Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten - Pirmin Müller - E-Book

Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten E-Book

Pirmin Müller

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Beschreibung

Luc Rapin fährt mit seinem Sattelschlepper zurück in die Schweiz. Um die erlaubte Fahrzeit nicht zu überschreiten, hält er an einer Raststätte in der Provence. In einem nahen Städtchen wird ein Anschlag verübt, mehrere Täter entkommen unerkannt. Aziz Bounabi, ein junger Mann aus Avignon, steigt bei Luc in die Kabine und nimmt ihn als Geisel. Am selben Tag wird Francine Courvoisier, Ermittlerin in Besançon, mit einer kleinen Feier zur Verhandlungsführerin ernannt. Sie ist nun berechtigt, Einsätze von Sondereinheiten zu leiten. Auch ihr Leben nimmt bald darauf eine Wendung ins Ungeahnte.

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Pirmin Müller

Das Restrisiko beim Transportvon Südfrüchten

Roman

Impressum

1. Auflage 2017Alle Rechte vorbehalten© boox-verlag, Urnäsch

Covergestaltung: Irene Schoch

ISBN978-3-906037-32-5 (Taschenbuch)978-3-906037-33-2 (ebook)

www.boox-verlag.ch

Autor

Pirmin Müller, Jg. 1969, erlernte das Handwerk des Schreiners. Anschliessend studierte er Soziale Arbeit in Luzern und Bewegungstherapie in Stuttgart.

Er lebt mit Frau und Katzen in der Nähe von Zürich.

›Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten‹ ist sein erster Roman.

Kontakt:

[email protected]

›Weit weg von unseren Vorstellungen über richtig und falsch ist ein Feld, ich treffe dich dort.‹

Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmīpersischer Dichter, 12 Jh.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

1

Vor Remoulins glitt die Autoroute A9 in einem eleganten Bogen in das weite Flusstal des Le Gard. Luc Rapin lenkte seinen Scania R500 seit dem frühen Vormittag Richtung Osten. Er war zu spät. Die üblichen Probleme mit spanischen Zulieferfirmen hatten die Abfahrt verzögert; diesmal war es irgendein Orangenproduzent, der seine Frühernte nicht rechtzeitig von den Bäumen gepflückt hatte.

Luc griff nach dem Trinkbecher, der in einer Halterung rechts der Armaturen steckte. Mit kurzen Schlucken und langen Pausen trank er den dünnen Kaffee. Gelangweilt lehnte er sich in seinen Fahrersitz, der die gelegentlichen Unebenheiten der Strasse perfekt austarierte, und steuerte den tonnenschweren Sattelschlepper mit minimalen Bewegungen des Lenkrads. Nach einigen Fahrkilometern erklang aus dem Bordcomputer eine abfallende Tonfolge. Meyer, sein Disponent, meldete sich aus der Zentrale in Lausanne.

»Salut Luc. Es hat leider eine unerwartete Änderung gegeben. Die Lieferung kommt nicht nach Lausanne, sondern ins Verteilzentrum nach Aarau.«

»Meyer, bitte, spar dir die Witze, ich bin jetzt schon zu spät.«

»Glaub mir, ich wüsste selber gerne, was da wieder vor sich geht. Die erteilen seit neustem Befehle ohne Begründung, was will ich machen? Grosskunde, kann sich alles erlauben, wir kuschen, oder er lässt sich die Ware von den Spaniern liefern und wir sind raus aus dem Geschäft. Dann ist fertig mit gemütlich Radieschen rumkutschieren. Dann heisst es Adios Spanien und Adieu schönes Frankreich.«

»Meyer«, unterbrach Luc, »ich habe den Sinn der Rede bereits verstanden: Ab nach Aarau und bloss um Himmels Willen keine Fragen stellen.«

»So in etwa«, lachte der Disponent und verabschiedete sich, nur um sich gleich darauf mit einem kräftigen Räuspern wieder anzukündigen: »Was ich dir noch nicht gesagt habe: Die Ladung muss morgen früh um sieben Uhr im Verteilzentrum sein.«

»Um sieben?«

»Das geht schon irgendwie«, meinte Meyer, worauf ihm Luc vorrechnete, dass er mit korrekter Einhaltung der Ruhezeit unmöglich vor zehn Uhr ankomme.

