Das rabenschwarze Rätsel - Klaus-Dieter Soja - E-Book

Das rabenschwarze Rätsel E-Book

Klaus-Dieter Soja

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Beschreibung

Das zweite Buch fängt mit einem Paukenschlag an. Shardik provoziert die Goldene Schlange Gor. Doch er kommt mit dem Leben davon und trifft auf die Elfe Thuvia. Die Elfe verwickelt ihn in einen Kampf besonderer Art. Beowulf und Rabea brechen ihre nur auf den Zufall aufgebaute Suche nach Sarah ab und wollen den Drachen Alina um Rat fragen. Alina lebt in den Schrecklichen Sümpfen. Sie verfügt über enorme Geistkräfte, besitzt das zweite Gesicht und fühlt sich dem Guten verpflichtet. Nach seinem Gespräch mit dem Drachen will Beowulf das in den Grauen Bergen liegende Zwergenreich aufsuchen. Dort vermutet er sein verlorengegangenes Schwert. Im Zwergenreich hat sich aber manches zum Schlechten verändert. Caleban und Sarah erfahren im Drachenhaus, dass Beowulf und Rabea zum Zwergenreich aufgebrochen sind. Sie folgen ihnen und erleben unterwegs zahlreiche Abenteuer. Das entscheidende Abenteuer spielt sich jedoch im hohen Norden ab. Ein unbedeutender Volksstamm findet einen rabenschwarzen Ring unbekannter Herkunft. Die Boaden, Necromancer und auch Tanelorn erfahren davon und wolllen ihn um jeden Preis in ihre Finger bekommen. Mord und Totschlag sind die Folge. Der rabenschwarze Ring gleicht der Büchse der Pandora und löst einen langandauernden Krieg aus.

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Das rabenschwarze Rätsel

Buch 1 Die Katastrophe

Buch 2 Der Zankapfel

Buch 3 Schurkenstreiche

Buch 4 Tanelorn

Buch 5 Das Zwergenreich

Buch 6 Die Schattenburg

Buch 7 Tod und Verderben

Buch 8 Die Necromancer

Über das Buch:

Das zweite Buch fängt mit einem Paukenschlag an. Shardik provoziert die Goldene Schlange Gor. Doch er kommt mit dem Leben davon und trifft auf die Elfe Thuvia. Die Elfe verwickelt ihn in einen Kampf besonderer Art.

Beowulf und Rabea brechen ihre nur auf den Zufall aufgebaute Suche nach Sarah ab und wollen den Drachen Alina um Rat fragen. Alina lebt in den Schrecklichen Sümpfen. Sie verfügt über enorme Geistkräfte, besitzt das zweite Gesicht und fühlt sich dem Guten verpflichtet.

Nach seinem Gespräch mit dem Drachen will Beowulf das in den Grauen Bergen liegende Zwergenreich aufsuchen. Dort vermutet er sein verlorengegangenes Schwert. Im Zwergenreich hat sich aber manches zum Schlechten verändert.

Caleban und Sarah erfahren im Drachenhaus, dass Beowulf und Rabea zum Zwergenreich aufgebrochen sind. Sie folgen ihnen und erleben unterwegs zahlreiche Abenteuer.

Das entscheidende Abenteuer spielt sich jedoch im hohen Norden ab. Ein unbedeutender Volksstamm findet einen rabenschwarzen Ring unbekannter Herkunft. Die Boaden, Necromancer und auch Tanelorn erfahren davon und wollen ihn um jeden Preis in ihre Finger bekommen. Mord und Totschlag sind die Folge. Der rabenschwarze Ring gleicht der Büchse der Pandora und löst einen langandauernden Krieg aus.

Über den Autor:

Klaus-Dieter Soja, geboren 1945 in Berlin, wuchs in Espelkamp (Ostwestfalen) auf. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft wandte er sich der Informatik zu und blieb ihr 26 Jahre treu. Die letzten 15 Berufsjahre war er als Informatikleiter (Anwendungsentwicklung) in einem weltweit operierenden Chemiekonzern tätig. Mit 51 Jahren beendete er seine Informatik-Laufbahn.

Seitdem widmet er sich seinen Interessen, als da sind: Mathematik, Physik, Astronomie, Kosmologie, Musik (Keyboard, Klavier) und Literatur. Mit dem achtbändigen Märchenroman (20 Arbeitsjahre) hat er sich einen Jugendtraum erfüllt.

Klaus-Dieter Soja lebt heute auf einem Bauernhof nahe Münster (Westfalen).

Inhaltsverzeichnis

Rückblick

Das Abenteuer

Ausklang

Rückblick

Der alte König stieg die Treppe zur Schlossbibliothek hinauf. Er tat es langsam und bedächtig – so langsam und bedächtig, dass jeder sein Alter hätte erraten können. Diesmal war er nicht allein. Ein süßes, aber etwas vorlautes Geschöpf folgte ihm.

»Opa! Du bist ganz schön klapprig geworden.«

»Sei nicht so naseweis, Birthe.« Leise seufzend fügte er hinzu: »Solltest du mein Alter erreichen, wird man dich jede Treppe hinauftragen müssen.«

»Ich bin fit wie ein Turnschuh, und das wird auch so bleiben.«

»Warum hast du dann mit Volleyball aufgehört? Mama hat es mir erzählt.«

»Weil wir uns zuletzt nur noch gestritten haben.«

Birthe, sein Enkelkind, war vierzehn Jahre alt und schlank wie eine Gerte, was ihr manchmal Kummer bereitete. Sie war jetzt in einem Alter, wo ein Mädchen sich über jede Rundung freut. Sie war auch ein intelligentes Mädchen, wollte aber nicht jeden Tag intelligent sein, sondern das machen, was Mädchen in ihrem Alter am liebsten machen – zum Beispiel träumen, mit Freundinnen reden oder dem neuesten Modetrend nachspüren.

Der König schloss die Tür zur Bibliothek auf und ließ sein Enkelkind vorangehen. Nach links und rechts warf Birthe keinen einzigen Blick. Die in langen Reihen angeordneten Regale mit ihren kaum zu zählenden Buchrücken und Papierstapeln interessierten sie nicht.

»Die Bibliothek ist eine wahre Schatzkammer«, sagte der König, dem Birthes Desinteresse nicht entgangen war.

»Wahre Schätze bestehen aus Gold, Silber und Edelsteinen – nicht aus Papier.«

Der König lächelte nur.

Dann entdeckte Birthe das dicke Buch. Es war das einzige auf dem großen Arbeitstisch. Sofort lief sie darauf zu und strich mit ihren schmalen Fingern über den kostbaren Einband. Das Leder war mit Bildern verziert. Doch die Farben hatten im Laufe der Jahrhunderte gelitten, sodass manche Motive kaum noch zu erkennen waren – besonders für ungeduldige Kinderaugen. Andere kunstvoll gearbeitete Details hatten weniger gelitten – zum Beispiel die silberne Schließe und die sorgfältig gearbeiteten Messingbeschläge, die die Kanten schützten. Es schien auch ungemein schwer zu sein. Birthe versuchte erst gar nicht, es in die Hand zu nehmen.

»Ist es das?«, fragte sie.

»Ja, dieses Buch erzählt die Abenteuer von Beowulf, Sarah und Rabea.«

Der König machte es sich in seinem Sessel bequem, tastete nach dem Lesezeichen und schlug das Buch auf.

»Halt!«, protestierte Birthe. »Du musst mir erst erzählen, was du bisher gelesen hast.« Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich und schaute ihren Opa erwartungsvoll an.

»Den Anfang kennst du doch schon.«

Birthe nickte und sprudelte los: »Ich erinnere mich noch gut an die unheimlichen Schatten – die Bösewichte ohne Gesichter. Ich habe mehr als einmal von ihnen geträumt.«

»Erzähl mir etwas über die Kinder.«

»Sarah und Rabea fliehen vor den Räubern durch einen dunklen Wald. Als sie erschöpft sind und nicht mehr weiterwissen, tauchen zwei Elfen auf. Sie raten den Kindern, einen riesengroßen Hund aufzusuchen. Er heißt Thor.«

»Wo ist Thor?«

»In einer Taverne. Sie liegt am Waldrand. Sarah und Rabea finden sie ohne größere Schwierigkeiten und setzen sich zu Thor.«

»Was tut Thor für sie?«

»Als die Räuber auftauchen und die Kinder einsacken wollen, beißt Thor einem den Arm ab. Der Räuber verblutet. Die anderen geben auf und verschwinden.« Birthe seufzte. »So einen tollen Hund hätte ich auch gern.«

»Du hast doch einen.«

»Ja, aber nur einen kleinen. Der beißt bestenfalls einen Maulwurf tot.«

Dem König lag schon eine passende Antwort auf der Zunge, doch dann überlegte er es sich anders und fragte: »Wie passt Beowulf in die Geschichte?«

»Thor und Beowulf sind unzertrennlich, und Beowulf findet heraus, dass die Elfen ihm die Kinder zugeführt haben. Mehr weiß ich nicht. Jetzt bist du dran.«

Der König nickte, nahm den Faden auf und sagte: »Beowulf und die Kinder freunden sich mit dem Wirt Wulf und seiner Tochter Maren an. Doch schon am nächsten Morgen verlassen sie die Taverne. Sie ziehen nach Süden – nach Rydaheim, der größten Stadt weit und breit.«

»Und die Räuber lassen das so einfach geschehen?« Birthe schaute den Großvater mit großen Augen an.

