Das rabenschwarze Rätsel - Klaus-Dieter Soja - E-Book

Das rabenschwarze Rätsel E-Book

Klaus-Dieter Soja

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Beschreibung

Der Roman spielt rund 50 000 Jahre in der Zukunft. Drachen, Elfen, Zwerge, Geister, Menschen, Mutanten und außerirdische Rassen leben in kleiner Zahl auf einer Erde, die nichts mehr mit der des 21. Jahrhunderts gemein hat. Die menschliche Zivilisation ist mit all ihren Bauwerken und technischen Errungenschaften in einem großen Sternenkrieg untergegangen. Nur wenige Menschen überlebten das Inferno. Ihre Nachkommen fristen ihr Dasein auf der Entwicklungsstufe des ausgehenden Mittelalters, auch wenn viele Fragmente des "Alten Wissens" noch vorhanden sind. Konflikte zwischen so gegensätzlichen Lebensentwürfen sind unvermeidbar. Die Menschen fühlen sich unterdrückt, einige außerirdische Rassen trauern ihrer ruhmreichen (blutigen) Vergangenheit nach, die Mutanten sinnen auf Rache, die Geister sind unberechenbar und die Zwerge haben nur Gold und Edelsteine in ihren Köpfen. Die Hauptpersonen sind ein älterer Mann (Beowulf) und zwei ca. zwölfjährige Mädchen (die Zwillinge Sarah und Rabea). Ihr Leben ist in ständiger Gefahr, da sie unaufhaltsam tiefer und tiefer in die sich zuspitzende Auseinandersetzung zwischen Menschen und Außerirdischen hineingezogen werden.

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Buch 1 Die Katastrophe

Buch 2 Der Zankapfel

Buch 3 Schurkenstreiche

Buch 4 Tanelorn

Buch 5 Das Zwergenreich

Buch 6 Die Schattenburg

Buch 7 Tod und Verderben

Buch 8 Die Necromancer

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch (projekt)

Über den Autor

Prolog

Das Abenteuer

Ausklang

Quellenverzeichnis

Über das Buch (projekt):

Grundidee / Kern der Handlung

Der Roman spielt rund 50 000 Jahre in der Zukunft. Drachen, Elfen, Zwerge, Geister, Menschen, Mutanten und außerirdische Rassen leben in kleiner Zahl auf einer Erde, die nichts mehr mit der des 21. Jahrhunderts gemein hat. Die menschliche Zivilisation ist mit all ihren Bauwerken und technischen Errungenschaften in einem großen Sternenkrieg untergegangen. Nur wenige Menschen überlebten das Inferno. Ihre Nachkommen fristen ihr Dasein auf der Entwicklungsstufe des ausgehenden Mittelalters, auch wenn viele Fragmente des „Alten Wissens“ noch vorhanden sind.

Konflikte zwischen so gegensätzlichen Lebensentwürfen sind unvermeidbar. Die Menschen fühlen sich unterdrückt, einige außerirdische Rassen trauern ihrer ruhmreichen (blutigen) Vergangenheit nach, die Mutanten sinnen auf Rache, die Geister sind unberechenbar und die Zwerge haben nur Gold und Edelsteine in ihren Köpfen.

Die Hauptpersonen sind ein älterer Mann (Beowulf) und zwei ca. zwölfjährige Mädchen (die Zwillinge Sarah und Rabea). Ihr Leben ist in ständiger Gefahr, da sie unaufhaltsam tiefer und tiefer in die sich zuspitzende Auseinandersetzung zwischen Menschen und Außerirdischen hineingezogen werden.

Faszination für die Welt der Sterne wecken

Beowulf besitzt ein tragbares Fernrohr und liebt die Sternenwelt. Die Kinder, besonders Rabea, lassen sich davon anstecken. Gemeinsam beobachten sie Mond und Sterne. Diese werden mit Fotos (überwiegend farbig) gestützt. Die Mondobjekte (Krater, Gebirge usw.) sind so gewählt, dass sie in vielen Fällen mit einem guten Fernglas nachvollzogen werden können. Sternbilder werden mit Sternkarten und Sternfeldaufnahmen vorgestellt. Soweit den Sternbildern Sagen zugrunde liegen, werden sie erzählt. Weitere Beobachtungsobjekte sind Polarlichter, Planeten, Kometen und so weiter.

Die Sehnsucht und Liebe zu Märchen und Sagen vertiefen

Regelmäßig suchen die Elfen die Kinder auf und erzählen ihnen Märchen – aber auch andere Buchfiguren sind Märchenerzähler. Es handelt sich dabei bis auf wenige Ausnahmen um klassische Märchen und Sagen, die ich mit eigenen Worten nacherzählt, inhaltlich verändert und sinnvoll gekürzt habe.

Das Wunder und die Schönheit der Natur ins Bewusstsein rufen

Naturnahe Erlebnisse und Beobachtungen tragen viel zur Buchatmosphäre bei. Zum einen sind es Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge, Gewitter, Halo, Regenbogen, Wolken usw., zum anderen Bäume, Pflanzen, Blumen und Tiere.

Wichtig war mir, dass der Leser die Natur durch die Augen der Kinder sieht. Um das zu erreichen, habe ich Bäume, Büsche, Wolken, Nebelwelten sowie die Dunkelheit durch das Mittel der Personalisierung lebendig gemacht.

Dialoge über Themen aus Natur- und Geisteswissenschaften

Ich habe Themen aufgegriffen, über die man sehr unterschiedlich denken kann. Einige Beispiele: Gibt es die Unsterblichkeit? Was ist Bewusstsein? Warum leben wir? Wie ist der Kosmos entstanden? Wie sind die Sterne entstanden? Leben Sterne? Lebt ein Stein?

Die Dialoge sind einfach geschrieben. Fachwissen ist zum Verständnis nicht erforderlich. Die Intention ist: Faszination, Neugier und Nachdenklichkeit beim Leser zu wecken. Sollte daraus mehr werden, umso besser.

Leserkreis

Der Märchenroman ist für Jung und Alt gleichermaßen geeignet. Das Mindestalter sehe ich bei 12 Jahren.

Über den Autor:

Klaus-Dieter Soja, geboren 1945 in Berlin, wuchs in Espelkamp (Ostwestfalen) auf. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft wandte er sich der Informatik zu und blieb ihr 26 Jahre treu. Die letzten 15 Berufsjahre war er als Informatikleiter (Anwendungsentwicklung) in einem weltweit operierenden Chemiekonzern tätig. Mit 51 Jahren beendete er seine Informatik-Laufbahn.

Seitdem widmet er sich seinen Interessen, als da sind: Mathematik, Physik, Astronomie, Kosmologie, Musik (Keyboard, Klavier) und Literatur. Mit dem achtbändigen Märchenroman (20 Arbeitsjahre) hat er sich einen Jugendtraum erfüllt.

Klaus-Dieter Soja lebt heute auf einem Bauernhof nahe Münster (Westfalen).

Prolog

In der altehrwürdigen Schlossbibliothek brannte noch Licht. Es war das einzige zu dieser späten Stunde. Für nimmermüde Geister, die mehr als einen grauen Alltag erleben wollen, bot die Bibliothek die letzte Zuflucht.

Zu diesen nimmermüden Geistern gehörte der alte König. Er saß inmitten der aus dunklem Holz gefertigten Bücherregale und ließ seinen Blick über die unzähligen Buchrücken und Papierstapel schweifen. Er liebte Bücher. Sie lenkten so schön von den Regierungsgeschäften ab. Er liebte auch den Geruch alten Papiers, dem etwas Zeitloses und Rätselhaftes anhaftete. In seinen Augen waren Bücher weit mehr als nur geduldiges Papier. Sie waren höchst lebendige Geister, die nur scheinbar regungslos in den Regalen hockten. Stets heischten sie um Aufmerksamkeit, indem sie geschickt an die menschliche Neugier appellierten. Dafür reichten ihnen marktschreierische Titel. Darüber hinaus konnten sie damit prahlen, dass in ihnen uraltes Wissen angehäuft war. Und sollte das alles nicht reichen, kitzelten die Buchrücken die menschlichen Nasen. Viele dufteten nach Bienenwachs und altem Leder.

Jedes Buch war für den König ein einzigartiges Juwel, und beim Anblick all der papiernen Schätze huschte ein schwaches Lächeln über sein zerfurchtes Gesicht. Er kam nicht umhin, ein wenig über seinen Bücherschatz zu philosophieren: Ein Buch erzählt von Ereignissen und unglaublichen Abenteuern und schenkt seinen herausragenden Figuren literarische Unsterblichkeit. Jedes Buch gleicht einem Zauberstab, der Gewalt über Raum und Zeit besitzt.

Oft schon hatte er darüber nachgedacht, ob seine Bücher nachts in den Regalen flüsterten, denn eins war sicher: Niemand konnte so viel erzählen wie sie.

Liebevoll wanderten seine Augen die Bücherreihen entlang. Er war stolz auf seine Bibliothek. Manchmal nannte er sie scherzhaft Bücherspeicher, was nicht ganz unbegründet war. In einer Bibliothek hat jedes Buch seinen Platz aufgrund fester Regeln. Eine solche Ordnung fehlte, obwohl er sie jederzeit hätte anordnen können. Doch der König fürchtete, dass dann seine Bücher nachts nicht mehr flüstern würden. Ein Bücherspeicher hingegen sorgt nur für Platz. Er kann eine Unmenge Bücher schlucken, aber keins lässt sich wiederfinden, es sei denn, man nimmt sich viel Zeit und atmet bereitwillig den angesammelten Staub ungezählter Jahre.

Der alte König seufzte, stemmte sich aus seinem nicht minder alten Schreibtischstuhl und schlurfte zwischen den Regalen umher. Er suchte nach einem Buch, das er schon viele Male gelesen hatte. Es gehörte zu den wenigen, die er auf Anhieb fand, da ihm ein besonderer Platz zwischen all den anderen Büchern und Papieren zugewiesen war. Diesmal gab es kein Verweilen bei den zahllosen papiernen Schwestern und Brüdern, die die nicht immer geschätzte Angewohnheit hatten, wie von selbst in seine Hand zu springen. Der König konnte ein Lied davon singen. Oft hatte er nach einem bestimmten Buch gesucht, um Stunden später festzustellen, dass ein anderes ihn überlistet hatte.

