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Aufs Internat geschickt zu werden, kommt für Hannah überraschend. Nicht nur soll sie plötzlich in einem alten Schloss zur Schule gehen, sondern sie erfährt auch den wahren Grund dafür: Alle antiken Götter existieren und mischen sich heute noch in die Welt der Menschen ein. Eine geheime Organisation bewahrt dieses Wissen und Hannah ist auserwählt, eine ihrer Schülerinnen zu werden. Ab jetzt stehen Mythen und Rituale auf dem Stundenplan und Halbgötter sitzen zusammen mit Menschen im Klassenzimmer. Gemeinsam mit der wissbegierigen Phebe und Niall, den nichts mehr überraschen kann, taucht Hannah in eine neue Welt voller Wunder und Gefahren ein und begegnet Schraten, Nymphen und Göttern. Doch die magische Welt birgt auch dunkle Seiten. Die Freunde stoßen auf ein ungelöstes Rätsel, das mit dem Weltuntergang Ragnarök zusammenhängt...
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Seitenzahl: 460
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Prolog
Das Vogesenschloss
Von Menschen und Halbgöttern
Der erste Tag
Ein Zuhause für ewig Reisende
Eine andere Welt
Dingos Versteck
Ragnarök, November 1981
Freund des Bären
Eine letzte Nachricht
Saville gesucht
Dryaden
Der Wald lebt
Archiviert
Das rote und das weiße Elixier
In gelben Roben
Der Unterirdische Kongress
Lexikon
Was wurde aus
Holger Abels hatte niemals wirklich an etwas geglaubt. Er wusste Dinge und war von vielem überzeugt: dass es die richtige Entscheidung gewesen war, den sichersten Weg zu gehen, dem Risiko den Rücken zu kehren und Buchhalter zu werden, dass seine Ehe mit Anke Bestand hatte oder dass seine Tochter Hannah ein ganz wundervolles Geschöpf war. Aber an jemanden oder eine höhere Macht zu glauben, das wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Bisher war er nur einmal in seinem Leben davon abgewichen.
Er war vierzehn Jahre alt gewesen, so wie Hannah heute, und er war zum ersten Mal im Internat angekommen, auf das seine Eltern ihn geschickt hatten. Sein Vater war selten zuhause, ständig beruflich auf Reisen, und seine Mutter war kränklich, so hatte es Holger nicht überrascht, dass er nun hier, weit entfernt vom heimatlichen Lüneburg, zur Schule gehen sollte.
Sein Vater hatte ihm sein Leben lang die Geschichten erzählt, die Sagen der alten Götter und Helden der Griechen und Germanen, der Sumerer und Slawen, der Ägypter und Kelten und aller anderen. Der Menschen, die in diese Schule gegangen waren und zu Helden wurden, weil sie mit ihrem Wissen die Menschheit wieder und wieder retten konnten.
Doch erst als Holger im Vorhof des Schlosses gestanden hatte, das so verborgen mitten in den Wäldern der Vogesen lag, hatte er begriffen, dass er an der Schwelle zu einer anderen Welt stand. Einer Welt, die größer war, als er zu träumen gewagt hatte. Einer Welt, in der die Geschichten von Olympiern und Nymphen, Asen und Wanen, Formori und Túatha dé Danann wahr waren. Wahr!
Sie nannten sich MEDIATORES DEORUM ET HOMINUM, Mittler zwischen Menschen und Göttern. Der Eingängigkeit halber hatten die Jahrhunderte diesen Namen auf dem Pergament vergilben lassen. Schon früh hatten die Götter sie wegen ihres Erkennungsmerkmals, ihrer safrangelben Umhänge, ›Gelbroben‹ getauft. Irgendwann hatte die geheime Organisation diesen Namen halboffiziell übernommen.
Niemand außer ihnen stand seit Jahrhunderten zwischen der Menschheit und den Göttern. Sie waren keine Priester, keine religiösen Menschen, aber dennoch die Mittler zwischen denen, die die mächtigste Stimme, und denen, die keine hatten.
Sein Vater war ein Mitglied dieser jahrhundertealten Geheimorganisation, die die Menschheit vor dem Nichtmenschlichen bewahrte und schützte. Sein Vater war einer von diesen Helden. Holgers Vorfreude auf den ersten Schultag hätte nicht größer sein können.
Der Kies des Schulhofs knirschte leise unter seinen Schuhen und der Anblick der vier ungleichen Schlosstürme, die sich gegen den Himmel erhoben, ließ ihn innehalten. Er atmete tief durch und betrachtete seine neue Schule. In diesem Moment glaubte er fest daran, seine Bestimmung gefunden zu haben. Hier in der Schule der Gelbroben, da draußen in anderen Sphären und doch in dieser Welt. Er wollte ihnen allen begegnen: Zeus, Odin, Ra… Die Liste der Namen, die ihm einfielen, nahm kein Ende. Es lagen Abenteuer und Gefahren in der Berufung seiner Familie, das wusste er. Und er wollte sie alle erleben.
Vier Jahre später hatten sich die Dinge geändert. Holger Abels war erwachsen geworden und das Abenteuer war vorüber für ihn. So wie es Tradition war, ließ man den Schülern am Ende ihrer Ausbildung die Wahl: sie konnten einen Eid schwören und zu den Gelbroben gehören oder sich von dem geheimen und gefährlichen Leben abwenden. Holger Abels entschied sich für Letzteres.
In seinen letzten Sommerferien zuhause in Lüneburg hatte er ein Mädchen kennengelernt. Anke war blond wie Flachs, pfiffig wie ein Eichhörnchen und nichtsahnend. Unwissend, wie er es vor vier Jahren selbst noch gewesen war. Für sie waren die größten Probleme der Welt ihre Haare, ihre Zukunft und ihr Taschengeld. Worum sonst sollte sie sich auch sorgen? Sie wusste schließlich nichts von den aktuellen Krisen, dem Massensterben von Phönixen und anderen Feuerwesen oder der Prophezeiung, dass der verheerende Fimbulwinter demnächst anbrechen würde.
Vielleicht war das der Grund, aus dem er sich in sie verliebte. Als das vierte Schuljahr zu Ende ging, hatte Holger seine Lektion gelernt. Er konnte die Chance ergreifen, ein Held zu sein, oder er konnte es sein lassen, die Sicherheit wählen und eines Tages eine Familie haben. Ein Vater werden, anders als seiner, der nie dagewesen war, weil er ständig auf gefährliche Einsätze der Gelbroben geschickt wurde. Aber eine Familie musste ferngehalten werden von den Gefahren, den Monstern und Göttern, die diese Welt zu bieten hatte. Und so verließ er die Gelbroben.
Er hatte damals mit achtzehn gedacht, dass er nie zurückblicken würde, und so hatte es für lange Zeit auch ausgesehen. Anke hatte ihn geheiratet und Hannah war vierzehn Jahre alt geworden, ohne dass Holger je wieder von den Gelbroben gehört hätte. Doch nun saß er im Auto und brachte seine einzige Tochter auf das Vogesenschloss.
Hannah lehnte die Stirn gegen die Autofensterscheibe und sah hinaus. Seit Stunden saß sie auf dem Rücksitz des Wagens ihrer Eltern, auf dem Weg zu ihrer neuen Schule, dem Internat in den Vogesen. Die Landschaft vor dem Fenster war längst eine andere als bei ihrem Aufbruch. Sie fuhren durch einen dichten Wald. Buchen, Eichen, Bergahorne, dunkle Fichten und Tannen wucherten entlang der kurvenreichen Straße, die sich an den Hang schmiegte. Links raste die Böschung und rechts der grüne Abgrund vorbei.
Lange konnte es nicht mehr dauern. Hannah setzte sich gerade hin und fing den Blick ihres Vaters, der sie im Rückspiegel betrachtete. Er sah schnell weg. Vermutlich versuchte er immer noch, ihr auszuweichen. Auch sie blickte wieder aus dem Fenster und sah ihrem eigenen Spiegelbild in der Scheibe entgegen. Sie ähnelte ihren Eltern: das flachsblonde Haar, das dem ihrer Mutter so sehr glich, die blauen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, und die Sommersprossen, die ihre rosige Haut nach dem Spanienurlaub noch zahlreicher als sonst sprenkelten. Aber ihre Eltern konnten nicht in sie hineinsehen.
Ja, der Spanienurlaub... Hannah ertappte sich dabei, dass sie ein Seufzen zurückhielt. Es war ein Versuch der Aussöhnung gewesen, denn Spannungen hatte es bei den Abels oft gegeben, seit das Thema ›Internat‹ angesprochen worden war. Für Hannah war es aus dem Nichts gekommen. Sie hatte gute Noten, viele Freunde und wurde immer wieder von Erwachsenen dafür gelobt, wie vernünftig und reif sie für ihr Alter war. Ein Internat hatte nie zur Debatte gestanden. Nicht bis vor zwei Monaten.