»Sie greifen Beowulf und die Kinder noch einmal an, was ihnen zwei weitere Tote beschert. Danach sind sie restlos bedient und fliehen. Die Räuber tauchen erst einige hundert Seiten später wieder auf, aber Beowulf ...«

»Bleib beim Thema«, mahnte Birthe. »Wir sind noch am Anfang.«

Der König musste lächeln, tat aber seinem Enkelkind den Gefallen und sagte: »Beowulf und die Kinder erreichen Rydaheim. Dort passiert etwas, was nicht mal die kühnste Fantasie ersinnen kann.«

»Was denn?«

»Sarah tötet fünfzig Schatten.«

Birthe schaute ungläubig und rief: »Kein Kind auf dieser Welt kann fünfzig Bösewichte töten!«

»Manchmal geschehen eben unglaubliche Dinge. Hör zu! Die Schatten wollen die Menschen in Rydaheim mit einer Machtdemonstration beeindrucken. Mit ihren Geistkräften lassen sie viele Tonnen Gestein aufsteigen und bringen es zum Schmelzen.«

»Warum machen sie so etwas Verrücktes?«

»Sie wollen aus der glutflüssigen Lava eine Goldene Schlange formen.«

»Eine Goldene Schlange?« Birthes Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Die Goldene Schlange ist das Oberhaupt der Schatten. Ihr Einfluss ist so groß, dass kein Rydaheimer wagt, gegen sie aufzubegehren.«

»Warum lassen sich die Menschen das gefallen?«

»Sie verehren die Goldene Schlange als gottähnliches Wesen.«

Birthe konnte es nicht verstehen. Ihr wäre es nie eingefallen, eine Goldene Schlange als gottähnliches Wesen zu verehren. Schließlich nahm sie es hin und ließ sich wieder von ihrer Neugier packen. »Und dann? Was passiert als nächstes?«

»Ein ungewöhnlich großer Schatten beobachtet mit seiner Geistkraft die Menge. Sarah fühlt sich von ihm entdeckt und gerät in Panik. Ihre Geistkraft bricht unkontrolliert aus ihr heraus.«

»Ihre Geistkraft tötet also die Schatten.«

»Nicht direkt. Ihre Geistkraft trifft das geistige Netz, das die glutflüssige Lava hält. Das Netz bricht zusammen, und die Lava ergießt sich über die fünfzig Schatten.«

»Das ist doch dasselbe«, protestierte Birthe. »Ihre Geistkraft hat die Schatten getötet.«

»Du kannst es so sehen«, lenkte der König ein und fuhr fort: »Beowulf und Sarah fliehen aus der Stadt. Die Schatten – unterstützt von gedungenen Söldnern – schwärmen aus und suchen Sarah. Ein gewisser Tanelorn ist ebenfalls hinter den Kindern her.«

»Wer ist Tanelorn?«

»Das verrät das erste Buch noch nicht. Er hat großes Interesse an den Kindern. Es ist aber ein böses Interesse.«

»Also haben Sarah und Rabea einen neuen Feind.«

Der König nickte und fuhr fort: »Tanelorn findet die Kinder und führt mit Beowulf ein vieldeutiges Wortgefecht. Danach verabschiedet er sich. Er bleibt aber in ihrer Nähe.«

»Will er sie überfallen?«

»Er möchte schon, weiß aber nicht, wie er es anstellen soll. Er hat großen Respekt vor Thor.«

»Hätte ich an seiner Stelle auch«, rief Birthe und drängte: »Erzähl weiter!«

»Beowulf und die Kinder setzen ihre Flucht fort, werden jedoch von berittenen Spähern eingeholt. Einer wird von Thor getötet. Für eine Nacht kommen sie auf der Farm Starenburg unter und schließen Freundschaft mit John und Christine. Am nächsten Morgen setzen sie ihre Flucht fort.«

»Haben sie ein Ziel?«

»Sie wollen in den dünn besiedelten Norden. Dort gib es keine Schatten – zumindest glaubt Beowulf das.«

»Aha! Es kommt also anders?«

»Ich will dem Buch nicht vorgreifen.« Der König dachte kurz nach und fuhr fort: »Ihre Flucht führt sie in die Nähe der Taverne, was bei den Kindern den Wunsch hervorruft, Maren und Wulf „Guten Abend“ zu sagen.«

»Das hätte ich auch getan«, meinte Birthe.

»Wer auf der Flucht ist, tut gut daran, Tavernen zu meiden.«

»Jetzt übertreibst du.«

»Hör zu! Beowulf und die Kinder suchen die Taverne im Schutz der Dunkelheit auf und betreten sie durch die Hintertür. Kaum haben sie mit Maren und Wulf die ersten Worte gewechselt, werden sie von einem Schatten gestellt. Beowulf tötet ihn. Anschließend flieht er mit den Kindern durch den Räuberwald nach Osten und erreicht das Hoheitsgebiet der Räuber.«

»Das ist Wahnsinn!«, ereiferte sich Birthe. »Man kann doch nicht drei Räuber totschlagen und sie Tage später besuchen.«

»Beowulf hält die Räuber für das kleinere Übel. Er glaubt, dass die Kinder dort vor den Nachstellungen der Schatten sicher sind.«

»Und? Sind sie dort sicher?«

»Ja und nein«, antwortete der König.

»Was heißt das?«

»Ein Schatten taucht mit einer Handvoll Söldner im Räuberlager auf und verlangt die Herausgabe der Kinder. Doch Jacko, der Anführer der Räuber, will mit diesen gesichtslosen Wesen nichts zu tun haben und verweigert die Herausgabe.«

»Kommt es zum Kampf?«

Der König schüttelte den Kopf und erklärte: »Der Schatten scheut die Auseinandersetzung und zieht unverrichteter Dinge ab.«

»Warum haben die Räuber den Kindern geholfen?«

»Jacko und Beowulf kennen sich. Sie sind keine Freunde, respektieren sich aber. Darüber hinaus glaubt Jacko, dass die Schatten böse Absichten verfolgen. Er will ihnen keinen Gefallen tun – weder einen großen noch einen kleinen.«

»Warum will er keine Rache?« Birthe fügte hinzu: »Drei seiner Männer sind von Beowulf und Thor getötet worden. Das ist doch keine Kleinigkeit.«

»Kämpfen und Töten gehören zum Alltag der Räuber. Verlieren sie mal, sind sie zwar sauer, aber nicht nachtragend.«

»Und wie geht es weiter? Beowulf und die Kinder können schließlich nicht bei den Räubern bleiben. Der Schatten wird mit Verstärkung wiederkommen.«

»Beowulf überlistet ihn.«

»Wie?«, wollte Birthe wissen.

»Er und die Kinder reiten auf Pferden davon. Der Schatten kann nicht folgen. Irdische Pferde ertragen seine Andersartigkeit nicht.«

»Das ist wirklich schlau.«

»Letztlich ist es nur ein Etappensieg. Schon bald taucht eine neue Gefahr auf.«

»Eine neue Gefahr?«

»Shardik, ein großer Tiger, stöbert Beowulf und die Kinder auf.«

»Wer ist Shardik?«

»Ein Centaurianer – ein Außerirdischer.« Als der König Birthes fragendes Gesicht sah, erklärte er: »Die Centaurianer sind mächtige Geistwesen, die sich die irdischen Tiger als Körper ausgesucht haben.«

Birthe sagte nichts. Nur ihre staunenden Augen redeten.

Der König fuhr fort: »Shardik hat vom Tod der fünfzig Schatten gehört und ist beunruhigt. Was in Rydaheim geschah, übersteigt seine Geistkraft bei weitem. Da ihm zu Ohren gekommen ist, dass die Schatten die Kinder suchen, verletzt er Sarah mit einem Prankenhieb, um herauszubekommen, ob sie mit dem Tod der fünfzig Schatten etwas zu tun hat. Er hofft, dass sie sich durch eine unbedachte Gegenwehr verrät.«

»Und?«

»Seine Hoffnung erfüllt sich nicht. Sarah wird ohnmächtig, und Beowulf lässt sich nicht provozieren. Shardik trollt sich.«

»Man verletzt doch kein wehrloses Kind«, empörte sich Birthe.

»Shardik ist ein Raufbold und Draufgänger. Solche Typen denken in anderen Maßstäben. Sie sind unfähig, sich in die Gedankenwelt eines Kindes hineinzuversetzen.«

»Das entschuldigt gar nichts.«

Der König ging nicht darauf ein, sondern sagte: »Hör zu! Wenige Tage später treffen sie erneut auf Shardik. Er ist verletzt und erzählt Beowulf, dass er mit der Goldenen Schlange Mar gekämpft hat. Ihr Gift ist noch in seinem Körper.«

»Hat er sie getötet?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Mar hatte sich in eine Höhle zurückgezogen. Dort hätte Shardik sie von vorn angreifen müssen, was Selbstmord gewesen wäre.«

»Deshalb ist er gebissen worden«, ergänzte Birthe.

»Für Shardik sind Bisse nur Kleinigkeiten.«

»Das Gift in seinem Körper kann doch keine Kleinigkeit sein. Wie wird er es los?«

»Beowulf verfügt über heilende Geistkräfte und neutralisiert das Gift in Shardiks Körper. Sarah ist damit nicht einverstanden. Sie kann nicht vergessen, was der Schwarze Tiger ihr angetan hat. Sie nimmt einen Ast und schlägt ihn damit auf die Nase.«

»Das ist dumm von ihr.« Birthe fügte hinzu: »Sie ist doch nur ein kleines Mädchen.«

»Sarah ist ungefähr in deinem Alter.«

»Was willst du damit sagen?«

»In dem Alter sind Dummheiten an der Tagesordnung. Du solltest das eigentlich wissen.«

»Nun übertreib nicht.«

»Darf ich dich an deine letzte Dummheit erinnern?«

»Opa! Du kommst vom Thema ab.«

Der König seufzte kurz, dann erzählte er weiter. »Um Sarah eine Lektion zu erteilen, wirft der Schwarze Tiger sie hoch in die Luft. Sarah schreit angstvoll auf. In diesem Moment registriert Shardik suchende Geistimpulse. Er springt mit einem mächtigen Satz in die regennasse Dunkelheit und kommt bald darauf mit zwei schwarzen Kutten im Maul zurück.«

»Woher hat er sie?«

»Er hat zwei Schatten getötet und freut sich diebisch darüber. Danach macht er sich aus dem Staub.«

»Warum hat er es so eilig?«

»Er will wieder mit der Goldenen Schlange Mar kämpfen.«

»Er scheint nichts aus seiner Niederlage gelernt zu haben«, meinte Birthe, »aber diesmal hat er sich anständig benommen.«

»Shardiks Stimmung ändert sich wie das Wetter. Er trifft auf Tanelorn, der immer noch hinter den Kindern her ist. Beide mögen sich nicht. Shardik will ihn schon erschlagen – ein Prankenhieb hätte gereicht. Doch dann verzichtet er auf den Totschlag.«

»Warum?

