Das Rosie-Resultat - Graeme Simsion - E-Book
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Das Rosie-Resultat E-Book

Graeme Simsion

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Beschreibung

Nach den Nr.1-Bestsellern "Das Rosie-Projekt" und "Der Rosie-Effekt" geht es wundervoll weiter: Don Tillman, der Ehemann von Rosie und Nerd mit Herz, steht vor seinem größten Projekt. Hudson, Don und Rosies Sohn, ist elf. In der Schule gilt er als Besserwisser, den keiner mag – ein richtiger Außenseiter. Auftritt Don: In dieser Frage ist er Experte, denn er hat schon sein ganzes Leben lang erfahren, was es heißt, Außenseiter zu sein. Und jetzt wird er Hudson seine Lösungen beibringen. In seinem Eifer zu helfen, sorgt Don für einiges Chaos. Und Hudson hat durchaus eigene Ideen, was ihm guttun könnte. Die Suche nach dem Glück führt zu überraschenden Resultaten … Ein bewegender Familienroman, der große Fragen humorvoll stellt: Wie offen bin ich für Menschen, die anders sind? "Temporeich, unterhaltsam, ehrlich und warmherzig." The Guardian

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Graeme Simsion

Das Rosie-Resultat

Roman

Aus dem australischen Englisch von Annette Hahn

FISCHER E-Books

Für die vielen Menschen mit Autismus

und deren Angehörige,

ohne deren Inspiration und Hilfe

es keine Rosie-Bücher gäbe.

 

 

 

Wir alle sind Sonderfälle.

Albert Camus

Kapitel 1

Ich stand einbeinig in der Küche beim Austern-Auslösen, als die Probleme begannen.

Als Naturwissenschaftler wusste ich um die menschliche Neigung, in allem, was einem geschieht, nicht vorhandene Muster erkennen zu wollen, sonst wäre ich vielleicht zu dem Schluss gelangt, ich würde von irgendeiner Gottheit für frevelhaften Stolz bestraft.

An jenem Nachmittag war ich beim Ausfüllen meines Leistungsbeurteilungsbogens mit folgender Frage konfrontiert worden: Was betrachten Sie als Ihre größte(n) Stärke(n)?

Die Fragestellung war ungenau, denn es fehlten Kontext und Vergleichsgrößen. »Fachkenntnis der Genetik« wäre die offensichtliche Antwort gewesen, aber dies war durch meinen Titel Professor für Genetik bereits impliziert. Allerdings waren meine Kenntnisse der genetischen Bedingungen für myxoides Liposarkom über kurz oder lang von nur noch geringer Relevanz, da mein diesbezügliches Forschungsprojekt bald endete. »Intelligenz und Objektivität« hätten angedeutet, dass ich andere Akademiker in dieser Hinsicht als unzureichend erachtete, was zwar stimmte, zu erwähnen aber taktlos gewesen wäre. Und Taktlosigkeit galt es meiner Erfahrung nach zu vermeiden.

Als Rosie nach Hause kam, suchte ich immer noch nach einer Antwort.

»Was machst du im Schlafanzug?«, wollte sie wissen.

»Ich bereite unser Abendessen zu. Und multitaske, indem ich dabei eine Problemlösung suche und einbeinige Kniebeugen mache.«

»Ich meine: Warum bist du im Schlafanzug?«

»Es gab einen minderschweren Kochunfall mit einer explodierenden Esskastanie. Ich wollte das Garen durch erhöhte Temperatur beschleunigen. Daher auch die Ölspritzer auf diversen Oberflächen.« Ich deutete zur Decke. »Meine Kleidung war ebenfalls betroffen. Um weiteren Zeitverlust zu vermeiden, wählte ich anstelle einer Zwischenlösung gleich mein Nachtgewand.«

»Du hast aber nicht vergessen, dass Dave und Sonia zum Essen kommen?«

»Natürlich nicht. Es ist der zweite Mittwoch im Monat – der Tag, an dem ich auch den Kopf meiner elektrischen Zahnbürste wechsle.«

