartiger numerischer Wissensbestände vollzieht.

Die hieran anschließenden Abschnitte untersuchen diese Dezentralisierungsprozesse dann genauer auf der Ebene des sich um die Entwicklung von Self-Tracking-Technologie herausbildenden Diskurses und seiner Schnittmengen mit vorgängigen und angrenzenden (Teil-)Diskursen.

So geht Abschnitt III. 2 zunächst der Frage nach, warum der Begriff des Self-Tracking ausgerechnet in den wissensintensiven Arbeits- und Konsumtionsmilieus westlicher Postindustrienationen das erste Mal formuliert wird.

Trotzdem sich der Self-Tracking-Diskurs in einem weltumspannenden Netzwerk aus Medientechnologien entfaltet, ist sehr auffällig, dass er thematisch nicht selten lokalspezifische Probleme westlicher Technologiemetropolen behandelt. Es sind auch die hier angesiedelten Tech-Communities, die die Infrastruktur regionaler Diskursveranstaltungen wie Konferenzen und kleinerer Talks gewährleisten.

Zu Beginn wird der Diskurs auf Zusammenhänge zwischen Innovationsprozessen und regionale (Arbeits)kulturen sowie Wirtschaftsstrukturen befragt, denn der Self-Tracking-Diskurs ist über viele Elemente, wie ökonomische Prekarisierung, Individualismus, Unkonventionalität, allgemeine entrepreneuriale Kultur und technologieutopistische Problemlösungskreativität, mit anderen Diskursen verbunden. Im Detail wird hier dann nach dem Einfluss gefragt, den die technologiepolitische Regionalentwicklung auf die Diskursorganisation und die Entstehung von Self-Tracking-Technologien ausübt. Anstatt Self-Tracking-Technologien aber als das direkte Ergebnis lokaler Förderprogramme zu beschreiben, werden vielmehr Top-Down-Perspektiven (wie gouvernementale Steuerungsbemühungen der lokalen Wirtschaftspolitik) mit der Bottom-Up-Perspektive auf die Tech-Communities vermittelt.

Zusammengenommen dienen die hier freigelegten interdiskursiven Zusammenhänge als ein erster Hinweisgeber auf die spezifische Subjektivität, die als Ursprung und Ziel die Entwicklung von Self-Tracking-Technologien anleitet.

Diese Subjektivität ist dabei durchaus als ein Ausdruck von gesellschaftlichen Leitbildern wie z.B. der kreativen Unternehmerin und wirtschaftspolitisch forcierten Subjektivierungsprogrammen anzusehen, sie ist aber nicht mit ihnen gleichzusetzen. Sinnbildlich für die produktiven Elemente des Foucault’schen Machtkonzeptes zeigt sich in diesem Teildiskurs vielmehr ein Subjekt, das die fordernden und fördernden Agenturen inzwischen selbst durch animierende Parolen zur Herstellung der Bedingungen bewegen will, die für die Entwicklung von kreativen Projekten und Unternehmen nötig sind.

Obgleich sich die jüngere Geschichte der Verdatung, die auch die Vorgeschichte der Selbstverdatung darstellt, eng mit der Entstehung ökonomischer Prozesse vollzieht und zuallererst mit Rationalisierung assoziiert wird, lassen sich die visuellen, numerischen und sprachlichen Artefakte, die durch die Quantified-Self-Community produziert werden, nicht mit puritanischer, unternehmerischer Rationalität gleichsetzen. Sie zeigen vielmehr deutlich, dass die Selbstverhältnisse, die im Zuge der Selbstverdatung angestrebt werden, auch eine Orientierung am libidinös besetzten Ideal der kreativen Künstlerin beinhalten. Kongruent zu der anhaltenden Emotionalisierung moderner Arbeitsformen und der mit ihnen verbundenen Symboliken und Semantiken, lässt sich vielmehr auch ein kreatives Spiel mit den numerischen Erzeugnissen aus Selbstverdatungsverfahren verzeichnen, durch das viele Self-Tracker*innen zwischen ästhetischen Ausdrucksformen und einer technologisch verwirklichten Selbststrenge changieren. Einige der vielen Varianten kreativer Umgangsformen mit Daten, die sich von der vergleichsweise variationsarmen Ästhetik des Rechnungswesen oder sozialwissenschaftlicher Statistiken abgrenzen, ohne dabei aber die durch sie verhandelten Themen wie z.B. Leistung oder belastungsbedingte Gesundheitsschäden zu verlieren, werden daher unter Abschnitt III. 2. dargestellt. Sie werden dabei als ein Ausdruck der enthusiastischen Affizierung technokratischer Arbeitsprozesse durch ein Subjekt beschrieben, das mitunter vom stereotypen Modell künstlerischer, nichtentfremdeter, expressiver Arbeit angeleitet ist. Als Extrembeispiele dienen sie dazu aufzuzeigen, wie die Organisatorin oder Verwalterin ihrer Selbst im Diskurs des Self-Tracking als nonkonforme Kreativunternehmerin reinkarniert.

Der darauffolgende Abschnitt (III. 2.5ff.) leitet zu einer Analyse von Machtfragen innerhalb des Diskurses über. Es zeigt sich dabei deutlich, dass der organisierte Teil des Self-Tracking-Diskurses den Entwicklungen in verwandten Daten-Diskursen aufmerksam folgt und mit eigenen Mitteln an diskursiven Verschiebungen oder Akzentuierungen arbeitet.

Durch die Betrachtung von naturalisierenden Metaphern wird hier herausgestellt, wie Teile der Quantified-Self-Community anhand von Diskursinterventionen charakteristische Begriffe und Sprachbilder aus dem angrenzenden Big-Data-Diskurs aufnehmen und nach eigenen Prämissen politisieren. Die fortschrittsenthusiastische Progressivität der Community wendet sich dabei gleichermaßen gegen die Datenökonomie als auch gegen passive Datenschutz-Argumentationen, denen sie den Wunsch nach mehr Kontrolle über die eigene Verdatung entgegensetzen. Hier wird das erste Mal die kummulative Logik des Self-Tracking-Diskurses deutlich, dernach mehr Daten über sich selbst zu besseren Möglichkeiten der Selbstbestimmung führt.

Der immanente Zusammenhang den Subjektkonzepte und Daten innerhalb des Diskurses ausbilden wird unter Abschnitt III. 3 aufgefechert. Hier werden drei diskursbestimmende Selbstkonzepte differenziert und beschrieben, die jeweils mehr Gewichtung auf Körperfunktionen und Emotionen (3.1), das Selbst im zeitlichen Verlauf (3.2) oder Routinen (3.3) legen. Der gegen Ende des 2. Abschnitts begonnene Bezug zur Großdatenforschung wird in diesem Abschnitt zudem weiter mitgeführt und mit Blick auf epistemologische Verwandtschaften zwischen Self-Tracking- und Big-Data-Diskurs verengt.

Obgleich der Begriff der Optimierung innerhalb des Diskurses kaum verwendet wird, wird er medial besonders häufig mit dem Phänomen des Self-Tracking in Verbindung gebracht. Der vierte Abschnitt widmet sich daher zunächst der Systematisierung von Optimierungs- und Selbstoptimierungsbegriffen im Zeichen des jüngeren (kultur)geschichtlichen Wandels von Arbeit und setzt beide in Beziehung zu den Unabhängigkeitsambitionen der Quantified-Self-Community. Dabei wird deutlich, dass Arbeits- und Leistungsoptimierung und die Erlangung von Selbstbestimmtheit im Diskurs des Self-Tracking nicht als Gegensätze erscheinen. Das Hauptaugenmerk dieses Abschnitts liegt daher darauf, die Modi herauszustellen, durch die sich Selbstoptimierung und die Politisierung von Wissen im Diskurs verschränken. Der Optimierungsbegriff, so wie er seit seiner Genese während der Rationalisierungsbewegung der 1920er Jahre existiert, wird dazu auf der Ebene seiner Prämissen mit den Zielen populärer Selbstvermessungsprojekte verglichen. Wie sich zeigt, lassen sich weder die Optimierungsbegriffe der tayloristischen Betriebswissenschaften, noch die Begriffe der quantitativen Selbstoptimierung mit einer grenzenlosen Steigerung gleichsetzen. Vielmehr stellt in beiden Fällen das angestrebte Optimum ein Leistungsniveau dar, das sich über längere Zeit einhalten lässt. Parallelen bestehen zudem darin, dass in beiden Fällen versucht wird Arbeitsleistung und Gesundheit in ein gemeinsames numerisches Verhältnis setzen.