»Er will herausbekommen, was Tanelorn vorhat.«

»Man kann doch einen Fremden nicht einfach töten!«

»In der Wildnis gelten andere Gesetze«, entgegnete der König. »Dort kann jede Kreatur nur einen Fehler machen. Die Gelegenheit für einen zweiten gibt es nicht.«

»So genau will ich das gar nicht wissen«, rief Birthe und verlangte: »Erzähl mir lieber etwas über die Kinder.«

»Sie setzen ihre Flucht fort. Diesmal haben sie es besonders eilig. Beowulf vermutet einen Suchtrupp in der Nähe.«

»Woher will er das wissen?«

»Er glaubt, dass die beiden getöteten Schatten nicht allein waren. Damit liegt er richtig. Nur einen Tag später werden sie überfallen. Tanelorn eilt ihnen zur Hilfe.«

»Warum tut er das?«

»Tanelorn kann nicht zulassen, dass die Kinder in die Hände der Schatten fallen. Er will die Kinder für sich.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Du wirst es noch verstehen.«

Birthe nahm es hin und wollte wissen: »Wie geht der Überfall aus?«

»Beowulf tötet die Söldner, und Tanelorn tötet den Schatten. Shardik beobachtet den Kampf nur, weil er hofft zu erfahren, wer die fünfzig Schatten in Rydaheim getötet hat.«

»Er hätte die Kinder beschützen müssen.«

»Shardik ist nun mal Shardik.«

»Findet er heraus, wer die fünfzig Schatten getötet hat?«

»Seine Hoffnung erweist sich als trügerisch. Er sieht nur, dass die Kinder verängstigt im Gebüsch hocken.«

»Wo andere ein Herz haben, hat Shardik einen Stein«, schimpfte Birthe: »Sarah und Rabea hätten sterben können.«

»Es ist ja glimpflich ausgegangen«, beruhigte der König sein Enkelkind und fuhr fort: »Nur einen Tag später lässt sich Sarah zu einer großen Dummheit hinreißen. Sie beschließt wegzulaufen, da sie glaubt, so die Gefahr von Rabea und Beowulf nehmen zu können.«

»Sie kann doch gar nicht weglaufen«, rief Birthe und argumentierte: »Thor findet sie mit seiner Nase im Handumdrehen.«

»Sarah überlistet Thor, obwohl es gar nicht ihre Absicht ist. Sie sitzt am Ufer eines breiten Flusses, sieht einen im Wasser treibenden Baum auf sich zukommen, klettert auf den Stamm und lässt sich flussabwärts treiben.«

»Wie kann man so eine Riesendummheit machen!«

»Ich wiederhole mich nur ungern, aber Kinder – besonders Kinder in deinem Alter – sind unberechenbar und zu jeder Dummheit fähig.«

»Opa! Erzähl lieber, wie es weitergeht.«

»Sarah muss die ganze Nacht auf dem im Fluss treibenden Baum ausharren und wird von tausend Ängsten geplagt. Erst als der neue Tag heraufdämmert, strandet der Baum in Ufernähe. Sie verlässt ihn und klettert die Böschung hinauf. Dort ist sie mutterseelenallein.«

»Die arme Sarah«, rief Birthe. »Die Wölfe werden sie aufspüren, und sollte das nicht geschehen, wird wahrscheinlich ein Bär über sie herfallen.«

»Das alles hätte ihr zustoßen können«, gab der König zu, »doch es kommt anders. Nicht weit von ihr spielt sich eine zweite Tragödie ab. Caleban trifft auf die Goldene Schlange Mar und lässt sich von ihr provozieren. Er greift sie an.«

»Wer ist Caleban?«

»Caleban ist ein Centaurianer – so wie Shardik. Sein Fell ist aber weiß und mit schwarzen Streifen durchsetzt. Wir Menschen nennen sie Weiße Tiger.«

»Ist er genauso schlimm wie Shardik?«

»Er ist jung und gutmütig.«

»Warum greift er dann die Goldene Schlange an?«

»Ihm gelüstet es nach Ruhm und Ehre. Sein Wunsch nach Anerkennung ist so groß, dass er völlig vergisst, mit wem er es zu tun hat. Die uralte und mächtige Mar ist ihm in allen Belangen überlegen.«

»Also stirbt er.«

»Viel hat nicht gefehlt.«

»Was hat ihn gerettet?«, wollte Birthe wissen.

»Mar schlingt ihren baumstarken Körper um den jungen Tiger und will ihn erdrücken. In diesem Moment betritt Sarah den Kampfplatz. Sie sieht die Goldene Schlange und gerät in Panik.«

Sofort wandte Birthe ein: »Das hilft doch dem armen Tiger nicht.«

»Hast du schon vergessen, was passiert, wenn Sarah in Panik gerät?«

»Willst du damit sagen, dass ihre Geistkraft wieder hervorbricht?«

»So ist es. Ihre Geistkraft tötet die Goldene Schlange. Sarah bekommt davon aber nichts mit. Sie sinkt ohnmächtig zu Boden.«

»Wer eine böse Goldene Schlange tötet, sollte sich freuen und nicht ohnmächtig werden«, erklärte Birthe und machte ein altkluges Gesicht.

»Ein geistiger Angriff kostet stets viel Kraft. Sarah steht kurz vor dem Erschöpfungstod.«

»Warum hilft Caleban ihr nicht?«

»Ihm ergeht es nur wenig besser. Mars Schlangenkörper hat wie ein Schraubstock gearbeitet und dem jungen Tiger fast jede Luft genommen. Er verliert ebenfalls das Bewusstsein.«

Erschrocken rief Birthe: »Muss Sarah ihre gute Tat mit dem Leben bezahlen?«

»Sie hat Glück im Unglück. Shardik und Lara sind in der Nähe. Sie suchen die Goldene Schlange Mar.«

»Wer ist Lara?«

»Calebans Mutter.«

»Und wieso schon wieder Shardik?«

»Shardik und Lara registrieren Sarahs geistigen Angriff, eilen zum Ort des Geschehens und können kaum glauben, was sie dort sehen.«

»Sie sollen nicht staunen, sondern Sarah helfen.«

»Keine Sorge«, beruhigte der König. »Lara rettet das Kind mit ihrer Geistkraft vor dem Erschöpfungstod.«

»Und was ist mit dem jungen Weißen Tiger?«

»Als Caleban aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, schimpft Lara ihn einen Dummkopf. Zum Schluss befiehlt sie ihm, bei Sarah zu bleiben und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen.«

»Dann ist doch alles gut.«

»Nur auf den ersten Blick«, erwiderte der alte König. »Mars Tod führt zu neuen Verwicklungen.«

»Wieso das?«, wunderte sich Birthe.

»Shardik hat einen teuflischen Einfall. Er nimmt Mars Kopf in sein Maul und verschwindet mit ihm.«

»Was hat er vor?«

»Das wirst du erfahren, wenn ich dir vorlese.«

»Dann fang an!«

»Vorher möchte ich dich noch darauf hinweisen, dass Shardik nun weiß, wer die fünfzig Schatten in Rydaheim getötet hat.«

»Wie hat er das herausbekommen?«

»Wer eine Goldene Schlange töten kann, muss über ungewöhnlich starke Geistkräfte verfügen. Und Shardik hat ja von Tanelorn erfahren, dass Sarah auf dem Marktplatz war, als die Katastrophe geschah.«

Birthe nickte. Dann schaute sie auf das aufgeschlagene Buch, schätzte die Anzahl der gelesenen Seiten und sparte nicht mit Kritik: »Du hast mir nicht alles erzählt. Schau dir die vielen Seiten an. Im Buch steht viel mehr.«

»Es ging nicht anders«, verteidigte sich der König und strich Birthe über das Haar. »Unser Hauptaugenmerk gilt doch dem zweiten Buch.«

»Dann fang endlich an. Und lass ja keine Seite aus.«

Der König zog das Buch zu sich heran und begann zu lesen.

Schon nach wenigen Minuten fügten sich die Wörter zu einem Nest, in dem es sich gut aushalten ließ. Der alte König und Birthe versanken in eine andere Welt ...

*

Das Abenteuer

Shardik näherte sich Rydaheim. Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit konnte er die Stadt ohne Schwierigkeiten ausmachen. Jedes Fenster glich einem funkelnden Auge, und Rydaheim besaß viele Fenster. Der Schwarze Tiger fühlte sich an eine hundertköpfige Schlange erinnert, deren Häupter mit den paarweise funkelnden Augen wild durcheinander lagen. Er tat sich schwer, zu verstehen, was Menschen dazu trieb, dicht an dicht in kleinen Häusern zu wohnen.

In seinem Maul trug er den in ein grobes Tuch verhüllten Kopf der Goldenen Schlange Mar. Der Schlangenkopf wog einiges. Shardik merkte es kaum. Wenn es sein musste, konnte er einen toten Bullen viele hundert Schritte weit schleifen.

Shardik hatte in voller Absicht die Dunkelheit für seinen Stadtbesuch gewählt. Er wusste, dass er auf die meisten Menschen wie der leibhaftige Teufel wirkte, was ihn oft dazu verleitet hatte, ihnen Beine zu machen. Heute wollte er kein Aussehen erregen. Er hatte anderes im Sinn. Sein Ziel war die düstere Burg am Rande der Stadt. Sie gehörte den Boaden.

Der Schwarze Tiger bekämpfte die Boaden, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Allerdings bekämpfte er sie nur, wenn er sicher war, dass es keine Zeugen gab. Er spielte aus vielerlei Gründen ein doppeltes Spiel. Ihm war auch nicht verborgen geblieben, dass die Boaden begonnen hatten, die Menschen zu unterjochen. Der zu diesem Zweck geschaffene Schlangenkult war in aller Munde.