Rosie imitierte meine Stimme – ein Zeichen, dass sie guter Laune war: »Gäste … Schlafanzug … keine passende Kombination.«

»Dave und Sonia kennen mich bereits im Schlafanzug. Auf unserer Reise nach Cape Canaveral …«

»Herrje, erinnere mich bloß nicht daran.«

»Falls noch Zeit zum Umziehen bleibt, würde ich diese lieber meinem Leistungsbeurteilungsbogen widmen.« Ich erläuterte das Problem.

»Schreib doch einfach, was du letztes Jahr geschrieben hast.«

»Letztes Jahr habe ich das Papier nicht ausgefüllt. Und vorletztes auch nicht. Und vorvor…«

»Du bist zwölf Jahre an der Columbia und musstest noch nie eine Leistungsbeurteilung abgeben?«

»Es gab immer Wichtigeres zu erledigen. Leider besteht David Borenstein in diesem Jahr darauf. Wenn der Bogen morgen nicht auf seinem Tisch liegt, hat er mit einer nicht näher definierten Sanktion gedroht.«

»Und jetzt hängst du an der Frage zu deinen Stärken fest?«

»Korrekt.«

»Schreib einfach ›Problemlösen‹. Eine gute Antwort, die sich in keinem Fall rächt. Wenn du nicht herausfindest, wie man Krebs heilt, wird keiner von denen sagen: ›Aber angeblich sind Sie doch gut im Problemlösen.‹«

»Hast du diese Frage eigentlich auch schon mal beantworten müssen?«

»Ach, ich weiß schon gar nicht mehr wie oft allein im letzten Monat.«

Rosies laufendes medizinisches Forschungsprojekt neigte sich ebenfalls dem Ende zu, und sie war auf der Suche nach einer Stelle mit mehr Verantwortung. Bei den meisten Ausschreibungen wurde jedoch auch klinische Arbeit erwartet. Und ihrer eigenen Einschätzung nach war sie zwar eine gute Wissenschaftlerin, aber eine miserable Ärztin. »Warum soll ich Zeit mit Zeug verschwenden, in dem ich nicht gut bin?«, argumentierte sie, und zwar mit derselben Logik, die ich angewandt hatte, um meine Leistungsbeurteilung nicht auszufüllen.

»Und was hast du geschrieben?«, fragte ich. »Problemlösen?«

»Normalerweise schreibe ich ›Teamfähigkeit‹, aber in deinem Fall …«

»… könnte sich das rächen.«

Rosie lachte. »Pass auf: Ich fülle deinen Bogen aus, und du hast Zeit, dir was Anständiges anzuziehen. Das nennt man Teamwork.« Offenbar bemerkte sie meinen Gesichtsausdruck. »Wenn ich fertig bin, darfst du natürlich noch mal drüberschauen.«

Während ich die restlichen Austern öffnete, dachte ich über Rosies Vorschlag nach. Wie schön, dass meine Lebensgefährtin eine Eigenschaft an mir erkannte, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Ich war in der Tat gut im Problemlösen.

Ich analysierte und reagierte auf Situationen auf meine eigene Weise. Für manche mochte mein Ansatz wunderlich sein, ich betrachtete ihn jedoch als Vorteil. In den fünfundzwanzig Jahren meiner Berufslaufbahn hatte er mir dabei geholfen, die üblichen Hindernisse zu überwinden und hin und wieder Großes anzustoßen. Außerdem verschaffte er mir auch im Privatleben Vorteile.

Als ich mit zwanzig Informatik studierte, war ich sozial inkompetent, und zwar sogar gemessen an den anderen gleichaltrigen Studenten meiner Fachrichtung, und eine Freundin zu finden konnte ich vergessen.