Alles hatte mit einem Brief begonnen. Der Umschlag war mit dem Schulwappen verziert gewesen. Ein Greif spannte seine Schwingen aus und in seinen Klauen hielt er eine Schwertlilie, eine Schreibfeder und ein sechseckiges Symbol, das Hannah noch nie gesehen hatte. Es war eine Einladung gewesen, die Voranmeldung für den Schulbeginn im September zu bestätigen. Hannahs Großvater, der vor zehn Jahren gestorben war, musste sie kurz nach ihrer Geburt für einen Platz im Internat vorgemerkt haben. Anders konnten ihre Eltern sich den Brief nicht erklären. Wochenlang hatten sie mit Hannah Für und Wider diskutiert.
Jetzt lag der Brief mit der Anfahrtsbeschreibung unbeachtet auf ihrem Schoß. Sie wünschte insgeheim, dass er nie im Briefkasten gelegen hätte.
»Hier draußen kann doch keine Schule sein«, riss die Stimme ihrer Mutter auf dem Beifahrersitz Hannah aus ihren Gedanken. Sie blickte abwechselnd auf die ausgefaltete Straßenkarte und aus dem Fenster, um irgendeinen Anhaltspunkt zur Orientierung zu finden. »Holger, du hast dich verfahren.«
»Nein, nein, sie liegt hier draußen im Wald«, antwortete Hannahs Vater gelassen. »Ich erinnere mich genau. Immer, wenn man denkt, dass man angekommen ist, kommt noch eine Kurve.«
Hannah rang sich ein Lächeln ab. Sie hatte ihren Vater selten aufgeregt gesehen, doch jetzt strahlte er wie ein kleines Kind am Weih-nachtsmorgen. Es erinnerte sie an den Abend bald nach der Ankunft des Briefs, als er sie beiseite genommen und ihr die ganze Wahrheit über das Internat verraten hatte. Irgendwo da draußen gab es Götter, Monster und magische Wesen und dazwischen die Gelbroben. Es gab Orte und Sphären, von denen sie nie geträumt hatte, und Mächte, die älter waren als die Welt selbst.
Es war ihr nicht schwergefallen, ihm zu glauben. Sie hatte immer gespürt, dass es mehr in der Welt gab, als mit bloßem Auge zu sehen und in Schulen zu lernen war. So viele Fragen hatten auf ihrer Zunge gebrannt, doch sie hatte nicht gewusst, ob sie die Antworten von ihrem Vater hören wollte. Auch jetzt im Auto wurde ihr noch mulmig, wenn sie daran dachte, dass sie vielleicht bald einem antiken Gott gegenüberstehen würde.
»Es muss zuerst unser Geheimnis bleiben«, hatte ihr Vater seinen Vortrag beendet, bevor er zu sehr in den Erinnerungen an seine eigene Schulzeit zu schwelgen begann. »Du darfst niemandem davon erzählen, auch nicht deinen Freunden. Erst wenn du sicher bist, dass du nach vier Jahren Mitglied werden willst, können wir es deiner Mutter erklären.«
Hannah hatte darüber die Stirn gerunzelt. Sie würde ihre Mutter anlügen müssen? Doch ihr Vater hatte weitergesprochen. »Ich will dich nicht zwingen, und wenn du es nicht magst, dann kannst du zurück auf deine alte Schule. Aber versprich mir, dass du diese einzigartige Chance nutzt.«
»Ich verspreche es«, hatte Hannah geantwortet und damit war es beschlossene Sache gewesen.
Wieder bog das Auto um eine Kurve.
»Wir sind gleich da«, versicherte Hannahs Vater. »Gleich sehen wir das Schloss.«
Sie wusste, dass er versuchte, die Vorfreude, die er sich für sie wünschte, in seine Worte zu legen. Aber sie konnte sich nicht zu einer Antwort durchringen.
»Ich bin schon ganz gespannt«, schmunzelte Hannahs Mutter und strich ihrem Ehemann zärtlich über den Arm. Dann warf sie einen Blick über die Schulter zu Hannah. »Du nicht auch, Hannah?«
»Ja«, überwand Hannah sich zu antworten. Gespannt war sie, angespannt, aber sie tat ihr Bestes, es zu verbergen. Dass sie ihre Eltern auf den letzten Metern nicht mehr umstimmen konnte, wusste sie. Also war es zwecklos, jetzt noch etwas zu sagen. Außerdem hatte sie ihrem Vater ein Versprechen gegeben und sie hatte noch nie ein Versprechen gebrochen. Warum war es bloß so schwer?
»Dort ist es.« Aufgeregt wie ein kleines Kind deutete ihr Vater aus dem Fenster. Ihre Mutter gab ein entsetztes Keuchen von sich, verkniff sich aber einen Kommentar darüber, dass er beide Hände am Lenkrad lassen sollte.
Hannah blickte hinaus. Zwischen den Bäumen war der Blick auf das Schloss frei geworden. Es lag auf der Kuppe eines Berges, der weder der höchste noch der massivste unter seinen Nachbarn war. Im Sonnenlicht strahlte das Gemäuer in einem warmen Ocker und seine Dächer waren grün geziegelt wie in einem Märchenbuch. Es sah überhaupt nicht aus wie die geheimnisvolle Burg mit Zinnen oder das verwunschene, halbverfallene Spukschloss, die Hannah sich ausgemalt hatte. Vier ungleiche Türme ragten in den Himmel, einige höher oder dicker als die anderen. Schief und krumm wirkten die Mauern und Höfe, wie sie sich an den Berg klammerten, um darauf zu thronen.
»Das Schloss wurde in der Zeit der Renaissance gebaut, also vor über 400 Jahren. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es hier eine Schule«, begann ihr Vater wie bei jedem Familienausflug ungefragt, einen Reiseführer zu ersetzen. Wieder sah er Hannah durch den Rückspiegel an. »Du lässt dich wirklich auf eine Sache mit viel Tradition ein.«
Hannah konnte seinen Blick nicht deuten. Sollte es eine Anspielung auf die Gelbroben sein? Schnell warf sie ihrer Mutter einen Seitenblick zu. Es fühlte sich falsch an, ihr zu verschweigen, was für eine Schule dort wirklich vor ihnen lag. Und dass die Welt, die sie kannten, hier endete.
»Gefällt es dir?«, fragte ihr Vater hoffnungsvoll und begann die Geschwindigkeit des Autos zu verringern. Hannah zwang sich zu lächeln.
»Ein richtiges Schloss, wie du gesagt hast«, sagte sie leise. Ihr Vater schien zufrieden.
»Hannah, Liebes, schau noch einmal in den Brief«, wandte sich ihre Mutter an sie, als sich der Wagen einem steinernen Tor näherte. »Wo dürfen wir parken?«
Hannah griff rasch nach dem Brief und las vor.
»Im Vorhof, um das Brunnenhaus herum.«
»Wo ist das?«, fragte ihre Mutter zu ihrem Vater gewandt.
»Wir fahren schon hinein.« Das Knirschen von Kies unter den Reifen begleitete ihre Einfahrt in den Hof. »Das Schloss kommt einem am Anfang riesengroß vor, aber sie zeigen euch bestimmt alles, Hannah.«
»Das muss alles so aufregend für dich sein, Hannah.« Ihre Mutter streckte einen Arm nach hinten aus und strich ihrer Tochter übers Haar.
»Ja, Mama.« Hannah ließ es mit einem Lächeln über sich ergehen. Lächeln half ihr, sich von ihrem Herzklopfen abzulenken.
Im Vorhof wimmelte es von Schülern, Autos, Koffern und Eltern. Hannahs Vater parkte und die Abels stiegen aus. Hannah hörte ihren eigenen Herzschlag, als sie sich umblickte. Sie suchte nach einem Kentaur oder etwas anderem Ungewöhnlichen in der Menge, wurde aber enttäuscht. Um das große Brunnenhaus in der Mitte des Vorhofs tummelten sich lediglich Menschen und Reisegepäck. Nur ein einzelner grauer Hund tobte zwischen Beinen und Koffern umher. Er bellte aufgeregt einige Transportboxen an, aber an sich war nichts Seltsames an ihm. Aus einer der Boxen fauchte es. Wahrscheinlich handelte es sich aber nur um die Katze eines Lehrers. Sie musste an Rollo denken, ihren Hund zuhause, den sie jetzt schon vermisste.
Hinter sich hörte sie ihren Vater ächzen. Er versuchte den riesigen Koffer auszuladen. Doch das Gepäckstück hatte sich in der Heckklappe verhakt und klemmte nun fest. Ihre Mutter machte konstruktive Vorschläge, wie er es losbekommen konnte, aber das half wenig.