Warum agieren sie so umständlich? Für die Boaden wäre es ein Leichtes, alle Menschen zu versklaven oder umzubringen. Warum diese billige Masche mit der Religion? Dahinter muss eine sorgfältig geplante Schweinerei stecken! Alles, was die Boaden machen, dient ausschließlich ihren dreckigen Zielen. Was sind ihre Ziele?

Eine Antwort blieb ihm versagt.

Wer oben bleiben will, muss stets den richtigen Zug machen. Das gelingt nur, wenn man seinen Gegner und seine Ziele kennt. Ich kenne weder das eine noch das andere.

Weil er so wenig wusste, hatte er eine lose Kooperation mit den Boaden eingefädelt oder besser gesagt, einer solchen zugestimmt. Heute war er sich nicht mehr so sicher, wer damals was eingefädelt hatte. Gor ist eine ebenbürtige Gegnerin. Möglicherweise hat sie mir die Kooperation aufgeschwatzt. Shardik dachte darüber nach und kam zu dem Schluss: Sie werden mir nie eine wirkliche Information geben, aber das gilt auch umgekehrt.

Trotzdem wollte er die Kooperation so lange wie möglich aufrechterhalten. Er hoffte, nebensächliche Informationen aufzuschnappen, die sich später zu einem größeren Bild zusammenfügen ließen.

Heute hatte er die einmalige Gelegenheit, eine unerhörte Provokation zu starten. Er ging noch einmal alles durch. Am Ende sagte er sich: Verlieren die Boaden die Nerven, werden sie über mich herfallen. Der Gedanke erregte ihn. Er liebte unmögliche Situationen. Sie trieben ihn stets zu spektakulären Leistungen.

Schließlich stand der Schwarze Tiger vor der Boaden-Festung. Der Silberschein des Mondes verlieh der rabenschwarzen Burg ein täuschend prachtvolles Aussehen. Jeder Turm glänzte. Man hätte glauben können, dass Zauberei im Spiel war.

Shardik ließ sich davon nicht beeindrucken. Mit federnden Schritten ging er auf das große, mit Eisen beschlagene Eichentor zu und schlug mit der Pranke heftig gegen das Holz. Ein dumpfes Dröhnen unterbrach die Stille. Der seltsame Zauber, der eben noch über dem dunklen Gemäuer geschwebt hatte, erlosch schlagartig. Die Burg glich jetzt einer finsteren Festung, die keine Fremden duldete.

Das Schweigen sammelte sich erneut.

Als Shardik anfing, ungeduldig zu werden, öffnete sich eine kleine Luke im Tor. Der Kopf eines Boaden erschien. Shardik fühlte sich angestarrt. Sehen konnte er das Anstarren ja nicht. Die Kapuze zeigte nur eine schwarze Leere.

Dann geschah etwas, womit der Schwarze Tiger nicht gerechnet hatte. Die gesichtslose Kapuze zuckte zurück, und die Luke wurde mit einem lauten Knall hastig zugeschlagen.

Sieh an. Das schwarze Gespenst hat Angst. Womöglich sind die Boaden gar nicht so sehr verschieden von anderen Völkern.

Nach zäh dahinfließenden Minuten – Shardik übte sich, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, in Geduld – öffnete sich das Tor.

Mehrere Boaden empfingen ihn. Einer trat hervor und rief: »Mögen die Goldenen Schlangen die Galaxis beherrschen!«

Shardik ignorierte den Gruß. Die Goldenen Schlangen als Herrscher der Galaxis waren das Letzte, was er sich wünschte.

Der Boade fuhr fort: »Mein Name ist Gor-Lart. Folge mir!«

Bevor der Schwarze Tiger der Aufforderung nachkam, prägte er sich die zahlreichen weißen Stickereien auf der Kutte von Gor-Lart ein. Es war die einzige Möglichkeit, die schwarzen Gestalten auseinanderzuhalten. Shardik wusste, dass sie die Fähigkeiten ihres Trägers widerspiegelten. Ihre genaue Bedeutung wusste er aber nicht.

Schweigend passierten sie fensterlose Gänge. In regelmäßig auftauchenden Eisenschalen brannte Öl. Ihr mageres Licht konnte die Dunkelheit nur unzureichend vertreiben. Shardik störte sich nicht daran. Gewissenhaft merkte er sich jede Abzweigung, um im Notfall allein zum Tor finden zu können. Nebenbei staunte er über das Mauerwerk. Die großen Felsquader ließen auf eine gewaltige Stärke schließen.

Sie erreichten eine steinerne Treppe, die vor eisernen Flügeltüren endete. Gor-Lart öffnete sie und ließ den Schwarzen Tiger vorangehen.

Mit neugierigen Augen maß Shardik den Thronsaal. Seine Länge schätzte er auf mindestens sechzig, seine Breite auf gut vierzig Schritte. Als er nach oben schaute, musste er zur Kenntnis nehmen, dass das Dachgebälk baumhoch war. Groß und breit waren auch die bemalten Glasfenster. Es war keine Frage, dass sie tagsüber in satten Farben strahlten. Doch jetzt hauchte ihnen das Mondlicht ein seltsam blasses Leben ein. Irritiert schaute Shardik sie an. Er war kein Schöngeist und hatte sich so gut wie nie für die Kulturleistungen anderer Völker interessiert. Die gläsernen Motive sagten ihm nichts.

Shardik konzentrierte sich wieder auf die nähere Umgebung. Der Thronsaal war gewaltig, aber größtenteils leer. Tische und Stühle fehlten, kostbare Kunstwerke ebenso. An den Wänden hingen nur Waffen und Eisenschalen, in denen Öl brannte. Letztere konnten den großen Saal nicht aus seinem dämmrigen Zustand befreien. Der Schwarze Tiger registrierte jede Kleinigkeit, wusste aber zugleich, dass seine Maßstäbe fehl am Platz waren. Niemand versteht die Boaden. Nicht einmal meine Großväter, die ihre Gefangenen waren, wussten mit ihnen etwas anzufangen.

Sein Blick wanderte zur Stirnseite des Saals. Eigentlich hatte er dort einen prächtigen Thron erwartet. Er sah aber nur eine überdimensionierte Schale. Sie war Mittelpunkt eines großzügigen Podestes, das durch umlaufende Stufen mit dem steinernen Boden eine gelungene Einheit darstellte.

In der großen Schale ruhte Gor. Sie hatte sich eingerollt. Scheinbar wollte sie ihre außergewöhnliche Größe verstecken. Einen aufmerksamen Beobachter konnte sie damit nicht täuschen. Ihr baumdicker Rumpf verriet deutlich, dass es keine zweite Schlange gab, die es ihr an Kraft und Größe gleichtat.

Alles an Gor war ungewöhnlich. Ihr gewaltiger Kopf erinnerte an ein saurierähnliches Urgeschöpf. Ihr baumdicker Schlangenkörper war ein einziger riesiger Muskel. Was sie aber wirklich stark machte, waren ihre unvergleichlichen Geistkräfte. Doch niemand wusste, wozu Gor fähig war. Nur selten in ihrem scheinbar ewig währenden Leben hatte sie zeigen müssen, was in ihr steckte.

Shardik spürte Gors Gefährlichkeit, weigerte sich aber, darüber nachzudenken. Er dachte nur an sein wahnwitziges Vorhaben. Gemessenen Schrittes ging er auf den Thron zu. Seine Augen ließ er unablässig wandern.

Neben Gor, jeweils links und rechts, rekelten sich zwei weitere Goldene Schlangen in flachen Schalen.

Die goldene Brut ist zahlreicher, als ich angenommen habe. Shardik fühlte eine leichte Unruhe. Verärgert schüttelte er sie ab.

Die drei Goldenen Schlangen waren nicht allein. Hinter dem Thron hatten sich knapp zwanzig hochdekorierte Boaden aufgereiht. Ihre Reglosigkeit machte sie schwarzen Obelisken gleich.

Gor scheint sich nicht sicher zu fühlen. Sofort korrigierte Shardik sich. Blödsinn! Diese Teufelin muss mich nicht fürchten. Es ist eine Machtdemonstration, die mich beeindrucken soll.

Sechs Schritte vor dem Podest blieb der Schwarze Tiger stehen und ließ sein Bündel auf den Boden plumpsen.

»Ich grüße dich, Shardik«, eröffnete Gor das Gespräch. Sie war klug genug, den Gruß der Boaden zu unterlassen. Einschmeichelnd fuhr sie fort: »Dein Erscheinen überrascht und freut uns zugleich. Es tut gut, dich zu sehen.«

Ob es wirklich guttut, mich zu sehen, werden wir gleich erleben Laut sagte er: »Ich grüße dich, Gor, Herrscherin der Boaden.«

»Was führt dich zu uns?« Gors Schlangenkopf wiegte sich ein wenig hin und her. Das sachte Wiegen machte den Eindruck, als ahne sie das kommende Unheil.

»Darf ich direkt zur Sache kommen?« fragte Shardik betont höflich.

Gor nickte.

Der Schwarze Tiger hielt mit einer Pranke das Stoffende fest und gab mit der anderen Pranke dem vor ihm liegenden Bündel einen kräftigen Schubs, sodass es sich aufrollte. Nach wenigen Umdrehungen kam der riesige Kopf der Goldenen Schlange Mar zum Vorschein und polterte gegen die unterste Stufe des Podestes. Der Kopf hatte seine goldene Farbe verloren. Sein düsteres Aussehen erinnerte nur allzu deutlich an die Vergänglichkeit des Lebens.

Mars Kopf auf diese Weise zu präsentieren war eine Provokation, die ihresgleichen suchte. Shardik wusste es, schaffte es aber so gut wie nie, seine Pfoten von solch selbstmörderischen Spielchen zu lassen.

Kein Wort fiel. Niemand im Saal rührte sich. Scheinbar hatte ein unsichtbares Wesen die Zeit angehalten. Mars schauriger Anblick lähmte jeden. Noch nie war auf der Erde der gewaltsame Tod einer Goldenen Schlange zu beklagen gewesen.