»Meyer, überleg zuerst. Das hilft auch bei dir.«

»Was soll ich denn tun?«, fragte dieser in unvorteilhaft erhöhter Tonlage.

Luc trommelte mit den Fingern einen ungeduldigen Wirbel auf das Lenkrad. Der Verkehr floss nachmittäglich ruhig vor sich hin, die Strasse stieg leicht an, das Getriebe schaltete in den vierten Gang, der Tempomat hielt den Lkw bei konstant 93 Stundenkilometern. Draussen zog die spätsommerliche Landschaft Südfrankreichs vorbei, einzelne Plattenbauten verunstalteten das ansonsten romantische Bild. Luc strich sich über den kahlgeschorenen, von der Sonne gebräunten Kopf, zog mit Daumen und Zeigefinger die Augenbrauen auseinander und streckte, so gut es eben ging, die Beine in der engen Führerkabine. Murmelnd sang er den Refrain ›Hoy día luna … día pena‹.

»Es gibt keine Lösung«, meldete sich Meyer mehr fragend als feststellend zurück. »Wir sind ein Team, wir müssen zusammenarbeiten.«

»Das fällt dir immer genau dann ein, wenn es zu deinem Vorteil ist.«

»Wir hätten einen Platz für dich in der Zentrale, das weisst du; Leute wie du sind gefragt.«

»Aber ich fahre lieber durch den Süden und lasse mich von dir schikanieren. Und wenn es bei euch Probleme gibt …«

»Musst du uns helfen. Dafür lieben wir dich … vor allem die Frauen.«

Beide lachten; Luc laut, Meyer nasal.

Er fuhr durch den Forêt du Rochefort, einen Wald aus kurzen knorrigen Bäumen, die auf dem kalkigen Untergrund denkbar schlechte Wachstumsbedingungen vorfanden. Für ihn war das ein Dickicht, kein Wald. Wie auch die Hügel, die hier als Berge durchgingen. Es kommt eben auf den Standpunkt an, dachte er, während am Horizont das blaue Schild mit der Aufschrift Aire de Tavel Sud auftauchte. Luc nahm den Dialog mit dem Disponenten wieder auf: »Ich fahre auf der A49 über Annecy nach Genf, so sollte ich vor zweiundzwanzig Uhr in Lausanne ankommen.«

»Nur, wenn du die Fahrzeit überschreitest.«

»Ich manipuliere den Fahrtenschreiber.«

»Das ist riskant.«

»Du bist der Disponent, du entscheidest, was zu tun ist.«

Er setzte den Blinker und steuerte den Sattelschlepper in die Ausfahrt zur Aire de Tavel. Der Lastzug rollte rechts an der Tankstelle vorbei zum Parkplatz der Fernfahrer. Neben einem Autotransporter fand Luc einen freien Platz, den letzten in der Reihe, nur eine Ausfahrtspur trennte ihn vom Pinienwäldchen, wo abends kecke Studentinnen aus Avignon mit wenig Aufwand zu Geld kamen.

Mit einem knurrenden Geräusch starb der Motor. Luc rieb sich die Handflächen und hielt sie auf die Augen. Eine schläfrige Mattigkeit befiel ihn. Er hob die Fersen, bis nur noch die Zehenspitzen den mit einer Gummimatte bedeckten Boden berührten, hielt die Position einige Sekunden und senkte die Füsse langsam wieder ab. Anschliessend massierte er sich die Kopfhaut, das erfrischte und entspannte.

Die Tonfolge erklang. Meyer erklärte, dass er beim Kunden nachgebohrt habe, er könne nichts machen. Stur wie Steinböcke.

