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Nach der Ankunft bei ihrer Schwester Cora und ihrem Mann Aides leben sich Godje und Arion schnell auf dem entlegenen Biohof ein. Der Hengst noch schneller als seine Reiterin? Kunststück, sind die endlosen Weiden doch ein wahres Paradies für Pferde. Godjes Gedanken sind viel zu aufgewühlt, um die Harmonie fernab von jeglichem Handyempfang genießen zu können. Tausende Fragen haben sich in ihr angestaut, aber jedes Gespräch mit ihrer Familie bringt nicht nur neue Erkenntnissein Bezug auf ihre Gabe ans Licht, sondern auch weitere Ungereimtheiten. Vor was oder wem will sie eigentlich jeder beschützen und wie groß ist die Gefahr, die scheinbar all ihre Verwandten bedroht?
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Seitenzahl: 256
Bisher bei Schneiderbuch erschienen:
Das Rätsel des Pferdeamuletts (Band 1)
Das Rätsel des Pferdeamuletts – Godivas Geschenk (Band 2)
Nordlicht – Im Land der wilden Pferde (Band 1)
Nordlicht – Im Bann der wilden Pferde (Band 2)
Nordlicht – Die Magie der wilden Pferde (Band 3)
Originalausgabe
© 2020 Schneiderbuch
in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Brauer
(Agentin: Ulrike Schuldes).
Umschlaggestaltung: Designomicon | Anke Koopmann, München
Umschlagmotiv: © Anke Koopmann unter Verwendung von Motiven von shutterstock
Emoji von OpenMoji, Strichstärke angepasst: https://openmoji.org
eBook: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln, www.ppp.eu
ISBN 978-3-505-14324-3
www.schneiderbuch.de
Prolog
Das Mädchen rannte durchs Unterholz. Äste und Wurzeln verbarrikadierten den schmalen Pfad. Dürre Zweige griffen wie Hände nach ihr. Manche brachen, andere waren hartnäckig. Sie zogen an ihren Haaren, als ob sie sie verhöhnten, oder hinterließen Kratzer und Striemen auf ihrer Haut. Heiseres Bellen dröhnte in Gydes Ohren. Sie hörte Stimmen. Die Männer aus dem Dorf kamen näher. Sie waren nicht mehr weit. Da waren Fackeln. Wie Irrlichter geisterten sie durch den aufsteigenden Nebel. Wenn sie die Hunde losließen, war ihr Schicksal besiegelt. Sie musste weiter, schnell, sie irgendwie abhängen.
Gyde taumelte eine Böschung hinab. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel. Ihr Leinenhemd blieb an Dornensträuchern hängen und riss. Sie überschlug sich und prallte schmerzhaft mit der Schulter an einen Stein. Aber da unten war Wasser. Ein Geschenk der Götter. Vielleicht war sie ja doch nicht verflucht, wie sie alle fürchteten.
Barfuß stolperte Gyde durch den Bach. Sie überquerte ihn nicht direkt. Wenn sie die Fährte unterbrechen wollte, musste sie ein Stück flussabwärts laufen, bevor sie das andere Ufer erklomm. Kalt, so kalt. Sie spürte ihre Beine und Füße nicht mehr. Sie strauchelte in einer Senke und tauchte bis zur Hüfte ein. Sie riss die Augen auf und unterdrückte einen Schrei. Aber noch nicht. Sie musste noch ein Stück weiter in diesem eiskalten Wasser. Es war zu früh. Und doch zu spät.
»Da ist sie!« Der Schrei gellte durch die Nacht und stach mitten in ihr Herz. Es war ihr Onkel. Gyde kannte alle diese Menschen, die jetzt hinter ihr her waren, um sie zu töten. Sie war in diesem Dorf aufgewachsen. Sie war doch eine von ihnen? Und doch hatte sie nie dazugehört. Das Findelkind. Sie hatten sie aufgezogen und ihre Talente zuerst belächelt, dann bewundert. Und jetzt fürchteten sie sie. Und was man fürchtete, trieb man weit ins Moor hinein … Oder man brachte es gleich um.
»Lasst die Hunde frei!«
Gyde zitterte. Die Tiere würden ihr nichts tun. Kein Wesen mit Fell oder Federn war ihr Feind auf dieser Welt. Das waren nur die Menschen.
Es war viel schlimmer. Die Hunde würden zu ihr laufen, damit sie mit ihnen spielte, sie streichelte und ihnen Aufmerksamkeit schenkte. Dann würden die Männer leichtes Spiel haben. Sie hatten Speere und Lanzen.
Gyde hatte keine Angst vor dem Tod. Aber sie wusste, dass die Männer auch die Hunde töten würden. So wie sie es mit dem Pferd getan hatten, weil es sich ihnen in den Weg gestellt hatte, um sie zu schützen. Gyde brach in Tränen aus. Der Hengst hatte sich für sie geopfert. Sie sah immer noch seine großen braunen Augen vor sich. Warum nur? Sie war ein Nichts! Einfach nur in Frieden leben. Mehr hatte sie nie gewollt.