Er fand das Buch am vorgesehenen Platz, zog es heraus, kehrte um und legte den schwergewichtigen Folianten auf den Arbeitstisch. Behutsam – ja fast zärtlich – strichen seine vom Alter gezeichneten Hände über den kostbaren handgefertigten Ledereinband. Die damaligen Buchbinder hatten noch ganze Arbeit geleistet. Das stattliche Buch war mit einer silbernen Schließe versehen, und die Kanten waren durch Messingbeschläge geschützt.

Schon wollte er anfangen, es erneut zu lesen, doch dann legte er es zur Seite, griff stattdessen zu Papier und Feder und begann, dem Buch einige Zeilen zu widmen – Zeilen, die ihm schon immer auf der Seele gelegen hatten.

Das Schreiben brauchte seine Zeit.

Schließlich legte der König die Feder zur Seite und las das Geschriebene noch einmal durch. Er war zufrieden.

Seine Augen hefteten sich wieder auf den Folianten. Das stattliche Buch, sein altertümlicher, mit Bildern verzierter ledernder Einband und das schon leicht vergilbte Papier zauberten eine Atmosphäre, der sich der König nur schwer entziehen konnte. Er hob den Buchdeckel an, legte die geschriebenen Seiten hinein und fühlte dabei das abgegriffene Leder. Es fühlte sich nicht nur gut an – es roch auch gut. Es roch nach längst vergangenen Tagen und Abenteuern.

Mehr aus Gewohnheit prüfte er mit schnellem Blick, ob – angefangen von der Flasche Wein über etwas Gebäck bis hin zu seiner geliebten Pfeife – alles vorhanden war und am richtigen Platz lag. Dann schlug er die erste Seite auf. Das Papier hatte im Laufe der vielen Jahrhunderte gelitten, sodass es beim Umblättern knisterte. Es klang wie ein leiser Protest. Der König lächelte und glättete behutsam das altersschwache Papier. Es hätte ihm weh getan, durch bloße Unachtsamkeit eine Seite zu beschädigen.

Diesmal hielt ihn kein überraschender Einfall vom Lesen ab. Schnell fügten sich die Wörter zu einem Nest, in dem es sich gut aushalten ließ. Der alte König versank in eine andere Welt …

*

Das Abenteuer

Das Tagesziel war nicht mehr fern. Beowulfs Gedanken verweilten schon beim Abendessen, als Thor, sein treuer Gefährte, warnend knurrte. Sofort blieb Beowulf stehen und schaute sich um. Der erste Blick ergab nichts. Um besser zu sehen, beschattete er die Augen mit der Hand. Es war umsonst. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Doch Beowulf ließ sich nicht beirren. Knurrte Thor, hatte das stets seinen Grund.

Etliche Sekunden verstrichen.

Schließlich entdeckte er drei dunkle, noch sehr kleine Punkte, die seiner Spur folgten – zumindest konnte man es so deuten. Beowulf beschlich ein ungutes Gefühl und ging die Liste seiner möglichen Verfolger durch. Es gibt nicht wenige, die mir feindlich gesinnt sind. Oder ist es nur lichtscheues Gesindel, das sich zufällig an meine Fersen geheftet hat?

Minuten später verwarf er diese Gedanken. Die dunklen Punkte strebten nach Süden, ohne sich um Deckung zu kümmern. Ihr Weg führte wohl nach Rydaheim, der einzigen Stadt weit und breit. Trotzdem wollte Beowulf nichts riskieren. Es kam ihm seltsam vor, in einer menschenleeren Wildnis auf Fremde zu stoßen. Darüber hinaus war völlig offen, wie sie reagieren würden, wenn sie ihn entdeckten. So versteckte er sich in einer Buschgruppe.

Mit Argusaugen verfolgte Beowulf das Anwachsen der dunklen Punkte. Zugleich spürte er ein unangenehmes Kribbeln in seinen Knochen. Jedes Mal, wenn er dieses Kribbeln verspürte, konnte er sicher sein, dass ihm etwas Ungewöhnliches bevorstand.

Eine dunkle Ahnung beschlich ihn.

Wenig später wurde seine Ahnung zur Gewissheit. Schwarze Mönche! Schatten! Es sind Boaden!

Die Menschen, die die Schwarzen Mönche ablehnten, nannten sie Schatten. Diesen Namen verdankten sie ihrem Äußeren. Ausnahmslos alle trugen schwarze Kutten mit Kapuzen. Auf diese Weise verbargen sie ihre Gestalt, was an sich noch kein Grund zur Beunruhigung war. Das eigentlich Beunruhigende waren ihre Gesichter – genauer gesagt: das Fehlen ihrer Gesichter. Sie hatten keine. Dort, wo andere ein Gesicht haben, gähnte eine schwarze Leere. Kein Mensch konnte sich das erklären. Nicht einer wusste, wer sie waren und wie sie wirklich aussahen.

Beowulf wusste einiges über sie – mehr als alle anderen Menschen – aber es war kein entscheidendes Wissen. Ihr wahres Aussehen und ihre Absichten waren auch für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Trotzdem gab er sich keinen Illusionen hin. Sie werden uns Menschen über kurz oder lang übel mitspielen. Für ein gemeinsames Nebeneinander sind die Unterschiede einfach zu groß.

Er konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart, achtete auf ausreichend Deckung, schirmte seinen Geist ab und harrte der Dinge. Gegen drei Boaden hatte er keine Chance. Schon einer war überaus gefährlich.

Was machen sie hier?, schoss es ihm durch den Kopf. Normalerweise trifft man sie nur im Süden, wo mehr Menschen leben.

Eine befriedigende Antwort fiel ihm nicht ein, obwohl er einiges an seinen fünf Fingern abzählen konnte. Sie müssen jenseits der Schrecklichen Sümpfe hoch im Norden gewesen sein. Im Osten herrschen die Centaurianer, die keine Boaden dulden, und den Westen sperren die Grauen Berge.

Mittlerweile waren die Boaden gut zu erkennen. Ihr Anblick war das gestaltgewordene Grauen. Beowulf konnte sich einer leichten Gänsehaut nicht erwehren, obwohl er schon gegen sie gekämpft hatte. Durch seinen Kopf geisterte die schon oft gestellte Frage: Wer oder was steckt hinter dieser seltsamen Schwärze? Ich würde es allzu gern wissen, auch wenn dieses Wissen sicherlich seinen Preis hat.

Sein Schwert hielt er kampfbereit. Es galt, keine Sekunde zu verlieren, sollte es zum Äußersten kommen. Auch bei Thor waren alle Sinne angespannt. Seine Rute stand waagerecht und bewegte sich keinen Millimeter.

Man war nie sicher, ob die Boaden einen entdeckten oder nicht. Sie besaßen andere Sinne – nichtmenschliche Sinne. Zum Beispiel konnten sie einen nicht abgeschirmten Geist mit ihren telepathischen Kräften aufspüren. Das war Beowulf bekannt. Doch was sie darüber hinaus konnten, war ihm nicht bekannt. Ohne es zu wollen, dachte er darüber nach: Spüren sie die abgestrahlte Körperwärme? Orientieren sie sich an Gerüchen?

Die schwarzen Gestalten achteten nicht auf ihre Umgebung. Nicht eine Kapuze drehte sich nach links oder rechts. Die Wildnis mit ihren verwurzelten Schönheiten schien ihnen völlig egal zu sein. Sie passierten Beowulf in einer Entfernung von gut zwanzig Metern. Kein Wort fiel, kein Grashalm raschelte. Ihre lautlosen Schritte waren genauso gespenstisch wie ihr Aussehen.

Erneut fühlte sich Beowulf von den fehlenden Gesichtern irritiert. Sie sind schwarz wie die feuchte Erde unter einem Stein, aber sie riechen nicht nach Erde, sondern nach Tod und Verderben.

Dann war der Spuk vorbei. Die schwarzen Gestalten schrumpften wieder zu Punkten, die sich bald im Grün der Bäume und Büsche verloren.

Beowulfs Blick wanderte den Horizont entlang und blieb an der tiefstehenden Sonne hängen. Der rötlich leuchtenden Scheibe fehlten nur noch wenige Minuten, um die ferne Bergkette zu berühren. Das malerische Bild brachte ihn auf andere Gedanken. Wer weiß heute noch, dass die lebensspendende Sonne ein riesiger Gasball ist, der 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt steht. Diese Unwissenheit darf aber den Menschen nicht angekreidet werden. Der ständige Kampf um die Existenzgrundlage frisst jeden Tag. Alles, was darüber hinausgeht, ist purer Luxus.

Er selbst gönnte sich ein wenig Luxus und beschloss, den Sonnenuntergang zu genießen und den heraufziehenden Sternenhimmel zu begrüßen. Eine gewisse Vorsicht war mit im Spiel. Beowulf wollte den Boaden nicht in die Hacken laufen. So suchte er sich eine kräftige Birke, setzte sich ins weiche Gras und lehnte seinen Rücken gegen den Stamm.

Thor sah es und wusste, dass er nun seine eigenen Wege gehen konnte. Einen langen Moment war er unschlüssig, dann trollte er sich.

So richtig konnte Beowulf den Sonnenuntergang nicht genießen. Immer wieder geisterten die Boaden durch seinen Kopf. Sie werden uns Menschen vernichten, wenn wir nichts tun. Was sollen wir tun?

Er dachte an seinen nur wenige Wochen zurückliegenden Misserfolg. Er war im Osten gewesen, um die Centaurianer für einen Kampf gegen die Boaden zu gewinnen. Sie hatten abgelehnt. Seine Gedanken wanderten weiter. Wehmut beschlich ihn, als er seinen größten Verlust vor Augen hatte. Hätte ich mein einzigartiges Schwert, müsste ich die Boaden nicht fürchten. Ich könnte es sogar mit einem halben Dutzend dieser rabenschwarzen Kreaturen aufnehmen.