Hannahs Blick wanderte wieder zu den vielen Menschen. Überall begrüßten sich ältere Schüler, umarmten sich und erzählten sich von den Sommerferien. Viele trugen safrangelbe Kapuzenpullover mit dem Schulwappen. Auch einige Neuankömmlinge in Hannahs Alter hatten sich bereits in Gespräche verwickelt. Hannah konnte beobachten, wie sie sich vorstellten und Hände schüttelten. Gerne hätte sie sich zu ihnen gesellt, doch etwas hielt sie zurück, etwas, das von diesen Mauern ausging. Auch wenn es für alle der erste Tag im Internat war, es war nicht für alle der erste Tag in einer neuen Welt. Einer Welt, von der alle hier wussten, in der sie alle aufgewachsen waren. Alle außer Hannah.
»Hannah, geh doch schon mal los und melde uns an«, schlug ihr Vater vor und ließ kurz vom Koffer ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Siehst du die Lehrerin in Gelb dort? Mit dem Klemmbrett?«
Hannah nickte brav und machte sich auf den Weg. Die Frau trug dasselbe Safrangelb wie manche Schüler, nur trug sie es als eine Art Robe, ähnlich der Tracht eines Richters. Sie sah streng aus, und obwohl sie jünger war als Hannahs Eltern, versuchte sie offensichtlich, das nicht zu zeigen. Ihr Haar war straff zurückgebunden, ihre Brille war altmodisch und unter dem strahlenden Gelb trug sie nur Grau.
Als Hannah vor der Lehrerin stand, war sie sich plötzlich unsicher, wie sie sie ansprechen sollte. Auf einem kleinen Namensschild, das an die gelbe Robe gepinnt war, stand ›Regine Lütke‹. Der Name klang Deutsch, die Unterrichtssprache auf dem Internat war Englisch, aber schließlich befanden sie sich hier in Frankreich, überlegte Hannah.
»Dein Name?«, fragte die Lehrerin, ohne wirklich über den Rand ihrer Brille hinauszusehen, und damit erübrigten sich Hannahs Überlegungen. Sie sprach Englisch.
»Hannah.«
»Nachname«, korrigierte Frau Lütke sich ungeduldig.
»Oh, natürlich. Entschuldigen Sie. Abels«, antwortete Hannah rasch.
»Hannah Abels, angemeldet über Eduard Abels?« Es war seltsam, den Namen ihres verstorbenen Großvaters aus dem Mund von Frau Lütke zu hören. Aber es bestätigte zumindest, dass er es gewesen war, der sie für den Internatsplatz vorgemerkt hatte. Ihr Versprechen hatte sie also nicht nur ihrem Vater, sondern auch ihrem Großvater gegeben.
Frau Lütke rückte genervt ihre Brille zurecht und daran merkte Hannah, dass sie zu lange mit der Antwort gezögert hatte. Hastig nickte sie.
Die Lehrerin setzte einen harschen Haken hinter Hannahs Namen auf ihrem Klemmbrett.
»Du gehst dort hinüber zu Nafia.« Sie deutete auf ein etwas älteres, arabischstämmig aussehendes Mädchen, das auf den Stufen des Haupteingangs saß und scheinbar nur darauf wartete zu helfen. »Sie ist auf derselben Etage wie du und zeigt dir und deiner Mitbewohnerin euer Zimmer. Nächster!«
Hannah bedankte sich schnell, denn sie wollte die offensichtlich schlechte Laune der Lehrerin nicht noch mehr provozieren. Sie winkte ihren Eltern zu und deutete ihnen an, in welche Richtung sie kommen sollten. Dann ging sie zu Nafia und stellte sich vor.
»Hallo, ich bin Hannah. Frau Lütke hat mir gesagt, dass du mich zu meinem Zimmer bringst?« Das Mädchen lächelte freundlich und stand von den Stufen auf.
»Willkommen im Schloss, Hannah«, sagte sie übertrieben enthusiastisch, als hätte sie lange auf den Moment gewartet, es sagen zu dürfen. »Ja, natürlich. Dein Zimmer und alles andere. Wenn du mich irgendwo in der Schule siehst, kannst du mir immer alle Fragen stellen, klar?«
Hannah nickte. Nafia grinste breit.
»Super. Am besten warten wir noch auf deine Eltern, damit sie dir gleich den Koffer nach oben tragen können«, zwinkerte sie Hannah zu. »Und natürlich auf deine Mitbewohnerin.«
Hannah lächelte zuversichtlich. Vielleicht würde diese Schule doch nicht so seltsam werden, wie sie befürchtet hatte.
Niall langweilte sich. Das Schuljahr hatte noch nicht einmal begonnen, aber die bevorstehende Ereignislosigkeit machte ihm Angst. Es war nicht das Internatsleben, das ihm eintönig vorkam – er ging schließlich seit seinem siebten Lebensjahr aufs Internat – es war die Aussicht darauf, ein ganzes Jahr an diesem Ort zu verbringen.
Sein letztes Internat war in der Nähe einer Stadt gewesen, bei der es sich lohnte, einen freien Nachmittag für die lange Busfahrt zu opfern. Aber das Schloss lag auf einem Berg mitten im Wald, der von anderen Bergen und noch mehr Wald umgeben war. Das nächste Dorf lag eine halbe Stunde entfernt und außerdem sprachen die Leute dort nur Französisch.
Er saß seit einer Weile auf einer Fensterbank im ersten Stock und blickte hinunter in den Vorhof. Hier oben war er vor dem Chaos und den Menschen sicher. Autos mit Kennzeichen aus ganz Europa parkten auf dem hellen Kies. Schülerinnen und Schüler im Alter von vierzehn bis achtzehn drängten sich mit Koffern, Haustieren und Familien um sie herum.
So sehr er hasste, es sich einzugestehen, für einen Augenblick wünschte er sich, unter ihnen zu sein. Zum ersten Mal auf dem Schloss anzukommen, von seiner Mum abgesetzt zu werden. Wo auch immer sie gerade war. Seine Mum war, was man bei den Gelbroben eine ›Reisende‹ nannte. Sie hatte keinen festen Wohnsitz, sondern reiste dorthin, wo sie gebraucht wurde oder Forschung betreiben konnte. Dieses Jahr war sie in Südamerika und suchte im Dschungel nach Drachen. Vor drei Tagen hatte sie ihn in Mexiko in einen Bus zum Flughafen gesetzt und war selbst auf eine Expedition aufgebrochen, von der sie erst im Frühjahr zurückkehren wollte.
Wie viele der Schüler im Hof wohl noch nicht wussten, dass es überhaupt Drachen gab? Er konnte kaum Interesse aufbringen, sich mit ihnen zu unterhalten. Selbst die Kinder von Mitgliedern hatten oft keine Ahnung von der Wirklichkeit und waren fasziniert von dem hässlichsten Kobold und der geringsten Gottheit, die früher oder später ihren Weg kreuzten. Doch für Niall gab es in der Welt keine Überraschungen mehr. Asthmatische Drachen, Göttinnen in Bärengestalt, polospielende Pferdegötter, er hatte sie alle gesehen.
Niall fragte sich, wie viele der Schüler dort unten sich fühlten wie er. Vermutlich niemand. Alle würden das Internat als eine Ehre betrachten, nicht als Pflicht. Sie waren aufgeregt, neugierig oder nervös, aber er hatte keinen Grund dazu. Ein Internat war nichts Neues für ihn, Götter waren nichts Neues und selbst das Vogesenschloss kannte er von früheren Besuchen.
Früher oder später musste er die Fensterbank verlassen und sich unter seine neuen Mitschüler mischen. Spätestens zur Begrüßungsansprache des Direktors um zwei Uhr. Sein Blick wanderte hinauf zum Uhrenturm. Noch eine Stunde. Mit einem Seufzen kratzte er sich unter seinem Schal. Er trug ihn meistens, um das blaue Mal in seinem Nacken zu verstecken. Auf seiner blassen Haut leuchtete die Farbe besonders kräftig. Es wurde oft von Fremden für eine Tätowierung gehalten und Menschen taten gerne ihre Meinung kund, dass ein Vierzehnjähriger keine haben sollte.
Da er gerade dabei war, zog er auch seine Brille ab. Er hatte nämlich die Vergleiche mit seinem berühmten Großonkel satt, die er oft ertragen musste. Er sah ihm überhaupt nicht ähnlich, weder mit Brille noch ohne. Nialls Haare waren braun, nicht rotblond, seine Augen grau, nicht grün. Nur weil jede Gelbrobe früher oder später jemanden aus der Familie Croker traf, mussten sie ja nicht alle gleich aussehen.