Gyde fiel in sich zusammen. Ihre Lunge brannte, sie spürte ihre Beine nicht mehr. Mit letzter Kraft zog sie sich die Böschung hinauf.
Am anderen Ufer platschten die Hunde ins Wasser. Sie hatten sie aufgestöbert. Gleich würden sie bei ihr sein und die Männer zu ihr führen. Sie war gerade vierzehn Jahre alt geworden. Sie wollte noch nicht sterben. Aber dann würde es eben so sein. Gyde gab auf.
»Nein!«, vernahm sie plötzlich eine ruhige Frauenstimme irgendwo in der Nähe.
Sie hörte ein Pferd schnauben, direkt über sich. Gyde riss den Kopf hoch. Das war niemand aus dem Dorf. Die Nebel lichteten sich. Sie schienen einer Schimmelstute und ihrer Reiterin auszuweichen, sie respektvoll einzurahmen.
In die Mähne des Pferdes waren Blumen geflochten. Die gleichen blutroten Rosenblüten zierten die langen blonden Haare der schlanken Frau, die in einem fließenden hellblauen Kleid barfuß auf dem blanken schneeweißen Pferderücken saß. Die Reiterin streckte Gyde einen weißen Arm hin.
»Steig auf!«, befahl sie, und ihr sanfter Ton duldete keinen Widerspruch. Erstaunlich kraftvoll zog sie Gyde vor sich aufs Pferd. Das Tier wieherte und stampfte kurz mit dem Huf auf, als die ersten Hunde die Böschung erreichten. Winselnd blieben sie auf Abstand, setzten sich und warteten mit hängenden Zungen.
Dann kamen die Männer.
Mit wurfbereiten Waffen traten sie aus dem Nebel. Ihre Mienen waren hasserfüllt und kämpferisch, ihre Augen funkelten mordlüstern. Doch als sie die Schimmelstute und ihre Reiterin sahen, änderte sich alles. Die Männer wichen zurück. Der Erste beugte die Knie. Die anderen taten es ihm nach. Einer von ihnen war Gydes Onkel. Sie sah, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten, als wolle er den Knochen durchbeißen. Als Einziger blieb er aufrecht stehen, aber er senkte den Kopf so wie alle anderen. Unsicher standen sie da, wagten nicht, die Dame auf dem Pferd anzusehen, verharrten in der Bewegung.
Sie wirkten fassungslos, eingeschüchtert, wussten nicht, was sie tun sollten. Einer nach dem anderen ließen sie die Waffen fallen oder schleuderten sie von sich. Noch nie hatte das Mädchen die Dorfbewohner so erlebt.
Die Hunde dagegen wedelten mit den Ruten und winselten aufgeregt. Gyde wagte kaum zu atmen. Unwillkürlich rückte sie etwas von der Dame hinter sich weg. Denn eine Dame musste sie sein. Doch die Fremde legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm. Wo ihr langes blondes Haar das Mädchen streifte und die verletzte Haut berührte, schlossen sich die Wunden, und die Kratzer verblassten. Nur ein angenehmes Kribbeln blieb zurück. Und pulsierende Wärme. Gyde zitterte. Am liebsten wäre sie abgestiegen und fortgerannt. Aber sie kam nicht vom Fleck. Sie vergrub ihre Finger in das samtige Fell der Stute.
Die lebendige Wärme des Tieres beruhigte sie etwas. Doch Gydes Atem ging weiter stoßweise, und das Herz hämmerte unregelmäßig in ihrer Brust.
»Gib sie uns heraus!«, wagte ihr Onkel endlich zu sprechen. Trotzig reckte er sein Kinn.
»Nicht, das ist Epona«, raunte einer in der Menge. »Lass gut sein. Gehen wir.«
»Epona«, nahmen andere den Namen auf und reichten ihn ehrfürchtig weiter.
Gydes Onkel schlug die Arme fort, die an dem grob gewebten Ärmel seines Leinenhemdes zupften und ihn fortziehen wollten. Breitbeinig blieb er stehen.
Epona sprach leise, mit verhaltenem Zorn. »So geht ihr mit meinen Geschenken um? Sie ist mein. Ich bin sie, und sie ist ich seit dem Anbeginn der Zeit und über alle Zeiten hinaus.«
Epona wies mit ihrer Hand in die Richtung, aus der Gydes Verfolger gekommen waren. »Geht«, befahl sie.
Die Männer wichen langsam zurück, tasteten sich rückwärts über den unebenen Grund, ehrfürchtig die Köpfe gesenkt.
Aus dem Augenwinkel nahm Gyde eine plötzliche Bewegung wahr. Sie erstarrte. »Vorsicht!«, krächzte sie heiser.