Um auf andere Gedanken zu kommen, kramte Beowulf nach Pfeife und Tabak. Als er beides in den Händen hielt, stopfte er den Kopf übertrieben genau. So dauerte es einige Zeit, bis die Pfeife zu seiner Zufriedenheit brannte. Die ersten Züge genoss er bewusst, dann ließ er sich ablenken. Sein Blick ging gen Westen. Für ihn war es immer noch faszinierend, zu erleben, wie der Tag von der aufkommenden Nacht aufgesogen wurde, obwohl er schon viele, viele tausend Jahre dieses Naturschauspiel genossen hatte.

Sein wirkliches Alter wusste Beowulf nicht mehr. Schon vor langer Zeit hatte er aufgehört, die Jahre zu zählen. Er wusste nur, dass er auf keinen Fall älter als 49000 Jahre war. Vor knapp 50000 Jahren zählte die Bevölkerung mehrere Milliarden Menschen. Die Mehrzahl lebte in riesigen Städten und war von einer heute nicht mehr vorstellbaren Technik umgeben. An solch einen Lebensabschnitt konnte Beowulf sich nicht erinnern. Auch der Große Sternenkrieg sagte ihm nichts. Das reduzierte seine mögliche Lebensspanne um weitere 13000 Jahre – so lange dauerte der mörderische Krieg, der fast alles und jeden in den Abgrund gerissen hatte.

Doch ganz ohne Vergangenheit war er nicht. Er erinnerte sich an hohe Fenster, an dicke Teppiche und an mit Büchern vollgestopfte Regale. Ihm fiel das Kohlenbecken ein, dessen Glut stets wohlige Wärme gespendet hatte. Ein anderer Erinnerungsfetzen hatte mit seinem Kinderzimmer zu tun. Über seinem Bett hing eine aus Silber gehämmerte Scheibe Sie stellte den Mond dar. Das war alles. Mehr gab es nicht. An seine Eltern konnte er sich nicht mehr erinnern. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Er hatte das Gefühl, das Leben weggehängt zu haben, so wie man eine alte Jacke weghängt.

Allzu viele Gedanken machte er sich nicht mehr über seine unbekannte Herkunft und rätselhafte Langlebigkeit. Es gab auch andere langlebige Menschen – allerdings ging deren Langlebigkeit so gut wie nie über 500 Jahre hinaus. Bei den Mutanten und Zwergen war das anders. Beide Völker besaßen eine bemerkenswerte Langlebigkeit.

Zeitgenossen hätten Beowulf auf vierzig bis fünfzig Jahre geschätzt. Sein wettergebräuntes Gesicht – es wurde von dunkelblondem Haar mit angedeutetem Mittelscheitel eingerahmt – verriet strotzende Vitalität, und seinen braunen Augen haftete etwas Jugendliches an. Sie blickten höchst lebendig und ließen auf einen wachen und scharfen Verstand schließen. Nur der kurzgeschnittene Vollbart – an einigen Stellen schon ins Grauweiße übergehend – korrigierte sein scheinbares Alter. Der Bart ließ ihn älter und gesetzter aussehen.

Auf Beowulf traf der Satz zu, dass Menschen ihr wahres Gesicht erst im Alter erhalten. Seines besaß den Ausdruck, der selten fehlte, andere für sich einzunehmen. Es erforderte aber Muße, diesen Ausdruck zu entdecken. Erst der zweite oder dritte Blick zeigte diese selten gewordene Mischung aus Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit.

Gekleidet war er wie ein Waldläufer. Hose und Jacke waren aus weichem Leder gefertigt, und an den Füßen trug er farbig bestickte, absatzlose Wildlederschuhe. Die Alten Menschen nannten sie Mokassins. In manchen Gegenden war dieser Name noch geläufig, wurde aber ein wenig anders gesprochen und anders geschrieben. Seine Kleidung war abgetragen und fleckig. Sie hatte eben vieles mitmachen müssen. Doch jedes Loch und jeder Riss war von kundiger Hand geflickt.

Nicht nur die Kleidung verriet den Waldläufer. In Beowulf wohnte die Ruhe und Einsamkeit der Bäume. Auf eine nicht zu beschreibende Art war er mit der Natur eins geworden.

Außer seinem schweren Jagdmesser führte er Schwert und Schild mit sich. Schwert und Schild gehören nicht zur üblichen Ausrüstung eines Waldläufers, aber Beowulf ging vielen Berufen nach, über die er sich allerdings ausschwieg.

Mittlerweile hatte sich die Sonne verabschiedet und anderen Himmelsbewohnern das Feld überlassen. Die silbern schimmernde, noch sehr junge Mondsichel wollte es der Sonne nachmachen und bereitete sich ebenfalls auf ihren Untergang vor. Weit rechts von ihr, etwas höher, funkelte der Merkur – ein seltener Anblick für Erdbewohner. Der Planet ist scheu und bleibt meist nah der Sonne. Er zieht es vor, sich in ihrem grellen Licht zu verstecken.

Beowulf ließ kein Auge von beiden und gab erst auf, als die Mondsichel im Dunst der Atmosphäre verschwunden war.

Die ersten Sterne zeigten sich. Beowulf konnte Rigel und Betelgeuse im Sternbild Orion sowie Aldebaran im Stier ausmachen. Sie standen tief im Westen und eiferten der Sonne nach. Am hellsten funkelte Sirius im Südwesten.

Beowulf suchte nach anderen Sternen – mit mäßigem Erfolg. Viele hielten sich noch verborgen. In der kurzen Spanne zwischen Tag und Nacht ist das immer so. Da entscheidet jeder Stern nach eigenem Gutdünken, wann er auf die Erde herabschauen möchte.

Für Beowulf war es stets ein bewegendes Erlebnis, die Sterne zu schauen. Fast vergnügt dachte er: Jeder Stern ist einmalig, und ihre Figuren, die Sternbilder, sind alles andere als stumm. Wunderbare Sagen sind mit ihnen verknüpft.

Sofort hatte er den Himmelsjäger Orion vor seinem geistigen Auge. Er hält den angriffslustigen Stier in Schach und sehnt sich gleichzeitig nach den Pleiaden. Wie von selbst reihten sich die Sternbilder in seinem Kopf. Herakles droht mit seiner Keule, und manche der von ihm besiegten Ungeheuer leben ebenfalls unter den Sternen – zum Beispiel der Löwe und die Wasserschlange. Tief im Süden segelt das Schiff der Argonauten über das Sternenmeer. Beowulf erinnerte sich an ein wenig spektakuläres Sternbild. Wer weiß schon die scheue und schwer erkennbare Giraffe zu zeigen. Sie ist immer zu sehen, da sie die Nähe des Polarsterns nie verlässt – doch keiner beachtet sie.

Für die Giraffe war es noch zu hell. So suchten seine Augen nach dem Großen und dem Kleinen Bär. Sie zählen ebenfalls zu den Sternbildern, die jede Nacht zu sehen sind, und der Tatbestand, dass sich um beide Bären eine uralte Sage rankt, macht sie noch sehenswerter. Der Große Bär war halbwegs gut zu erkennen. Der Kleine Bär tat sich schwerer. Er verriet sich nur durch den Polarstern.

Schließlich wandte Beowulf sich von den Sternen ab und überließ sich anderen Gedanken. Zahllose Erlebnisse zogen an seinem geistigen Auge vorüber. Vergessene Jahrhunderte grüßten, lösten sich aber sofort wieder in einen Nebel des Vergessens auf.

Als ihn die Erinnerungen verließen, kehrte er wieder zu sich selbst zurück. Beowulf wusste, dass er nicht zu den normalen Menschen zählte. Etwas Geheimnisvolles war mit seiner Person verknüpft. Seine außergewöhnliche Langlebigkeit, aber auch seine telepathischen Begabungen ließen gar keinen anderen Schluss zu. Möglicherweise gehörte er zu den Mutanten. Es hätte ihm nichts ausgemacht. Für ihn zählten sie zu den Menschen, auch wenn ein tiefer Graben zwischen beiden Völkern klaffte.

Früher – vor vielen tausend Jahren – hatte ihn seine unbekannte Herkunft stärker berührt. In jener Zeit hatte er viel Zeit und Kraft eingesetzt, um das Geheimnis seiner Herkunft zu entschleiern. Heute betrachtete er es mehr als ein faszinierendes Rätsel, das seine Lösung wohl nie mehr preisgeben würde. Ungelöste Rätsel sind aber aufdringlich. Sie locken, machen falsche Versprechungen und schaffen es immer wieder, sich ungefragt in den Vordergrund zu drängen.

Jäh wurde Beowulf aus seinen Grübeleien gerissen. Etwas stupste ihn in die Seite. Es war Thor, sein treuer Gefährte.

»Na du Gauner!« Er kraulte ihn zwischen den Ohren. »Bist du auf deine Kosten gekommen?«

Thor nickte und wedelte zugleich mit dem Schwanz. Er verstand die Menschensprache recht gut und war in jeder Beziehung ein ungewöhnlicher Hund. Er verfügte – so wie Beowulf – über die Langlebigkeit und besaß auch rudimentäre telepathische Fähigkeiten, was aber für andere nicht erkennbar war. Für jeden erkennbar war jedoch seine enorme Größe. Mit einer Körperlänge von drei bis vier Schritten und dem doppelten Gewicht eines erwachsenen Mannes hatte er mit einem normalen Hund nichts gemein. Auf die meisten Menschen wirkte Thor beängstigend. Seine eisblauen Augen und sein rabenschwarzes Fell trugen nicht unwesentlich dazu bei. So wie er aussah, kämpfte er auch. Einen menschlichen Körper konnte er im Nu zerreißen. Doch im Grunde seines Herzens war er gutmütig.

Es fing an, kühl zu werden. Beowulf fröstelte, schlug den Kragen hoch und dachte unwillkürlich an die Taverne. Er brauchte nur der Straße, die ganz in der Nähe sein musste, eine gute Stunde folgen. Sie führte an der Taverne vorbei und endete in Rydaheim.