»Das heisst?«

»Den Fahrtenschreiber bearbeiten.«

»Du hast Nerven! Ehrliche Bürger in die Kriminalität treiben! Du machst dir dein Leben auch nicht komplizierter als nötig.«

»Das hast du selber vorgeschlagen.«

»Es ist ein Risiko. Und Stress. Das hat seinen Preis, wie alles in der Welt … Aber du kennst mich ja, ich bin bescheiden und begnüge mich mit einem freien Tag«, erklärte Luc und ergänzte seine Forderung mit einer Ermahnung: »Geben und Nehmen, Meyer, nicht nur nehmen! Wir sind hier nicht bei den Plünderern.«

»Elender Erpresser«, murrte der Disponent, willigte aber dennoch ein, denn seine Existenz hing von der Zufriedenheit dieses einen Grosskunden ab. »Lass dich nicht erwischen. Übrigens nennt sich das Ausbeuter, nicht Plünderer.«

»Danke der Belehrung, mein ›Ausbeuter‹. Grüss die Familie.«

»Werde es ausrichten«, meinte Meyer und schloss die Verbindung zu Lkw Nr. 89. An seinem Desk begann das grüne Lämpchen zu blinken; der nächste Kunde mit dringendem Problem. Meyer hob die Füsse auf den Schredder und lehnte sich in den Bürostuhl, bis er beinahe waagrecht lag. »So ein Drecksjob«, fluchte er und bewunderte Luc, der sich gewisse Freiheiten bewahrte. Ist eben klüger als ich, dachte er. Dafür geschieden, frisst die Emotionen in sich hinein und sieht seine Tochter jedes dritte Wochenende. Alles kann keiner haben.

Luc stieg die drei Tritte von der Fahrerkabine hinunter, schloss die Tür und ging quer über den Parkplatz auf die Autobahnraststätte zu. Seine Bewegungen waren zielgerichtet und kompakt, eine Folge der knallharten Trainingseinheiten, die er bei der Wasserballmannschaft des CN Lausanne absolviert hatte. Vor dem Restaurant rollte er die Enden seiner blauen Arbeitshose hinunter, strich das T-Shirt glatt und prüfte sein Handy. Keine Nachrichten. Durch eine Drehtür gelangte er in den Eingangsbereich, von dort marschierte er durch das geräumige Restaurant in die Bar.

»Ah, Luc, lange nicht mehr gesehen«, begrüsste ihn Daciana und fragte mit einem Wimpernaufschlag nach seinen Wünschen.

»Wie immer, Schätzchen.«

»Mit oder ohne Heiratsantrag?«

»Das nächste Mal überleg ich es mir – diesmal lieber ohne«, antwortete er und setzte sich breitbeinig auf den Hocker. »Daciana, Täubchen, du bist doch bereits verheiratet, mit diesem Zwerg … wie hiess er noch?«

»Den Namen? Habe ich eben vergessen, wie immer, wenn ich die Glut in deinen Augen sehe«, erwiderte Daciana lachend und wendete sich einem Sandwich zu, das sie mit Salatblättern und gelbem Käse belegte. Als sie fertig war, klappte sie die obere Baguettehälfte ein und umwickelte es mit Plastikfolie.

»Wie lange bist du eigentlich geschieden, Luc?«

»Wie lange? Bald drei Jahre … wie die Zeit vergeht. Schon drei ganze Jahre.«

»Ein Mann wie du sollte wieder heiraten. Glaub mir, es wäre gut für dich. Denk an deine Tochter.«

2

Thierry Rodenbach klammerte sich ans Lenkrad und schnaubte. Weder Zureden noch dosiertes Anschreien vermochten Juliette zu beruhigen, im Gegenteil: Sie wurde schriller, sie riss ihn am Arm. Thierry versuchte zu deeskalieren und schwor, das Handy, das sie in seiner Jackentasche entdeckt hatte, sei nicht, um sie zu betrügen. Auf gar keinen Fall.

»Diese Zeiten sind vorüber! Meine Mutter hat es mir geschenkt, damit sie mich wegen ihrer gesundheitlichen Probleme kontaktieren kann. Es ist alles in allerbester Ordnung!«

»Gesundheitliche Probleme«, keifte Juliette, »die rennt doch dauernd durch die Gegend und irgendwelche Berge hoch. Deine Hilfe braucht sie gewiss nicht. Ein Muttersöhnchen bist du, nichts anderes, noch mit siebenundzwanzig Jahren hängst du an ihrem Rockzipfel.«

»Halt den Mund«, zischte Thierry und biss die Zähne zusammen.