Jetzt, mit einundfünfzig, hatte ich – vor allem dank meiner besonderen Problemlösetechniken – einen stimulierenden und gutbezahlten Job, war mit der schönsten Frau der Welt verheiratet (Rosie), die zu mir passte wie keine andere, sowie Vater eines fröhlichen und begabten zehnjährigen Sohnes (Hudson), der mittlerweile ebenfalls Anzeichen zeigte, beim Problemlösen innovative Wege zu beschreiten.

Ich hatte unter fünfundsechzig Kandidaten Rosies biologischen Vater identifiziert, das Kühlgeräteunternehmen meines Freundes Dave vor dem Bankrott gerettet und nach ausgiebiger Analyse der Kundenpräferenzen in der Bar, in der Rosie und ich stundenweise arbeiteten, einen Cocktail kreiert, der sogar einen Preis gewonnen hatte.

Mein Gesundheitszustand war ausgezeichnet, was unter anderem am regelmäßigen Kampfkunsttraining lag sowie einem individuellen Fitnessprogramm, das ich in andere Tätigkeiten integrierte. Zudem gab mir ein Männergesprächskreis, dem außer mir und Dave noch George angehörte, ein Ex-Musiker im Ruhestand, psychologische Unterstützung.

Im Verlauf unserer zwölfjährigen Ehe hatten wir auf kreative Weise zu einem Modus gefunden, der Rosies Bedürfnis nach Spontaneität befriedigte, ohne die Effizienz der Abläufe ungebührlich zu beeinträchtigen. Zwar hätte ich gern mehr Sex gehabt, aber hinsichtlich Alter und Beziehungsdauer lag unsere Frequenz über dem Durchschnitt und war definitiv höher als vor meiner Beziehung zu Rosie.

Der einzige signifikante Makel in meinem Leben war der Verlust der langjährigen Freundschaft zu meinem früheren Mentor Gene. Doch selbst damit hatte die Kurve meiner Zufriedenheit mit dem Leben einen Höhepunkt erreicht.

Ich widmete mich einer Auster, bei der ich bisher keine geeignete Öffnung für mein Austernmesser gefunden hatte. In der untersten Schublade befand sich allerlei Werkzeug einschließlich einer Zange. Damit konnte ich ohne weiteres ein Stück des Muschelrands abbrechen, um dort das Messer einzuführen. Ich gestattete mir einen Moment der Zufriedenheit. Don Tillman: weltbester Problemlöser.

Rosie kehrte mit meinem Laptop zurück. »Was soll ich bei Bereiche, in denen ich mich weiterentwickeln möchte eintragen? Ich hab mal ›Modebewusstsein‹ geschrieben …«

»Etwa wegen des Schlafanzugs? Aber ins Labor gehe ich nie im …«

»Don, das war nur Spaß. Allerdings wäre beim Thema Mode in der Tat noch Luft nach oben … Sind das Bergsteigersocken, die du da anhast?«

»Multifunktionssocken. Extrem warm.«

Gemäß der Gepflogenheit, Menschen beim Gespräch anzusehen, wandte ich meinen Kopf zu Rosie, die hinter mir stand. Gleichzeitig ging ich einbeinig in eine tiefe Kniebeuge, um mit der rechten Hand an die Werkzeugschublade zu gelangen. Dabei streckte ich das in der Luft befindliche Bein weit nach hinten, um das belastete Schienbein empfehlungsgemäß in möglichst vertikaler Stellung zu belassen. Die Auster und das Messer hielt ich in der linken Hand.

Als ich blind in die Schublade griff, fühlte ich etwas Klebriges. Im Nachhinein war die Sachlage einwandfrei nachvollziehbar. Rosie hatte Hudson gebeten, seine Frühstückssachen nach der Benutzung wegzuräumen. Dabei musste er den Ahornsirup versehentlich unverschlossen und auf der Seite liegend in der falschen Schublade verstaut haben.

Im Reflex zog ich meine Hand abrupt zurück. Als Folge davon verlor ich mein Gleichgewicht.