»Ich sagte: Gib sie mir zurück.« Ihr Onkel war als Einziger stehen geblieben. Er hatte seinen Speer aufgehoben und machte sich bereit zum Wurf.
Eponas Hand schnellte in die Höhe. Die Waffe verbrannte in einer einzigen Stichflamme zu Ruß und Asche. In derselben Sekunde heulte Gydes Onkel auf. Er ging in die Knie. Wimmernd hielt er seine verletzte Hand. Rauch stieg auf, und der Geruch von verbranntem Fleisch hing in der Luft.
Gyde wand sich. Sie verstand nicht, um was es hier ging. Ihr Onkel war verletzt. Die Göttin hatte ihm Einhalt geboten. Aber jetzt würde er noch wütender sein als je zuvor. Das alles war noch viel unheimlicher als ihre Flucht durch den nächtlichen Sumpf.
Die Schimmelstute machte bedächtig kehrt und trug Epona und Gyde in den Nebel, der sich wie ein Vorhang hinter ihnen schloss.
»Das ist nicht das Ende!«, schrie er ihnen hinterher. »Wir sehen uns wieder!«
Unbehelligt und ruhig traten das Pferd und seine Reiterinnen in die Morgendämmerung und verschmolzen damit und miteinander.
Gydes Onkel blieb schwer atmend auf dem Boden kauernd zurück. Ein Schatten löste sich aus den Bäumen und trat auf ihn zu. »Du hast versagt«, sagte der Dunkle mit schneidender Stimme.
Mit jedem Schritt, den er auf den Verletzten zuging, wurde diesem kälter. Schaudernd zog Gydes Onkel seinen zerlumpten Umhang dichter um sich. »Wer seid Ihr?«
»Niemand von Bedeutung«, behauptete der Dunkle. Sein Atem blies die Worte wie eisige Wolken in die Nacht. »Aber wir haben das gleiche Ziel.«
Er zog einen Lederbeutel hervor und warf ihn vor dem zitternden Mann auf den Boden.
»Vergiss nie, wem du dienst! Du und die Deinen. So viele Leben, wie nötig sind.«
Gydes Onkel wagte nicht, den Blick zu heben. Er nickte furchtsam. »So sei es, Herr.« Ergeben wartete er darauf, was als Nächstes geschehen würde. Der Dunkle machte ihm Angst, der Schmerz in seiner Hand war unerträglich, dieser Tag war verflucht. Er kniff die Augen zusammen. Als er endlich aufblickte, war er allein. Zögernd griff er nach dem Beutel. Ein paar Münzen kullerten in den Staub. Er hob die nächstliegende auf und betrachtete sie im Licht des aufgehenden Mondes. Das Metall blinkte, die Prägung war frisch und gestochen klar. Sie zeigte eine Reiterin auf einem geschmückten Pferd, begleitet von einer jungen Frau. Seine Hand zitterte, als er sie um die Münze schloss. Dann heulte er auf wie ein tödlich verwundetes Tier.
1. Willkommen im Paradies
3000 Jahre später
Zum Frühstück gab es dampfende Pfannkuchen mit Ahornsirup, einen Berg Rührei mit frischen Kräutern, dazu getoastetes Brot und Tomaten. Ich aß, als hätte ich seit drei Tagen nichts bekommen, und trank dazu gierig mein Lieblingsgetränk: heiße Schokolade mit einer Zimtsahnehaube. Die geblümte Jumbotasse hätte ich mir wie bei Astrid Lindgrens Geschichte »Michel in der Suppenschüssel« über den Kopf stülpen können, so groß war sie, und so lecker der Kakao – beinahe noch besser als bei Nana, meiner Großmutter.
Es war ein ziemlich seltsames Gefühl, in dieser fremden Küche zu sitzen, mir den Magen vollzuschlagen und dabei angestarrt zu werden wie ein dreiköpfiges Fohlen, von dem man noch nicht weiß, ob man es behalten soll oder ob man sich damit nur Ärger einhandelt.
Zu meinen Füßen unterm Tisch hatte sich ein kalbsgroßer Hund zusammengerollt. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Rasse das sein mochte, aber seine Stimme war genauso beeindruckend wie seine Körpergröße. Waldo hatte mich laut bellend begrüßt und sich dann direkt vor mir auf den Rücken geworfen, damit ich ihm den grau-braun-weißen Bauch kraulen sollte, was ich natürlich sofort ausgiebig tat.