Dann war es mit der Stille vorbei. Die zwei Goldenen Schlangen, die Shardik unbekannt waren, zischten in höchster Erregung. Ihre Köpfe liefen blaurot an. Beide kannten nur ein Ziel – beide krochen auf den Schwarzen Tiger zu. Ihr offensichtliches Vorhaben glich einem Signal. Die bisher reglosen Boaden erwachten ebenfalls zum Leben. Sie zogen ihre Schwerter und formierten sich. Undefinierbare Schreie gellten durch den Thronsaal und steigerten sich zu einem Lärm, der einer körperlichen Bedrohung gleichkam.

Shardik blieb äußerlich ruhig, obwohl seine Nerven zum Zerreißen angespannt waren. Die Schreie wunderten ihn. Sie passten nicht zu seinen Vermutungen über die eigentliche Natur der Boaden. Im Moment war aber anderes wichtiger. Sein suchender Blick fiel auf die Fenster. Ihre Höhe von anderthalb Menschenlängen war keine wirkliche Herausforderung für ihn. Instinktiv wusste er, was zu tun war, sollte es zu einem aussichtslosen Kampf kommen. Sein Blick wanderte weiter und blieb an Gor hängen.

Ihr mächtiger Körper regte sich nicht. Nur ihr Schlangenkopf wurde abwechselnd blass und rot, grün und violett. Schließlich verlor sich das wechselvolle Farbenspiel. Zurück blieb ein unheilkündendes Pflaumenblau. Ihre Augen verrieten noch mehr. In ihnen spiegelte sich eine tierische Wut, gepaart mit einem unbändigen Hass auf alles Lebendige, das anders war als sie selbst.

Shardik war wider Willen beeindruckt. Gors stille mörderische Wut zeigte ihm ihre wirklichen Fähigkeiten. Obwohl er glaubte, keine Angst zu kennen, saß sie ihm nun im Nacken – zumindest für einen subjektiv qualvoll langen Augenblick. Instinktiv schielte er zum Fluchtfenster.

Aber Gor war Gor. In ihr war mehr Lebenserfahrung versammelt als in ihrem ganzen Volk. Sie unterdrückte ihre Rachegefühle, folgte ihrer kalten Logik und sendete einen überaus starken telepathischen Befehl.

Binnen weniger Sekunden war der Spuk vorbei. Die beiden Goldenen Schlangen ruhten wieder in ihren Schalen, und die Boaden hatten ihre Schwerter unter den Kutten verschwinden lassen. Alles war wieder so wie zuvor. Nur die Stille war anders. Sie hatte sich zu einer schweigenden Drohung verdichtet.

Gor nutzte die Stille auf ihre Weise. Fieberhaft dachte sie über Mars Tod nach. Er war ihr völlig unverständlich. Was ist ihr zugestoßen? Wer oder was besitzt Geistkräfte, die unseren gleichen? Welche Rolle spielt Shardik in diesem makabren Spiel? Voller Misstrauen musterte sie den Schwarzen Tiger. Mit einer nicht zu überhörenden Schärfe sagte sie: »Shardik! Du bist uns eine Erklärung schuldig. Ich hoffe für dich, dass sie überzeugend ist.« Eiskalt blickende Schlangenaugen starrten den Schwarzen Tiger an. Gors Blick war der eines unnachgiebigen Herrschers, der Willkür ablehnte, aber keine Gnade kannte.

Shardik wusste, dass sein Leben am seidenen Faden hing. Schon ein falsches Wort kann mich den Kopf kosten. Es ist wie beim Schach. Die beste Stellung kann durch einen einzigen mittelmäßigen Zug versaut werden. Der Vergleich gefiel ihm. Eine Schachpartie mit lebendigen Figuren war ganz nach seinem Geschmack.

Sofort machte er den nächsten Schachzug. »Viele Tagesreisen von hier in nordöstlicher Richtung stieß ich auf die vor euch liegende Goldene Schlange. Den Kampf habe ich um wenige Minuten verpasst, aber ein junger Centaurianer und ein Menschenkind versicherten mir glaubhaft, sie getötet zu haben.«

»Das kann nicht sein«, erwiderte Gor mit gepresster Stimme. »Die tote Goldene Schlange war Mar. Ihr Leben währte mehr als siebzigtausend Jahre. Sie wäre mit jedem Centaurianer fertig geworden. Es muss ...«

»Er lügt!«, schrie die Goldene Schlange links von Gor mit sich überschlagender Stimme. »Er hat sie getötet und ihren Geist übernommen!«

»Warum bin ich dann hier?«, entgegnete Shardik ungerührt.

Die andere Goldene Schlange zischte böse und antwortete: »Wir werden es bald wissen.« Grausam lächelnd fügte sie hinzu: »Du glaubst gar nicht, was du uns alles erzählen wirst, wenn wir dich nachdrücklich darum bitten.«

»Tar! Ser!«, zischte Gor. »Ich möchte nicht noch einmal unterbrochen werden.« Dann befahl sie: »Gor-Kara! Bring Mar ins Labor. Tar leitet die Untersuchung. Ich wünsche einen Bericht – und zwar umgehend!«

Der angesprochene Boade – er war mit Abstand der größte in der Schar der schwarzen Kutten – trat hervor, hob Mars Kopf vom Boden auf und entfernte sich. Tar, die rechts von Gor gelegen hatte, schlängelte hinter ihm her.

»In wenigen Minuten wissen wir mehr«, prophezeite Gor und wandte sich an Shardik: »Erzähl weiter.«

»Das Menschenkind, ein etwa zwölfjähriges Mädchen, berichtete mir von einer zweiten Auseinandersetzung.«

»Eine zweite Auseinandersetzung?«

»Einige Tage zuvor hatte das Mädchen zwei Boaden getötet. Mehr weiß ich nicht.« Shardik rieb sich gedanklich die Pranken. Kleine Übertreibungen haben noch nie geschadet. Trotz seiner Genugtuung litt seine Aufmerksamkeit nicht. Er behielt Gor im Auge und sah mit diebischer Freude, dass sie um ihre Fassung rang.

»Zwei Boaden«, wiederholte Gor fast unhörbar, »getötet von einem Menschenkind.« Dann riss sie sich zusammen, konzentrierte sich und ordnete die Ereignisse der letzten Wochen. Der einzige überlebende Söldner hat berichtet, dass Mar-Dan und Mar-Dar von einem nächtlichen Ausflug nicht zurückgekehrt waren. Gor-Quas wurde zwei Tage später getötet. Das gesuchte Menschenkind war in Begleitung von zwei Männern und einem großen, kampferfahrenen Hund. Fieberhaft versuchte Gor, sich jedes Wort des Verhörs ins Gedächtnis zu rufen. Es waren zwei Menschenkinder. Beide haben im Kampf nicht eingegriffen. Merkwürdig? Warum haben sie nicht gekämpft?

Gor bedauerte, den überlebenden Söldner umgebracht zu haben. Gern hätte sie ihn noch einmal befragt. Wieder und wieder ließ sie sich das Verhör durch den Kopf gehen, schälte die Fakten heraus und verglich sie mit Shardiks Worten. Manches ließ sich anders deuten, wenn man wollte. Letztlich musste sie sich eingestehen, dass sie Shardik nichts Konkretes vorwerfen konnte. Seine Geschichte klingt plausibel, aber das muss nicht bedeuten, dass sie wahr ist.

Die Goldene Schlange fand wieder in die Gegenwart zurück und fragte Shardik: »Warum hast du das Menschenkind und den jungen Centaurianer nicht getötet? Ihr Tod wäre im Interesse unserer Kooperation gewesen.«

»Damit hätte ich mich offen gegen mein Volk gestellt. Das wäre eine unverzeihliche Dummheit gewesen. Mar war doch schon tot.« Shardik konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen und fügte hinzu: »Auf dieser Welt gilt das Recht des Stärkeren.«

»Wenn es wirklich so ist, steht mir das Recht zu, dich auf der Stelle umzubringen«, zischte Gor mit wutbebender Stimme. Ihr riesiger Kopf zuckte wie eine Peitsche vor und zurück. Dabei starrte sie den Schwarzen Tiger durchdringend an. Scheinbar wollte sie ihn mit ihrem Blick zu Asche verbrennen.

Shardik hielt dem Blick stand, fühlte sich aber alles andere als wohl. Nur ein Ungeheuer kann ein Volk von Ungeheuern führen. Instinktiv schielte er zum Fluchtfenster. Doch sein Verstand wollte davon nichts wissen. Jetzt schon das schöne Spiel abzubrechen, wäre eine Schande.

»Was dich daran hindert, mich umzubringen, kann ich dir sagen.« Shardik dachte kurz nach und entschied sich, weiteres Salz in die offene Wunde zu streuen. »Vor nicht allzu langer Zeit hast du rund fünfzig Hochbegabte deines Volkes verloren. Alles deutet darauf hin, dass ihr Tod ebenfalls auf das Konto des Mädchens geht. Anders lässt sich die von dir ausgesetzte Belohnung nicht erklären. Mar und zwei Boaden sind hinzugekommen.« Der Schwarze Tiger ließ einige Sekunden verstreichen, dann fügte er hinzu: »Dein zahlenmäßig kleines Volk ist noch kleiner geworden. Du musst jetzt viele fürchten, die du vor wenigen Mondumläufen nicht fürchten musstest. Stellst du dich gegen alles und jeden, wirst du am Ende verlieren.«

Gor zuckte unmerklich zusammen.

Shardik registrierte es mit Befriedigung.

Eilig warf Ser ein: »Du unterschätzt die Größe unseres Volkes. Wir sind so viele wie Blätter auf den Bäumen.«

»Wenn du den Spätherbst meinst, gebe ich dir Recht«, entgegnete Shardik ungerührt und fuhr fort: »Das rätselhafte Mädchen hat euch sehr geschadet, und was es euch noch antun wird, ist völlig offen. Ihr müsst auch die Centaurianer und die Mutanten fürchten. Selbst die Menschen können euch jetzt durch ihre große Zahl gefährlich werden.«

»Was bezweckst du mit dieser lächerlichen Aufzählung?«

»Was soll mein Tod?«, entgegnete der Schwarze Tiger »Noch stehe ich auf eurer Seite.«

Sers Antwort reduzierte sich auf ein wütendes Zischen.