»Ich lass mich nicht mehr von dir belügen«, schrie Juliette und riss so stark an seinem Arm, dass er beinahe den Lieferwagen schrammte, den er gerade überholte.

»Lass meinen verdammten Arm los! Ich bin beinahe in den Lieferwagen gefahren! Juliette, bitte, beruhige dich«, bat er mit gepresster Stimme.

Sie schwieg.

Thierry räusperte sich und gestand, er habe das Handy benutzt, um mit einer ehemaligen Schulkollegin zu telefonieren.

»Daran«, jetzt brüllte er, »bist du mit deiner verdammten Kontrollsucht schuld … Du! Niemand sonst, nur du!«

Er drückte auf das Gaspedal und raste an einem Sattelschlepper vorbei, lenkte seinen Mercedes SLK 250 aggressiv zurück auf die rechte Spur und verlangsamte. Der Lkw-Fahrer hupte und blendete Thierry durch den Rückspiegel mit Fernlicht.

»Nicht einmal richtig Autofahren kannst du! Nicht mal das.«

»Es reicht jetzt, Juliette. Bei der nächsten Gelegenheit fahre ich raus, dann fährst du! Dann ist fertig, Schluss und aus mit rummeckern.«

»Gut. Fahr raus. Diesel ist auch alle.«

»Benzin, verdammt noch mal!«

»Mir doch egal, der Zeiger ist unten, das heisst: Zapfsäule.«

»Du hättest tatsächlich Diesel reingelassen?«

»Warum nicht?«

»Weil der Motor kaputtgeht, darum.«

»Um den Motor kümmerst du dich, auch um deine Mutter. Nur ich bin dir scheissegal, mit mir machst du, was du willst … Und um die verdammte Schulfreundin, um die kümmerst du dich anscheinend ganz besonders.«

»Lass die jetzt mal aus dem Spiel«, knurrte Thierry. Sie war nahe an der roten Linie, die sie besser nicht überschritt.

»Da, Aire de Tavel, fahr raus!«

Nach einer Pause fuhr Juliette entschuldigend fort: »Tut mir leid, ehrlich, Thierry, ich bin zu weit gegangen. Das lange Sitzen, das macht mich ganz konfus. Es passiert einfach, das Streiten. Es ist so nervtötend langweilig als Beifahrerin.«

»Danach fährst du … Bitte.«

»Einverstanden. Lass uns ein wenig die Füsse vertreten, ein Zigarettchen rauchen. Das beruhigt uns.«

»Das beruhigt dich«, murrte Thierry, »ich habe mich im Griff.«

Juliette bedachte ihn mit einem eisigen Blick.

Sicherheitshalber hielt er den Mund und fuhr vor die Tankstelle Nummer sieben, stieg aus und ging, seinen Sportwagen begutachtend, an die Zapfsäule. Der Benzinschlauch klemmte, wütend zog er am Stutzen und steckte ihn in die Tanköffnung. Das Benzin gurgelte in die Tiefe, während oberhalb der Zapfsäule ein drehendes Rädchen fröhlich die Liter zählte. Juliette liess das Fenster hinunter. »Kaufst du mir bitte eine Cola und einen griechischen Salat? Etwas in der Art. Ich fahre schon mal auf den Parkplatz hinter dem Restaurant, da gibt es ein paar hübsche Tische unter den Bäumen.«

Thierry steckte den Stutzen zurück und klappte den Tankdeckel zu. Auf dem Weg zum Shop hörte er, wie der getunte Motor des Mercedes aufheulte und Reifen quietschten. Er sprang instinktiv zur Seite, Juliette raste hupend an ihm vorbei, warf seine Tasche mitsamt Jacke aus dem Fenster und schrie etwas Gemeines, das glücklicherweise im Gebrause der Autobahn unterging.