An der Wand hing eine Uhr, die fast genauso aussah wie die alte Küchenuhr bei uns zu Hause. Zu Hause. Ich schluckte trocken bei dem Gedanken, dass ich so schnell nicht zu Nana zurückkehren konnte. Und wollte. Wie es jetzt nach meiner überstürzten Flucht weitergehen sollte, wusste ich allerdings auch nicht. Ich war die ganze Nacht durchgeritten, natürlich mit ausgiebigen Pausen, in denen Arion trinken und grasen durfte, aber immer in der Angst, doch noch entdeckt und aufgehalten zu werden. Rückblickend war mir beinahe so, als hätte Oleg das Pferd und mich mit den immer länger werdenden Ritten auf diese unglaubliche Distanz vorbereiten wollen. Was man sich so alles einbilden konnte …
Streng genommen hatte ich den Grauen geklaut. Es war noch nicht mal sechs Uhr morgens. Ich wollte lieber nicht wissen, was meine Großmutter und Anyta Kuret sich alles am Telefon um die Ohren hauen würden, sobald sie mitbekamen, was ich getan hatte. Sie würden sich gegenseitig Vorwürfe machen und die Schuld dafür geben, dass Arion und ich nicht mehr da waren, dessen war ich mir sicher. Wahrscheinlich hetzten sie sich gegenseitig die Polizei auf den Hals. Oder das Vormundschaftsgericht. Oder beides.
Cora und Aides tauschten Blicke. »Godje, dir fallen ja die Augen zu«, sagte die Frau, die mir so unglaublich ähnlich sah. Es war, als ob ich mich im Spiegel einer dieser Apps betrachtete, die einem sein zukünftiges, älteres Ich zeigen. Ihre Haare waren nicht ganz so straßenköterblond wie meine, sondern eine Nuance heller, aber ebenso widerspenstig. Sie hatten sich gleich an mehreren Stellen aus dem Zopfgummi herausgewuselt, mit dem sie im Nacken zusammengehalten werden sollten. Um Coras Augen rankten sich zahlreiche Fältchen. Aber die Farbe war die gleiche wie bei meinen: ein kräftiges Blau mit einem helleren, mehrfarbig schimmernden Kranz um die Pupille. Nicht, dass ich mir etwas darauf einbildete, aber meine Freundin Tessa hatte mal gesagt, sie würde niemanden sonst mit solchen Augen kennen. Nun, ich jetzt schon. Das war also tatsächlich meine Schwester? Warum hatte mir nie jemand von ihr erzählt? Ich hatte tausend Fragen an sie, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Fürs Erste schüttelte ich heftig den Kopf, obwohl ich tatsächlich auf der Stelle, mit dem Gesicht in meinem vierten Pfannkuchen, hätte einschlafen können. Ich musste nur fertig kauen und runterschlucken, dann musste ich erst einmal nach Arion sehen …
»Ich gehe nach draußen und kümmere mich um dein Pferd. Er hat sicher Durst, und er kann ja schlecht im Vorgarten bleiben«, sagte der Mann mit dem Räuberbart, der mir gegenübersaß und mich die ganze Zeit neugierig mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete: Aides, mein Schwager, von dessen Existenz ich bis vor fünf Minuten ebenso wenig geahnt hatte wie davon, dass ich eine Schwester namens Cora hatte. Ich fragte mich, welche Familiengeheimnisse Nana und Anyta mir außerdem noch verschwiegen hatten. Seit ich vierzehn Jahre alt geworden war und dieses seltsame anonyme Päckchen mit dem Pferdeamulett bekommen hatte, stand mein Leben komplett auf dem Kopf. Der vorläufige Höhepunkt war, mit einem teuren Hengst auf einen Hof zu fliehen, dessen Flyer mir anonym zugespielt worden war, nur weil mir die Frau auf dem Prospekt ähnlich sah.
Ob es wirklich so schlau gewesen war, ausgerechnet hier hereinzuplatzen? Lieber Himmel, ich kannte die beiden doch gar nicht! Vielleicht hatte Nana ja einen Grund gehabt …? Aides nahm seine Jacke von der Stuhllehne und ging mit federnden Schritten zur Tür.
Waldo regte sich kurz. Ich hörte, wie seine Rute auf den Boden klopfte, aber dann rollte er sich mit einem zufriedenen Seufzen ein und schlief weiter.
»Warte, das ist keine so gute Idee«, widersprach ich mit vollem Mund und wollte aufspringen, aber Cora zog mich wieder hinunter auf die Küchenbank. »Lass ihn nur machen. Iss du erst einmal in Ruhe auf und –«
»Arion hat schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht«, unterbrach ich sie.
Cora lächelte nur. »Dein Arion wäre der Erste, der Aides nicht innerhalb von zwei Minuten nachliefe wie ein Hündchen. Du kannst ihm vertrauen.«
»Das ist es nicht.« Ich schüttelte den Kopf, wischte mir den Mund ab und zog mich an der Tischkante hoch. Himmel, diese Holzbank war nicht die beste Medizin für meinen schmerzenden Po. »Ich komme mit. Hier ist doch alles fremd für ihn.«
In Wahrheit glaubte ich nicht, dass irgendjemand außer mir Arion in einen fremden Stall bringen konnte. Nicht nach dem, was er veranstaltet hatte, als die sogenannten Profis versuchten, ihn nach Gut Hardenberg zu verladen. So weit waren wir noch lange nicht. Selbst sediert war dieser Hengst in der Lage, alles kurz und klein zu schlagen.