Gor hieß sie schweigen und verfiel ins Grübeln. Shardiks Analyse trifft ins Schwarze – auch wenn er uns und besonders mich gewaltig unterschätzt. Wer ein so guter Analytiker ist, hat sich aber auch genau überlegt, was er mit diesem provozierenden Besuch erreichen kann. Was ist seine wahre Absicht? Unsere vereinbarte Kooperation hat ihn nicht zu mir gebracht. Sie war nur der Türöffner. So sehr sich Gor auch mühte, Shardiks Absichten konnte sie nicht deuten. Schließlich wurde sie abgelenkt.

Tar und Gor-Kara betraten den Saal und näherten sich dem Thron.

»Berichtet«, befahl Gor knapp, »Shardik kann mithören.«

Mit tonloser Stimme erklärte Tar: »Die Bissspuren stammen von einem jungen Centaurianer.«

Gor-Kara fügte hinzu: »Warum Mars Geist nicht überlebt hat, lässt sich nicht mehr feststellen.«

Ratloses Schweigen machte sich breit.

»Vielleicht hat das Menschenkind nur Glück gehabt,« flüsterte Gor, »einfach nur unendlich viel Glück gehabt.«

»Nein«, erwiderte Shardik halblaut. »Zweimal hintereinander so viel Glück zu haben, ist nahezu unmöglich. Das rätselhafte Menschenkind hat die jeweilige Situation eiskalt genutzt.«

Seine Worte erhöhten die im Saal herrschende Ratlosigkeit.

Doch Gor erholte sich schnell von ihrer Ratlosigkeit. Sie hatte noch einen Pfeil im Köcher. Ein undefinierbares Leuchten trat in ihre Augen, als sie Shardik direkt anblickte, um jedes Mienenspiel mitzubekommen. »Warum das makabre Spiel, uns Mars Kopf vor die Füße zu werfen?«

»Hättest du mir die Geschichte ohne Mars Kopf geglaubt?«

Beide starrten sich an. Keiner wollte nachgeben.

Schließlich schüttelte Gor ihren mächtigen Reptilienkopf. »Nein, das hätte ich nicht. Die Geschichte ist selbst mit Kopf nahezu unglaublich.« Für sich dachte sie: Shardiks Antwort war die bestmögliche. Sollte er ein falsches Spiel treiben, hat er sich heute selbst übertroffen.

Gors Blick wanderte ziellos umher. Schließlich sagte sie mit müder Stimme: »Shardik! Wir danken dir für dein Kommen. Für die eine oder andere unnötige Bemerkung entschuldige ich mich. Mars Tod hat uns etwas aus dem Gleichgewicht gebracht.« Sie schaute ihn direkt an und fragte: »Können wir noch etwas für dich tun?«

»Nein«, antwortete Shardik. »Zieht aus meinen Informationen die richtigen Schlüsse.« Im selben Moment überkam ihn die Lust, ein wenig zu heucheln. »Mögen die Goldenen Schlangen die Galaxis beherrschen!«

Gor schaute ein wenig irritiert. Nach einem kurzen Zögern erwiderte sie den Gruß. »Sie werden dich schirmen und schützen!«

Zwei Boaden traten vor und begleiteten Shardik zum Ausgang.

Wenige Minuten später schloss sich die schwere Eichentür hinter dem Schwarzen Tiger.

Shardik war bester Laune. Er hatte mehr erfahren, als er für möglich gehalten hatte. Darüber hinaus hatte er die Boaden verunsichert. Aus Unsicherheit entstehen Fehler, dachte er grimmig. Das wird aber nur passieren, wenn ich ihre Unsicherheit weiter schüre. Ich muss dafür sorgen, dass ihnen die Zwillinge nicht in die Hände fallen.

Dann lebte er sein Hochgefühl aus. Er stürmte in die Dunkelheit, bewunderte die sternklare Nacht und sog die frische Luft mit tiefen Zügen ein.

*

Die grauen Finger der Morgendämmerung griffen nach den erbleichenden Sternen und löschten sie aus. Im Osten wurde das Licht intensiver. Ein neuer Tag begann.

Shardik hatte sich nordwärts gewandt. Dort vermutete er die Kinder. Er wollte sie beschützen, aber auch beobachten. Nur allzu gern hätte er gewusst, wie stark ihre geistigen Kräfte waren. Darüber hinaus quälten ihn eine Reihe Fragen. Wer sind die Mädchen überhaupt? Wieso verfügen sie über die Geistkraft? Können sie mir Schwierigkeiten machen? Dann musste er an Tanelorn denken. Er war stets in der Nähe der Kinder. Was sind seine Absichten? Welches Spiel treibt er?

Völlig in Gedanken trottete er vor sich hin.

Plötzlich schreckte er hoch. Ein anderer schwarzer Tiger stand vor ihm. Er schien aus dem Boden gewachsen zu sein. Der unbekannte Tiger war ihm zum Verwechseln ähnlich. Shardik starrte sein Ebenbild sprachlos an. Doch etwas Entscheidendes fehlte. Seine empfindliche Nase konnte keine Witterung aufnehmen. Sofort tastete er mit seiner Geistkraft nach der fremden Geistidentität und fand seine Vermutung bestätigt.

»Was soll die Maskerade?«, brummte er. »Zeig dich oder ich mach dir Beine!«

»Aber Shardik! Wo bleibt dein gutes Benehmen?« Der fremde Tiger setzte sich und gab vor, sich am Kopf zu kratzen. »Entschuldige! Du hast ja kein Benehmen! Wie konnte ich das vergessen!«

»Wer bist du?«, fragte Shardik ungerührt. »Was willst du von mir? Warum hast du meine Gestalt angenommen?«

»Ich bin Thuvia, die Elfe. Warum ich deine Gestalt angenommen habe, ist schnell gesagt. Ich wollte auch mal jemand sein, in dem nur heiße Luft steckt.«

Unwirsch schlug Shardik mit seiner Tatze nach ihr. Sie fuhr – ohne auf den geringsten Widerstand zu treffen – durch den vorgegaukelten Tiger.

Ich Idiot, ärgerte sich Shardik. Der Tiger ist doch nur das geistige Produkt der Elfe.

»Du bist stark, aber kein Geistriese«, neckte Thuvia ihn. »Wäre es nicht besser, wenn dein Kopf wüsste, dass drei mal vier zwölf ist?«

Shardik wusste sehr wohl, dass die Elfe ihn absichtlich reizte. Trotzdem ärgerte er sich. Kein vernunftbegabtes Wesen hat es bisher gewagt, mich herauszufordern. Jeder, der halbwegs klar denken kann, fürchtet mich.

Stolz und Eitelkeit waren Shardik nicht fremd. Und nun das! Mit den Elfen hatte er noch nie etwas Richtiges anfangen können. Und weil das so war, hatte er sie in die Schublade gesteckt, in die er alle unverstandenen Wesen hineinzustecken pflegte.

»Was willst du von mir?«, knurrte Shardik.

»Unterhaltung! Nur Unterhaltung!«

»Das glaub ich dir nicht.«

»Warum willst du mir nicht glauben? Selbst die weiseste Elfe braucht jemanden, der ihr zuhört. Und wenn nur ein Depp in der Nähe ist, begnügt man sich eben mit einem Depp.«

Erneut verlor Shardik die Beherrschung und schlug nach ihr. Der Schlag ging natürlich wieder ins Leere, was seinen Ärger erhöhte.

»Shardik, der Schläger«, spottete Thuvia. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du dich darauf verlegt hast, Kinder anzufallen. Ich weiß, dass alte und zahnlose Raubtiere so etwas tun. Oder liegt es an deiner altersschwachen Birne?«

Am liebsten hätte er die Elfe in tausend Stücke zerfetzt. Doch das schied aus. Elfen musste man anders bekämpfen. Shardik wusste es nur zu gut. Es ist nicht einfach, eine Elfe im geistigen Zweikampf zu besiegen, aber ein Versuch ist es allemal wert. Sofort fing er an, seine Geistkraft zu sammeln und zu formen.

»Kennst du den Unterschied zwischen dir und einem Fass ohne Boden?«, fragte Thuvia mit einem spöttischen Unterton. Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Bei einem Fass ohne Boden weiß jeder, dass es leer ist. Bei dir ist es anders. Um ganz sicher zu sein, dass nichts in dir steckt, benötigt man ein Zwei-Minuten-Gespräch.« Mit deutlicher Ironie fügte sie hinzu: »Immerhin hast du dem Fass voraus, dass du deine innere Leere mit deiner imposanten Gestalt kaschieren kannst.« Die Elfe lachte provozierend.

Shardiks kaum noch zu zügelnder Rachedurst näherte sich dem Siedepunkt. Ihm war jetzt alles egal. Als er ausreichend Geistkraft gesammelt hatte, schleuderte er sie – gebündelt wie eine Lanze – der Elfe entgegen.

Thuvia wehrte sich.

Der geistige Kampf wogte hin und her. Lange Zeit stand es nahezu unentschieden. Dann schien der Kampf zu Shardiks Gunsten zu kippen. Die Tigergestalt verschwand.

Shardik triumphierte: Ich habe sie vertrieben.

Im selben Moment riss ihn eine Stimme aus seinem Hochgefühl. »Shardik! Wir sollten jetzt gute Freunde werden.«

Der Schwarze Tiger stutzte, dann packte ihn eine hundsgemeine Angst. Es war nicht Thuvias Stimme, die ihm Angst machte, sondern der Umstand, dass seine Ohren nichts gehört hatten. Entsetzt zog er den einzig möglichen Schluss: Ihre Stimme ist aus meinem Kopf gekommen.

»Verschwinde aus meinem Kopf«, schrie sein aufgebrachter Geist. Instinktiv setzte er sein gesamtes geistiges Potential ein, um Thuvia loszuwerden.

Es war vergebens. Die Elfe blieb in seinem Kopf.