Zusammengenommen scheinen sich über numerische Selbstvermessungen Optimierungs- und auch Disziplinierungstechniken in moderne Kreativberufe zu übertragen, die ihre Kontur eigentlich über die Abgrenzung zu den rigiden Organisationsprinzipien der tayloristisch-fordistischen Arbeitswelt erlangen. Anders als in den industriegesellschaftlichen Arbeitsbegriffen zielen die Selbstvermessungstechniken aber nicht nur auf die Optimierung des Zusammenspiels zwischen Mensch und Maschine in der Produktion, sondern sind in viel generellerer Weise darauf ausgerichtet, die Produktionsbedingungen als Ganze zu optimieren. In Arbeitsfeldern in denen Arbeit und Selbst zu kongruenten Kategorien werden, meint dies im buchstäblichen Sinne Selbstoptimierung.

Insbesondere das Self-Tracking im Home Office zielt auf eine Subjektivität, die sich gegen die emotionalen Hemmnisse und disziplinarischen Zurichtungen des maschinistischen Betriebskapitalismus richtet und dabei ihre elementaren Prämissen enthusiastisch affiziert, indem sie elaborierte Problemlösungsfähigkeiten innerhalb eines zur Norm erhobenen Klimas der Kreativität und der Eigenständigkeit durch die Erfindung von Selbstoptimierungs- und Selbstdisziplinierungstechnologien unter Beweis gestellt werden.

Die Unabhängigkeits- und Selbsterkenntnisrhetorik, unter deren Vorzeichen derartige Technologien entwickelt werden, versinnbildlicht dabei aus einer Foucault’schen Perspektive sehr treffend das ambivalente Verhältnis zwischen verringerter Fremdbestimmung und einer hierdurch ins Werk gesetzten eigenverantwortlichen Steuerung, die als disziplinarische Kontrolle zweiten Grades durch die Kontrollierten selbst ausgeübt wird.

Dabei richtet sich das Selbstbestimmungsprojekt des Self-Tracking als praktische Form der Kritik gegen den Widerspruch des allgegenwärtigen Ansporns zu mehr Selbstständigkeit im Zeichen der Individualisierung von Risiken und Verantwortung bei gleichzeitigem Ausbleiben einer Individualisierung der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Bemessungsgrundlagen.

Denn die gleichen Agenturen, die das Individuum zu mehr Selbstkontrolle animieren, können selbst nur über Bevölkerungsdurchschnitte Auskunft geben und bieten damit Informationen an, die im Mikrokosmos der Freelancer*innen und ihren hochspezifischen Problemen häufig kaum mehr einen Nutzen haben. Dabei wird das Self-Tracking hier erstmals als eine Strategie deutlich, um von der Rezeption kollektiver Vergleiche zur individuellen Herausforderung dieser Vergleichsbasis zu gelangen. Das Quantifizierte Selbst sieht sich damit in den Aggregaten der Bevölkerungsstatistik zwar nicht genügend repräsentiert, strebt ansonsten allerdings vor allem danach, die Praktiken und Wissensformen der biopolitischen Agenturen auf sich selbst anzuwenden.

Wie sich in Abschnitt 5 zeigt, stößt der kompromisslose Individualismus der Quantified-Self-Community bei der Bemessung von Leistung und Gesundheit aber auch schnell an seine Grenzen, da es sich bei diesen Scores um relationale Einheiten handelt, deren Nutzen sich erst im überindividuellen Vergleich einstellt. Umgekehrt lässt sich sagen, dass sich die (Re)integration von überindividuellen Vergleichswerten im Self-Tracking-Diskurs parallel zu einer steigenden Popularität des Self-Tracking allgemein und der Verbreitung kommerzieller Self-Tracking-Technologien vollzieht, die durch ein hohes Maß an Standardisierung und zentrale Infrastrukturen zumindest annäherungsweise die Orientierungsfunktionen von massenmedial distribuierten Statistiken übernehmen. Anders als in Relation zu den enorm abstrakten Ausschnitten großer Sozial-Panels, so wie sie in den Massenmedien dargestellt werden, sind die Konsument*innen der kollektiven Durchschnitte verschiedener Selbstvermessungstechnologien aber auch unmittelbar ihre Produzent*innen. Zudem können Strategien des Einwirkens auf sich selbst hier unmittelbar Feedback-gestützt getestet und verändert werden, was sie in noch direkterer Weise zu Subjektivationstechnologien macht. Bezogen auf die unter Abschnitt III. 1 vorgenommene, idealtypische Trennung numerischer Selbst- und Fremdbeschreibungsformen im jüngeren historischen Verlauf, lässt sich sagen, dass sich hier die Kernfunktionen der unter III. 1.2 und III. 1.3 beschriebenen Verdatungsphasen verbinden – d.h. die dezentrale Entwicklung von Selbstvermessungstechnologien einerseits und die Reflexivität öffentlich einsehbarer Statistiken andererseits.

Der Abschnitt III. 5.2 führt die Untersuchung von Selbstverdatungsprojekten im Zusammenhang mit postmodernen Arbeitsfeldern und beruflicher Alleinselbstständigkeit weiter, rückt dabei aber zunehmend von der engen Fokussierung auf die Technologieenthusiasten und die experimentellen Prototypen der Self-Tracker*innen ab und betrachtet kommerzielle Verdatungssysteme, die teils von hunderttausenden Nutzer*innen für die Eruierung von Leistung und Gesundheit verwendet werden.

Daten dieser Art bieten zudem die Möglichkeit von einer indirekten Ressource (der Leistungssteigerung) zu einer Ressource zu werden, die direkt in Wert gesetzt oder zur Erhöhung von sozialem Prestige eingesetzt werden kann. Die subjekttheoretisch apostrophierte Selbstvermesserin kann sich als kalkulatorisch versierte Unternehmerin ihrer Selbst nicht nur auf ihre eigene Vermessungshistorie berufen (z.B. um qua Training und organisatorischer Eingriffe die eigene Leistungsfähigkeit zu verbessern), sie ist durch die Daten auch in der Lage ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und sich in bestimmten Kontexten als funktionale und berechenbare Arbeitskraft oder als gesunder und körperbewusster Mensch zu konstituieren.

Der sechste Abschnitt befasst sich noch eingehender mit der Kommerzialisierung und Verbreitung von Self-Tracking-Technologien und zeichnet den Weg nach über den Praktiken der Selbstkontrolle und zugehörige Bottom-Up-Innovationen in vergleichsweise konventionelle Kontrollformen von Angestelltenverhältnissen und des Gesundheitswesens integriert werden.

Interdiskursive Beziehungen zwischen der dezentralen Entwicklung von Self-Tracking-Technololgien und dem Personalmanagement lassen hier den Schluss zu, dass sich Unternehmen und Selbstunternehmen nicht nur mit vergleichbaren Problemen konfrontiert sehen, sondern auch nach ähnlichen Lösungswegen suchen, um sie zu kontrollieren.