Ein Croker musste mindestens einmal in seinem Leben die Welt retten, sonst hatte er seinen Nachnamen nicht verdient. Das betonte sein Großonkel gerne. Es war eine Familientradition, obligatorisch sozusagen. Doch Niall fühlte sich nicht so, als könnte er die Welt retten. Wenn er ehrlich mit sich war, dann fühlte er sich nicht einmal so, als könnte er noch vier Jahre Schule überstehen. Er seufzte noch einmal.
Das Jahr würde anstrengend werden.
Phebe schnaubte und knallte die Autotür hinter sich zu. Mit in die Taschen ihres Parkas gestemmten Fäusten schulterte sie zwei ihrer Gepäckstücke und stapfte in Richtung der älteren Schülerin, die sie auf ihr Zimmer führen sollte. Sie blickte sich nicht noch einmal zum Auto um. Ihr Vater Bas folgte ihr schweigend mit den Koffern, während Ben, ihr anderer Vater, mit ihren Geschwistern beim Auto blieb. Nun, wenn er unbedingt im Auto bleiben wollte, sollte er eben. Sie konnte auf ihn verzichten, wenn er zu feige war, das Schloss zu betreten. Das war der Vorteil an zwei Vätern. Wenn sie sich mit Ben stritt, hatte sie immer noch Bas.
Bei Nafia wartete bereits ein anderes Mädchen. Langes blondes Haar, blaue Augen und sommersprossig; die Art von Mädchen, die jeder mag und sein will, dachte sich Phebe. Das musste ihre Mitbewohnerin sein. Sie wirkte freundlich, aber Phebe hütete sich, zu optimistisch zu sein. Bestimmt würde auch sie bald etwas an ihr auszusetzen haben.
Phebe wusste, dass sie komisch aussah. Sie war einen halben Kopf größer als alle in ihrem Alter und schlaksig. Ihr schwarzes Haar sah trotz ihrer Bemühungen eher so aus, als hätte sich ein Haargummi darin verheddert, statt es in einen Pferdeschwanz zusammenzubinden. Auch ihr Teint war viel dunkler als der der meisten Mädchen zuhause in den Niederlanden. Außerdem konnte man ihre zu groß geratene Höckernase nicht übersehen. Es war das, was den meisten Leuten zuerst an ihr auffiel.
»Hallo, ich bin Hannah«, sagte die Blonde und streckte ihr die Hand entgegen.
»Phebe«, murmelte Phebe ihre Antwort, löste aber nicht die Fäuste aus den Jackentaschen. Hannah blickte sie unverwandt an. Phebe senkte den Kopf ein wenig und sah hinunter auf ihre Lieblingsschuhe mit den weißen Tigerstreifen. Sie war sicher, dass Hannah ihre Nase aufgefallen war.
Nafia begrüßte kurz das Bilderbuchelternpaar, das mit Hannah gewartet hatte, und die beiden schüttelten freundlich Bas' Hand. Ein kurzer Austausch verriet allen Beteiligten, dass weder Bas noch Hannahs Eltern Gelbroben waren. Keiner erkundigte sich nach ihrem anderen Vater oder gar ihrer Mutter. Ein wenig entspannte sie sich, auch wenn sie noch immer wütend auf Ben war.
Als alle sich begrüßt hatten, führte Nafia sie durch das Haupttor ins Schloss. Über dem Torbogen waren die Worte VIVAT CURIOSITATE in Stein gemeißelt. Es lebe die Neugier, übersetzte Phebe das Schulmotto für sich. Sie lächelte in sich hinein. Das Motto gefiel ihr.
Zuerst betraten sie die Säulenhalle, aus der sich ein großes Treppenhaus in die oberen Stockwerke eröffnete. In der Mitte der Halle stand die Skulptur eines Greifs, die so lebensecht aussah, dass Phebe überlegte, ob vielleicht ein lebendiges Tier dafür Modell gestanden hatte. Nafia führte sie nicht nach oben, sondern bog rechts in einen Flur ab, der zum Aufenthaltsraum der Mädchen führte. Von dort aus ging es in ein engeres Treppenhaus und weiter nach oben.
»Alle Mädchenzimmer liegen hier im Westturm. Die Jungen schlafen im Nordflügel«, erklärte Nafia fröhlich, während sie den schwerbepackten Eltern mit ihren Töchtern vorauseilte. Auf jedem Absatz mussten sie eine Verschnaufpause einlegen. »Ihr seid im vierten Stock. Das hält fit und ihr habt die beste Aussicht.«
Insgeheim fragte sich Phebe bereits im zweiten Stock, warum sie so viel mehr Gepäck hatte als Hannah. Ihre Mitbewohnerin trug einen Rucksack und eine Gitarre, der Vater einen großen und die Mutter einen etwas kleineren Koffer. Bas hingegen trug zwei große Koffer und Phebe zwei vollgestopfte Reisetaschen. Hatte dieses Mädchen keine Kleider oder keine Bücher?
»Und natürlich kann man sich leicht in der Etage irren«, plauderte Nafia weiter, als alle auf dem Absatz zum dritten Stock Rast machten. »Entweder zählt ihr immer, wie viele Treppen ihr schon hinter euch habt, oder ihr macht es wie alle anderen und hängt ein Poster oder so was auf. Dann irrt sich niemand in der Tür.«
Allein Hannah nickte zustimmend, aber sie hatte schließlich auch am leichtesten zu tragen, dachte sich Phebe. Die Eltern nahmen die Taschen wieder auf und das letzte Stockwerk in Angriff.
»Ben hätte uns wirklich tragen helfen sollen«, seufzte Bas auf Niederländisch, sodass nur Phebe es verstehen konnte. Sie war sich noch nicht sicher, aus welchem Land ihre Mitbewohnerin kam, aber es war unwahrscheinlich, dass es zwei Niederländerinnen in ihrem Jahrgang gab.
Zur Antwort an ihren Vater Bas schnaubte Phebe, denn sie hatte mit dem Knallen der Autotür vorerst alles gesagt, was sie zu dem Thema sagen wollte.
Schließlich erreichten alle Koffer und Personen das vierte Stockwerk. Erleichterte Seufzer begleiteten ihre Ankunft auf dem Treppenabsatz. Nafia öffnete die Zimmertür und Phebe konnte einen ersten Blick auf ihr neues Zuhause werfen.
Das Zimmer war nicht allzu klein und zu Phebes Erleichterung gab es kein Stockbett, sondern zwei schmale Betten, die links und rechts von dem einzigen Fenster standen. Die Möbel sahen so aus, wie sie es aus der Jugendherberge kannte, in der sie mit ihrer alten Klasse einmal gewesen war. Es gab ein Regalbrett, einen Nachttisch und einen kleinen Schreibtisch für jede. Nur den großen Kleiderschrank mussten sie sich teilen.
Phebe überlegte noch, ob das zu Streit führen würde, während Hannah schon ans Fenster trat, es weit öffnete und hinaussah. Neugierig spähte Phebe über ihre Schulter. Ein grünes Meer aus bewaldeten Bergkuppen umgab das Schloss. Die Straße, die in so vielen Kurven hierherführte, war zwischen den Bäumen verborgen. Das Einzige, was von der langweiligen Welt, die sie zurückließen, noch zu sehen war, war das verschlafene Dorf Mont D'Avôny. Phebe konnte sich erinnern, dass sie ungefähr eine halbe Stunde, bevor sie das Schloss erreicht hatten, hindurchgefahren waren.
»Wir lassen euch zum Auspacken am besten allein«, schlug Nafia vor und wandte sich an die Eltern. »Sie können sich von mir die Schule zeigen lassen. Um zwei werden alle in der Aula durch den Direktor begrüßt. «
»Das klingt gut«, sagte Hannahs Vater mit einem so starken Akzent im Englischen, dass Phebe um zehn Euro gewettet hätte, dass sie Deutsche waren. Auch Bas, der das Schloss im Gegensatz zu Ben noch nicht kannte, schloss sich diesem Angebot gerne an. Dann war Phebe mit Hannah allein.
»Welches Bett möchtest du?«, brach Hannah das Schweigen und strich ihre Haare hinter die Ohren. »Links oder rechts?«
»Rechts, wenn es dir nichts ausmacht«, murmelte Phebe und ließ eine der beiden Taschen von ihrer Schulter darauf fallen. Sie kehrte Hannah den Rücken zu, um nicht länger angesehen zu werden. Sie wollte ihr nicht zu früh Anlass geben, sich über sie zu beschweren.
Dann begann sie, ihre Taschen und Koffer auszupacken. Die Kleidung stopfte sie mäßig ordentlich und langsam in ihre Schrankhälfte. Hauptsächlich beobachtete sie Hannah aus dem Augenwinkel. Das blonde Mädchen verteilte den bunten Inhalt ihres Koffers auf dem bereits bezogenen Bett, legte neu zusammen, was ihr zu zerknittert erschien und verstaute alles mit System in ihrer Schrankhälfte. Phebe hätte gut und gerne glauben können, dass Hannah niemals etwas anderes getan hatte als Kleidung zu sortieren.