»Natürlich, ganz, wie du magst.« Cora hob gleichmütig die Schultern und lehnte sich zurück. »Dann weißt du auch gleich, wo du ihn und alles andere später findest. Ihr beiden bleibt doch ein bisschen, oder?«
Ich wurde rot. In meinem Kopf ging alles durcheinander. Aber wo sollten wir sonst hin? »Wenn wir dürfen?«, sprach ich meine Gedanken aus.
Aides und Cora tauschten wieder Blicke, dann lächelte sie mich flüchtig an, nickte und verbarg das Gesicht gleich darauf hinter ihrer Teetasse. Ich hätte gern gewusst, was sie dachte. Immerhin stellte sie keine Fragen, das fand ich großartig.
Aides wartete. Er hielt mir die Tür auf, und ich huschte unter seinem Arm hindurch, so schnell ich konnte. Eine Achtzigjährige wäre vermutlich flinker gewesen. Meine Beine schmerzten von dem langen Ritt. Sitzen tat weh, aber Gehen war auch nicht viel besser. Ich ging wie auf Eiern die wenigen Stufen hinunter und hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, als wir den Hof überquerten. Verstohlen musterte ich den Mann meiner Schwester. Er war schlank und sehnig und trug die typischen Stallalltagsklamotten der meisten Pferdeleute: knöchelhohe Boots, Jeans und ein Sweatshirt, an dem ein paar kleine Strohhälmchen hingen. Er hatte dunkle, kinnlange Haare und tiefe Falten im sonnengebräunten Gesicht. Sie verschwanden teils unter einem wilden Bart. Der ließ ihn älter aussehen, aber vermutlich war er im gleichen Alter wie Cora, die ich zwischen Mitte und Ende zwanzig schätzte.
Arion stand noch immer unter den Apfelbäumen in dem eingezäunten Vorgartenbereich, wo ich ihn vor einer halben Stunde zurückgelassen hatte. Erleichtert beschleunigte ich meine Schritte. Arion graste, doch als er uns kommen sah, hob er den Kopf und brummelte leise. Seine Begrüßung klang ein bisschen wie: Hast du etwa schon fertig gegessen? Ich noch lange nicht! Mein Herz ging auf, und ich musste breit grinsen. Mein großes silbernes Wunderpferd!
»Du darfst gleich weiterfrühstücken, Großer«, erwiderte Aides ebenso sanft, wie er mich die ganze Zeit vorher skeptisch begutachtet hatte und so, als ob er den Hengst genau verstanden hätte. Er überholte mich, und ich sah fassungslos zu, während Arion den Kopf an seiner ausgestreckten Hand rieb, noch bevor ich ganz bei ihm war.
Aides bemerkte meinen Blick. »Was?«, fragte er gut gelaunt und tätschelte dem Hengst den Hals – als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt sei. Dabei war Arion als gefährlich verschrien, nicht einmal Anyta und Oleg waren mit ihm zurechtgekommen – bis ich in ihr Hippobalance Pferdetherapiezentrum gestolpert war. Gemeinsam mit dem alten Stallmeister und meinem Schulfreund Fynn war mir das Unmögliche gelungen: Arion hatte endlich Vertrauen gefasst. Zu mir allein! So viel Vertrauen, dass Anyta ihn nun hinter meinem Rücken verkaufen wollte, um ihn ausbilden zu lassen und als Deckhengst einzusetzen. Aber das hätte alles wieder kaputt gemacht, was wir uns erarbeitet hatten, davon waren Oleg, Fynn und ich überzeugt. Denn genau das war schon einmal mit ihm geschehen, vor langer Zeit hatte Arion Schlimmes erlebt.
Anyta hatte uns verraten. Also waren wir geflohen – und Fynn und Oleg hatten mir heimlich dabei geholfen.
Fynn. Flüchtig dachte ich an unseren Kuss beim Abschied. Meine Lippen kribbelten bei der Erinnerung und lenkten mich von dem leisen Stich in meinem Herzen ab. Arion ließ es sich gefallen, dass Aides ihn unterm Kinn streichelte, und schob genüsslich die mit grünem Sabber beschmierte Lippe vor.
In meinem Bauch grummelte es. War ich etwa eifersüchtig? »Das hat er noch nie gemacht«, brabbelte ich und tat, als würde ich seinen Rücken auf Druckstellen überprüfen. »Also … er lässt sich nicht anfassen von … Fremden.« Missmutig zupfte ich ein paar Grashalme von seinem Widerrist.