»Juliette!« Er rannte fuchtelnd dem Wagen hinterher. »Du verdammte Hure. Ich bring dich um! Aber sicher!«

Wenigstens die Tasche hat sie mir gelassen, dachte er und ungewollte Dankbarkeit erfüllte ihn. Er klemmte sie unter den Arm und ging quer über den Parkplatz zum Restaurant. Dort setzte er sich an die Bar und hörte, wie die Bedienung einen glatzköpfigen Fernfahrer fragte, ob er sie heiraten wolle, was ihm sichtlich schmeichelte, obwohl ihm klar sein musste, dass sie mit ihm spielte. Alle spielen mit ihren Männern, dachte Thierry, die unheimliche Macht der Frauen, und wir trotten ihnen zwanghaft nach.

Er klopfte mit den Knöcheln dreimal auf die Theke. Die Bedienung hob abwehrend die Hand. Er klopfte erneut, diesmal energischer. Der Fahrer wendete sich ihm zu und fragte nach dem Grund der Ungeduld. Ob was Besonderes vorliege?

»Eigentlich nicht«, erwiderte Thierry, »nein, überhaupt nicht, alles bestens.«

»Dann ist ja gut.«

»Gut ist gar nichts«, meinte Thierry und orderte ein Bier. Er beobachtete die Bedienung beim Füllen des Glases. Sie stellte es hin, fragte nach weiteren Wünschen, Thierry verneinte, sie wendete sich von ihm ab und einer lärmigen Touristengruppe zu, die soeben die Theke ansteuerte.

»Gut ist gar nichts?«, nahm Luc das Gespräch wieder auf.

»Nein, nichts ist, wie es sein sollte«, knurrte Thierry mit auf die Theke geheftetem Blick. Daraufhin sassen beide stumm auf ihren Hockern und blickten gebeugten Rückens in das Bierglas, das sie in exakt demselben Abstand vor sich stehen hatten. Luc war unschlüssig, wie er den Mann in Jeans und enganliegendem rosa Hemd einschätzen sollte. Private Probleme oder psychisch auffällig? Auf der Flucht?

»Meine Freundin hat mich sitzen gelassen.«

»Aha.«

»Jetzt. Hier.«

Luc hob die Augenbrauen. Wie er das meine, fragte er und biss in sein Sandwich.

»Ja, wie wohl? Ich gehe die Tankfüllung bezahlen und sie fährt davon, auf Nimmerwiedersehen. Juliette heisst sie, ein Teufel, wenn sie wütend ist, und ein blonder Engel –, ach vergiss es.«

»Das nennt man wohl Unglück«, kommentierte Luc mit vollem Mund, wobei er eine gewisse Belustigung kaum verbergen konnte.

»Wenn es nicht so traurig wäre, müsste ich selber lachen.« Thierry drehte sich auf seinem Hocker und fragte Luc nach dem Namen.

»Luc.«

»Gut, Luc, freut mich, Thierry ist mein Name, Thierry Rodenbach, ich wohne in Archamps, direkt an der Schweizergrenze. Eigentlich aus Genf, aber die Mieten dort sind zu hoch. Offiziell bin ich sogar immer noch Genfer, wegen den Steuern, wohnhaft als Untermieter bei einer meiner Cousinen.«

»Erzählst du mir jetzt dein ganzes Leben?«

Thierry nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich den Schaum mit dem Handrücken von der Oberlippe. Herausfordernd blickte er Luc in die Augen: »Kein Problem, Luc, ich bin genervt, dann rede ich gelegentlich zu viel. Lassen wir das, alles in Ordnung.«

Sie sassen wieder stumm an der Theke und musterten sich aus den Augenwinkeln. »Wie kommst du jetzt nach Hause?«, fragte Luc beiläufig.

»Irgendwie.«

»Hast du Geld?«

»Klar.«

»Ich fahre nach Genf. Fünfzig Euro.«

»Halsabschneider.«

»Bei mir wachsen die Bäume nicht in den Himmel, ich habe eine Familie zu versorgen. Ausserdem werde ich gebüsst, wenn die Firma Wind bekommt. Ich fahre dich zum Autobahnkreuz A40/A41. Direkt neben Archamps, Hauslieferdienst, sozusagen.«

»Dreissig«, forderte Thierry.