Als Phebe mit ihrer zeitsparenderen Methode des Ausräumens fertig war, setzte sie sich auf ihr nicht bezogenes Bett. Die Bettbezüge, die sie fürs Internat neu gekauft hatten, lagen originalverpackt neben ihr, weil sie nicht wusste, wie man sie benutzte. Zuhause schlief sie immer nur unter einem Stapel Patchwork- und Fleecedecken, deren Anzahl sie der Jahreszeit anpasste. In einem halbherzigen Versuch öffnete sie zumindest die Folie und holte sie heraus, doch sie sahen gefaltet viel besser aus als alles, was sie damit anzustellen vermochte.
Phebes Blick streifte durch den Raum. Er war so kahl und leer, ganz anders als bei den Cahens zuhause, in dem alten Bauernhaus in Konijnenheg. Hannahs Zimmerhälfte begann nach und nach wohnlich auszusehen. Sie verteilte überall Farbtupfen: hier eine rote Nachttischlampe, da einen blauen Rucksack, dort ein grünes Mäppchen.
Um auch etwas zu tun und nicht weiter über die Bettbezüge nachdenken zu müssen, öffnete Phebe den Koffer mit ihren Büchern. Ihre Lieblingsbücher und alle Bücher über Mythologie, die sie besaß, stellte sie auf ihr Regalbrett. In den letzten Monaten hatte sie versucht, sie auswendig zu lernen, aber das war ihr leider nicht mehr rechtzeitig gelungen. Die ungelesenen Bücher stapelte sie auf den Nachttisch. Dadurch sah auch ihre Zimmerhälfte etwas gemütlicher und weniger fremd aus. Aber es erinnerte Phebe daran, wie schwer es gewesen war, sich auf 25 Bücher zu beschränken. Was, wenn ihr der Lesestoff vor den Winterferien ausging?
Die Winterferien. Bis dahin waren es genau fünfzehn Wochen, in denen sie ihre Familie nicht sehen würde. Phebe wurde plötzlich unwohl zumute. Auf Ben war sie noch sauer und es konnte noch eine Weile dauern, bis sie ihm verzieh. Aber Bas, Linus und Marike… Die Vorstellung, jede Nacht hier mit Hannah zu verbringen und jeden Morgen alleine zu frühstücken und… Nein, sie durfte kein Heimweh haben, nicht, bevor sie sich überhaupt verabschiedet hatte.
Sie sah auf ihr Gepäck. Kleidung und Bücher hatte sie eingeräumt. Blieben noch zwei Taschen übrig. Aus einer der beiden funkelten ihr vertraute, grüne Augen entgegen. Sie zögerte aber, ihren riesigen weißen Plüschtiger aus der Tasche zu holen. Vielleicht dachten die anderen Mädchen, dass man mit vierzehn Jahren zu alt für Kuscheltiere war, und würden sie auslachen. Ein verstohlener Blick zu Hannah beruhigte sie. Sie setzte gerade liebevoll einen schwarzen Stoffhund, der schon bessere Tage gesehen hatte, neben ihr Kopfkissen.
»Woher kommst du?«, fragte Hannah plötzlich, um das längst eingeschlafene Gespräch wieder in Gang zu bringen. »Ich habe dich mit deinem Vater reden gehört. Die Sprache kenne ich nicht.«
»Ich komme aus den Niederlanden«, antwortete Phebe knapp und versuchte ihrem Tiger die zerknautschten Ohren aufzurichten. Sie zögerte kurz, dann fügte sie vorsichtig auf Deutsch hinzu: »Du bist aus Deutschland?«
Phebe wusste, dass Deutsche Niederländisch eher belustigend fanden. Aber schließlich war sie so gut wie zweisprachig aufgewachsen, wenn man alle drei Erwachsenen mitzählte, die sie ihre Eltern nannte.
»Du sprichst Deutsch?« Hannah strahlte sie an, als wäre ihr ein Stein vom Herzen gefallen. »Ich bin aus Lüneburg. Das ist im Norden. Sind deine Eltern Mitglieder bei den Gelbroben?«
Phebe war mindestens genauso erleichtert. Gut, Hannah hatte kein Wort über ihre Aussprache verloren. Aber in der Stimmung über ihre Familiensituation zu sprechen, war sie deswegen noch längst nicht.
»Ja«, blieb sie absichtlich vage, statt mit ›zwei Drittel‹ zu antworten. »Meine Familie väterlicherseits ist seit dem ersten Weltkrieg dabei.«
Sie ließ den Tiger in Ruhe und wandte sich den Laken zu. Sie faltete sie auf und versuchte, die Decke in den Bezug zu stopfen, aber so recht wollte es nicht funktionieren. Es musste doch irgendeinen Trick dafür geben? Sie breitete den Bezug ganz über dem Bett aus, aber selbst so ließ sich die Decke nicht leichter hineinschieben. Gezwungenermaßen setzte sie das Gespräch fort.
»Und deine?«
»Ich bin über meinen Großvater angemeldet worden. Mein Vater war schon hier auf der Schule, aber er hat den Eid nicht geschworen. Ich habe vor zwei Monaten zum ersten Mal von… allem gehört«, erzählte Hannah und Phebe konnte sehen, dass sie die Stirn über ihren Versuch, das Bett zu beziehen, runzelte. Phebe erwartete, dass sie etwas Herablassendes sagen würde. Doch Hannah warf bloß einen Blick auf ihre Armbanduhr und wechselte damit das Thema. »Sollten wir nicht langsam die Aula suchen?«
Erlöst ließ Phebe die Bettlaken sinken, nickte und schloss sich Hannahs Suche nach dem richtigen Weg schweigend an.
Niall löste sich betont langsam von der Fensterbank, auf der er nun bald mehr als zwei Stunden gesessen hatte. Es waren kaum noch Menschen im Vorhof und die alte Turmuhr bestätigte ihm, dass er sich auf den Weg zur Aula machen musste. Er vergewisserte sich noch einmal, dass sein Schal das blaue Zeichen in seinem Nacken ganz verdeckte, dann lief er los.
Gedankenverloren schlenderte er die Schlosskorridore hinab, vorbei an Klassenzimmertüren und abgeschlossenen Lehrerbüros. Alle mussten bereits in der Aula sein, dachte sich Niall, als seine Schritte auf dem Steinboden im verlassenen Korridor widerhallten. Schließlich ging er an der verriegelten Tür vorbei, hinter der angeblich das furchtbarste Grauen eingesperrt war, das die gesamte Menschheit ausrotten würde, falls es entkam. So formulierten es zumindest die älteren Schüler, wenn sie den Neuen Angst einjagen wollten. Doch Niall fürchtete sich vor einer weiteren Gottheit auch nicht mehr oder weniger als vor dem Nachsitzen.
Vor der Aula stieß er fast mit einem Elternpaar zusammen, das vor der offenen Tür wartete. Er nuschelte schnell eine Entschuldigung. Aber sie hörten sie nicht, denn sie begrüßten bereits ihre blonde Tochter.
»Hannah, da bist du ja. Ist deine Mitbewohnerin nett?« Das Mädchen namens Hannah lächelte, strich sich verlegen eine Strähne hinters Ohr und versicherte, dass alles in Ordnung sei.
Niall schob sich an der glücklichen Familie vorbei in die Aula. Der Saal war bereits voll mit den Neuen und ihren Eltern, die brav auf den aufgereihten Stühlen Platz genommen hatten, und zumeist die Architektur des alten, holzgetäfelten Saals bewunderten oder die Gemälde und Fotos von ehemaligen Schulleitern und Abschlussklassen bestaunten. Halb aufmerksam hielt Niall Ausschau nach jemandem, den er kannte, aber außer dem Schuldirektor fand er kein vertrautes Gesicht.
Oliver Van Koppern stand bereits am Rednerpult und sah ganz so aus, wie Niall ihn kannte. Zwar hatte er nie die Absicht gehabt, ein besonders ungewöhnlicher Schulleiter zu werden, aber es war ihm erstaunlich gut gelungen. Was früher einmal blonde Locken gewesen sein mussten, kringelte sich wild und weiß wie eine Löwenmähne um seinen Kopf, verdeckte aber nicht das breite Lächeln und die freundlich funkelnden Augen. Er trug Jeans und ein Anti-Atomkraft-T-Shirt, hatte aber ein zerbeultes Jackett übergeworfen, um seriöser zu wirken. Doch Niall, die Mitglieder und seine riesige, graue Windhündin Laila konnte er damit nicht täuschen. Sie saß zu seinen Füßen und beachtete das Geschehen nicht, sondern blickte hechelnd zu ihm auf.