Schwerfällig stand er auf, schob sein Schwert zurecht, schulterte den Schild und nahm seine restlichen Utensilien. »Komm, Thor! Eine Stunde noch, dann haben wir’s gemütlich.«

Thor prüfte den Wind und lief einige Schritte voraus.

Mittlerweile hatte die Nacht ihr schwarzes Tuch vollständig ausgebreitet. Bäume und Büsche glichen regungslosen Schattengestalten. Manche erinnerten an uralte Wesen, die scheinbar aus einem langen Schlaf erwacht waren und nun den beiden Eindringlingen in stummer Abwehr ihre astigen Arme entgegenstreckten. Beowulf kam damit gut zurecht. Solche düsteren Bilder gehörten zu seinem Waldläuferleben.

Sie brauchten eine halbe Stunde, um die Straße zu finden. In der Dunkelheit verriet sie sich nur durch die Abwesenheit von Bäumen und Büschen. Die Straße war nichts Besonderes. Sie war nur das Ergebnis vieler Wagenspuren und roch nach Pferdeäpfeln. Da es aber weit und breit nichts Besseres gab, gönnte man ihr die hochtrabende Bezeichnung.

Der Blick nach oben ließ die unmittelbare Umgebung zu einem Nichts schrumpfen. Gern hätte Beowulf die unendlichen Weiten der Sternenwelt ein bisschen genauer unter die Lupe genommen. Er besaß ein tragbares Fernrohr mit einer vier Zoll großen Linse. Es zählte zu seinen größten Schätzen und begleitete ihn stets auf allen Reisen.

Schon stellte er den Reisesack auf den Boden und wollte nach dem Fernrohr greifen, doch dann besann er sich eines Besseren und ließ es sein. Sein hungriger Magen und seine durstige Kehle hatten sich schon zu sehr mit der Taverne angefreundet.

Plötzlich wurde Thor unruhig. Immer wieder drehte er sich um und schaute zurück. Beowulf bemerkte es und blickte mit wachen Augen umher.

Wenige Minuten später drang das Geräusch von Pferdehufen durch die Nacht. Das Erdreich machte die Tritte dumpf und schwer. Schlugen die Hufe gegen lose Steine, mischte sich ein helles Klicken dazwischen.

Bald war Beowulf klar, dass es zwei Pferde waren. Eins trug keinen Reiter – wahrscheinlich ein Packpferd oder als Reserve gedacht. Er hörte es aus den unterschiedlich klingenden Huftritten heraus.

Beowulf tippte auf einen Händler oder Farmer.

Das Hufklappern war jetzt direkt hinter ihm. Der Reiter, er führte ein Packpferd mit sich, schälte sich aus der Dunkelheit und schloss zu ihm auf. »Wohin des Weges, Fremder?«

»Mich zieht’s zur Taverne«, antwortete Beowulf und musterte den Reiter, so gut das in der Dunkelheit ging. Die Kleidung verriet den Farmer.

»Dann haben Sie es besser getroffen«, meinte der Farmer, stieg ab und nahm seine Pferde am Zügel.

Jeder andere wäre auch abgestiegen. In der schier endlosen Wildnis begegneten sich Menschen so gut wie nie. Geschah es doch einmal, ließ sich keiner die Gelegenheit zu einem kleinen Schwatz entgehen.

»Ich muss noch heute meine Farm erreichen. Sie liegt zwischen der Taverne und Rydaheim – also noch einige Reitstunden Weg. Mein Name ist John Felden – John reicht.«

John streckte Beowulf die Hand entgegen.

»Beowulf«, antwortete dieser und vergaß nicht, nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, seinen Hund vorzustellen: »Das schwarze Fellbündel ist Thor, mein treuer Begleiter.«

Erst jetzt sah John den ungewöhnlich großen Hund und rief: »Mein Gott! Was für ein Tier!«

»Thor ist lammfromm«, beruhigte Beowulf.

»Na ja, tigerfromm wäre angemessener«, erwiderte John leicht schmunzelnd, wechselte das Thema und wollte wissen: »Darf man fragen, woher du kommst?«

»Nach dem Woher zu fragen, macht wenig Sinn. Ich bin durch unbekannte Landstriche gezogen, wo sich nur Füchse und Hasen Gute Nacht sagen. Menschen trifft man dort nicht.«

»Und wohin zieht es dich?«

»Nach Rydaheim. Gibt‘s Neuigkeiten aus der Stadt?«

»Eigentlich nicht«, entgegnete John mit gedehnter Betonung.

»Was willst du damit sagen?« Beowulf war die gedehnte Betonung nicht entgangen.

»Die Stadt ist nicht mehr das, was sie einmal war.«

»Was meinst du damit?«

»Der dort grassierende Schlangenkult treibt immer seltsamere Blüten.« Nach einem ärgerlichen Brummen fügte John hinzu: »In wenigen Tagen veranstalten die Schatten eine Kulthandlung, die einem Volksfest gleichen wird.« Doch seiner Stimme fehlte die erwartungsvolle Neugier.

Beowulf bemerkte es und sagte frei heraus: »Ich kenne die Kulthandlung. Auf den ersten Blick scheint es eine religiöse Veranstaltung zu sein, aber daran mag ich nicht glauben. Ich bin mir sicher, dass eine böse Absicht dahintersteckt.«

John nickte nur.

»Die Schatten entwickeln sich zur Geißel der Menschheit – genau genommen sind sie es schon.«

Als John merkte, dass er in Beowulf einen Gleichgesinnten hatte, nahm er kein Blatt vor den Mund. »Eine schwarze Mönchskutte, in deren Kapuze kein Gesicht, sondern nur ein schwarzes Nichts steckt, ist ein unerträglicher Anblick. Nicht einer kennt ihr wahres Aussehen. Sie verbergen etwas.«

Für einen kurzen Moment hielt er inne, um Luft zu schöpfen, dann polterte er: »Ihr Oberhaupt, die Goldene Schlange, ist das nackte Grauen. Sie misst mindestens zwanzig Schritte, und der Durchmesser ihres Rumpfes würde jedem Baumstamm zur Ehre gereichen. Aber das Schlimmste sind ihre fürchterlichen Augen. Selbst aus großer Entfernung fühlt man sich von ihnen hypnotisiert.«

Erneut schnappte John nach Luft. Als er sich wieder gefangen hatte, rief er verärgert: »Ich kann nicht verstehen, dass Menschen solch ein Ungeheuer anbeten und verehren.«

»Teufelskulte und andere abstruse Glaubensformen gab es zu allen Zeiten«, erwiderte Beowulf. »Wir Menschen scheinen dafür sehr empfänglich zu sein.«

»Mag sein, aber die Situation in Rydaheim wird mit jedem Tag hoffnungsloser. Mittlerweile verfügen die Schatten über eigene Söldner, was nur bedeuten kann, dass sie die Stadt beherrschen wollen. Wenn keiner einschreitet, und danach sieht es wahrlich nicht aus, werden sie bald das Sagen haben.«

»Das sind keine guten Nachrichten«, murmelte Beowulf halblaut.

»Wenn ich nur wüsste, was sie von uns wollen!«

»Niemand kann ihr Denken nachvollziehen.«

»Warum eigentlich nicht?«

»Sie gehören nicht zur Erde.«

»Es sind Außerirdische«, stimmte John zu. Doch schon kamen ihm Bedenken. »Die Goldene Schlange ist eindeutig nichtmenschlicher Natur. Bei den Schatten bin ich mir da nicht so sicher.«

»Warum willst du das Offensichtliche nicht sehen?«

»Mein Verstand sagt mir, dass es Außerirdische sind – mein Gefühl sagt mir manchmal etwas anderes. Vielleicht sind es speziell gezüchtete menschliche Wesen oder versklavte Menschen!«

»Ich weiß nicht, wer oder was die Schatten sind«, sagte Beowulf, »aber an Menschen glaube ich nicht. Die Goldene Schlange ist weder ein Gott noch ein Mensch, und die Schatten gehören zu ihr.«

»Es könnten Einst-Menschen sein.«

»Was meinst du damit?«

»Menschen, die einst Menschen waren, aber keine mehr sind.«

»Ich will nichts ausschließen«, räumte Beowulf ein, »doch die mir bekannten Fakten passen nicht dazu. Die Schatten verfügen über außergewöhnliche körperliche und geistige Kräfte.«

»Dann müssen es Mutanten sein. Jeder weiß, dass sie über ungeahnte Fähigkeiten verfügen. Obendrein haben sie tausend gute Gründe, uns die Pest an den Hals zu wünschen. Sie haben auch tausend gute Gründe, ihr wahres Äußeres zu verbergen.«

»Die Mutanten hassen uns, das ist richtig, aber letztlich stehen sie uns näher als viele glauben.« Mehr wollte Beowulf nicht sagen.

Obwohl auch John tief in seinem Innern wusste, dass die Schatten nicht zu den Menschen zählten, hatte der Gedanke, dass sie entmenschte Bösewichte waren, seinen Reiz. Etwas genervt rief er: »Warum tragen sie schwarze Kutten? Warum die Kapuzen? Sag mir jetzt bloß nicht, dass sie kein Sonnenlicht vertragen.«

»Sie verbergen etwas, doch was genau, kann ich dir nicht sagen.« Hilflos fügte Beowulf hinzu: »Vielleicht vertragen sie tatsächlich kein Sonnenlicht.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Die Schatten könnten nachtaktive Wesen sein, was ihre Kutten gut erklären würde.«

»Warum haben sie keine Gesichter?«, wetterte John.

»Es gibt Meerestiere, die durchsichtig sind, sodass alle Organe zu sehen sind. Vielleicht wollen sie uns so einen Anblick ersparen.«

John schaute verblüfft, dann versuchte er, sich einen durchsichtigen Kopf vorzustellen. Es ging nicht. Mehr als einen vom Fleisch losgelösten Totenkopf brachte seine Fantasie nicht zustande.