Schließlich gab er den Kampf auf. Shardik begriff, dass er hereingelegt worden war. Thuvia hat mich provoziert und zu einem geistigen Angriff verleitet. Anscheinend kann sie nur so in ein fremdes Bewusstsein eindringen. Was bin ich doch für ein Idiot!

»Shardik! Wir beide sind jetzt eine verschworene Gemeinschaft. Wenn du gegen mich kämpfst, kämpfst du zugleich auch gegen dich.«

»Warum hast du es darauf angelegt?«, stöhnte Shardik.

»Gutes und Böses streiten in dir immerfort. Du fühlst dich nichts und keinem verpflichtet. Wir sollten darüber reden?«

Unbeherrscht schrie sein Geist: »Willst du mich umkrempeln? Willst du aus mir einen zahnlosen Tiger machen?«

»Nein, Shardik! Ich brauche dich so wie du bist.«

»Wieso das?«

»Ich brauche einen großen Kämpfer, weil ich keiner bin.«

»Was willst du von mir?«

»Ich werde dich das eine oder andere Mal bitten, jemanden zu helfen. Das ist alles.«

»Ist das wirklich alles?«

»Ja«, antwortete Thuvia. »Ich werde schweigen und akzeptieren, was auch immer du unternimmst.«

»Wann verlässt du mich wieder?« Shardik konnte diese Frage gar nicht ausklammern.

»Irgendwann – sofern du es dann noch willst – werde ich dich verlassen. Das verspreche ich dir.«

Verwundert wollte er wissen: »Warum sollte ich es nicht wollen?«

»Shardik! Bündeln wir unsere Geistkraft, sind wir nahezu unschlagbar.«

Shardik dachte darüber nach. Ein Machtzuwachs war ganz in seinem Sinne, aber er wollte keine Marionette sein. So sagte er: »Du hast gesagt, du verlässt mich irgendwann. Was heißt das genau?«

»Der Zeitpunkt hängt von den kommenden Ereignissen ab.«

»Willst du, dass ich die Boaden vernichte? Soll ich mit deiner Hilfe die Goldene Schlange Gor töten?«

»Es wäre schön, wenn wir das könnten, aber ich fürchte, dafür sind wir beide zu schwach. Um Gor zu töten, braucht es mehr.«

»Brauchen wir Beowulf und die Kinder?«

»Möglicherweise – aber was die Zukunft uns abverlangt, weiß ich genauso wenig wie du.«

Shardik verfiel ins Grübeln.

Viele Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge sollten vergehen, bis er Beowulf und die Kinder wiedersah.

*

Beowulf und Rabea suchten immer noch nach Sarah. Thor lief ständig hin und her – die Nase stets dicht am Boden. Oft verschwand er im Dickicht der Flussböschung. Beowulf richtete immer wieder das Fernrohr auf das gegenüberliegende Ufer. Dort sah er stets dasselbe: frisches Grün, zahllose Büsche, Bäume unterschiedlichster Art und den trägen sich dahinwälzenden Schlangenfluss. Eine Schleifspur, die auf ein an Land gezogenes Boot hindeutete, entdeckte er nicht.

Für Rabea gab es nicht viel zu tun. An Thors Spürsinn reichte sie nicht heran, und was Beowulf im Fernrohr sah, blieb ihr verborgen. So kam es, dass sie ständig zum Flussufer blickte – stets die Angst im Nacken, dort etwas zu sehen, was sie um nichts in der Welt sehen wollte.

Beowulf wusste längst, dass die planlose Sucherei sinnlos war. Doch wie er das Rabea beibringen konnte, wusste er nicht. Mit Logik allein lässt sich nicht gegen Rabeas Verzweiflung argumentieren. Ich muss mir etwas anderes einfallen lassen.

Schließlich glaubte er, einen Ausweg gefunden zu haben, behielt aber seine Gedanken noch für sich. Stattdessen sagte er: »Rabea! Was ist mit einer Pause. Sie wird uns beiden guttun.«

Rabea nickte wortlos.

Ein trockener Platz war rasch gefunden. Thor legte sich neben Rabea. Seitdem Sarah verschwunden war, ließ er sie nicht mehr aus den Augen. Auch Rabea suchte Thors Nähe. Ihn konnte sie streicheln und drücken, so oft sie wollte, obwohl ihr das kaum zu Bewusstsein kam. Ihr ganzes Denken war auf das ungewisse Schicksal ihrer Schwester gerichtet.

Beide aßen ohne Appetit. Es war mehr der Verstand, der ihnen riet, dem strapazierten Körper zu geben, was er brauchte. Sie wussten, dass ihnen eine langwierige Suche bevorstand. Beide dachten aber unterschiedlich darüber. Während Rabea die riesige Wildnis durchkämmen wollte und felsenfest an ein großartiges Wunder glaubte, feilte Beowulf an seinem Vorhaben, das verzweifelte Kind auf eine andere Fährte zu locken.

Beowulf wartete, bis Rabea mit dem Essen fertig war. Er wartete sogar noch etwas länger und hoffte, dass sie als erste reden würde. Doch ihr Kummer hieß sie schweigen.

Als das Schweigen nahezu unerträglich wurde, schnitt Beowulf mit gebotener Vorsicht das heikle Thema an: »Rabea! Wir müssen einen Plan machen. Wir müssen eine Suchstrategie entwickeln.«

»Was meinst du damit? Wir suchen doch.«

»Wir suchen in einer unermesslich großen Wildnis. Nicht mal hundert Jahre reichen, um hinter jeden Busch zu schauen.«

Trotzig erwiderte Rabea: »Wir besitzen die Langlebigkeit. Wir können zweihundert und mehr Jahre suchen.«

»Auf diese Weise verlieren wir nur kostbare Zeit.«

»Wir müssen Sarah suchen. Es ist das Einzige, was wir tun können.«

»Ja, aber wir müssen es intelligenter anstellen.« Beowulf zögerte. Seine vorbereiteten Argumente erschienen ihm plötzlich zu direkt. Rabea muss die Antworten geben. Ich muss sie ihr in den Mund legen. Mit gespielter Beiläufigkeit fuhr er fort: »Um die Suche halbwegs sinnvoll zu gestalten, müssen wir einige Annahmen treffen.« Beowulf sah das Kind an und fragte: »Glaubst du, dass Sarah gefangen genommen worden ist?«

»Ja!«, antwortete Rabea und fügte mit einer Spur von Heftigkeit hinzu: »Alles andere ergibt keinen Sinn!«

»Ihre Gefangennahme lässt uns nur zwei Möglichkeiten. Die erste lautet: Sarah ist entkommen und läuft allein in der Wildnis herum.«

»Ich weiß nicht, ob Sarah entkommen ist«, wandte Rabea zaghaft ein.

»Wenn dir das nicht glaubhaft erscheint, haben wir hier in der Wildnis nichts verloren.«

»Wieso nicht?«

»Sarah kann dann nur in einem Dorf oder Zeltlager auf der anderen Flussseite sein.«

Rabea schwieg.

»Für eine der beiden Möglichkeiten müssen wir uns entscheiden. Welche ist in deinen Augen wahrscheinlicher?«

Vieles ging Rabea durch den Kopf. Als die Antwort fertig auf ihrer Zunge lag, versagte ihr die Stimme. Von meiner Antwort hängt ab, wo wir Sarah suchen. Mein Gott! Ich bin zum Schicksal meiner Schwester geworden. Schließlich sagte sie mit zittriger Stimme: »Ich glaube, dass Sarah gefangen genommen wurde, aber fliehen wird – möglicherweise schon geflohen ist.«

»Was bringt dich auf diese Idee?«

»Sarah wird die erstbeste Fluchtmöglichkeit nutzen.« Trotzig setzte sie hinzu: »Sie wird sich nach mir sehnen. Das wird ihr helfen zu entkommen.«

»Sehnsucht allein reicht nicht«, gab Beowulf zu bedenken.

»Wenn sie eingesperrt ist, wird ihre Verzweiflung so groß werden, dass ihre Geistkraft hervorbricht.«

»Das klingt vernünftiger«, stimmte Beowulf zu und atmete insgeheim auf. Behutsam entwickelte er den Gesprächsfaden weiter. »Unterstellen wir mal, dass Sarah geflohen ist. Sag mir, was du an ihrer Stelle machen würdest.«

Nach einer längeren Pause antwortete Rabea: »Ich würde flussaufwärts gehen. Nur so können wir uns gegenseitig finden.« Doch sofort schränkte sie ein: »Das Ziel kann nur der letzte gemeinsame Lagerplatz sein. Weiter flussaufwärts zu gehen, macht keinen Sinn.«

»Ich würde es auch so machen«, lobte Beowulf sie und hakte sofort nach: »Nehmen wir einmal an, Sarah findet den Lagerplatz, aber nicht uns. Was dann? Was wäre ihr nächster Schritt?«

Darauf wusste Rabea keine Antwort. Ihr hilfloser Gesichtsausdruck zeigte es deutlich.

»Erinnerst du dich, was ich euch über unser Ziel gesagt habe?«

Rabea schüttelte den Kopf.

»Unser gemeinsames Ziel war der Norden. Der Weg dorthin führt durch die Schrecklichen Sümpfe.«

»Das stimmt«, murmelte sie und erinnerte sich: Sarah wollte wissen, wie schrecklich die Schrecklichen Sümpfe sind. Im selben Moment begriff sie, worauf Beowulf hinauswollte und rief: »Du meinst, Sarah könnte versuchen, uns bei den Schrecklichen Sümpfen zu treffen!«

»Ja«, bekräftigte Beowulf. »Deine Schwester hat nur diesen einen Anhaltspunkt. Sie wird genauso denken, wie du es eben getan hast.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ihr seid Zwillinge. Ihr seid euch im Denken ähnlich. Ihr habt stets alles gemeinsam gemacht.«

»Und was lässt dich glauben, dass Sarah dort auf uns wartet?«

»Die Durchquerung der Schrecklichen Sümpfe bringt sie keinen Schritt weiter. Der Norden ist unfassbar groß. Wo soll sie uns suchen?«

Rabea nickte. Doch schon wandte sie ein: »Und wenn sie nicht dort ist? Sarah könnte anders denken als ich.«

»Dann haben wir noch ein As im Ärmel.«

»Noch ein As? Bisher haben wir so gut wie nichts im Ärmel.«

»In den Schrecklichen Sümpfen lebt der Drache Alina. Sie hat das Zweite Gesicht und kann uns höchstwahrscheinlich sagen, wo Sarah sich aufhält.« Beowulf atmete tief durch. Er hatte jetzt Rabea dort, wo er sie haben wollte.