Unter der Beschränkung auf spezifische Teilbereiche der betrieblichen Personalentwicklung und der progressiven Selbstverdatung offenbart sich hier ein diskursiver Zirkelschluss: Während die technologieaffinen Freelancer selbstständig Applikationen für das Home Office entwerfen, die eine auffällige Nähe zu den Zeiterfassungssystemen der Großraumbüros aufweisen, orientiert sich nun das in diesen Kreisen vielfach als restriktiv und autoritär angesehene Angestelltenverhältnis an den Überwachungs- und Disziplinartechnologien des unabhängigen Selbstunternehmens. Ein großer Teil der Akzeptabilität betrieblicher Vermessungs-Technologien und -Praktiken begründet sich vielmehr gerade darin, dass technische Verfahren für die Protokollierung und Analyse von Leistung und Gesundheit in den letzten Jahren vor allem außerhalb der Betriebe oder des institutionalisierten Gesundheitsmanagements in den Innovationsnetzen technologieaffiner, emanzipatorischer Subkulturen und Startup-Szenen diskutiert, entwickelt und zur Marktreife gebracht wurden.

Vergleichbar mit dem Mittelwerten überindividueller Selbstverdatungssysteme für das Home Office operationalisieren diese Technologien hier nun in Bezug auf gesundheitliche Präventionskategorien den Anschluss an spezifische Nutzer*innengruppen, Unternehmensbelegschaften oder einzelne Abteilungen. Analog lässt sich auch die Verbindung von individuellem Tracking mit kompetitiven Datenvergleichen innerhalb der Belegschaft als ein neuer Modus deuten, in dem innerbetriebliche Konkurrenz als strukturierendes Organisationsprinzip der Unternehmensfitness aktiviert wird. Über die technologische Verschaltung der Vitaldaten von Angestellten zu numerischen Kollektiven und offen einsehbaren Durchschnitten wird so eine kompetitive Selbstsorgekultur etabliert, die das Spannungsproblem zwischen maximaler Arbeitsleistung und kosteneffizienter Erhaltung der Arbeitsfähigkeit approximativ als Teil einer modernen Personalentwicklung zu lösen versucht.

Die kalkulatorische Logik und der Datenhunger der hieraus entstehenden selbsttragenden Kontrollsysteme machen allerdings bei den Angestellten entsprechender Unternehmen keinen Halt. Unter Abschnitt III. 6.5 werden die zur Zeit generellsten Entwicklungen skizziert, die aktuell aus der Interdiskursbeziehung zwischen Self-Tracking und Gesundheitswesen hervorgehen: So bieten immer mehr global agierende private Versicherungsdienstleister und gesetzliche Krankenkassen spezielle Bonustarife im Zusammenhang mit Self-Tracking-Technologien an, um Klient*innen ein direktes Beobachten und Antizipieren der positiven und negativen Effekte von Verhaltensmustern zu ermöglichen. Die hier vorherrschenden Gefahrenszenarien setzen meist bei sehr allgemeinen Bildern an, die auch über den speziellen Kontext der Arbeitsüberlastung hinaus anschlussfähig sind, dabei allerdings ihre Verbindung zu den Symptomatiken halten, die als spezifische Probleme der postindustriellen Wissensgesellschaft gelten: Allen voran Stress, Bewegungsmangel und schlechte Ernährung. Trotzdem diese Aussagen leicht in Zweifel gezogen werden können, tragen sie doch zu einer diskursiven Sedimentierung einer monokausalen Ursacheninterpretation von im Grunde vielen verschieden und sehr komplexen Krankheiten bei, durch die die Verantwortung erneut individualisiert und Handlungsoptionen noch enger an technologische Lösungen gekoppelt werden.

Durch die Integration von Activity-Trackern in die Berechnung von Versicherungstarifen integriert sich damit auch die inhärente Logik der Versicherungen schrittweise in alltägliche Tagesabläufe. Im Spiegel numerischer Vergleiche werden Tätigkeiten, denen bisher kaum Aufmerksamkeit zugekommen ist, so zu einer potentiellen Ressource im Gesundheitswettbewerb. Mehr noch als im Zusammenhang mit den Wellness-Programmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements kann so zukünftig jeder Alltagsaspekt in den Inklusionssog datengetragener Versicherungsmodelle geraten – wodurch sich auch die kompetitive Grundierung der vergleichenden Selbstvermessung potentiell immer weiter mit unterschiedlichen Lebensbereichen verzweigt. Und das meint in erster Linie die Forcierung von gesundheitsökonomischen Konkurrenzbeziehungen innerhalb von Kohorten, Unternehmensbelegschaften oder Familien. Als das Ergebnis diskursiven Drängens breitet sich die quantifizierte Selbstwahrnehmung so nach und nach in viele Bereich des gesellschaftlichen Lebens aus, die noch vor kurzem von der numerische Sprache und den kalkulativen Logiken der Verdatung unberührt waren. Das quantifizierte Selbst ist auf dem Vormarsch.

II.Methodisches Vorgehen

1Die Beschreibung progressiver Selbstverdatung Self-Tracking im Schnittfeld von Diskursanalyse und Gouvernementalitätsstudien

»From Foucault’s perspective, ›Foucault‹ is not a valid argument for a particular analytical strategy.«Niels Åkerstrøm Andersen

1.1Die Unordnung der Diskursforschung

Seit einigen Jahren sind unter den zahllosen Auseinandersetzungen mit dem vielschichtigen und diskontinuierlichen Werk Foucaults zunehmend Anschlussarbeiten zu verzeichnen, die von hermeneutischen Primärtextexegesen und der Suche nach dem »wahren« Foucault ablassen und »Foucault« in erster Linie als Anregung für pragmatische Konzeptionen von Einzelfallstudien nutzen (Keller 2004: 7ff.). Das unübersichtliche Spektrum an Anschlüssen verzweigt sich vor allem entlang von drei dominanten Differenzierungslinien. Erstens besetzen Kultur- und Sozialwissenschaften, Pädagogik und Geschichtswissenschaften sowie ihre jeweiligen Bindestrichdisziplinen einzelne Begriffe und Gegenstände in Foucaults Werk nach eigenen fächerspezifischen Prämissen. Wobei sie zweitens auf verschiedene Epistemologien und Wissenschaftstheorien rekurrieren. Die unterschiedlichen Akzentuierungen der einzelnen Werkphasen bilden schließlich die dritte Differenzierungsdimension.

Insbesondere politikwissenschaftliche aber auch phänomenologisch-wissenssoziologisch geprägte Diskursforschungen stützen sich in ihren Analysen auf klar abgrenzbare, institutionell verengte Konzeptionen von Diskurs, deren Einheit als deckungsgleich mit z.B. politischen Debatten im Bundestag (vgl. Schwap-Trapp 2006), wissenschaftlichen Spezialdiskursen (vgl. Waldschmidt 2004) oder massenmedial getragenen Prozessen der öffentlichen Meinungsbildung erscheinen (vgl. Mattissek 2010). Charakteristisch für Studien dieses Typs ist die klare Trennung zwischen Theorie und Methode. D.h. sie verbinden entweder das zumindest in Teilen ausgearbeitete Instrumentarium der Archäologie des Wissens (Foucault 1981[1969]) mit sozialwissenschaftlichen Theorien oder die bei Foucault angelegten Theorien mit den jeweils geltenden Methodenstandards einer Inhalts- oder Deutungsmusteranalyse, der interviewbasierten Biografieforschung oder der ethnomethodologischen Konversationsanalyse zu einem klassischen, dualistischen Forschungsaufbau.

Dies mag nicht zuletzt auch damit zusammenhängen, dass Foucault sich selbst keiner Disziplin eindeutig zugeordnet hat und es ebenfalls ablehnte eine eigene Forschungstradition zu begründen (Andersen 2003: 115). Darüber hinaus verfolgte Foucault wechselnde Erkenntnisinteressen, für die er jeweils abgewandelte analytische Instrumentarien verwendete1 und dessen methodische Reflexion über die »Archäologie« hinaus weitestgehend ausblieb.