Schließlich fand er seine Sprache wieder und brummte: »Sie sind ein schwarzes und gefährliches Rätsel.« Unwirsch schüttelte er den Kopf und fuhr fort: »Was wollen sie überhaupt? Sie treiben keinen Handel, häufen keine Reichtümer an und schaffen rein gar nichts mit ihrer Hände Arbeit. Nicht einmal essen und trinken hat man sie gesehen. Das einzig Sichtbare sind ihre schwarzen Kutten.«

Eine Antwort blieb aus. Beowulf wollte sein spärliches Wissen über die Boaden nicht preisgeben. Nicht mal ihren wahren Namen wollte er nennen.

»Wir müssen sie beseitigen«, polterte John. »Tun wir es nicht, werden sie uns eines Tages umbringen.«

»Ich würde sie lieber heute als morgen tot sehen«, stimmte Beowulf zu, »aber das ist zurzeit reines Wunschdenken. Die Schatten sind eine Macht, an der nur schwer zu rütteln ist.«

»Man müsste es ausprobieren. Vielleicht kommt dabei mehr heraus, als wir glauben.«

Beowulf hielt wenig von dem Vorschlag und dachte an seinen Misserfolg: Die Centaurianer haben es abgelehnt, uns im Kampf gegen die Boaden zu unterstützen. Hinzu kommt, dass wir Menschen völlig uneins sind. Wir müssen ...

Ein schwächliches Licht tauchte auf und spielte Verstecken. Immer wieder verschwand es zwischen Bäumen und Sträuchern – doch stets nur für wenige Sekunden. Sie näherten sich der Taverne.

»Ich muss mich sputen«, sagte John, der sich beim Anblick des Lichts an den langen Weg erinnerte, der noch vor ihm lag. »Beowulf! Ich wünsche dir einen angenehmen Abend in der Taverne.« Achselzuckend fügte er hinzu: »Die Welt ist klein. Vielleicht sieht man sich wieder.«

Sie schüttelten sich die Hände. Danach stieg der Farmer auf sein Pferd und war wenige Sekunden später in der Dunkelheit verschwunden.

Beowulf steuerte auf die Taverne zu. Seine letzte Einkehr lag einige Jahre zurück. Von außen machte sie nicht viel her. Die Taverne war nur ein etwas zu lang geratenes Blockhaus mit einigen Anbauten, aber das Innere hatte damals einem Schmuckstück geglichen. Beowulf hoffte, alles noch so vorzufinden.

In bester Stimmung stieß er die Tür auf und trat ein. Thor folgte ihm. Der Gastraum war gut besucht, was Beowulf ein wenig wunderte. Die Taverne lag weitab von Rydaheim.

Die Anwesenden blickten kurz auf und wollten sich schon abwenden, dann sahen sie den Hund. Schlagartig verstummten sämtliche Gespräche. Nicht einer der Gäste ließ das große Tier aus den Augen.

Beowulf war es gewohnt, kaum beachtet zu werden, da Thor stets die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. So scherte er sich nicht um die plötzlich eintretende Stille.

Die rechte Wand wurde von einem großen Kamin eingenommen, in dem ein großes Feuer loderte. Zu beiden Seiten gab es genügend Platz. Thor schien das zu gefallen. Er trollte sich und legte sich rechts vom Kamin in den Halbschatten.

Nach einem kurzen Rundblick wählte Beowulf die andere Raumhälfte, legte Schild, Schwert und Reisesack ab und setzte sich.

Die Anspannung unter den Gästen wich.

Einer sagte halblaut: »Das muss ein Tiger sein, der zufällig wie ein Hund aussieht.«

Gezwungenes Lachen ertönte hier und da.

Beowulf kümmerte sich nicht um das Gerede, sondern musterte den Gastraum. Alles war noch so, wie er es in Erinnerung hatte. Der offene Kamin war aus bunten Steinen gemauert und so groß, dass keiner ihn übersehen konnte. Darüber spannte sich eine dunkle Holzdecke mit schwarzen Querbalken, deren Enden mit fantasievollen Schnitzereien verziert waren.

Das Prunkstück der Taverne war zweifellos die Theke. Sie prahlte mit blitzenden Messingbeschlägen und beanspruchte ein Drittel des Raums. Nur der Heimstein konnte sich mit der Theke messen. Der mannshohe Felsbrocken – durchzogen von rot schimmernden Adern – hatte seinen Platz links vom Kamin. Es entsprach einer uralten Familientradition, ihm Ehre zu erweisen.

Während Beowulf den großen Stein aufmerksam studierte, liefen seine Gedanken wie von selbst. Angeblich wohnt in ihm der gute Geist der Familie. Sie gelten als das Kostbarste, was ein Vater seinen Kindern vererben kann. Ohne Heimstein fühlen sich viele Familien nackt und schutzlos. Manche sind mehr als zehntausend Jahre alt.

Er lächelte ein wenig über diesen seltsamen Glauben, war aber weit davon entfernt, ihn in Frage zu stellen. Beowulf wusste aus langer Erfahrung, dass zwischen Himmel und Erde manch rätselhafte Dinge existieren, mit denen der menschliche Verstand überfordert ist.

Sein Blick wanderte weiter. Öl-Lämpchen und brennende Kerzen bildeten anheimelnde Lichtinseln. Sie taten ihr Bestes, um die Dunkelheit zu vertreiben, konnten jedoch den großen Gastraum nur mäßig ausleuchten. Das schadete dem Raum nicht. Im sanften Licht der Lämpchen und Kerzen erschien alles noch gemütlicher als es ohnehin schon war.

Dann wurde Beowulf aus seiner träumerischen Betrachtung gerissen. Der Wirt kam auf ihn zu, ein kräftig gebauter Mann, der augenscheinlich einige Pfunde zu viel mit sich herumschleppte, was ihn aber kleidete. Sein Gesicht war ebenfalls rundlich und strahlte so viel Gutmütigkeit aus, dass jeder, der ihn zum ersten Mal sah, unwillkürlich an gute Taten denken musste. Mit freundlicher Stimme fragte er: »Was darf es sein, Fremder?«

»Einen Krug Gerstensaft. Mit dem Essen möchte ich noch warten.«

Der Wirt nickte und ging zur Theke zurück.

Beowulf schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Jeden Tag war er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang marschiert. Es tat seinem Körper richtig gut, auf einem Stuhl zu sitzen.

Wenige Minuten später stand ein Krug Gerstensaft vor ihm. Beowulf nickte dem Wirt dankend zu und kostete mit Bedacht. Das würzige Getränk schmeckte. So leerte er den Quartkrug mit einem langen Zug zur Hälfte. Zufrieden wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab, lehnte sich zurück und döste ein wenig vor sich hin. Ihn verlangte es nach keinem Gespräch.

Plötzlich ertönte Kindergeschrei. Ein ungefähr sechsjähriger Junge stürmte durch die Küchentür in den Gastraum.

Eine Mädchenstimme rief hinterher: »Rick! Komm zurück, du Schlingel! Du musst ins Bett.«

Offensichtlich hatte Rick keine Lust dazu. Er lief von einem Tisch zum anderen, und so blieb es nicht aus, dass seine neugierig umherblickenden Kinderaugen Thor entdeckten. Der Junge jubelte und rannte ungestüm auf den großen Hund zu. Unbeholfen streichelte er ihn. Dann fasste er Mut und kletterte auf Thors Rücken.

Der Wirt sah seinen Sohn auf den Hund klettern und ließ vor Schreck den Teller los. Der gehorchte der Schwerkraft, fiel zu Boden und zersprang dort laut klirrend in Scherben. Niemand kümmerte es. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet.

»Rick! Komm sofort zu mir!«, schrie der Wirt in höchster Erregung und eilte flink wie ein Wiesel hinter seiner Theke hervor.

»Lassen sie nur!«, rief Beowulf. »Der Hund tut ihm nichts.«

Der Wirt zögerte. Die Angst um seinen Sohn stand gut lesbar in seinem Gesicht. Gleichzeitig wusste er aber nicht, was er tun sollte.

Rick krähte: »Hü, Hund! Ich will reiten!«

Zum Erstaunen aller erhob sich Thor und trottete langsam durch den Raum.

Rick strahlte und rief: »Schneller!«

Thor tat ihm den Gefallen und fiel in einen leichten Trab.

Der Wirt und die Gäste trauten ihren Augen nicht. Jeder hatte mit einer Katastrophe gerechnet. Und nun das! Sie sahen ein pechschwarzes Ungeheuer, das mit dem Kind spielte und offenbar jedes Wort verstand. Der eine oder andere rieb sich die Augen, um sicher zu sein, nicht zu träumen.

Thor drehte mehrere Runden, dann setzte er sich vorsichtig hin, sodass Rick herunterrutschen musste, ob er wollte oder nicht.

Aufgebracht schrie Rick: »Ich will noch mehr reiten!«

Da Thor ihm keine Möglichkeit bot, seinen Rücken zu erklimmen, trommelte Rick mit seinen kleinen Fäustchen auf den Hund ein. Thor blickte ihn nur nachsichtig an.

Als aber Rick nach seinem Ohr greifen wollte, reagierte Thor. Er nahm ihn quer in sein riesiges Maul, spazierte zur Theke und setzte ihn vor den Füßen des Wirtes ab. Anschließend trottete er gemächlich in Richtung Kamin und legte sich wieder auf seinen Platz.

Totenstille herrschte. Nicht einer brachte ein Wort über die Lippen. Ein Knirps quer im Maul eines riesigen Hundes war nun wirklich nichts für schwache Nerven. Jeder in der Taverne – ausgenommen Beowulf, der seinen Thor bestens kannte – hatte das Schlimmste befürchtet.

Der Wirt brauchte eine geschlagene Minute, bevor er zu einer Regung fähig war. Mit zittrigen Händen packte er seinen Sohn und stolperte mit ihm in die Küche.

Beowulf lächelte in sich hinein. Thor hat es wieder mal geschafft. Seine Taten werden wochenlang in aller Munde sein.

Die Erleichterung über den glücklichen und erstaunlichen Ausgang löste jedem die Zunge. Eine erregte Diskussion setzte ein.