Niall duckte sich schnell weg, als der Blick des Direktors über die Menge wanderte. Natürlich musste Herr Van Koppern wissen, dass Niall hier war. Schließlich war er sein Patenkind. Aber auf eine persönliche Begrüßung vor der versammelten Schule wollte er lieber verzichten.
Niall fand einen Platz in den hinteren Reihen und setzte sich zu einem Schüler, der eine ausgewachsene Gans auf dem Schoß hatte. Niall hatte kein Interesse daran, sich mit ihm zu unterhalten, aber als die Gans ihren dünnen Hals reckte, fauchte und ihn in den Oberarm zwickte, kam er mit dem Schüler ins Gespräch. So erfuhr er, dass seine Familie über 21 Generationen auf Juno zurückging und jedes Familienmitglied zu Ehren der Göttin Gänse hielt.
Zähneknirschend rieb Niall sich den Oberarm. Noch hatte er die Schulordnung nicht dreimal abschreiben müssen – das passierte normalerweise erst nach der ersten Schulwoche – aber er wunderte sich, dass das Vogesenschloss den Schülern Haustiere zu erlauben schien. In seinen vorigen Internaten wäre man bereits für das Verstecken einer toten Maus unterm Bett verwiesen worden.
Während Niall noch diesem Gedanken nachhing, wurden auch noch die letzten Stühle besetzt und einige Stehplätze eingenommen. Dann bat Direktor Van Koppern mit einer Geste um Ruhe. Manche Köpfe wandten sich um und schienen noch Ausschau nach dem eigentlichen Redner zu halten. Sie konnten wohl nicht glauben, dass der Mann dort vorne das Internat leitete. Niall musste ein wenig grinsen
»Herzlich willkommen liebe Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte. Willkommen im neuen Schuljahr, in unserem Schloss und-« Herr Van Koppern unterbrach sich, weil die Windhündin nach dem Zettel mit der Rede schnappte. »Aus, Laila! Entschuldigen Sie.« Er strich sich durchs Haar und begann erneut. »Wir heißen besonders unsere neuen Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse oder, wie sie bei uns heißen, der ersten Stufe willkommen.«
Der Rest der Rede ging Niall zum einen Ohr herein und zum anderen hinaus. Er wollte nicht respektlos sein, doch die Worte des Direktors waren hauptsächlich an die Eltern gerichtet oder an die Neuen, für die allein der Einstieg ins Internatsleben ein großes Abenteuer war. Die vertraute Stimme des Direktors zu hören, war für eine Weile angenehm. Aber während die Minuten verstrichen, fiel es Niall zunehmend schwerer, stillzusitzen. Besonders neben der aggressiven heiligen Gans, die ihn aus ihren starren Augen finster anfunkelte, als hätte er ihr beim ersten Biss sehr gut geschmeckt. Auch ein zweites Mal seinen Blick durch die Reihen schweifen zu lassen, lenkte ihn kaum ab. Menschen und ein paar Halbgötter, dachte er. Langweilig.
»Aber erinnert euch immer daran«, setzte Herr Van Koppern zu einem gewichtigen Schlusswort an. Es kam für Niall genauso unvermittelt, als hätte man ihn aus einem gemütlichen Nachmittagsschlaf gerissen und ihn dann aufgefordert, eine binomische Formel anzuwenden. »Durch Nichtwissen können Fehler entstehen. Aber schlimmer sind die Fehler, die durch Nichtwissenwollen entstehen. Es lebe die Neugier!«
Bald nach der Begrüßung durch den Schuldirektor mussten Hannahs Eltern aufbrechen. Vielen Familien ging es nicht anders und deswegen herrschte im Hof erneut reges Treiben. Der Kies knirschte unter den vielen Wagenrädern, die langsam zum Tor rollten. Zwischen letzten Umarmungen und gutgemeinten Ratschlägen standen die Abels und wollten sich ebenfalls verabschieden.
»Wo die vielen Leute mit den Blumensträußen wohl hingehen?«, wunderte sich Hannahs Mutter plötzlich und schob sich ihre Sonnenbrille ins Haar. »In den Wald? Ist das irgendeine Internatstradition, Holger?«
»Keine mir bekannte.« Hannahs Vater schüttelte den Kopf. Auch Hannah war aufgefallen, dass viele Leute gelbe Blumensträuße aus ihren Autos holten und auf einem Trampelpfad den Vorhof in Richtung Wald verließen. Sie erkannte die Blumen als Schwertlilien aus dem Schulwappen wieder.
»Du kannst ja versuchen, es herauszufinden, Hannah«, schlug ihre Mutter vor, »und es uns gleich bei deinem ersten Anruf erzählen. Ich bin schon neugierig, was du nach einer Woche alles zu berichten hast.«
»Und wenn irgendetwas passiert, du mit etwas nicht klarkommst oder dir etwas Angst macht«, fügte ihr Vater hinzu, legte seine beiden Hände auf Hannahs Schultern und sah ihr tief in die Augen, »dann kannst du uns immer erreichen.«
Seine Stimme hatte wieder denselben Tonfall angenommen, mit dem er betont hatte, dass sie mit niemandem über den wahren Zweck des Internats sprechen durfte. Sie hasste diese Heimlichtuerei. Wie immer, wenn sie sich zurückhielt, runzelte sie ihre Stirn. Ihr Vater durchschaute sofort, was in ihr vorging.
»Ach, Hannah. Meine kleine Hannah«, seufzte er und strich ihr über die Wange. »Ich weiß, dass du das alles noch immer für ungerecht hältst. Wir wollen nicht, dass du unglücklich bist. Ich will nur, dass du diese einmalige Gelegenheit nicht verpasst, und dass du dem Ganzen eine Chance gibst, wie du es immer tust.«
»Und dann? Wie soll ich mich entscheiden?« Sie hatte ihre Stimme gesenkt und warf einen flüchtigen Blick auf ihre Mutter, die noch immer den Menschen mit den gelben Blumensträußen nachsah.
»Das wirst du wissen, wenn es so weit ist.«
»Bist du sicher, Papa?« Hannah konnte nicht glauben, dass sie jemals bereit sein würde.
Statt eine Antwort zu geben, nahm ihr Vater sie in den Arm. Plötzlich begriff sie, dass sie ihre Eltern bis zu den Winterferien nicht sehen würde. Dass sie ihren Geburtstag im Oktober allein feiern musste. Dass sie jetzt auf diesem Schloss in den Vogesen zur Schule ging. Sie wusste nicht, wie sie das alles ohne ihre Familie überstehen sollte.
Ihr Vater riss sie aus ihren Gedanken.
»Ich glaube an dich«, sagte er einfach. Diese Worte klangen noch lange in ihren Ohren, auch als das Auto ihrer Eltern längst durch das Tor und hinter der Kurve verschwunden war.
Phebe konnte es kaum erwarten, dass ihre Familie endlich den Heimweg antrat. Nach der Ansprache in der Aula hatte Marike, ihre siebenjährige Schwester, sich wie eine Klette an sie geklammert. Mit ihren dünnen Armen um die Hüfte war Phebe mit Bas und Linus, ihrem jüngeren Bruder, zum Auto im Vorhof zurückgekehrt. Ben saß noch immer auf dem Fahrersitz. Er hatte offensichtlich die letzten Stunden dort verbracht und sich nicht einmal die Beine vertreten. Phebe ignorierte ihn vorerst.
Der Abschied dauerte so lange, dass Linus anfing, sich mit einem älteren Schüler zu unterhalten, der eine winzige, sprechende Schlange in seiner Hemdtasche mit sich herumtrug. Bens Finger trommelten seit einer Weile ungeduldig auf dem Lenkrad herum. Auch Phebe fand, dass es langsam mit dem Abschiednehmen reichte. Aber Bas konnte nicht aufhören, sie noch ein letztes Mal in den Arm zu nehmen – sie waren inzwischen bei der elften letzten Umarmung.
»Okay, das ist jetzt wirklich die letzte«, verkündete Bas, drückte Phebe kurz und fest an sich und beugte sich dann zu Marike herunter. »Du musst sie jetzt loslassen.«
Phebe löste die dünnen Arme ihrer Schwester von ihrer Taille.
»Sei nicht traurig, ich bringe dir zu Weihnachten ein Einhorn mit, wenn ich eins kriegen kann«, tröstete sie sie. Marike schüttelte trotzig den Kopf.
»Kein Einhorn, ich will einen feuerspuckenden Greif!« Phebe seufzte.
»Okay, einen Greif. Aber das mit dem Feuerspucken kann ich nicht versprechen. Denn das machen Greife eher selten.«
Ihr Vater im Auto drängelte. Bas rief Linus zu sich, der bemüht gleichgültig und langsam zu seiner Familie zurücktrottete.