Das Ergebnis dieser Entwicklung ist ein über Jahrzehnte gewachsenes, diverses Feld der Diskursforschung, in dem unterschiedliche Disziplinen und Teildisziplinen mit unterschiedlichen Schwerpunkt- und Zielsetzungen vertreten sind, welche die Grundzüge der Foucault’schen Diskurstheorie mit anderen Theorie- und Methodenbausteinen kombinieren, rekombinieren oder kontrastieren. Ein voraussetzungsloses Anknüpfen an den Begriff des »Diskurses« scheint angesichts dieser Unordnung der Diskursforschung kaum möglich.

Spätestens seit der postumen Veröffentlichung der Vorlesungen »Sicherheit, Territorium und Bevölkerung« (2004[1977-1978]) sowie »Geburt der Biopolitik« (2004[1978-1979]) wird die Diskursanalyse im deutschsprachigen Raum zudem durch das vergleichsweise junge Forschungsprogramm der Gouvernementalitätsstudien erweitert.

In den folgenden Abschnitten sollen verschiedene Prämissen der Gouvernementalitätsstudien sowie der Diskurstheorie auf der Ebene ihres jeweiligen Erkenntnisinteresses und der Methoden, die sie dafür aufwenden miteinander verhandelt werden. Der Vergleich beider Ansätze wird dabei durch die Frage angeleitet, wie sich eine Untersuchung der konstitutiven Bedingungen von Selbstvermessungstechnologien als Technologien des Selbst theoretisch und forschungspragmatisch positionieren muss, um das wechselseitige Verschränkungsverhältnis freiwilliger, progressiver Nutzung und planvoller Etablierung von Selbstvermessungstechnologien in den Blick zu bekommen.

1.2Zum Verhältnis von Gouvernementalitätsstudien und Diskursforschung

Eines der zentralen, d.h. über die unterschiedlichen Werksepisoden fortbestehenden Forschungsinteressen Foucault’s betrifft die Suche nach den Mechanismen der Herstellung gültigen Wissens, sowie der hierauf begründeten Ordnungen und Subjektformierungen. Es ist insofern eine Suche nach den kommunikativen Bedingungen der Erzeugung sozialer Wirklichkeit, dessen Kulminationspunkt der Diskurs bildet. Foucault hat diesen Begriff dabei bekanntermaßen unterschiedlich akzentuiert: Die Foucault’sche Diskurstheorie kennt sowohl einen frühen, vornehmlich strukturalen Diskursbegriff, der induktiv als Muster von Regelmäßigkeiten aus der Analyse humanwissenschaftlicher Verifikationsverfahren hervorgegangen ist, als auch einen Begriff, der die ursprüngliche Trennung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken (vgl. Foucault 1981: 234) aufhebt und Diskurse stärker in Beziehung zu Machtprozessen setzt. Anhand des genealogischen Verfahrens dekonstruiert eine so angelegte Diskursanalyse transzendentale Subjektverständnisse als historisch bedingt und nimmt vor allem all jenes in den Blick, was nicht gesagt oder getan werden kann.

Mit den Vorlesungen zur Gouvernementalität werden die Untersuchungen zur Verschränkung von Wissen und Macht im Prozess der Wahrheitsproduktion schließlich mit Blick auf staatliche und nicht-staatliche Formen der Macht weiter differenziert: »In seinen Analysen zu (neuen) Formen des Regierens als politischer Steuerung menschlichen Verhaltens nimmt Foucault verstärkt auch Praktiken und Technologien des Selbst in den Blick, sodass die Gouvernementalitätsperspektive als Scharnier im Dreieck von Macht, Wissen und Subjektivität operiert« (Angermüller, van Dyk 2010: 9). Die Beschreibung der diskursiven Sinn- und Wissensproduktion tritt hier gegenüber der Beschreibung nicht-diskursiver Praktiken der Fremd- und Selbststeuerung in den Hintergrund, wobei allerdings eine Reflexion dieser Schwerpunktverschiebung oder eine Erläuterung des Verhältnisses zwischen den Grundrissen der Gouvernementalitätsheorie und der Diskurstheorie sowie der Überschneidung ihrer Erklärungsansprüche unterbleibt.2

Die jüngeren an Foucault angelehnten Gouvernementalitätsstudien, haben diesen offenen Deutungsraum inzwischen dadurch besetzt, dass sie die Grundrisse der Gouvernementalitätsheorie mit methodisch bewusst puristisch angelegten Zeitdiagnosen zu einem Forschungszweig verwoben haben, der nach systematischen Verbindungen zwischen Rationalitätsformen, Regierungsweisen und Selbstverständnissen sucht. Derart konzipierte Gouvernementalitätsstudien fokussieren vor allem auf technologische Regierungsaspekte. Dies umfasst Macht- und Selbsttechnologien ebenso wie Arrangements aus medialen Netzwerken, Apparaten, Dokumentations- und Visualisierungssystemen sowie administrativen Instrumenten, die in Form von Datenevaluation, Datenanalyse, Reglementierungen oder vertraglichen Vereinbarungen Subjekte zum Ziel disziplinierender, normalisierender, ermächtigender oder präventiver Verfahren machen (vgl. Bröckling 2010: 26ff.).

Eine solche Forschungsperspektive bietet vielversprechende Anschlussmöglichkeiten für die Analyse des Selbstvermessungsphänomens; allerdings ist fraglich, ob ihr enger empirischer Zuschnitt ausreicht um den progressiven Aspekt der Selbstvermessung, als Untersuchung eines in der kontinuierlichen Entwicklung befindlichen Feldes, ergebnisoffen zu untersuchen.

Denn eine so gewendete Forschungsperspektive unternimmt zwei prägnante Schwerpunktsetzungen: Zum einen untersucht sie Wissensformen und Rationalisierungen im Kontext spezifischer Problemdiagnosen oder Notstände und zum anderen die mit ihnen korrespondierenden Strategien für die Bewältigung der diagnostizierten Probleme (vgl. Bröckling 2010: 24).3 Dabei geht sie davon aus, dass Regime des Regierens oder Selbstregierens mehr oder weniger ausgearbeiteten, aber meist schriftlich niedergelegten Programmen folgen oder sich planvollen, meist wissenschaftlich gestützten Verfahren bedienen, um vorab definierte Ziele zu erreichen (vgl. Bröckling 2010: 36). Ihren empirischen Ausgangspunkt bilden daher vor allem Manuale, Handbücher, Leitfäden oder Richtlinien, die praktisches Wissen in Form von Empfehlungen, Anleitungen oder Anweisungen beinhalten und in der Regel eine klar benennbare Urheberin aufweisen.

Aus diskurstheoretischer Sicht stellt eine Beschränkung auf Manuale, Anweisungen oder Pläne allerdings bereits einen künstlich gewählten Ausschnitt inmitten diskursiver Prozesse dar, von dem aus die Erscheinungsbedingung bestimmter Aussagen, Strategien und Gegenstände zwangsläufig unterbelichtet bleiben. Damit erscheint »Gouvernementalität« aus Sicht der diskursanalytischen Methodologie eher als eine Fragestellung, denn als ein vollständiges Forschungsprogramm.

Eine derart auf planvolles Einwirken ausgerichtete Forschungsperspektive läuft zudem Gefahr, in das Fahrwasser kausaler oder intentionalistischer Erklärungen zu geraten, denen zufolge Strategien und Pläne als Operationalisierungen eines Willens erscheinen.

Von den methodologischen und methodischen Problemen, die derartige Zugänge mit sich bringen, abgesehen, mögen Intentionen der Ausgangspunkt eines Ereignisses sein; sie sind aber nicht identisch mit den Bedingungen seines Erscheinens. Der diskursanalytische Ansatz begründet sich demgegenüber geradezu darauf »dem Subjekt seine Rolle als ursprüngliche Begründung zu nehmen und es als Variable und komplexe Funktion des Diskurses zu analysieren« (Foucault 2001a[1969]: 1029).4 Macht-Wissen-Komplexe lassen sich besonders dadurch freilegen, dass in der Analyse die Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen potentiell möglichen Aussagen und Handlungen und den tatsächlichen Aussagen und Handlungen gerichtet wird, die sich in diskursiven Prozessen durchsetzen. Entsprechend lässt sich der Sinn oder die Bedeutung von Aussagen nicht auf die Absicht oder die Gedanken eines Subjekts zurückführen (vgl. Foucault 1981: 182).