Erst nach einer guten halben Stunde wurde es merklich ruhiger. Einige Gäste nahmen das Kartenspielen wieder auf, andere setzten ihre abgebrochenen Unterhaltungen mit leiser Stimme fort.

Immer seltener streifte ein ungläubiger Blick den großen Hund, der friedlich in seiner Ecke lag und döste.

*

Östlich der Taverne, unmittelbar hinter der Straße, breitete sich ein riesiges Waldgebiet aus. Seit Menschengedenken gab es diese Wildnis. Scheinbar hatte sie sich nie verändert. Nur ihr Name hatte sich im Laufe der Jahrtausende geändert. Heute nannte man die Wildnis den Räuberwald, da jenseits des Waldes eine berüchtigte Räuberbande hauste. Zu ihrem Hoheitsgebiet zählte nach Meinung vieler der Wald – ein Irrglaube – sicherlich nicht der einzige, was die Räuber anbetraf. Was sollten sie auch dort? In der scheinbar ewigen Dämmerung der dicht stehenden Bäume gab es keine Beute, die sich mit Goldstücken aufwiegen ließ. Darüber hinaus waren sie abergläubische Gesellen – wie viele Gewalttäter. Nach ihrer Überzeugung hausten dort böse Geister.

Der Wald zog sich mehrere Tagesreisen in Nord-Süd-Richtung und maß an seiner breitesten Stelle zehn bis zwölf Stunden Fußmarsch. Besser wusste es keiner. Nur wer in großer Not geriet, wagte sich hinein und hatte dann andere Sorgen, als die Stunden zu zählen. An seiner Westseite – gewissermaßen als eine von Menschen gezogene Grenzlinie – schlängelte sich die Straße. Das Schlängeln war wörtlich zu nehmen. Regelmäßig machte sie schwungvolle Bögen, was nicht immer einsichtig war. Viele glaubten, dass die Waldgeister bei der Grenzziehung ihre Hände im Spiel gehabt hatten.

Es gab so gut wie keinen, der den Wald liebte oder für unbedenklich hielt. Schon die Straße längs des Waldes bereitete vielen Reisenden Unbehagen. Zum Gutteil lag das an den Räubern, die ihnen dort auflauerten. Sie waren aber nicht der alleinige Grund. Nur wenig Tageslicht erreichte den Waldboden, und so eine ewige Dämmerung ist nach altem Glauben das Lebenselixier für Hexen, Kobolde und Waldgeister. Die Stadtmenschen, Farmer und Händler waren genauso abergläubisch wie die Räuber. Wahre Schauermärchen wurden an den langen Winterabenden über den düsteren Wald herumgereicht und gerieten bei jeder Wiederholung länger und schauriger.

In dieser verrufenen Wildnis tat sich etwas. Zur selben Zeit, als Beowulf sich am Anblick der Mondsichel erfreute, hasteten zwei Mädchen durch den Wald – beide so um die zwölf Jahre. Es waren Zwillinge – bildhübsche Zwillinge, die das Menschenauge nicht unterscheiden konnte.

Die sich über den Wald senkende Dunkelheit weckte in den Mädchen zwiespältige Gefühle. Die Büsche glichen Schattengespenstern, die Bäume rätselhaften Gestalten. Wo mehrere ihre astigen Köpfe zusammengesteckt hatten, erinnerten sie an mordlüsterne Gesellen.

»Sarah!«, keuchte Rabea. »Lass uns eine Pause machen. Ich kann nicht mehr.«

Sarah nickte nur.

Ihre Gesichter waren von den Anstrengungen der letzten Stunden gezeichnet, aber nicht nur davon. In ihren Augen war Angst zu lesen – eine übergroße Angst, die jeden Augenblick in grenzenlose Verzweiflung umzuschlagen drohte.

Im Augenblick war es mehr die Schwäche, die sie zu überwältigen drohte. Ihre Beine zitterten. Sie wollten der Schwerkraft gehorchen. Die Kinder gaben nach. Beide ließen sich zu Boden sinken.

»Hörst du etwas?«, fragte Rabea mit besorgter Stimme.

»Nein«, flüsterte Sarah zurück. »Du?«

»Nicht einen Laut! Vielleicht haben sie aufgegeben.«

»Das haben wir schon zweimal geglaubt, und jedes Mal ist es anders gekommen«, jammerte Sarah. »Diese gemeinen Räuber sind nicht so leicht abzuschütteln.«

»Sie können uns doch gar nicht sehen. Es ist fast dunkel.«

»Vielleicht sind Mutanten unter ihnen«, gab Sarah zu bedenken.»Unsere Angst hat vermutlich die Abschirmung unseres Geistes löchrig wie Käse gemacht.«

Darauf wusste Rabea keine Antwort.

Beide hingen unguten Gedanken nach. Beide lauschten in die Dunkelheit hinein. Beide rechneten mit dem Schlimmsten.

Plötzlich zerriss ein schauriger Ruf das Schweigen des Waldes.

Sofort flüsterte Sarah ihrer Schwester ins Ohr: »Der Eulenschrei bedeutet, dass gleich jemand eines gewaltsamen Todes stirbt.«

»Warum sagst du so was?«, schimpfte Rabea. »Du machst alles nur noch schlimmer!«

Doch der Schaden war nicht mehr gutzumachen. Sarahs Worte fraßen sich wie Säure in die Herzen beider Mädchen.

Ihre angstvollen Blicke streiften das dunkle Gewirr der Bäume und Büsche. Jeder unnatürlich verbogene Ast steigerte ihr Unwohlsein. Am schlimmsten waren die dunklen Gestalten der Büsche. Sie glichen heimtückischen Masken mit zugewachsenen Augenlöchern.

Mehr als einmal glaubten Sarah und Rabea, zwischen den Baumstämmen Augenpaare glühen zu sehen. Schauten sie aber genauer hin, war nichts mehr zu sehen. Die Kinder sahen sich gegenseitig an. Beide blickten in wachsbleiche Gesichter.

»Glaubst du, dass es hier Kobolde gibt?«, fragte Sarah.

Rabea zögerte, dann antwortete sie mit unsicherer Stimme: »Dieser Wald ist wie geschaffen für sie.« Im selben Moment fiel ihr ein, dass Kobolde nur an bestimmten Tagen unterwegs sind. »Sie verlassen ihre Höhlen nur, wenn Neumond ist.«

Sarah blickte ihre Schwester dankbar an, bekam jedoch die Kobolde nicht aus dem Kopf. Sie haben moosbärtige, verhutzelte Gesichter und sind bestenfalls halb so groß wie ich. Trotzdem ist mit ihnen nicht gut Kirschen essen. Kobolde mögen keine Menschen. Sie spielen uns bitterböse Streiche, wo sie nur können. Ich bin …

Plötzlich flüsterte Rabea: »Möglicherweise gibt es hier Wesen, die schlimmer als Kobolde sind.«

»Rede nicht über sie«, warnte Sarah hastig. »Du redest sie nur herbei. Die Räuber sind schon schlimm genug.« Dann klagte sie: »Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen?«

»Weil wir zwei Beutel mit Diamanten besitzen.«

Für einen langen Augenblick blieb es still zwischen ihnen.

Dann jammerte Sarah mit leiser Stimme: »Diese verdammten Beutel. Immer gibt es Ärger, wenn wir mit Diamanten bezahlen. Am liebsten würde ich sie wegschmeißen.« Etwas lauter fügte sie hinzu: »Wir sollten es tun.«

»Was tun?«

»Unsere Diamanten wegschmeißen – und zwar sofort.«

»Das geht nicht«, wandte Rabea ein.

»Warum nicht?«

»Wenn die Räuber uns kriegen, werden sie uns nicht glauben, dass wir die Diamanten weggeworfen haben. Sie werden uns so lange quälen, bis wir ihnen gesagt haben, wo die Steine sind.«

Sarah schaute ungläubig. »Willst du damit sagen, dass sie uns Arme und Beine ausreißen?«

»Ich weiß nicht, was sie mit uns tun werden, aber ich weiß, dass Räuber keine Kinder lieben.«

»Den Beutel auf dem Tresen auszuleeren, war purer Blödsinn.«

»Wir brauchten einen kleinen Stein, und die liegen nun mal unten«, argumentierte Rabea. Verärgert setzte sie hinzu: »Nachher ist man immer schlauer«.

»Ist ja schon gut«, lenkte Sarah ein. »Ändern können wir es ja nicht mehr. Wir können von Glück reden, dass uns der Krämer einen Zettel zugesteckt hat.«

»Ja«, sagte Rabea. »Hätte er uns nicht vor den Räubern gewarnt, wäre es uns schlimm ergangen.«

»Es kann noch schlimm kommen.«

Rabea wollte darauf nicht antworten. Auch Sarah wollte das undankbare Thema nicht weiter vertiefen. Beide lauschten wieder in den Wald hinein.

Plötzlich hörten sie etwas durch die Zweige fallen.

»Nur ein Tannenzapfen«, beruhigte Rabea.

»Meinst du!« Sarahs Stimme schwankte leicht.

Etwas knackte in ihrer Nähe.

»Ein Zweig knackt nur, wenn jemand drauftritt«, flüsterte Sarah.

»Es wird ein Tier gewesen sein.«

»Ein großes Tier mit scharfen Zähnen kann schlimmer sein als die Räuber«, gab Sarah mit leiser Stimme zu bedenken. »Ein großes Tier mit scharfen Zähnen gibt sich nicht mit unseren Diamanten zufrieden.«

Darauf wusste Rabea nichts zu entgegnen. Bedrückt dachte sie: Die Nacht gehört den Räubern und den Raubtieren. Wer in einem Haus mit Licht und abgeschlossenen Türen lebt, vergisst das allzu leicht.

Plötzlich hörten sie ein unangenehm lautes Knacken. Es wiederholte sich und schien so gar nicht zum schweigenden Wald zu passen.

»Hast du‘s gehört?« Sarahs Stimme zitterte.