»Hoffentlich frisst dich ein Mantikor«, verabschiedete sich Linus, winkte noch einmal kurz und stieg dann ins Auto. Als alle angeschnallt waren, fuhr Ben auf der Stelle los.
»Und vergiss nicht, heute Abend deine Mutter anzurufen«, erinnerte Bas sie halb aus dem Autofenster gelehnt. Phebe versprach es.
Noch bevor das Auto aus dem Tor hinausgefahren war, hatte sie sich wieder umgedreht und blickte zum Schloss und seinen vier Türmen auf. Sie war neugierig, was darin auf sie wartete. Ihre Familie hatte sie schon fast vergessen, denn es gab jetzt Wichtigeres in ihrem Leben: das Lernen.
Sie wollte alles sofort wissen, jeden noch so kleinen Fakt, jede aberwitzige Anekdote, jeden versteckten Winkel im Schloss. Am liebsten hätte sie sich direkt auf die Bücher in der Bibliothek gestürzt oder mit dem Unterricht begonnen, aber das ging nicht. Die älteren Schülerinnen veranstalteten für die Neuen eine Orientierungstour durchs Schloss und das musste für den Anfang genügen. Sie grüßte Hannah, die schon längst mitten in der Gruppe war und sich mit einigen Mitschülerinnen unterhielt, knapp mit einem Kopfnicken. Dann versuchte sie, sich im Hintergrund zu halten, und ließ sich ihr neues Zuhause zeigen.
Hannah war nach der Schlossführung erschöpft. Die Schule war nicht groß und hatte nicht ganz so viele Treppen und Türme, wie sie sich vorgestellt hatte. Aber ob sie sich hier zurechtfinden würde, wusste sie trotzdem nicht. Außer dem Westturm gab es drei weitere Türme: den Bibliotheksturm, den niedrigen Uhrenturm und den sechseckigen Turm, in dem das Büro und die Wohnung des Schuldirektors Van Koppern lag.
Der Rest des Schlosses war eher gewöhnlich. Im Nordflügel lagen die Zimmer der Jungen und ihr Aufenthaltsraum. Über die übrigen drei Stockwerke erstreckten sich Klassenzimmer und Lehrerbüros. Zuletzt hatten die älteren Schülerinnen ihnen einen wintergartenähnlichen Korridor, den Gläsernen Gang, gezeigt, der zur ehemaligen Schlosskapelle führte, die längst entweiht und zum Speisesaal geworden war.
Die vielen neuen Eindrücke der alten Steine geisterten Hannah noch im Kopf herum, als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, um die Zeit bis zum Abendessen zu nutzen. Hinzukamen die neuen Gesichter. Sie hatte noch nicht einmal mehr als drei Namen ihrer neuen Mitschüler gelernt, doch sie war so müde wie nach einem ganzen Tag Schule. Sie stieg die letzten Stufen der Treppe des Westturms hinab, ihren Gitarrenkoffer in der Hand. Eine der älteren Mitschülerinnen hatte erklärt, wo es einen Probenraum gab und sie ihr Instrument abstellen konnte.
Sie versuchte, sich genau an die Wegbeschreibung zu erinnern. Vom Westturm kam sie in die Säulenhalle, durch die sie das erste Mal das Schloss betreten hatte. Dort glühte ein ewig warmes Licht, das von einer leuchtenden Feder in einer Laterne ausging, die unerreichbar an der Hallendecke hing. Die älteren Mädchen, die die neuen geführt hatten, hatten die ganze Zeit über Geschichten über das alte Gebäude erzählt, die begannen sich in Hannahs Fantasie um die Schule zu ranken wie Efeu um die Schlossmauern.
Die ungewöhnliche Beleuchtung zum Beispiel war die Feder eines Feuervogels. Die slawische Muttergöttin Mokosch hatte sie den Gelbroben vor über 200 Jahren als Dank für ihren Einsatz geschenkt. Und die Greifenskulptur am Fuß des Treppenhauses, das Hannah nun erklomm, trug den Namen Garion. Es hieß, dass es sich um einen echten Greif handelte, der versteinert worden war. Aber das war vor so langer Zeit geschehen, dass niemand mehr wirklich daran glaubte.
Im ersten Stockwerk bog Hannah bei der alten Tür mit den rostigen Eisenriegeln neben dem Lehrerzimmer nach links ab. Nafia und die anderen Mädchen aus der dritten Stufe hatten die Neuen darauf hingewiesen, dass diese Tür niemals, unter keinen Umständen, geöffnet werden durfte. Aber verraten, was sich dahinter verbarg, wollten sie nicht. Hannah hielt es nur für eine weitere Geschichte, ein Geheimnis, das bewahrt werden musste.
Fast hätte sie über diesen Gedanken die Tür verpasst, an der ein Schild auf den Probenraum hinwies. Sie klopfte sicherheitshalber an, wartete einige Sekunden, aber da sie weder eine Antwort bekam noch Musik hörte, drückte sie einfach die Klinke nach unten und trat ein. Der Raum war klein und eher dunkel und seine Ausstattung verriet, dass es schon seit einigen Jahren keine Schulband mehr gab. Zumindest waren die Bands auf den Postern an den Wänden seit Ewigkeiten nicht mehr angesagt.
Hannah öffnete ihren Gitarrenkoffer und nahm das Instrument heraus. Das glatte Holz fühlte sich vertraut an, als sie es auf ihren Schoß legte und es schnell ihre Wärme annahm. Routiniert stimmte sie die Saiten nach. Dann begann sie eine Melodie zu spielen, die ihre Finger von selbst griffen, weil sie es so oft getan hatten. Sie musste nicht darüber nachdenken, was sie tat, sondern konnte ihrer eigenen Musik lauschen.
Gute Mächte, geborgen… Der Text huschte durch ihre Erinnerung, doch für sich selbst singen wollte sie nicht.
»Kirchenlieder?«, schnaubte plötzlich jemand. Ein Mädchen mit Geigenkasten war eingetreten. Hannah hatte sie auf der Schlossführung gesehen. Sie musste also auch neu sein. Hannah ließ vom Spielen ab. Die letzten angeschlagenen Töne hallten in dem alten Zimmer nach und erst, als sie verklungen waren, antwortete Hannah mit einem entschuldigenden Schulterzucken.
»Naja, man spielt, was man kann.« Vorsichtig bettete sie unter dem kritischen Blick des Mädchens die Gitarre zurück in den Koffer und verschloss ihn wieder. Sie war sich nicht sicher, ob das Mädchen amüsiert oder verächtlich hatte klingen wollen.
»Hm«, machte ihre Mitschülerin, was Hannah auch nicht half, sie besser einzuschätzen. »Du bist die andere Deutsche, nicht wahr?«
Bevor Hannah auch nur nicken konnte, stellte das Mädchen ihren Geigenkasten beiseite und warf ihr Haar zurück, wobei sich einer ihrer großen Ohrringe darin verfing.
»Natalie Neidhardt«, stellte sie sich vor und musterte Hannah von Kopf bis Fuß. Irgendetwas an ihrem Blick sagte Hannah, dass Natalie es nicht schätzen würde, wenn sie sie auf den verfangenen Ohrring hinweisen würde.
»Hannah«, streckte sie Natalie stattdessen ihre Hand entgegen. »Ich bin aus Lüneburg und ich bin… neu in der … ganzen Sache.«
»Dachte ich mir«, murmelte Natalie und musterte Hannah ein weiteres Mal von Kopf bis Fuß. »Du siehst nicht aus, als hättest du schon einmal einer Wesenheit gegenübergestanden.«
Hannah versuchte sich nicht zu wundern, was ihr wohl anzusehen war, sondern fragte stattdessen:
»Wesenheit?«
Doch statt einer Antwort verdrehte Natalie nur die Augen.
»Das muss richtig schwer für dich sein«, seufzte sie.
»Was meinst du?«
»Nichts zu wissen.« Mit diesen Worten wandte sich Natalie auf dem Absatz um und fragte Hannah nicht einmal, ob sie sie begleiten wollte. Die Tür zum Probenraum fiel hinter ihr zu, als hätte sie damit einen Punkt hinter ihren Satz setzen wollen. Natürlich verstand Hannah, dass Natalie gerade das Gegenteil einer Einladung ausgesprochen hatte, aber die Uhr mahnte, dass es Zeit war, sich zum Speisesaal zu begeben. Hannah vergewisserte sich noch einmal, dass ihr Gitarrenkoffer geschlossen war und sicher stand, dann folgte sie Natalie mit Abstand.