Subjektkonstitutionen sind nicht als Ergebnis einer sich durchsetzenden Intentionalität, einer planvollen Selbst- oder Fremdeinwirkung zu betrachten; vielmehr stellen sie als Effekt diskursiver Prozesse Idealvorstellungen dar, die zum Ziel von Bestrebungen werden oder an denen sich Selbst- und Fremdbeschreibungen ausrichten können. Zu Subjektivierungsprogrammen werden sie dann, wenn derartige Selbstkonstitutionen durch öffentliche Konventionen begrenzt oder ermuntert werden.

Wie Bröckling und Krasmann selbst schreiben, neigen viele Gouvernementalitätsstudien daher dazu sich im »Zirkel der Selbstbestätigungen« zu verfangen und nur herauszufinden, was sie bereits wissen (Bröckling 2010: 39). Das betrifft eng fokussierte Einzeluntersuchungen, die verschiedenste Phänomene als Effekte der immer gleichen Strategien und Rationalitäten subsumieren ebenso wie historische Großnarrative, welche die Entwicklung von Regierungsweisen mit einer evolutionären Logik vom Liberalismus bis zum Neoliberalismus nachzeichnen. Unter vielen Gouvernementalitätsstudien hat dies zu einem impliziten Finalismus geführt, der eine kontinuierliche Rationalisierung und Optimierung unterstellt (vgl. Bröckling 2010: 33f.) und durch die argumentative Reproduktion von Sachzwanglogiken zu einer wissenschaftlichen Fundierung der beschriebenen Regierungsweisen im Sinne eines Unvermeidbarkeitsnachweises beiträgt (vgl. Lemke 2007: 60f.).

Dies mag auch damit zusammenhängen, dass in der Fokussierung der Gouvernementalitätsstudien auf einen eindimensionalen Materialtyp bei gleichzeitiger hypothetischer Gleichsetzung von Regierungsprogrammen mit den dazugehörigen Blaupausen, eine kausale Argumentationsweise immer schon latent angelegt ist. Die sich wechselseitig bedingenden, verstärkenden oder diametral entgegenlaufenden Kräfteverhältnisse, die im Zuge der Konstituierung und Implementierung von Regierungsweisen auch als Diskontinuitäten, Brüche, Irritationen und Abwandlung wirksam werden können, werden so häufig durch eine lineare Argumentation überformt.

Eine Analyse, die darauf abzielt zu beschreiben, wie Machttechnologien als Technologien des Selbst diskursiv hergestellt werden, muss über die Frage hinausgehen, welche Ziele mit der Installation von Regierungsweisen verbunden werden und ihren Fokus über einzelne Textgattungen oder die durch sie beschriebenen, angeleiteten oder legitimierten Technologien hinaus ausdehnen. Sie gewinnt ihre Erklärungskraft vielmehr erst indem sie die Relationen zwischen verschiedenen Texten in den Blick nimmt und Aussagen, sowie Diskurspositionen, Ziele, Strategien und vorläufige Ergebnisse in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit rekonstruiert. Dies betrifft vor allem Relationen mit drei verschiedenen Verweisungsrichtungen: (a) Zum einen die diskurskonstituierenden Relationen des Kerndiskurses, (b) die Interdiskursrelationen, die den Kerndiskurs mit Teildiskursen der Massenmedien oder institutionalisierten Diskursinterventionen z.B. des Gesundheitsmanagements, des Marketings der Konsumgüterindustrie oder der Wissenschaft in Beziehung bringen, (c) als auch die Relationen zwischen Diskurselementen im zeitlichen Verlauf, die anzeigen, an welche Wissenstraditionen angeschlossen und mit welchen Kontinuitäten gebrochen wird. Denn erst durch einen solchen zumindest flüchtigen Blick auf Vorläuferentwicklungen, lassen sich die gegenwärtigen Selbstverständnisse und Identitätsfiktionen, die im Diskurs als Ursprung oder Motiv von Selbstvermessung auftauchen, als eine von den intentionalistischen Selbstauskünften der Beteiligten losgelöste Herkunftsgeschichte5 beschreiben6. Zusammengefasst ermöglichen es diese Relationen ein Verständnis von den Bedingungen zu erlangen, unter denen bestimmte Technologien populär werden können, bestimmte Bereiche des Lebens von ihnen durchdrungen werden, wobei andere unberührt bleiben und schließlich ein Verständnis davon, welche Kriterien bei der Entwicklung von Selbstvermessungstechnologien berücksichtigt werden müssen, damit sie Legitimität, Wahrheit, Kreativität oder Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen können.

Das Feld der Selbstvermessung ist in besonderem Maße dazu geeignet nachzuzeichnen, wie eine bestimmte Form der Subjektivität aus dem Spannungsgefüge verschiedener Deutungskonflikte und Macht-Wissen-Komplexe hervorgeht, da ihre Konstitutionsbedingungen in umfassender Weise offen liegen. Numerische Daten sowie Taxonomien und Klassifikationssysteme werden ebenso wie ihre sprachlichen Erläuterungen, Bedarfsbeschreibungen, Kommentare, Kritiken und Gebrauchsanweisungen durch ihre Anwender*innen und Entwickler*innen ausführlich dokumentiert und sind in rekonstruierbarer Weise miteinander verbunden.

Die Anwendung von Vermessungstechnologien kann sich in Einzelfällen an Empfehlungen und Anweisungen ausrichten oder sogar verordnet sein, was sie in offensichtlicher Weise zu Regierungstechnologien macht. Der in diesen Texttypen zugrunde gelegte Bedarf, Notstand oder Nutzen sowie die Erscheinungsform eines Self-Tracking-Tools oder die nahegelegten Nutzungsweisen, ihr Funktionsumfang usw. ist allerdings auch in diesen Fällen bereits diskursiv erarbeitet, wird kontinuierlich verändert oder (re)kombiniert und überwindet daher niemals den Status einer nur vorläufigen Stabilität. Als Kreuzungspunkt verschiedener Diskurse erscheinen alle Technologien des Selbstvermessungsfeldes als Bündelungen von Wiederholungen, Regelhaftigkeiten und Wahrscheinlichkeiten, die nicht durch Subjekte produziert werden, sondern sich als Resultat der Ermöglichung und Verunmöglichung bestimmter Anschlüsse ergeben, an denen unterschiedlichste institutionelle oder nichtinstitutionelle, gegenwärtige und vergangene Diskurspositionen beteiligt sind. Dies macht alle beteiligten Subjekte und Institutionen zu Produktionsorten von Technologien, verweigert ihnen aber den Status von Produzent*innen – die Urheber*innen von Manualen, Verordnungen und Regelwerken eingeschlossen.

1.3Diskursanalyse als induktives Verfahren

Im Interview »Wer sind Sie Professor Foucault?« (2001[1969]: 776)7 gab Foucault an, seine Arbeit ließe sich am besten als »eine Analyse der für unsere Kultur charakteristischen kulturellen Tatsachen definieren. In diesem Sinne handelt es sich gewissermaßen um eine Ethnologie der Kultur, der wir selbst angehören« (ebd.). Demnach setzt die Diskursanalyse, ähnlich wie die verstehende Soziologie nach Alfred Schütz (1972) oder die Ethnografie (vgl. Hirschauer, Amann 1997), eine künstlich eingenommene Naivität gegenüber dem Feld, als ein Forschungsinstrument ein.8 Die Diskursanalyse sucht auf diese Weise nach der Methodizität des Feldes selbst und folgt bei seiner Beschreibung den dort vorherrschenden Regeln (Bublitz 2006: 233). Diskurse lassen sich so als geregelte Streuungen von realisierten Aussagen begreifen (vgl. Meier 2008: 24), die sich in Form von Klassifikationen, Taxonomien und Teilungspraktiken erschließen lassen. Diese machen gleichermaßen die subjektivierende Kraft des Diskurses aus.