Aides lachte frei heraus und zwinkerte mir zu. »Das höre ich öfter. Aber du sicher auch, oder?«
»Was? Woher …?« Ich wurde schon wieder rot. Bis vor einem Dreivierteljahr hätte ich jeden für des nackten Wahnsinns fette Beute erklärt, der mich auch nur auf zehn Meter an ein Pferd hätte heranbringen wollen. Ich hatte panische Angst vor diesen majestätischen Riesen gehabt, denn Pferde hatten immer schon erschreckend sonderbar auf mich reagiert. Und Nana hatte mich darin bestärkt, dass diese Tiere keineswegs harmlos, sondern potenzielle Godje-Fresser waren. Tja, dann wurde ich vierzehn, und nichts war mehr wie zuvor.
Unwillkürlich suchte ich mit den Fingerspitzen nach dem Amulett unter meinem Shirt. Kühl und reglos lag es auf meiner Haut, als ob es schliefe. Und jetzt?
Jetzt musste ich einen sicheren, pferdefreundlichen Ort für meinen Rappschimmel finden, und dann musste ich ganz dringend schlafen.
Ich bückte mich nach der Trense und dem Reitkissen, die ich Arion bei unserer Ankunft abgestreift hatte, damit er ohne störendes Gebiss fressen und sich wälzen konnte.
Arion folgte meinem Schwager ohne Halfter und Strick. Als Aides sich in Bewegung setzte, zuckelte der Hengst entspannt hinter ihm her, den riesigen hellgrauen Kopf eine Handbreit unter seinen Ellbogen gesenkt. Ich kam mir klein und doof vor, als ich den beiden nachstiefelte, aber was blieb mir anderes übrig?
Und wieder reagierte Aides sensibel. Er blieb stehen und wartete, bis ich die zwei eingeholt hatte. Dann wies er auf ein Stallgebäude, vor dem sich großzügige Sandausläufe befanden. »Hier drüben sind unsere Gastboxen, aber ich glaube, die Hausweide wird ihm besser gefallen. Da kann er sich eingewöhnen und sich frei bewegen. Was meinst du? Er macht mir nicht den Eindruck, als ob er gern auf engem Raum eingesperrt wird.«
Ich nickte staunend und sah von einem zum anderen. Arion verhielt sich, als ob er Aides sein Leben lang kannte und ich nichts weiter wäre als eine nette Begleitung. Dabei war ich es gewesen, die in einer buchstäblichen Nacht-und-Nebel-Aktion alles riskiert hatte, um seine Haut zu retten! Ich!
Mein Schwager nahm mir das Zaumzeug ab und legte es über einen Querholm des Koppelzauns. »Das bringen wir später in die Sattelkammer.«
Wir gingen ein paar Schritte weiter, den Hengst in unserer Mitte, dann hatten wir das Tor erreicht. Arion sog tief die Luft ein und wieherte so laut, dass mir die Ohren dröhnten. Reflexartig griff ich nach dem Strick, der noch immer lose über seinem Hals hing, und packte ihn mit beiden Händen. Weit in der Ferne antwortete ihm ein anderes Pferd, aber ich konnte keins sehen. Über uns zog ein Greifvogel seine Kreise. Den Schwalben, die im Tiefflug über ein abgeerntetes Getreidefeld schossen, war das egal. Neben und hinter dem Acker waren nur Wald und leicht hügelige Wiesen, auf denen vereinzelt Bäume standen. In einer Senke sah ich Wasser glitzern.
Arion tänzelte unruhig auf der Stelle, während Aides den Riegel zurückschob. Jetzt hatte er es eilig.
»Bereit?«, fragte Aides und lächelte. Ich nickte und fragte mich im selben Moment, ob er überhaupt mich gemeint hatte oder mit dem Pferd sprach. Zumindest sah er erst jetzt von Arion zu mir, als ich den Panikhaken vom Strick löste, und das verstärkte meine Annahme.
»Du kannst ihm ruhig auch das Halfter abnehmen«, sagte er. »Die Weide ist sicher. Unsere Stuten und die Wallache sind auf der Sommerweide, die dort hinten direkt ins Moor übergeht.« Er zeigte auf den Horizont. »Der Zaun dazwischen ist doppelt und steht unter Strom. Sie können sich sehen, und wir überlegen inzwischen in Ruhe, mit wem wir Arion vergesellschaften können. Wenn er unbedingt wegwollte, müsste er schon durch den See schwimmen, aber warum sollte er das tun?« Er breitete die Arme aus. »Das hier ist das Pferdeparadies. Außer uns gibt es weit und breit keine Menschen. Heutzutage bekommt niemand mehr eine Baugenehmigung hier im Naturschutzgebiet, wir haben Bestandsschutz mit strengen Auflagen. Willkommen in Persephones Heaven.«
»Persephone?«, wiederholte ich fragend.
Aides nickte ernst. »Die griechische Göttin der Fruchtbarkeit, Demeters Tochter. Wir fanden den Namen passend, weil Persephones Beiname Kora ist, und nachdem eure Mutter Chloe hieß, wie Demeter auch genannt wurde … einen Arion gibt’s übrigens auch in der griechischen Mythologie, der soll ebenfalls Demeters Sohn gewesen sein, ein sprechendes Wunderpferd.« Er zwinkerte mir zu.