»Fünfzig, Monsieur Rodenbach, damit kommst du gut weg, glaub mir.«

Schulterzuckend willigte Thierry ein, wegen den paar Euros stritt er nicht. »Wann fahren wir?«

Luc blickte auf seine handgefertigte Uhr: »In einer Dreiviertelstunde. Ich muss die Ruhezeiten einhalten.« Er beschrieb Thierry den weissen Sattelschlepper, der neben dem Wäldchen auf dem Parkplatz stand und wies ihn an, genau um fünfvorhalbvier an die Beifahrertür zu klopfen.

»Die Pause kommt mir gerade recht.«

»Siehst du.«

Luc zahlte, verabschiedete sich ungewohnt einsilbig von Daciana und verliess zügigen Schrittes die Bar, Thierry blieb sitzen und bestellte ein weiteres Bier, das er sogleich hinunterstürzte. Mehrmals sprach er Daciana an: »Sie kennen doch diesen Fahrer?«

Sie tat, als verstünde sie ihn nicht und mied den Augenkontakt; dieser Thierry war ihr suspekt, ein unstetes, irgendwie seltsames Temperament. Auf jeden Fall eigenartig. Luc hätte ihn besser stehengelassen. Sie biss auf einen Fingernagel und bereute, ihm ihre Befürchtungen verschwiegen zu haben.

3

Damit die Ruhezeiten den gesetzlichen Vorgaben entsprachen, schrieb Luc den Fahrtenschreiber mit Hilfe einer illegalen Software um. Die Autobahnpolizei liess sich problemlos überlisten, bei einer Analyse durch die IT-Experten am Zoll würde jedoch sofort ersichtlich, dass die Angaben gefälscht waren. Doch da seine Arbeitgeberin, die Transportfirma Caloche SA, etliche Mitarbeiter aus der Grenzregion beschäftigte, wurde er an den Kontrollstationen für gewöhnlich anstandslos durchgewinkt. Zumal bei einem Unfall von Früchten keine besondere Gefahr ausging, ganz im Gegensatz zu den Chemikalien, Sprengstoffen und anderen explosiven Ladungen, die täglich auf jämmerlichen Trucks kreuz und quer durch Europa gekarrt wurden.

Luc überprüfte die Eingaben und verschloss das Gerät. Anschliessend kippte er den Schaltknüppel zu Seite, stieg zwischen den Sitzen nach hinten, zog sich die Schuhe aus und legte sich auf das Ruhebett.

Ein Klopfen an der Beifahrertür schreckte ihn aus dem Schlaf. Luc rappelte sich hoch und sah auf die Uhr: Eine Viertelstunde zu früh. Es klopfte erneut. Er zwängte sich nach vorne und öffnete die Tür. Ein junger Mann schwang sich blitzschnell in die Kabine und hielt ihm die Mündung einer Pistole an die Schläfe.

»Auf den Fahrersitz, sofort!«

Luc tat, was der Fremde befahl.

»Hände weg von den Armaturen. Schön brav bleiben, dann geschieht nichts. Schön brav und keinerlei Dummheiten.«

»Ganz ruhig«, sagte Luc, während der lange, sehr dünne Mann über den Beifahrersitz auf das Ruhebett stieg, von wo aus er wieder die Pistole auf Lucs Kopf richtete. Mit heiserer Stimme verlangte er nach Spanngurten.

»Die sind im Werkzeugkasten. Der lässt sich nur von aussen öffnen.«

»Überleg dir gut, was du sagst!«

»Im Abteil über deinem Kopf … Vielleicht hat es da Ersatzgurten.«

Luc beobachtete aus den Augenwinkeln den jungen Mann, der sich mit spinnenartigen Bewegungen an den Stauraumabteilen zu schaffen machte. Er trug ein marineblaues Polo-Shirt mit der Aufschrift ›Camp David‹. Um seine Beine schlotterte eine schwarze Trainingshose, deren linkes Bein verschmutzt und auf Kniehöhe eingerissen war. Ein nervöser, bewaffneter Nordafrikaner, der nach Angst roch. Endlich fand er die Gurte. Er warf sie auf den Beifahrersitz und drohte: »Ich mache hier keine Spielchen, verstehst du? Mir ist egal, ob ich draufgehe, ich habe nichts zu verlieren. Ich drück ab. Einfach so, wie nichts.«

Vorsichtig legte Luc die Hände flach auf die Oberschenkel. »Gut so?«, fragte er und erhielt als Antwort einen Schlag ins Gesicht.