Der deskriptive Teil der Analyse folgt diesen subjektivierenden Eigenschaften des Diskurses, wohingegen der analytische Teil versucht die Bedingungen zu beleuchten, die zu diesen Klassifikationen führen, die Begründungsmuster und ihre Herkunft zu rekonstruieren, das Fehlen von Aussagen und Positionen, die diskursiven Brüche und institutionellen Zwangs- oder Ausschlusspraktiken sowie seine epistemischen Integrationsstrukturen, Machtpraktiken und Wissensformen herauszuarbeiten (vgl. Bublitz 2003: 58).

Vergleichbar auch mit induktiven Forschungsansätzen wie der Grounded Theory (vgl. Glaser, Strauss 2005[1967]) folgt die Diskursanalyse dem Konzept der »aufsteigenden Analyse« (Foucault 2003: 239). Als evolvierende Methode steigert sie ihr konzeptuelles Niveau mit zunehmendem Verlauf, wobei weder thematische Schwerpunkte, Themen oder einzelne Gegenstände die Einheit des Diskurses herstellen, noch Ordnungsstrukturen aus einer vorgängigen Gesellschaftstheorie bezogen werden. Die Klassifikations- und Konstitutionsregeln des Diskurses bilden damit gleichzeitig den Gegenstand und das methodische Werkzeug der Diskursanalyse (vgl. Bublitz 2006: 234f.). Somit erschöpft sich eine an einem Feld oder Phänomen interessierte Diskursanalyse nicht in der Untersuchung einer fest eingrenzbaren oder organisierten Debatte. Vielmehr stellt die Aufdeckung einer diffusen Menge von Diskurselementen und ihrer Relationen die erste analytische Leistung dieser Methode dar. Sie erzeugt damit eine Heuristik für die systematische Beschreibung und Analyse eines Feldes, indem sie den Regeln, Taxonomien, Ordnungen und Systematiken des Feldes selbst folgt.9

Vor diesem Hintergrund erscheinen Gouvernementalitätsstudien durch die Fokussierung auf Regierungsweisen und die empirische Einschränkung auf bestimmte Materialtypen als Analysen mit einem bestimmten Analyseziel bzw. einer übergeordneten Rahmenfragestellung.

Nimmt man Diskursanalyse als induktive Methode ernst, lässt lediglich im Verlauf der Forschung, oder im Rückblick auf die Forschung entscheiden, ob es sich um eine Aufdeckung von Regierungsprogrammen handelt, wobei Gouvernementalität das Ergebnis, allerdings nicht der Ausgangspunkt einer Analyse sein kann.

1.4Aufsteigende Analyse und aufsteigende Methodenbildung

Foucault ist in seinen Untersuchungen nicht nur dem Modell der aufsteigenden Analyse, sondern auch dem Prinzip einer aufsteigenden Methodenbildung gefolgt, mit dem er sich schrittweise und »ohne festen Grund emporgearbeitet« hat (Diaz-Bone 1999: 119). Insbesondere die frappierenden Unterschiede zwischen den einzelnen Monografien und ihre nur geringe Bezugnahme aufeinander zeugen von einem »Denken im Prozess«, das an einer »vereinheitlichenden Kanonisierung« kein Interesse entwickelt hat (vgl. Pieper 2006: 269f.). Die Kontinuitätszwänge, die er in historischen und biografischen Narrativen aufdeckt, kontrastiert er mit der zeitlichen Bedingtheit des eigenen Denkens: »Jedes Buch verändert das, was ich gedacht habe, als ich das vorhergehende Buch abschloss« (Foucault et al. 1996[1978]: 24).10

Wohingegen er in der Ordnung der Dinge (Foucault 1991[1966]) im Zuge der Auseinandersetzung mit den integrativen Ordnungsschemata von Epochen, bzw. der impliziten Regelmäßigkeiten, durch die »in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird« (Foucault 1991[1966]: 10f), kaum eine Reflexion über die Systematik seines Vorgehens lieferte, diente die spätere Archäologie akademischer Wissensbildungsprozesse (Foucault 1981[1969]) vor allem auch als Ordnung der eigenen Methode. Im Zuge dieses Unterfangens machte er also erstmals auch die eigene Regelgeleitetheit und die Selektionsprämissen seiner Beschreibungen zum Gegenstand einer Meta-Reflexion und ermöglichte z.B. durch die Herausstellung verschiedener analytischer Ansatzpunkte wie Gegenstände, Aussagen und ihre jeweiligen Modalitäten zumindest Grundrisse eines reproduzierbaren Vorgehens. Diese diskursiven Formationen (Foucault 1981[1969]: 48ff.) stellen allerdings dennoch eher ein theoretisches Differenzierungssystem, als ein empirisches Forschungsdesign mit klar definierten Regeln dar. »Wer fragt wie Foucault vorgegangen ist, woher er wusste, wonach er suchen muss, wie er die Auswahl seiner Texte durchgeführt hat, wie sich die Hypothesen konstruiert haben, die seine rekonstruktive Analyse angeleitet haben etc., wird die Antwort nicht ohne weiteres finden« (Diaz-Bone 1999: 120).

Die nur schemenhafte Skizzierung des methodischen Verfahrens anstelle einer schematischen Systematik erscheint vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der Methodizität von Wissensbildung – also auch der ganz allgemeinen Proklamation einer nur schwer möglichen Trennung zwischen Theorie und Methode – als unumgängliche Konsequenz der zu Grunde liegenden Methodologie und ihres zeitgeschichtlich ausgerichteten Relativismus. So setzt Foucaults Analyse der Ermöglichung und Limitierung von Erkenntnisleistungen nicht erst bei der Methodik von Wissensbildungsprozessen, sondern bereits bei den ihr zugrunde liegenden Begriffen an, die sowohl die Darstellung der Methode als auch die durch sie gewonnenen Erkenntnisse präformieren (vgl. Pieper 2006: 270).

Die Diskursanalyse als mehr oder minder unbestimmtes Amalgam aus Methode, Theorie und epistemologischer Wissenschaftstheorie dekonstruiert nicht lediglich Diskurse im Sinne kontrolliert abgesteckter Forschungsfelder, sondern sie kontextualisiert die Gültigkeit von Wissen anhand vermachteter Ordnungsstrukturen. Dies betrifft nicht nur die universellen Ansprüche wissenschaftlicher Ontologien, sondern grundsätzlich alle Formen der Wissenskonsolidierung, für die auch ihr eigenes Forschungsdesign keine Ausnahme darstellt (vgl. Bublitz et al. 1999: 13f.).

Bemisst man Foucaults Diskursanalyse an ihren eigenen Prämissen, kann auch sie sich von den Wirkmechanismen der Perspektiven- und Kontextgebundenheit nicht frei machen und jedes Forschungsergebnis kann immer nur den Status einer temporär geltenden Gültigkeit für sich beanspruchen, die in einer kontingenten Beziehung zu alternativen Lesarten steht und deren Bedeutung sich auch im zeitlichen Verlauf kontinuierlich verändert.