Mein Amulett stellte die keltische Pferdegöttin Epona dar. Demeter und sie waren miteinander verbunden, das wusste ich, aber ich begriff trotzdem gar nichts. Wie hing das alles zusammen? Ich starrte Aides an, aber Arion ließ mir keine Zeit zum Nachdenken. Als er seinen Namen hörte, scharrte er ungeduldig mit den Vorderhufen.
»Kann’s losgehen?«
Ich beeilte mich, das Halfter abzustreifen, und trat einen Schritt zurück. Gleich nachdem Aides ihm endlich den Weg freigab, eroberte mein mythologisches Wunderpferd ganz irdisch und hengstmäßig die Koppel. Zuerst machte er nur ein paar federnde Trabsprünge, dann blieb er stehen, steckte prüfend die Nüstern in den Sand, prustete, schüttelte den Kopf und richtete sich wieder auf. Einmal noch sah er zu uns, galoppierte aus dem Stand an, um bockend und auskeilend bis ans andere Ende der Weide zu preschen. Ich sah den Dreck unter seinen Hufen davonspritzen und war wieder einmal gebannt von dieser unbändigen Kraft – und das nach einem zwölfstündigen Ritt. Eine Weile standen wir schweigend da und sahen zu, wie seine Gestalt immer kleiner wurde. Und ich hatte immer gedacht, Anytas Weiden wären riesig.
»Wow, er hat sich wirklich prächtig entwickelt!«, raunte Aides und strich sich über den Bart. Aber bevor ich nachhaken konnte, was das nun wieder bedeuten sollte, hatte er sich bereits umgedreht, das Koppeltor verriegelt und eilte mir voraus, um das Zaumzeug einzusammeln. »Komm mit, ich zeige dir die Sattelkammer und die Stallungen. Und dann ab mit dir ins Bett. Du schläfst ja schon im Stehen ein, und Cora reißt mir den Kopf ab, wenn ich dich zu lange wach halte.«
Cora war gerade dabei, den Futternapf einer schwarzen Katze zu füllen, die sich genießerisch auf der Anrichte räkelte und so laut schnurrte, dass ich es bis zur Tür hörte. Eine Weile hatte ich noch allein draußen gestanden und Arion beobachtet, aber er verhielt sich sehr ruhig und graste nur. Die tausend Fragen in meinem Kopf drehten sich unbeantwortet im Kreis, und dann fielen mir wirklich ständig die Augen zu.
Ich zog mir die schmutzigen Reitschuhe aus und stellte sie neben die anderen, die in einer Reihe unter der Heizung geparkt waren. Der Dielenboden knarzte, als ich in Socken ein paar Schritte näher trat.
»Da bist du wieder«, stellte Cora fest und drehte sich erst dann zu mir um.
»Woher wusstest du eigentlich, dass ich komme?«, platzte es aus mir heraus. Die Katze sah mich aus zitronengelben Augen an. »Hat Nana hier angerufen? Sucht sie mich schon? Hast du ihr was gesagt? Warum habt ihr gar keine Fragen an mich? Ihr verhaltet euch ja so, als ob es völlig normal wäre, dass ich hier hereingeplatzt bin.«
Bedächtig stellte Cora die Dose mit dem Futter beiseite und schob sie der Katze hin. Sie lächelte traurig. »Nana … so hast du sie schon als ganz kleines Mädchen genannt. Das hatte ich beinahe vergessen … Ich vermisse sie … alle.« Ihre Augen verloren sich in der Ferne, kehrten aber gleich zurück, als sie meine Unruhe wahrnahm. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, noch weiß niemand, dass du hier bist. Ich hatte den Eindruck, dass dir das lieber ist, und …« Sie zögerte einen Augenblick und sah der Katze beim Fressen zu. »Ehrlich gesagt, halte ich das im Moment auch für besser.« Sie zwang ein Lächeln in ihr Gesicht. »Du hast sicher jede Menge Fragen, und glaub mir, die habe ich auch. Aber zuerst musst du dir eine Mütze Schlaf holen. Selbst wenn man wach und ausgeschlafen ist, hat unsere Familie eine komplizierte und lange Geschichte. Komm, ich zeige dir das Gästezimmer. Es ist schon alles für dich hergerichtet. Oder hast du noch Hunger?«
»Nein, alles gut«, murmelte ich, unterdrückte ein Gähnen und nahm meinen Rucksack und die Jacke vom Stuhl. Das war komplett unbefriedigend. Aber als ich meinen Mund öffnete, um zu protestieren, rächte sich der Gähnreflex und kam doppelt so heftig heraus.