»Ich habe gesagt: ›Keine Spielchen!‹, verstanden?«

Luc nickte und folgte dem Befehl, die Spanngurte um sich zu legen. »So ist gut«, kommentierte der Entführer und fädelte das Ende in den dafür vorgesehenen Schlitz. Anschliessend zog er das Band mit der Metallratsche fest, bis es Luc tief in den Magen schnitt.

»Es schmerzt«, presste Luc zwischen zwei Atemzügen hervor und verzog das Gesicht. »So kann ich nicht fahren, unmöglich.«

Der Mann überlegte, schliesslich lockerte er die Fesselung, bis sich seine Geisel mit einem kehligen Seufzer entspannte. Dann zog er mehrmals ruckartig an der Ratsche, bis Luc vor Schmerzen aufschrie.

»Ich habe dich in der Hand … Verstehst du das?«

Lucs Halsschlagader trat dick und pumpend hervor; ihm war, als explodiere vom Druck des Blutes sein Schädel. Als der Mann die Gurte wieder lockerte, bedankte sich Luc, was der Entführer irritiert zur Kenntnis nahm.

Nun sassen beide schweigend in der Kabine. Luc vorne, die Hände am Lenkrad, der andere hinter ihm auf der Liege, die Pistole seitlich an der Nackenstütze angelegt. Er plante den nächsten Schritt, begann vor Überforderung zu husten und spuckte auf die Gummimatte.

»In meinem Lkw wird nicht gespuckt«, befahl Luc und war froh, die Stille durchbrochen zu haben.

Der Mann öffnete den Mund, um sich zu rechtfertigen, besann sich aber im letzten Moment. »Hier befehle ich!«, stellte er klar.

Luc begriff, dass er mit dem unberechenbaren Feind sprechen und sein Vertrauen gewinnen musste: »Ich heisse Luc Rapin, dreiunddreissig, und habe eine Tochter, achtjährig. Lara-Lea.«

»Was für ein idiotischer Name.«

»Sie spielt«, fuhr er unbeirrt fort, »immer noch gerne mit ihrem Plüschhund. Er heisst Rappi. Das Ding ist schon ganz zerfetzt, ein Ohr fehlt, aber geflickt haben will sie ihn auf gar keinen Fall.«

»Rappi«, lachte der Mann.

»Lara erwartet mich, sie braucht mich.«

»Mach, was ich sage, dann passiert nichts. Nimm mit niemandem Kontakt auf, Hände weg von den Armaturen … Erklär mir, was du tust; ich will wissen, was du tust!«

Luc drehte den Kopf und fasste den Mann ins Auge. Dieser wurde sogleich nervös, seine Augen weiteten sich schreckhaft, die Kaumuskeln zuckten unter der Haut der hageren Wangen, gesunde kräftige Zähne blitzten auf. Er ist eher verstört als bösartig, urteilte Luc. Einer, der zwar im falschesten Moment den Verstand verliert, ansonsten jedoch halbwegs normal zu sein scheint.

Ob er etwas fragen dürfe?

»Kommt drauf an«, sagte der Mann und drückte ihm wieder die Pistole an den Hals.

»Mich würde interessieren, was du vorhast.«

»Ich muss weg.«

»Dabei soll ich helfen?«

»Ich habe nichts zu verlieren.«

»Beruhige dich«, sagte Luc. »Du hast die Waffe, du hast die Macht. Ich will leben. Ich bin kein Held.«

»Ich habe nichts getan.«

»Das interessiert mich nicht.«

»Lügner! Du denkst, ich sei ein Terrorist.«

Luc zog die Schultern hoch und antwortete: »Ich wüsste gerne deinen Namen.«

Der Mann blickte ihn mit leicht geneigtem Kopf undurchschaubar an. Unterstrichen von einer ablehnenden Handbewegung sagte er schliesslich: »Kein Name.«

»Pas-de-Nom?«

»Halt den Mund, Jules.«

»Mein Name ist Luc, Monsieur Pas-de-Nom.«

»Jules, Luc, Martin … Was ist schon ein Name? Was bedeutet mir dein Name? Ich sag es dir: Nichts!«

Aziz verstummte und biss sich, während er nachzudenken versuchte, in die Unterlippe. In seinem Kopf hallten die Schüsse nach, er sah Menschen davonrennen, Schreie, ein weisses Hemd, das sich rot färbte. Die Holperstrecke entlang der Autobahn. Ein passender Name fiel ihm beim besten Willen nicht ein.