Foucaults eigene Abgrenzung (2002[1970-1975]: 166) von der archäologischen Methode zugunsten des geneaologischen Verfahrens, stellt für die zeitliche Begrenztheit methodischer und theoretischer Modelle selbst ein gutes Beispiel dar. Bereits wenige Jahre nach der »Archäologie des Wissens« bezieht sich sein Untersuchungsinteresse den eigenen Auskünften nach bereits nicht mehr schwerpunktmäßig auf die Analyse des Verweisungssystems der diskursiven Formationen, sondern rückt vielmehr nicht-diskursive Elemente wie Institutionen, Formalismen, Praxen und Architekturen ins Zentrum der Betrachtung. Diese Verschiebung erscheint in den meisten Foucault-Rezeptionen als werksimmanenter Bruch, der etwa die genealogische von der archäologischen Schaffensphase trennt. Entsprechend wird mit der Archäologie ein stärker gegen die strukturale Linguistik gerichtetes Einzelwerk gesehen, dass im Verlauf der späten 1970er Jahre durch umfassende Auseinandersetzung mit verschiedenen Machtmechanismen abgelöst wird, die er in der historischen Kontingenz ihrer Ausdrucks- und Legitimitätsformen untersuchte. Diese Lesart der stringenten Trennung beider Werksphasen hat sich inzwischen weitestgehend etabliert, geht dabei aber oft etwas leichtfertig über ihre Zusammenhänge und Parallelen hinweg.

Obgleich eine Fokussierung auf konzeptionelle Ähnlichkeiten unterschiedlicher Monografien eine Navigation innerhalb des ohnehin nicht leicht zu überblickenden Werks einerseits erschwert, wirkt sie andererseits dem impliziten Drängen entgegen, sich mit einer an Foucault anschließenden Analyse für oder gegen bestimmte methodische Prämissen einzelner Werksabschnitte zu entscheiden, die wiederum quer zu den dort verhandelten Phänomenen und Theorien liegen.

Denn so wie man über gouvernementale Programme sagen kann, dass sich ihre gesellschaftliche Relevanz (fernab formalistischer und institutioneller Regeln) über den Diskurs realisiert, lassen sich die diskursiven Formationen wiederum aus der genealogischen Perspektive als historisch kontingent betrachten und in einen machttheoretischen Zusammenhang mit nicht-diskursiven Praktiken, Architekturen oder juristischen Formen bringen. Foucault selbst ist in Bezug auf die eigenen Wechsel zwischen methodischen Fragmenten und Interessensgebieten ein eher pragmatischer Umgang zu unterstellen. In Bezug auf die durch ihn eingeschlagenen Forschungswege, seine Ideen, Modelle, sowie Skizzen und Instrumente sagte er: »Machen Sie damit, was Sie wollen« (Foucault 1999[1975-1976]: 7f.).11

Auch wenn jeder spezifische Analyseschwerpunkt notwendiger Weise immer auch eine spezifische Gewichtung methodischer oder theoretischer Fragmente verlangt, müssen deren Eigenheiten beim Wechsel des Erkenntnisinteresses nicht völlig aufgegeben werden. So gibt es im Grunde keinen Anlass, eine Auseinandersetzung mit Machtfragen auf das methodische Repertoire der Foucault’schen Analysen zu beschränken, in denen er Macht selbst als expliziten Analysegegenstand ausgewiesen hat. Ganz im Gegenteil scheinen die an Foucaults Genealogie orientierten Machtanalysen bisweilen hinter der epistemologischen Grundsätzlichkeit der Machtkonzepte zurückzubleiben, die bereits in der Archäologie angelegt ist. Die nicht selten anzutreffende Aussage etwa, dass im Diskurs nicht alles Gehör findet, was gesagt werden kann (vgl. van Dyk und Angemüller 2010), ist bereits als ein institutionalistischer Bias in der Anwendung Foucault’scher Theorie zu werten, der Machtverhältnisse auf beobachtbare Ungleichheiten, Asymmetrien oder Kräfteverhältnisse reduziert.12 Dabei ist die Machttheorie Foucaults, unabhängig von beobachtbaren Kräfteverhältnissen auf der Ebene der Sprechorte und Distributionskanäle, bereits viel tiefer mit einer kritischen Epistemologie verwoben, von der aus schon als Machtfrage erscheint was überhaupt gesagt oder gedacht werden kann. Wenn Foucault in der »Archäologie des Wissens« formuliert, dass der manifeste Diskurs immer auch die repressive Tendenz dessen darstellt was nicht gesagt werden kann (Foucault 1981[1969]: 39), zielt dies nicht nur auf die unmittelbare Unterdrückung bestimmter Wissensformen und Selbstverhältnisse (bzw. ihre Förderung – um die produktive Komponente des Foucault’schen Machtbegriffs mit zu benennen), sondern weist auch auf die latenten Bedingungen hin, mit denen Wissen als langsam sich verstetigende Form von Aussage-Gegenstand-Relationen entsteht und auf dieser Ebene bereits zu einer gleichzeitigen Ermöglichung und Verunmöglichung des überhaupt denkbaren führt. Mit dem Archiv und dem historischen Apriori liefert Foucault zwei verschiedene Konzepte für kollektive Denkschemata, durch die diskursive Aussagen und Aussagebedingungen historisch prädeterminiert werden, ehe es im Machtfeld des Diskurses überhaupt zur Artikulation einer Äußerung kommt.

Foucaults Dekonstruktion jener Ordnung die den Dingen inhärent scheint, liefert so eine Analyse der Denkschemata einer Kultur, die nicht nur das Wissen, sondern auch die Selbstverhältnisse und die sozialen Praxen organisieren (vgl. Bublitz 2003: 45f.). Auch wenn auf das ausgearbeitete Vokabular einer »Archäologie« nicht mehr explizit Anschluss genommen wird, reichen ihre epistemologischen Grundsätze daher in seine Folgeuntersuchungen hinein.

1»Ich habe keine Methode, die ich unterschiedslos auf verschiedene Bereiche anwende« (Foucault 2003[1976-1979]: 521f.).

2Siehe dazu Saar (2007).

3Bröckling bezieht sich hier auf die Vorlesungen zu den Mechanismen mit denen Gesellschaft Souveränität generiert, die Foucault im Jahre 1973 an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro gehalten hat (Foucault 2002: 10).

4Zitiert nach Lüders (2007: 79).

5Foucault verwendet die Unterscheidung zwischen Ursprung und Herkunft, um eine antiessentialistische Auseinandersetzung mit Geschichte zu kennzeichnen. Wohingegen der Ursprung für sich beansprucht, das genuine Inerscheinungtreten einer Idee oder eines Phänomens aufzeigen zu können, markiert die Herkunft das Ergebnis einer selektiven Spurensuche, die alternativen Erzählungen gegenüber aufgeschlossen ist und vor allem praktisch endlos durch die Geschichte weiterverfolgt werden kann (vgl. Foucault (1981[1969]): 22f.).

6»[…] Und genau das würde ich Genealogie nennen, d.h. eine Form der Geschichte, die von der Konstitution von Wissen, von Diskursen, von Gegenstandsfeldern usw. berichtet, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und es mit seiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt« (Foucault 1978: 32).

7Zitiert nach Lüders (2007: 92).

8Zur Offenheit des diskursanalytischen Verfahrens siehe auch Foucault (1981[1969]: 51; 58ff.).

9»Wo man in einer bestimmten Anzahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, indem man bei den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit definieren könnte, kann man sagen, dass man es mit diskursiven Formationen zu tun hat. Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind« (Foucault 1981[1969]: 58).

10Zitiert nach Bublitz et al. (1999: 11).

11Foucault während der Vorlesung »In Verteidigung der Gesellschaft« in Bezug auf die durch ihn eingeschlagenen Forschungswege sowie seine Ideen, Modelle, Skizzen und Instrumente. Zitiert nach Kerchner und Schneider (2006: 9).

12Foucault hat eine derartige Machtkonzeption selbst vertreten, indem er in seiner Antrittsvorlesung »Ordnung des Diskurses« am Collège de France vordergründig von »Ausschließung«, »Verknappung« und strategischen Regulationsinstanzen im Sinne einer »Diskursiven Polizei« sprach (Foucault und Konersmann 1991[1970]: 25, zitiert nach Pieper 2006: 272). Schon im Rahmen der Folgearbeiten distanzierte er sich allerdings von juridisch-repressiven Machtkonzeptionen und appellierte dafür, Macht und Wissen nicht als per se unterschiedliche Kategorien zu behandeln.