»Ein richtiger Drache?« Rabeas Neugier war geweckt.

»Ja, ein richtiger Drache.«

Rabea versuchte sich zu erinnern, was sie über diese rätselhaften Echsen wusste. In den Märchenbüchern gab es solche und solche. Je mehr Details ihr einfielen, umso unsicherer wurde sie. Schließlich wollte sie wissen: »Stimmt es, dass man Drachen nicht in die Augen schauen darf?«

»Wie kommst du darauf?«

»Sie sollen den grünen Blick haben.«

»Den grünen Blick? Wofür?«

»Er zwingt einen, alles zu tun, was sie wollen.«

Beowulf lächelte und erwiderte: »Alina hat keinen grünen Blick. Im Gegenteil. Sie hat wunderschöne Augen.«

Doch so leicht war Rabea nicht zu überzeugen. Sie wusste, dass Drachen über zauberische Fähigkeiten verfügen und nicht gerade als Menschenfreunde verschrien sind. »Kann dein Drache zaubern?«

»Davon weiß ich nichts, aber wenn Alina zaubern kann, wird es ein guter Zauber sein.«

»Hast du keine Angst vor ihr?«

»Wir kennen uns seit vielen tausend Jahren.«

»In den mir bekannten Märchen sind fast alle Drachen böse.«

»Alina ist kein Märchendrache. Sie kommt von den Sternen.«

»Von den Sternen!« Rabea machte große Augen. Von einem Drachen, der die unendlichen Weiten zwischen den Sternen durchfliegen kann, hatte sie noch nie gehört. Verwirrt hakte sie nach: »Wie kann das sein? Drachen gehören doch zur Erde. Sie leben in tiefen Höhlen und sind älter als wir Menschen. Bist du sicher, dass dein Drache von den Sternen kommt?«

»Alina hat es mir gesagt, und jetzt habe ich es dir gesagt.«

»Wie sieht dein Drache aus? Beschreib ihn!«

»Alina ist fünfzehn bis zwanzig Schritte lang, hat Flughäute zum Fliegen und speit Feuer, wenn ihr danach ist.«

»Letzteres tun alle Drachen«, meinte Rabea. »Kann dein Sternendrache ein ganzes Dorf vernichten?«

»Ich bin mir sicher, dass Alina eine Armee aufhalten kann.«

»Eine ganze Armee! Das klingt wenig glaubhaft.«

»Alina kann Bäume ausreißen und sie den Angreifern entgegenwerfen. Sie kann Feuer speien, aber auch ihre Widersacher zu Tode trampeln. Darüber hinaus besitzt sie Geistkräfte, die ihresgleichen suchen.« Als Beowulf innehielt, um Luft zu holen, wurde ihm bewusst, dass seine Worte zu kriegerisch gewählt waren. Eilig fügte er hinzu: »Alina ist friedfertig. Sie liebt keine Kämpfe.«

»Wieso lebt dein Sternendrache allein im Sumpf? Er könnte doch ein großes Reich erobern und alle Untertanen für sich arbeiten lassen. Die Märchen erzählen von solchen Untaten.«

»Ich habe dir doch schon gesagt, dass Alina kein Märchendrache ist.«

Rabea überhörte es. »Erzähl mehr! Welche Hautfarbe hat Alina? Wie sieht sie aus?«

»Ihre lederartige Haut ist nichts Besonderes. Sie gleicht einem nichtssagendes Grauton.«

»Was ist mit ihrem Kopf? Ist er riesengroß und mit Drachenzähnen gespickt?«

»Kopf und Zähne haben Drachenmaß«, räumte Beowulf ein und fuhr fort: »Das Auffälligste sind ihre ausdrucksvollen Augen. Sie sind so groß wie deine Hand und unbeschreiblich schön.«

Rabea argwöhnte: »Möglicherweise sind sie doch ein wenig grün. Der Drache könnte dich mit seinen grünen Augen verzaubert haben. Wenn es so wäre, hieße das: Alles, was du eben gesagt hast, sind nur seine Worte.«

Beowulf lachte lauthals.

Als er sich wieder gefangen hatte, sagte er: »Was erwartest du von mir, du große Drachenexpertin? Willst du jetzt von mir hören, dass ich farbenblind bin? Dann wäre ich immun gegen grüne Augen.«

Rabea spürte, dass sie ein wenig übertrieben hatte, hakte die grünen Augen als unwahrscheinlich ab und konzentrierte sich auf das Allerwichtigste. »Wird der Drache uns helfen?«

»Alina und ich sind gute Freunde. Sie wird uns helfen, aber ihre Hilfe ist meist indirekter Natur. Sie liebt Umwege – zumindest erscheint es uns Menschen so.«

»Was heißt das?«

»Drachen sprechen in Rätseln. Man muss genau hinhören und gut mitdenken, um sie wirklich zu verstehen.«

Rabea nickte und dachte: In den Märchen verhalten sich die Drachen nicht viel anders. Doch ein Punkt bereitete ihr immer noch Kopfzerbrechen. Wie kann es sein, dass der Drache von den Sternen kommt? Sofort wollte sie wissen: »Kommen alle Drachen von den Sternen?«

»Es gibt solche und solche«, antwortete Beowulf ausweichend und fuhr fort: »Alinas Heimat liegt in der Milchstraße. Ihr Volk ist vermutlich älter als die meisten Sterne.«

»Wie alt ist Alina?«

»Sie hat mir mal angedeutet, dass sie mehr als fünfhunderttausend Jahre alt ist.«

Als Rabea die fünfhunderttausend Jahre halbwegs verdaut hatte, stellte sie die naheliegende Frage: »Warum fliegt sie von einem Stern zum andern? Was hat sie davon? Was will sie bei uns?«

»Niemand weiß es«, antwortete Beowulf.

»Hast du sie nie danach gefragt?«

»Mehr als einmal. Es war stets umsonst. Alina spricht weder über ihre Pläne noch über ihre Vergangenheit.«

»Hast du nie versucht, sie zu überlisten?« Rabea fügte hinzu: »In den mir bekannten Märchen funktioniert das ganz gut.«

»Wie willst du einen fünfhunderttausend Jahre alten Drachen überlisten? Bevor du den Mund aufmachst, weiß er meist schon, was du vorhast.«

Rabea sah das ein und war auch mit dem, was Beowulf über den Drachen erzählt hatte, einverstanden. Doch eine Frage hatte sie noch. »Ist Alina der einzige Drache auf unserer Erde?«

»Es gibt zwei«, antwortete Beowulf. »Der andere lebt hoch im Norden im ewigen Eis und Schnee.«

Rabea nahm es schweigend hin.

Solange das Tageslicht es erlaubte, folgten sie weiter dem Schlangenfluss. Rabea hatte es sich so gewünscht. Sie wollte diese winzig kleine Chance noch nutzen, bevor es endgültig nach Norden ging.

Als die Dämmerung von der Nacht abgelöst wurde, beendeten sie die Suche und schlugen ihr Nachtlager auf.

Nach dem Essen fragte Beowulf: »Soll ich dir das Sternbild Drache zeigen?«

»Ja!«, rief Rabea. »Dein Drache legt sicherlich Wert darauf.«

Beowulf sagte nichts, sondern lächelte nur in sich hinein.

Sie entfernten sich einige Schritte vom Feuer und blickten nach oben. Noch waren ihre Augen vom Flammenschein geblendet. Beide sahen nur einen schwarzen Himmel.

Als Beowulf die ersten Sterne sehen konnte, sagte er: »Es sind nur unscheinbare Sterne, die den Drachen formen. Sie tun es aber auf eine so schöne Art und Weise, dass niemand ihn übersehen kann.«

Um Rabea das Auffinden des Drachen zu erleichtern, aktivierte er den Schild Janus und zeigte ihr den Drachen als Strichzeichnung.

Dann blendete er die Linien aus, um Rabea die Möglichkeit zu geben, den Drachen aus der Vielzahl der schwachen Sterne herauszulesen.

Als Rabea mit der Anordnung der Sterne vertraut war, blickte sie zum Himmel und fand ihn auf Anhieb.

Seine Sterne boten dem Auge nicht viel. Der feuerspeiende Kopf, die typische Drachenhaltung sowie der lange Schwanz waren aber gut zu erkennen.

»Zu den Sternen kann ich nicht viel sagen«, sagte Beowulf in die Stille hinein. »Sie sind alle so 100 bis 600 Lichtjahre entfernt und in der Regel größer und heller als unsere Sonne.«

Rabea nickte nur. Ihr reichte es völlig, den himmlischen Drachen kennengelernt zu haben.

Als sie zum Feuer zurückgingen, suchten ihre Augen noch schnell die beiden himmlischen Bären auf. Dabei fiel ihr auf, dass der lange Schwanz des Drachen sich zwischen beiden Bären hindurchschlängelte. Rabea wusste sofort, warum das so war. Bären sind unberechenbare Einzelgänger. Sie lieben nur sich selbst. Deshalb müssen sie voneinander getrennt werden.

Als Rabea erneut zum himmlischen Drachen schaute, wanderten ihre Gedanken zum irdischen Drachen. Wird er mir sagen, wo Sarah ist? Kann er wirklich in die Zukunft schauen? Wer könnte mir sonst noch helfen? Im selben Moment wusste sie die Antwort. Aufgeregt rief sie: »Warum fragen wir nicht die Elfen?« Hastig fügte sie hinzu: »Merle und Marlit können Sarahs Bewusstsein orten und schon einen Gedanken später bei ihr sein, auch wenn ich nicht weiß, wie sie das machen.«