»Ja!«, antwortete Rabea und fügte hastig hinzu: »Es muss nichts bedeuten.«

»Vielleicht ist ein Vampir in der Nähe.«

»Ein Vampir tötet nicht. Er würde dich nur beißen und dein Blut trinken.«

Sarah verzog ihr Gesicht: »Überlebt man das?«

Rabea nickte.

»Was ist eigentlich ein Vampir?«, wollte Sarah wissen »Ich meine, woher kommen sie?«

»Ein Vampir ist ein Mensch, der gestorben ist – aber nicht so richtig.«

»Nicht so richtig?« Sarahs Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Er liegt wie tot in seinem Sarg – ohne zu verfaulen oder zu Staub zu zerfallen.«

»Du meinst, er liegt rotbäckig im Sarg, und wenn er durstig ist, kommt er heraus.«

»Genauso ist es.«

Doch dann wurde der Vampir unwichtig. Beide glaubten, Stimmen zu hören. Wie von der Tarantel gestochen sprangen die Kinder auf ihre Füße. Sie rannten, schlugen Haken, wo Büsche und Bäume es erzwangen, und hechteten über flache Gräben und gestürzte Bäume. Dabei brachen sie Zweige und Äste.

Es war eine sinnlose Flucht. Jeder, der zwei Ohren sein Eigen nannte, musste sie hören. Den Kindern war kein Vorwurf zu machen. Sie gehorchten nur ihrer Angst.

Ohne ein Ziel vor Augen hetzten sie durch den Wald. Spinnweben wehten ihnen ins Gesicht. Hastig wurden sie beiseite gewischt, ohne im Laufen innezuhalten. Zweige schlugen nach ihnen. Dornenranken versuchten, sie festzuhalten. Fledermäuse jagten wie kleine Schatten über ihre Köpfe.

Sarah und Rabea glaubten, um ihr Leben laufen zu müssen.

Schließlich wurden sie langsamer. Die irrsinnige Anstrengung, die sie ihren schmächtigen Körpern abgerungen hatten, kehrte sich gegen sie. Aus dem Laufen wurde ein Gehen – aus dem Gehen ein Stolpern.

Völlig entkräftet erreichten die Kinder den Rand einer kleinen Lichtung und ließen sich dort fallen. Die Räuber waren nur noch leere Worthülsen in ihren Köpfen. Alles drehte sich. Die Umgebung verschwamm. Beide mussten sich einer höheren Macht fügen.

Es war ihr Glück. Als den Räubern wieder mal die Orientierung fehlte, versuchten sie ihre alte Taktik. Sie machten Lärm, brachen ihn ab und lauschten. Doch diesmal blieb das Geräusch brechender Zweige aus. Sie mussten die ursprüngliche Richtung beibehalten. Auf diese Weise kamen sie den Zwillingen zwar näher, jedoch nur langsam und alles andere als zielgerichtet.

Die Kinder lagen wie tot im Gras.

Schließlich kam Bewegung in ihre schmächtigen Körper. Anfangs wollten sie davon nichts wissen, aber eine innere Stimme gab einfach keine Ruhe. Schwerfällig richteten sie sich auf. Beide waren sich ihrer hoffnungslosen Lage bewusst. Sarah reagierte zuerst und fing an zu weinen. Dicke Tränen kullerten die Wangen herab und tropften ins Gras. Rabea ließ sich davon anstecken und weinte mit.

Plötzlich hörten sie eine glockenhelle Stimme. »Guten Abend, Rabea! Guten Abend Sarah! Mond und Sterne schützen Kinder aus der Ferne!« Die Worte klangen sanft und melodisch. Nichts Böses schwang in ihnen mit.

Erschrocken blickten die Zwillinge auf und vergaßen vor lauter Staunen das Weinen. Vor ihnen standen zwei Wesen von nur halber Menschengröße – zwei Mädchen mit graublauen Augen und schulterlangem hellblondem Haar. Ihre Körper verbreiteten ein sanftes Licht. Der Anblick gefiel den Kindern so sehr, dass sie vergaßen, darüber nachzudenken, wie es sein konnte, dass die beiden Wesen Licht verströmten. Stattdessen bewunderten sie die langen, locker fallenden Gewänder, die vielfarbig wie Perlmutt schimmerten, mit bunten Blumen bestickt waren und von einer roten Schärpe in Hüfthöhe zusammengehalten wurden.

Die Kinder spürten, dass ihr Verstand mit dem, was sie sahen, überfordert war. Trotzdem wollte in ihnen keine Angst aufkommen. Im Gegenteil. Von den beiden Wesen ging etwas außerordentlich Wohltuendes und Beruhigendes aus.

»Wie zauberhaft!«, flüsterte Rabea ihrer Schwester zu.

»Wie wunderschön!«, raunte Sarah zurück.

Die beiden Wesen schienen so vollkommen zu sein wie ein funkelnder Stern. Das galt besonders für ihre graublauen Augen. Sie schimmerten klar wie Glas und waren so glänzend, dass sie flüssig wirkten. In ihnen wohnte eine nicht zu beschreibende Kraft. Sarah und Rabea fühlten sich geradezu gezwungen, hineinzuschauen.

»Wer … wer seid ihr?«, stammelte Rabea.

»Wir kommen den Wesen sehr nahe, die in euren Märchen als Elfen bezeichnet werden.«

Rabea verschlug es die Sprache. Als kleines Kind hatte sie oft nach Elfen Ausschau gehalten – ohne Erfolg. Und jetzt passierte es einfach.

»Ich heiße Merle«, erklärte die eine.

»Und ich bin Marlit«, ergänzte die andere.

»Seid ihr wirklich Elfen?« Sarah schaute ungläubig. Die beiden rätselhaften Wesen überforderten sie.

Hilflos stotterte Rabea: »Sei... Seid ihr Zauberwesen? Gehört ihr zum dunklen Wald?«

Merle lächelte, dann fragte sie schelmisch zurück: »Wie kommt es, dass ihr so wenig über Elfen wisst? Jedes Kind kennt sie.«

»Ich weiß sehr viel über euch«, antwortete Rabea und gab ihr schmales Wissen preis: »Elfen sind kleine Waldmenschen, die ihr Leben damit verbringen, im Mondschein zu tanzen.«

»Nur im Mondschein tanzen! Mehr nicht!« In Marlits Augen stand ein lustiges Funkeln.

Eilig fügte Rabea hinzu: »Ihr sorgt dafür, dass die gute Magie nicht ausstirbt.«

Nun fühlte sich Sarah gefordert und rief mit lauter Stimme: »Elfen sind magische Wesen, die nicht den Gesetzmäßigkeiten der irdischen Welt unterliegen. Sie bringen Wälder dazu, mit ihnen in den Krieg zu ziehen.

Sie machen sich aus Blumen Soldaten und bauen Häuser und Burgen aus Spinnweben.«

»Jetzt habt ihr übertrieben«, meinte Merle, lächelte und fügte hinzu: »Vielleicht ist es besser, das Thema ruhen zu lassen.«

Doch damit war Rabea nicht einverstanden. »Wir wollen alles wissen! Was genau sind Elfen?«

»Seid ihr aus Nebel und Mondlicht gemacht?«, rief Sarah.

»Oh! Nicht direkt, aber es kommt der Sache etwas näher.«

»Sag es genauer.«

»Mit Worten lässt sich das schlecht sagen«, antwortete Marlit. Sie zögerte ein wenig, dann fuhr sie fort: »Wir bestehen nur aus Geist und Bewusstsein. Wisst ihr, was ein Bewusstsein ist?«

»Ja!« antwortete Rabea und erklärte mit gewichtiger Stimme: »Jeder Mensch hat ein Bewusstsein.«

Sarah ergänzte: »Bewusstsein ist die Fähigkeit zur Selbstbesinnung. Es ist die Fähigkeit, über sich selbst nachdenken zu können und sich selbst als Ich zu verstehen.« Was sie sagte, verstand sie nur in Teilen. Sie hatte diese Sätze früher mal gehört und aus unerfindlichen Gründen Wort für Wort behalten.

Marlit lächelte. »Das ist eine erstaunlich gute Definition für ein Kind in deinem Alter, aber Geist und Bewusstsein dürfen nicht in einen Topf geworfen werden. Der Geist ist für das Denken und Erinnern zuständig, während das Bewusstsein etwas Uraltes und Unsterbliches ist.« Dann forderte sie die Kinder auf: »Versucht mal, uns zu berühren.«

Rabea war mutiger als ihre Schwester. Vorsichtig streckte sie ihren Arm aus und machte eine überraschende Erfahrung. Ihre Hand ging durch die Erscheinung von Marlit hindurch. Fleisch und Blut existierten nicht. Rein gar nichts existierte. Erschrocken zog Rabea ihre Hand zurück.

»Siehst du!«, sagte Marlit. »Jetzt weißt du, dass wir keinen Körper haben.«

Sarah versuchte ebenfalls, Marlit zu berühren. Auch sie zuckte erschrocken zusammen, als ihre Hand auf keinen Widerstand stieß und sich mitten im scheinbaren Körper von Marlit befand.

»Ihr müsst doch essen und trinken!«, rief Sarah.

»Wir leben von Energie.«

Sarah, die von Energie als Nahrung nichts wissen wollte, hakte nach: »Was ist mit eurem Körper, der keiner ist? Woraus besteht er?«

»Manche sagen, dass Elfen aus Sternenlicht gemacht sind.«

»Oh! Das klingt schön!«, entfuhr es ihr.

Rabea blieb skeptisch. »Was andere sagen, muss nicht stimmen.«

»So ist es«, gab Merle zu, »aber es würde uns gefallen, aus Sternenlicht gemacht zu sein.«

Beide Kinder konnten es ihnen nachfühlen. Beide ahnten, dass es etwas ganz Besonderes sein musste, aus Sternenlicht gemacht zu sein.

Neugierig hakte Rabea nach: »Warum habt ihr eine Gestalt, die in Wahrheit keine ist?«

»Eine berechtigte Frage.« Merle fuhr fort: »Wir haben nur deshalb eine Gestalt angenommen, damit ihr uns sehen könnt und nicht nur eine Stimme hört. Letzteres hätte euch wenig gefallen.«

Die Kinder nickten.