2Herausfinden, ob die Maschine läuft und was sie produziert1Das Instrumentarium der Feinanalyse

Die kritische Haltung der Diskursanalyse gegenüber Kontinuitäten und genuinen Ursprüngen legt es bereits nahe, den Startpunkt für die Analyse reflexiv, als rein operative Analyseentscheidung, zu begründen. Die Verantwortung für dieses Problem lässt sich ein Stück weit ins Feld selbst verlagern – jedenfalls insofern die Analyse den dort vorherrschenden Selbstauskünften folgt und den dort verhandelten Ursprung zum Startpunkt nimmt. Doch schon bei der Auswahl an relevanten Vorläuferentwicklungen zur Kontrastierung und Dekonstruktion dieser Erzählung bietet sich erneut die Gefahr, den Diskurs, den man analysieren will, anhand externer Prämissen vorzustrukturieren (vgl. Foucault 1981[1969]: 38). Das Projekt der Diskurs-Rekonstruktion kann, wie das der Genealogie, als Geschichte der Gegenwart betrachtet werden, die evidente Ordnungen der Dinge problematisiert, ohne den Dingen dabei selbst auf den Grund gehen zu wollen – »wenn Grund heißt die Dinge oder Sachverhalte einer Letztbegründung, einem ursächlichen Entstehungs- und Kausalzusammenhang, einem authentischen Sein, einer kausallogischen Ableitung zuzuführen« (Bublitz 2003: 43). Diskurse sind keine sprachlichen Verarbeitungen von Dingen, die selbst außerhalb des Diskurses liegen. Sie sind entsprechend nicht einer außerdiskursiven Realität untergeordnet, die in soziale Praxis oder Kommunikation übersetzt werden könnte oder deren Wahrheit sich hermeneutisch erschließen ließe. Vielmehr werden Wahrheit und Wirklichkeit historisch diskursiv hervorgebracht (vgl. Bublitz 2003: 56).2 Diskurse sind durch andere Diskurse, die mit ihnen Verbindungen eingehen, unentwegt kontextualisiert (Foucault 1981[1969]: 69), dennoch haben Diskurse selektive Relevanzprämissen und Möglichkeitsbedingungen, die sie voneinander unterscheiden. Beide Kriterien wandeln sich zudem im historischen Verlauf. Mit Blick auf die Operationalisierung einer Analyse von Diskursen drängt sich damit unweigerlich die Frage auf, wie dieses »wuchern der Diskurse« (vgl. Foucault 1983[1976]: 119) forschungspragmatisch zergliedert, sortiert, ausgewertet und aufbewahrt werden kann. Wie definiert man Start- und Stopp-Regeln der Untersuchung, wie weit kann, darf oder muss sich der analytische Blick in der Geschichte zurückwenden? Wie umfassend muss die Verzweigung von Teildiskursen und Alteritäten im Binnengefüge des Kerndiskurses untersucht werden?

2.1Gegenstände und Formationsregeln – Self-Tracking als Diskursgegenstand

Ein Forschungsansatz, der darauf basiert, prädiskursive Gewissheiten strategisch in Zweifel zu ziehen, kann die Parameter einer Analyse nicht schlicht mit der Wahl eines (Forschungs-)Gegenstandes bestimmen vielmehr stellt die Beantwortung der Frage was die Gegenstände eines Diskurses sind, selbst einen elementaren Bestandteil der diskursanalytischen Arbeit dar und kann entsprechend nur schrittweise beantwortet werden. Die aufsteigende oder sich ausbreitende Methode folgt nicht dem Prinzip der Definition und Exemplifikation. Der Vorentscheidung dessen, was genau den Kern des Diskurses ausmacht und zu welchem Zeitpunkt er durch welche Ereignisse begonnen hat, ist demnach der mehr oder minder grobe Umriss eines Interesses vorzuziehen von dem aus sich nach und nach der Beantwortung dieser Frage angenähert werden kann. Ein Forschungsinteresse lässt sich leicht als Untersuchung des Self-Tracking-Diskurses oder des Quantified-Self-Diskurses labeln, mit Bedeutung werden diese Begriffe allerdings erst durch das relationale Gefüge ausgestattet, das sie diskursiv konturiert und konstruiert. Die Frage was Self-Tracking ist stellt sich nicht nur der Forschung, sondern auch den Diskursteilnehmer*innen selbst und die Versuche ihrer Beantwortung tragen selbst zur Herausbildung des Diskurses und seiner Binnendifferenzierung bei – z.B. in Subarten des Trackings. So bildet der Diskurs umgekehrt die Gegenstände von denen er handelt (Foucault 1981[1969]: 74).

Ein solcher Ansatz, der von Streuung anstatt von Einheiten ausgeht, tastet (Foucault 1981[1969]: 45) sich langsam anhand empirischer Häufungen und Regelmäßigkeiten voran (Foucault 1981[1969]: 31f.), die er im semiotischen Feld von Aussagen sucht und sie als systematische Zusammenhänge nachweist. Dies sind z.B. Bezüge auf immer wiederkehrende Gegenstände in Form von Aussagen: D.h. »die in ihrer Form verschiedenen, in der Zeit verstreuten Aussagen bilden eine Gesamtheit, wenn sie sich auf ein und dasselbe Objekt beziehen« (Foucault 1981[1969]: 48). Die Analyse verfolgt so serielle Verdichtungen von Aussagen zurück, die als relationales Gefüge im Verbund mit Gegenständen und spezifischen Äußerungsbedingungen den Diskurs bilden. Die Aussage bildet dabei die kleinste kommunikative Einheit der Analyse. D.h. obwohl die Diskursanalyse auch einzelnen Begriffen, Satzstrukturen und Schreibweisen eine Bedeutung beimisst, grenzt sie sich von der zeichentheoretischen Fokussierung der strukturalistischen Linguistik ab. Sie vollzieht vielmehr eine analytische Verschiebung auf die konstruktive und konstitutive Funktion von Diskursen, die nicht vordergründig auf eine Beschreibung und Fixierung der sprachlichen Performanz, die Rekonstruktion von Zeichensystemen und des Vokabulars zielt, sondern annimmt, dass eine taxonomische Ordnung der Dinge erst diskursiv hergestellt wird. Entsprechend interessiert sie sich vielmehr für die Differenz dessen, was ausgesagt werden könnte zu dem was letztlich gesagt wird. Nicht nach welchen sprachlichen Regeln Aussagen gebildet werden, sondern warum zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Kontingenz möglicher Aussagen eine bestimmte Aussage und keine andere an ihrer Stelle erscheint ist ihre anleitende Frage (Foucault 1981[1969]: 42).

Aussagen sind zwar als Produkte von Äußerungen aufzufassen, allerdings erfolgt ihre sinnhafte Verstetigung erst im Kontext anderer Aussagen auf die sie explizit oder implizit verweisen. Äußerungen werden so nicht kausal aus Identitäten oder dem sozialen Status oder der juridischen Macht abgeleitet die mit bestimmten Sprechorten verbunden ist, sondern sie werden umgekehrt durch die limitierten (Re)kombinationsmöglichkeiten vorgängiger Aussagen (und der Äußerungen anderer) reguliert. Sie stellen somit die Grundbedingung des Wissens dar indem »das Subjekt notwendigerweise angesiedelt und abhängig ist, ohne dass es dort jemals als Inhaber auftreten kann« (Foucault (1981[1969]: 269).

Die Aussagen führt die Diskursanalyse damit nicht auf die psychischen Zustände von Sprecher*innen oder Autor*innen zurück, sondern gewichtet etwa die Relationen von Aussagen untereinander – auch dann, wenn diese Beziehungen dem Bewusstsein der Autor*innen selbst möglicherweise entgehen oder es sich um Aussagen von Autor*innen handelt, die zueinander in keiner Beziehung stehen und einander sogar unbekannt sind (Foucault 1981[1969]: 44).