Meinen hochgereckten Fuß auf den Boden zu stellen, wäre die beste Lösung gewesen, aber ich wollte eine Übung nicht so unsportlich abbrechen. Und so griff ich nach einer anderen Schublade, die naturgemäß keinen festen Halt bot. Möglicherweise waren infolge der Esskastanienexplosion die Fliesen auch noch rutschiger als sonst. Jedenfalls stürzte ich zu Boden.

Rosie lachte auf. »So viel zu Multitasking«, sagte sie. »An dem könntest du auch noch arbeiten.« Dann: »Oh, Scheiße, du bist verletzt!«

Rosies Diagnose war korrekt. Das Austernmesser steckte in meiner Kniekehle. Sie kniete sich neben mich, um die Wunde zu begutachten.

»Nicht bewegen!« Hudson stand in der Tür, ebenfalls im Schlafanzug, wie immer mittwochs nach der Schule.

»Schon gut«, sagte Rosie. »Die Wirbelsäule ist unverletzt.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Hudson.

»Ich bin Ärztin, schon vergessen?«

Das Messer steckte ziemlich tief, und auf dem Boden bildete sich eine Blutlache.

»Wir müssen den Notarzt rufen«, sagte Hudson.

»Ausgezeichnete Idee«, sagte ich.

»Wo ist dein Handy?«, fragte Rosie.

»In meiner Gürteltasche. Ich liege drauf.«

»Nicht bewegen!«, rief Hudson erneut und stellte sich zwischen Rosie und mich.

»Können wir dein Handy benutzen?«, fragte ich Rosie.

»Hudson, schau in meine Handtasche.«

»Versprichst du, ihn nicht zu bewegen?«

»Versprochen. Hol mir das Handy.«

»Wahrscheinlich werden sie mich ins Krankenhaus bringen«, sagte ich. »Aber die Auster ist danach bestimmt so weit entspannt, dass sie auf konventionellem Weg geöffnet werden kann.«

»Jetzt vergiss mal das Essen, Don.«

»Du musst den Beurteilungsbogen abgeben. Morgen ist …«

Hudson kehrte mit Rosies Handy zurück. Sie tippte darauf herum und sagte: »Ich fass es nicht.« Ich nahm an, dass der Akku leer war.

Zum Glück klingelte es jetzt an der Tür. Dave und Sonia waren selbständiger Unternehmer respektive kompetente Buchhalterin. Somit war davon auszugehen, dass mindestens einer von ihnen ein funktionstüchtiges Mobiltelefon dabeihatte. Hudson betätigte den Türöffner.

Sonia reagierte erwartungsgemäß hysterisch, kritisch und praktisch. »Oh, mein Gott, war doch klar, dass das eines Tages so kommen musste. Nach der Arbeit sofort an den Herd, das kann nicht gutgehen. Kannst du dich bewegen?«

»Das Thema hatten wir schon«, sagte Rosie. »Ruf einfach den Notarzt.«

»Bin schon dabei«, sagte Dave. »Ist das in deinem Sinne, Don?«

»Korrekt.«

Rosie starrte wieder auf ihr Handy.

»Alles okay?«, wollte Sonia von ihr wissen. Angesichts der Situation eine seltsame Frage, fand ich.

»Ich habe die Stelle gekriegt.« Rosie wiederholte den Satz lauter und begann zu weinen. »Ich habe die Stelle gekriegt. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich die kriege.«

»Welche Stelle?« Ich sah zu ihr hoch.

»Bei Judas.« Judas war Professor Simon Lefebvre, ein ehemaliger Kollege in Australien, der, bis er untreu wurde, einige Jahre lang mit unserer Freundin Claudia »zusammen« war.