»Wir haben noch mehr getan. Wir haben eine Figur aus euren Erinnerungen gewählt, um euch nicht zu erschrecken.«

»Wieso könnt ihr das?«, wollte Sarah wissen.

»Wir können jede Gestalt annehmen. Sie sind aber nur Spiegelbilder von irgendetwas aus dem Reich der Fantasie und der Erinnerungen.«

Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, verwandelte sich Merle in einen Frosch, der eine kleine goldene Krone trug.

Rabea und Sarah lachten und riefen gleichzeitig: »Der Froschkönig!«

Merle verwandelte sich wieder in eine Elfe zurück und meinte: »Jetzt habt ihr es sicherlich verstanden.«

Beide nickten.

Rabea schaute forschend, dann fragte sie: »Wie bewegt ihr euch? Ihr habt doch keine richtigen Beine.«

Die Elfen schauten sich verblüfft an.

Schließlich sagte Marlit: »Du bist ein pfiffiges Mädchen.«

»Bisher hat uns keiner diese Frage gestellt«, ergänzte Merle

Rabea fühlte sich geschmeichelt, vergaß aber ihre Frage nicht. »Und wie bewegt ihr euch?«

»Im eigentlichen Sinne können wir uns nicht fortbewegen«, antwortete Marlit. »Wir denken uns an ein Ziel. Anders ausgedrückt: Wir können ein Lebewesen, dessen Nähe wir uns wünschen, lokalisieren. Und schon sind wir da.«

Sarah protestierte: »Ihr könnt doch nicht einfach da sein!«

Merle entgegnete: »Warum soll es keine geistigen Naturen geben, die anders sind als Menschenkinder? Warum soll es keine Wesen geben, die Raum und Zeit als schrankenlos empfinden und mit einer unbekannten Macht auf gutem Fuß stehen?«

Beide Kinder schauten sich ratlos und verwirrt an.

»Ihr lebt in einem dreidimensionalen Raum und kennt nur diesen«, erklärte Marlit geduldig. »Wir kennen andere Dimensionen, die es uns ermöglichen, euren Raum zu überwinden.«

»Welche anderen Dimensionen meinst du?« Sarahs Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Dieser Sachverhalt lässt sich nicht in eurer Sprache erklären.«

»Warum nicht?«, verlangte Rabea zu wissen. »Unsere Vorfahren, die Alten Menschen, waren große Wissenschaftler. Sie wussten nahezu alles.«

»Das umfangreiche Wissen der Alten Menschen reicht nicht, um Elfen zu erklären.« Merle fügte hinzu: »Kein Volk kann der Natur alle ihre Geheimnisse entreißen.«

»Dann sag uns wenigstens, wie ihr es schafft, euch in Menschen und Tiere zu verwandeln.«

»Das lässt sich ebenfalls nicht erklären. Der Aufbau einer optischen Illusion erfordert tausendjährige Erfahrung. Gesicht und Augen müssen widerspiegeln, was wir reden, und die euch Menschen vertraute Gestik darf ebenfalls nicht fehlen.«

Marlit bekräftigte: »Deshalb bewegen wir Arme und Beine, auch wenn es für uns keinen Sinn macht.«

Merle fing an zu tanzen, was beide Kinder erheiterte.

»Wir können weit mehr, als euch nur etwas vorzugaukeln«, warf Marlit ein. »Wir haben euch ja gesagt, dass wir jeden Geist lokalisieren können. Deshalb wissen wir, wo die Räuber sind.«

Augenblicklich kehrte die Angst zurück. Sarah fing an zu weinen. Rabea versuchte tapfer, die Tränen zurückzuhalten. Die Räuber hatten sie ganz vergessen. Nun waren sie wieder in ihren Köpfen.

»Ihr braucht keine Angst haben«, tröstete Merle. »Wir haben sie hereingelegt.«

»Wie denn?«, schluchzte Sarah. »Ihr seid doch nur eine Illusion.«

»Ja, aber eine nützliche«, sagte Merle und fuhr fort: »Wir haben eure Gestalt angenommen, uns den Räubern gezeigt und sie von euch fortgelockt. Dann sind wir auf eine hohe Tanne geklettert, die unten keine Äste hat und in der Krone sehr dicht ist. Die Räuber glauben euch da oben versteckt.«

»Auch jetzt noch?«, wollte Rabea wissen.

Merle nickte. »Zurzeit sind sie damit beschäftigt, die große Tanne zu fällen.« Die Elfe lachte. »Mit ihren kurzen Streitäxten kommen sie nur langsam voran. Wir haben also viel Zeit.«

»Wir hätten uns auch als Waldhexen zeigen können«, sagte Marlit. »Wie die Hasen wären sie gelaufen.«

Sprachlos starrten die Zwillinge die Elfen an. Beide hatten Mühe, das Gehörte zu glauben.

»Richtige Elfen haben spitze Ohren«, behauptete Sarah und fügte argwöhnisch hinzu: »Ihr habt keine!«

»Wer sagt das!«, rief Merle und sorgte umgehend dafür, dass spitze Ohren aus ihrem Haar hervorlugten.

Marlit tat es ihr nach.

Sarah war immer noch nicht überzeugt und forderte mit unnachgiebiger Stimme: »Beweist uns, dass ihr euch in uns verwandeln könnt!«

Im Nu standen zwei Zwillingspaare auf der Lichtung. Sarah starrte Sarah an, und Rabea starrte Rabea an. Die Kinder waren so verblüfft, dass sie kein Wort über die Lippen brachten. Die Elfen nutzten die kleine Pause und verwandelten sich wieder in ihre ursprünglichen Gestalten zurück.

»Seid ihr nun überzeugt?«, fragte Merle mit einem kleinen Lächeln um ihren Mund.

Die Zwillinge waren es. In ihren Herzen breitete sich eine wärmende Hoffnung aus.

»Kommt!«, forderte Marlit sie auf. »Wir setzen uns unter dem Baum dort.« Die Elfe zeigte auf ihn. Seine mächtige Krone verdeckte eine Vielzahl Sterne.

Merle fügte hinzu: »Ihr braucht eine Ruhepause.«

Bis zum Baum waren es nur wenige Schritte.

Sarah und Rabea legten ihre Rucksäcke ab und setzten sich ins Gras. Ihre Augen verweilten bei den über den Baumwipfeln funkelnden Sternen. Dann sahen sie den Mond. Seine schmale Sichel lugte durch das Geäst der Bäume und machte jedem klar, dass er einer anderen Welt angehörte.

Die umstehenden Bäume schienen ebenfalls nicht von dieser Welt zu sein. Ihre bärtigen Zweige und moosbewachsenen Stämme fachten die Fantasie der Kinder an. Sie glichen übergroßen Kobolden. Um das unheimliche Bild loszuwerden, blickten beide wieder zu Merle und Marlit. Das zarte Mondlicht umspielte die Elfen und machte sie noch rätselhafter, als sie ohnehin schon waren.

Verträumt fragte sich Rabea: Ist es das Licht des jungen Mondes, das die Elfen so geheimnisvoll leuchten lässt? Damit öffnete sie die Tür zu weiteren Fragen. Wer sind sie? Woher kommen sie?

Sarah fragte sich gar nichts. Sie war voll damit einverstanden, Teil einer unverstandenen Märchenwelt zu sein.

Die Elfen wussten die Gedanken der Kinder zu deuten. Alles, was Sarah und Rabea dachten und fühlten, stand gut lesbar in ihren kleinen Gesichtern geschrieben.

Schließlich sagte Merle: »Damit ihr euch wirklich entspannt, erzählen wir euch ein Märchen. Der Mond, der uns verstohlen durch die Bäume zublinzelt, spielt darin eine nicht ganz unwichtige Rolle.«

»Oh ja!«, rief Sarah. »Ich mag Märchen.«

Rabea mochte Märchen ebenfalls, hatte aber Bedenken. »Was ist, wenn die bösen Räuber kommen?«

»Dann verwandeln wir uns in lebensgroße Skelette«, antwortete Merle. »Oder in garstige Hexen.«

Marlit fügte hinzu: »Noch besser wäre ein baumgroßes Gespenst.«

Mit einem Augenzwinkern fragte Merle: »Wollt ihr so ein baumgroßes Gespenst sehen? Es sieht wunderbar echt aus.«

»Nein, nein!«, wehrte Sarah hastig ab. »Bloß das nicht! Fang lieber mit dem Märchen an.«

Die Elfe begann zu erzählen.

***

Vor langer, langer Zeit lebte ein Mann namens Wanga. Er war der Sohn einer alteingesessenen Familie und hatte sich von Jugend an den geheimen Wissenschaften und der Zauberei verschrieben. Doch er kam nicht so richtig voran. Darüber war er sehr betrübt.

Eines Tages hörte er, dass in Lauschan – eine einsame Berggegend – Unsterbliche lebten. Wanga beschloss, sie aufzusuchen, um von ihnen zu lernen. Die Unsterblichkeit interessierte ihn, und er war sicher, dass die dortigen Weisen noch über andere Geheimnisse verfügten. So sagte er seiner Frau Bescheid, packte seine Bücher in eine Kiste und machte sich auf den Weg.

Es war ein mühsamer und beschwerlicher Weg. Erst nach vielen Wochen und manchem Abenteuer erreichte Wanga die Bergregion Lauschan.

Dort traf er auf einen alten Mann, der scheinbar gedankenverloren vor seiner Hütte saß. Er trug langes weißes Haar, und sein Gesicht war von einem ebenso weißen Vollbart eingerahmt. Den stärksten Eindruck machten aber die rätselhaften Augen des Uralten. Sie schienen alles zu wissen und schüchterten Wanga ein.

Wanga raffte seinen ganzen Mut zusammen, verbeugte sich artig und grüßte den alten Mann. So kamen sie ins Gespräch. Schon bald spürte Wanga, dass er einen Unsterblichen vor sich hatte, denn seltsam und rätselhaft war sein Reden.

Am Ende bat Wanga, sein Schüler werden zu dürfen.