»Nenn mich einfach Aziz!«, befahl er mit seiner eigenartig heiseren Stimme.

Luc zeigte keine Reaktion. Nach einer Weile liess er gleichgültig verlauten, dass er froh sei, diesen Sachverhalt geklärt zu haben. Leiser Spott schwang mit. Aziz fragte sich, ob Luc gemerkt hatte, dass er ihm seinen richtigen Namen genannt hatte. Zur Ablenkung schaute er aus den Fenstern, nichts Auffälliges, auch in den Rückspiegeln war kein Mensch zu sehen.

Er fragte Luc nach der Route.

»Lausanne«, antwortete dieser, erleichtert, endlich etwas Vernünftiges zu reden.

»In die Schweiz?«

»Ja.«

»Gut, sehr gut sogar … Fahr los.«

»Ich kann so nicht fahren, das geht nicht. Stell dir vor, wir kommen in eine Kontrolle und ich bin am Sitz festgebunden. Dreimal darfst du raten, was passiert.«

»Das ist ein Problem«, erkannte Aziz.

»Du willst über die Grenze?«

Aziz nickte.

»Das ist gefährlich. Besser, du suchst dir einen Weg durch die Wälder. Ich lass dich vor der Grenze raus, das ist das kleinere Risiko für beide. Glaub mir, ich möchte morgen gerne zu Hause in meinem Bett erwachen … Verstehst du mich?«

Die nächsten Worte modulierte er betont wohlwollend ruhig, beinahe väterlich: »Du hast dein Leben vor dir, Aziz, und ich bin ein freiheitsliebender Mensch. Aziz, ich weiss nicht, wie du es hast, aber mir ist die Freiheit viel wert, sie bedeutet mir alles. Das sollte sie dir auch. Machen wir das Beste aus der Sache.«

»Fahr los, Luc – und hör auf mit dem Gelaber.«

»Die Gurte.«

Aziz klappte die beiden Metallteile auseinander, Luc atmete – nicht nur wegen des nachlassenden Drucks – erleichtert aus. Er richtete sich in seinem ergonomischen Sitz zurecht und legte sich die Sicherheitsgurte um, hinter ihm grinste Aziz: »Jetzt fesselst du dich aber selber!«

»Das kann man so sehen«, antwortete Luc und wertete den Lacher als ein gutes Signal für die bevorstehende Fahrt.

Der Motor startete, das Grollen der fünfhundert PS durchdrang brummend die schallgedämpfte Hülle der Fahrkabine.

»Warte!«

Luc hielt sich mit den Händen am Lenkrad und blickte nach hinten: »Du weisst auch nicht, was du willst. Mein Gott!«

»Wie weiss ich, ob du nicht die Polizei alarmierst?«

Luc hob die Schultern.

»Ich will, dass du mir alles erklärst, bevor du etwas tust! Damit ich Bescheid weiss. Verstanden?«

»Das macht durchaus Sinn«, antwortete Luc, sorgfältig darauf bedacht, ein Gefühl des Vertrauens zu vermitteln. Er überlegte kurz, wandte Aziz das Gesicht zu und schlug vor, dass er, sobald sie auf die Autobahn gelangten, nach vorne komme und es sich wie ein ganz gewöhnlicher Mitfahrer auf dem Beifahrersitz bequem mache.

»Ich erklär dir alles und so oft du willst.«

»Einverstanden«, erwiderte Aziz nach einigem Bedenken. »Du scheinst ein vernünftiger Mann zu sein.«

»Davon kannst du ausgehen.«