»Judas kommt nach New York?«

»Nein, die Stelle ist in Melbourne. Ich wusste, dass du mir nicht zuhörst …«

Vermutlich hatte ich sehr wohl zugehört, die Details zu Personen und Orten dann aber zugunsten wichtiger Informationen vernachlässigt. Ich freute mich trotzdem für Rosie. Jetzt war mal sie mit ihrer Karriere an der Reihe, nachdem bisher sie die Hauptverantwortung für Hudsons Erziehung übernommen hatte. Und ich würde mir eine andere Stelle suchen.

»Ist das ein Problem?«, fragte Rosie.

»Natürlich nicht. Hervorragende Neuigkeit. Und ich brauche die Leistungsbeurteilung nicht mehr auszufüllen. Wir sollten darauf anstoßen. Jetzt gleich.«

Rosie schüttelte immer noch ungläubig den Kopf.

Ihr Erfolg machte den Schmerz in meiner Kniekehle mehr als wett. Die Lebenszufriedenheitskurve stieg wieder an. Es sollte das vorerst letzte Mal sein.

Im Türrahmen stand Hudson und fasste sich mit beiden Händen an den Kopf.

Vielleicht lag es an meiner ungewöhnlichen Perspektive vom Boden aus, kombiniert mit der Tatsache, dass Hudson seinen Schlafanzug anhatte, aber mir fiel plötzlich auf, wie groß er geworden war, und dabei sah er noch so jung aus. Dunkles, für seine Altersgruppe unüblich langes Haar und ein schwarzes Brillengestell – mein Alter Ego im Alter von zehn. Und er war auch genauso verzweifelt wie ich damals.

Es wurde still in der Küche, und alle sahen ihn an.

»Alles in Ordnung, Hudson?«, fragte Sonia.

»Nein. Ich will nicht nach Australien. Ich will auf keine andere Schule. Es soll alles so bleiben wie es ist.«

Kapitel 2

Im darauffolgenden Juni hatte sich unsere Lebenssituation radikal verändert. Unser Wohnsitz befand sich nun im »hippen« Melbourner Stadtteil Northcote, nur wenige Fahrradminuten von der Universität entfernt, mit Gartennutzung, Garage und ausreichend Platz für Hudsons Science-Fiction-Romansammlung, die sich von seinem Zimmer bis in den Flur erstreckte.

Meine Kniesehne heilte, Rosie arbeitete für Judas und ich als Professor für Genetik, und Hudson ging zur Schule. So weit hatte sich alles innerhalb der geplanten Möglichkeiten gut entwickelt.

Allerdings zeichneten sich folgende – hinsichtlich ihrer Gewichtung aufsteigend sortierte – fünf neue Probleme ab:

 

1. Krebsheilung.

In meinem neuen Job als Professor für Genetik arbeitete ich an einem Forschungsprojekt mit, in dem individualisierte Ansätze zur Krebsbehandlung ausgewertet wurden, die die genetische Veranlagung eines Patienten berücksichtigten. Es war potentiell wertvolle Arbeit, aber ich war unterqualifiziert. Den Projektleiter hatte mein Informatikdiplom beeindruckt, doch seit meinem Wechsel zur Genetik neunundzwanzig Jahre zuvor hatte sich im Bereich Informatik extrem viel getan. Mittlerweile hatte ich alle optionalen Aktivitäten inklusive Aikido und Karate eingestellt, um meine Wissenslücken zu schließen, allerdings beanspruchte das Online-Studium viel Zeit und intellektuelle Ressourcen, die ich eigentlich für ernstere Probleme benötigte.

Nachdem ich den Posten übernommen hatte, stellte ich fest, dass sich mein alter Physikerkollege Laszlo Hevesi ebenfalls beworben hatte. Er wäre für die Stelle perfekt gewesen, hatte im Bewerbungsgespräch jedoch vorhersehbar schlecht abgeschnitten. »Teamfähigkeit« oder »Modebewusstsein« gehörten sicher nicht zu seinen Stärken. Aber interessiert es einen Krebskranken, wenn seine Therapie von einem Mann entdeckt wird, der mit Fahrradhelm und Schutzbrille am Computer sitzt?