Der Rückweg war viel leichter zu finden als der Weg zum Probenraum. Im Erdgeschoss musste Hannah nur dem Gläsernen Gang folgen, dann hatte sie auch schon den Speisesaal erreicht. Die schwere Doppeltür der alten Schlosskapelle war offen und Hannah konnte lautlos in den Saal treten. Ihr Blick wanderte nach oben. Doch nichts verriet, dass hier einmal Gottesdienste stattgefunden hatten. Nur das Podium im ehemaligen Altarraum gab es noch – es beherbergte nun den Lehrertisch – und eine Empore am anderen Ende des Saals erinnerte daran, dass hier eine Orgel gestanden haben mochte.
Nun reihten sich hier Stuhlreihen aneinander. Die meisten Tische waren bereits besetzt von Schülern aus höheren Klassenstufen, manche in den gelben Pullovern, manche in gewöhnlicher Kleidung. Nur eine lange Reihe aus zusammengeschobenen Tischen nahe dem Podium war noch frei. Dort sollten wohl die Neuen Platz nehmen.
Im Augenblick standen sie aber noch vorne und warteten sichtlich auf etwas. Hannah beschlich das Gefühl, zu spät gekommen zu sein, und sie wollte schon eine Entschuldigung murmeln, als sie sich der Gruppe anschloss. Doch im selben Augenblick wurden Schritte vernehmbar. Jemand rannte den Gläsernen Gang hinab, bremste an der Tür unter erbärmlichem Quietschen seiner Turnschuhsohlen und schlitterte noch einige Meter über den glatten Steinfußboden des Speisesaals, bevor er abbremsen konnte. Es war ein dunkelhäutiger Mitschüler mit einem breiten Grinsen. Er verneigte sich vor seinem Publikum, das teilweise lachte oder die Augen verdrehte, und stolzierte dann, als wäre nichts gewesen, zur Gruppe der Neuen.
Am Lehrertisch erhob sich der Direktor, als wieder Ruhe eingekehrt war. Er hatte das zerbeulte Jackett abgelegt, das er zuvor in der Aula getragen hatte, und wirkte nun kaum noch wie die Art von Lehrer, die Hannah kannte. Manche Schüler wirkten mit den einheitlich safrangelben Kapuzenpullovern offizieller als er mit den wilden weißen Locken und den Löchern in der Jeans.
Hannah glaubte, ein Lächeln über seine Lippen huschen zu sehen, als wäre er sich seines Auftretens vollkommen bewusst. Während der wenigen Schritte zum Rednerpult ließ der Direktor seinen Blick über die Neuen schweifen. Zwei- oder dreimal nickte er, als würde er jemanden persönlich begrüßen. Hannah konnte nicht ausmachen, welchen Schülern es galt. Nur einmal duckte sich ein braunhaariger Junge wegen des Grußes, als wünschte er, dass sich eine Unterwelt im Steinboden unter seinen Füßen öffnete und ihn verschlingen würde. Hannah fragte sich, ob er vielleicht mit dem Direktor verwandt war – auf ihrer alten Schule hatte sie eine Freundin, deren Eltern beide dort Lehrer waren. Sie reagierte ähnlich, wenn sie ihnen auf dem Schulhof begegnete.
Am Pult angekommen lehnte Direktor Van Koppern sich daran, statt sich dahinter zu stellen, und hob zu einer Begrüßung an
»Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kollegen: Ihr habt heute schon eine Rede gehört, ich weiß. Trotzdem werde ich euch noch kurz vom Essen abhalten. Für diejenigen, die vorhin nicht dabei waren oder geschlafen haben: Mein Name ist Oliver Van Koppern, ich bin euer Schuldirektor. Selbstverständlich bin ich auch Mitglied der Gelbroben.«
Unwillkürlich biss Hannah sich auf die Unterlippe. Gelbroben. Der Name klang so harmlos und fremd zugleich. Plötzlich wünschte ein Teil von ihr sich, ihn nie gehört zu haben.
»Stufe zwölf und Gremiumsmitglied. Aber genug von mir. Ich heiße euch herzlich im Namen der Gelbroben an unserer Schule willkommen. Bevor wir eure Namen verlesen und ihr euch setzen dürft, fürchte ich, dass ich euch noch meine Standardansprache vortragen werde.«
»Buh!« Erschrocken fuhren die neuen Schüler herum. Einer der älteren Schüler hatte sich ganz unverhohlen einen Zwischenruf genehmigt. Viele Köpfe drehten sich zu dem älteren Jungen im gelben Kapuzenpullover um, doch er duckte sich nicht, sondern grinste frech. Alle dachten, dass er jede Sekunde furchtbaren Ärger bekommen würde, aber zum allgemeinen Erstaunen blieb der Direktor gelassen.
»Es tut mir auch sehr leid, Stephen. Halte dir einfach die Ohren zu und sei leise.« Zufrieden, dass der Schüler seinen Ratschlag überdramatisch befolgte, fuhr Direktor Van Koppern fort. »Ich will nicht sagen, dass ihr es als eine Ehre betrachten müsst, hier aufgenommen worden zu sein. Aber ich möchte euch eine kleine Geschichte über den Ursprung der MEDIATORES DEORUM ET HOMNIUM erzählen und danach könnt ihr selbst urteilen:
Vor mehr als tausend Jahren taten drei Männer sich zusammen, um der Menschheit den Dienst zu erweisen, den sie erbringen konnten. Ihre Namen waren Conradin D'Atlantide, ein Gelehrter und Abt, der seine Heimat und seinen Glauben an etwas Schrecklicheres als das bloße Feuer verloren hatte, Mattis von Greifenhaag, ein Adliger, der der Legende nach als Erster einen Greifen zähmte, und Theodoros, von dem damals niemand mehr erwartete als ein Leben im Elend dieser finsteren Zeit und der doch der Bemerkenswerteste von diesen Dreien war: Er war ein Halbgott, ein Sohn der Iris. Wir wissen heute nicht mehr, wie es dazu kam und was genau geschah, und ihr werdet darüber bestimmt noch einige Legenden hören. Aber sicher ist, dass sich unsere Gründer am Anfang des neunten Jahrhunderts in Byzanz trafen, dem heutigen Istanbul. Irgendwie muss das Gespräch wohl auf übernatürliche Ereignisse gekommen sein, denn sie offenbarten einander ihre Geschichten. Sie begriffen, dass ihr Wissen helfen konnte, vermitteln konnte zwischen den Menschen und dem Nichtmenschlichen. Noch in derselben Nacht schworen sie den Eid, der Menschheit im Geheimen zu helfen. Wie es weitergeht? Passt im Geschichtsunterricht auf! Und ja, ich sehe dich an, Stephen.«
Der ältere Schüler namens Stephen machte Anstalten zu protestieren, aber ein Mädchen neben ihm gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und sorgte damit für Ruhe. Mit einem Lächeln sprach der Direktor weiter.
»Ihr steht vor einer alten Tradition und großen Chance, aber jeder von euch muss selbst herausfinden, wohin euer Weg euch führen wird. Ihr habt vier Jahre Zeit, bevor ihr entscheidet, ob ihr unseren Eid schwört oder nicht. Vier Jahre, in denen ihr unser geheimes Wissen erlernen und die Welt neu kennenlernen werdet. Mögen die Götter euch bei eurer Entscheidung nicht allzu sehr im Weg stehen!«
Die Schülermenge applaudierte und Hannah und die Neuen schlossen sich zögerlich dem Klatschen an. Manche aus den höheren Klassenstufen, allen voran Stephen, trampelten zusätzlich mit den Füßen auf den steinernen Boden, bis der Direktor mit einer Geste um Ruhe bat.
»Frau Lütke und Herr Meritt werden euch nun eure Roben aushändigen.« Er wandte sich seinen Kollegen zu und trat vom Pult zurück. »Regine und Arthur, ihr habt das Wort.«
Zwei Personen standen vom Lehrertisch auf. Eine war die Lehrerin mit der altmodischen Brille und den straff zusammengebundenen Haaren. Sie hatte das Klemmbrett noch bei sich und legte es mit einer harschen Geste auf das Rednerpult, sodass es im ganzen Saal widerhallte. Mit ihr war ein Lehrer aufgestanden, der Hannah an ihren Lieblingsenglischlehrer zuhause erinnerte: chaotische Haare, kariertes Hemd unter einem Pullover und Kreidestaub auf der Jeans, bevor der Unterricht überhaupt begonnen hatte. Er war jünger als die meisten Lehrer, die Hannah am Lehrertisch sitzen sah, und wirkte auch viel freundlicher. Er holte einen großen Karton vom Fuß des Podiums und öffnete ihn, sodass ein gelber Inhalt zu erahnen war. Frau Lütke wartete, bis er damit fertig war, dann rückte sie ihre Brille gerade und las den ersten Namen vor.
»Abels, Hannah.«