Cora lachte. Resigniert folgte ich meiner großen Schwester durch einen verwinkelten, schmalen Flur. Sie erklärte mir jeden Raum, während wir daran vorbeigingen. Alle Türen standen offen oder waren gar nicht erst vorhanden, so erhaschte ich flüchtige Einblicke in meine unbekannte neue Familie. Wir kamen an einer vollgestopften kleinen Abstellkammer, einem supersauberen Gäste-WC, einem chaotischen Arbeitszimmer und dem Wohnzimmer vorbei, das so aufgeräumt aussah, als hätte kaum jemand Zeit, dort zu sitzen. In einem großen Sessel erspähte ich Waldo, den Hund, der mich vorhin so freudig begrüßt hatte. Er hatte offenbar ein bequemeres Plätzchen gefunden als den Küchenboden. Jedenfalls schlief er tief und fest und bewegte im Traum die Pfoten.
»Waldo schläft gern länger«, grinste Cora. »Wahrscheinlich jagt er gerade die Mäuse im Feld. Das ist seine Lieblingsbeschäftigung.«
Wir gingen weiter. An den Wänden hingen überall Fotos von Pferden, teils waren auch Menschen darauf zu sehen. Aber nirgends entdeckte ich ein Gesicht, das ich kannte, keine Spur von Nana … oder mir. »Wieso gibt es hier nirgends Fotos von uns?«, fragte ich.
Aber sie tat, als hätte sie mich nicht gehört. »Hinter dieser Tür geht es in den Keller hinunter, da gibt es eine Waschküche und einen kleinen Vorratsraum«, erklärte Cora weiter. »Oben unterm Dach schlafen wir, und voilà – hier ist dein Reich! Das Bad ist gleich nebenan, ganz allein für dich.«
Sie ließ mir den Vortritt.
»Wow.« Beeindruckt ließ ich meinen Rucksack zu Boden gleiten. Die Möbel waren aus weiß und türkis lasiertem Holz, von dem man noch die Maserung sehen konnte. Auf dem Nachttischchen standen frische Blumen, Herbstastern und Dahlien, so wie sie auch bei uns im Vorgarten gerade noch blühten. Vom Fenster aus konnte ich direkt über die endlose Weide sehen. Es gab einen kleinen Schrank, einen Schreibtisch, einen Sessel und ein Bett mit zwei herrlich dicken Kissen und aufgeschlagener Decke. Es zog mich magisch an.
Meine Schwester lachte. »Wenn du noch was brauchst, sag einfach Bescheid. Du findest mich entweder irgendwo im Haus oder draußen, einfach den Geräuschen nachgehen. Es gibt hier aus dem gleichen Grund keine Fotos von euch, wie es bei Nana oder Anyta keine von uns gibt. Schlaf dich erst einmal ordentlich aus, und dann reden wir. Einverstanden?«
Ich nickte dankbar, auch wenn ich nur Bahnhof verstand, und ließ einem erneuten Gähnanfall freien Lauf. Mein letzter Blick fiel auf meinen Rucksack, in dem unter anderem auch meine Zahnbürste, mein Nachthemd und mein Handy steckten. Aber ich fühlte mich einfach zu müde für alles. So, wie ich war, robbte ich unter die Decke, und noch während ich darüber nachdachte, ob ich wirklich einschlafen könnte, am helllichten Tag und nach all dieser Aufregung und mit all diesen bohrenden Fragen im Kopf, dämmerte ich bereits weg. Das Letzte, was ich fühlte, war das sanfte Pulsieren des Amuletts auf meiner Brust, und in meinem Körper hallte das Gefühl nach, von einem Pferd getragen zu werden.
Epona trug Gyde ins Land hinter den Nebeln. Der mit Rosenblüten geschmückte Schimmel stapfte trittsicher durch den morastigen Boden. Jeder seiner Schritte hinterließ ein quatschendes Geräusch, wenn er die eingesunkenen Hufe aus dem Moor hob.
Gydes Herz schlug bis zum Hals. Sie saß zum ersten Mal auf einem so mächtigen und wunderschönen Tier. Der Schimmel war groß, und sie spürte deutlich, wie sich seine Rückenmuskeln unter ihren Beinen bewegten.
»Du bist hier sicher«, sagte Epona ruhig. »Aber er wird versuchen, dich zu finden, dich herauszulocken und deine Macht an sich zu binden. Denn solange du hier bist, sind die Pferde drüben in den Welten ungeschützt. Darum musst du von Zeit zu Zeit von hier fortgehen, durch andere Zeiten, um für sie zu sorgen. Willst du das für mich tun?« Die Pferdegöttin sah das Mädchen liebevoll an.
Gyde nickte verwirrt. Sie fürchtete sich sehr. »Welche Macht denn?«, flüsterte sie und suchte mit den Händen das warme Fell des Pferdes. »Ich habe keine Macht. Ich bin nur eine Waise, ein Findelkind, das niemand haben will. Wer wird mich suchen? Mein Onkel?«