Zudem gab es auch einen persönlichen Aspekt. Mein Vater litt unter bereits fortgeschrittenem Krebs, und meine Mutter war froh, dass wir nach Australien zurückkehrten. Ich legte ihr aber dar, dass mein Vater verstorben sein würde, wenn die Ergebnisse meiner Forschung vielleicht eines Tages in der klinischen Praxis umgesetzt würden – wenn nicht krankheits-, dann altersbedingt.

Möglicherweise würde sich das Inkompetenzproblem meines Jobs aber durch das zweite Problem von allein lösen.

 

2. Der Genetikvorlesungseklat.

Aufgrund eines Einschätzungsfehlers meinerseits bestand die Gefahr der Entlassung. Mir stand ein Disziplinarverfahren bevor, und die Vorbereitung meiner Verteidigung hatte bereits einhundertzwanzig Stunden beansprucht, die Unterbrechungen meines Nachtschlafs nicht eingerechnet.

Rosies Lösungsvorschlag war radikal. »Scheiß drauf. Im privaten Sektor kannst du das Doppelte verdienen. Noch dazu ohne Vorlesungen.« Sie drängte mich zu der Bewerbung bei einer kleinen Firma für Genomchirurgie.

»Das wird dir gefallen«, sagte sie. »Von so was redest du doch immer; da könntest du es auch tun.«

»Ich verfüge nicht über die nötigen Kenntnisse.«

»Dann erwirbst du sie. Du sitzt doch ohnehin jeden Abend da und lernst was Neues.«

Das Bewerbungsgespräch verlief unerwartet gut. Meine etwa vierzigjährige potentielle Arbeitgeberin, Dang Minh, deren Enthusiasmus fast schon an Manie grenzte, zeigte mir das Labor und erklärte, die Firma würde bald in neue Räumlichkeiten mit modernerer Ausstattung umziehen.

»Wir werden die Welt verbessern. Jeden Tag scheinbar aussichtslose Probleme lösen. Wie können Sie nicht hier arbeiten wollen?«

Ich machte mir Sorgen, außerhalb der akademischen Welt beruflich und zwischenmenschlich an Boden zu verlieren, lautete die Antwort. Aber immerhin hatte ich offenbar Optionen. Im Gegensatz zu meinem Freund Dave.

 

3. Das Dave-Desaster.

Auch Dave hatte sich am Knie verletzt und konnte seinen Beruf als Ingenieur für Kühlsysteme derzeit nicht ausführen. Aufgrund des US-amerikanischen Gesundheitssystems oder seines Versäumnisses, eine Versicherung abzuschließen, war er in finanziellen Schwierigkeiten. Sonia, die vor kurzem zum zweiten Mal Mutter geworden war, hatte vorzeitig ihre Arbeit wiederaufnehmen müssen. Das bedeutete, dass nun Dave für die Versorgung der Kinder zuständig war, womit er sich nicht glücklich fühlte. Rosie hatte dafür kein Verständnis. »Sag ihm ›Willkommen im jahrhundertealten Club der Frauen!‹«

Daves Gewicht, das ungesund hoch war (geschätzter BMI bei unserer Abreise aus New York: fünfunddreißig), erschwerte die Genesung zusätzlich. Bei unseren wöchentlichen Skype-Gesprächen hatte ich ihm mehrfach nahegelegt, weniger zu essen und mehr Zeit in Rehabilitationsmaßnahmen zu investieren. Sein diesbezügliches Versagen schien auf ein mentales Problem hinzudeuten. Als Mitglied seines Männergesprächskreises musste ich eine Lösung finden.

 

4. Die Rosie-Kreuzigung.

Der Name dieses Problems war Rosies Idee, nach der berüchtigten Sexus-Plexus-Nexus-Trilogie von Henry Miller, die im Original allerdings »The Rosy Crucifixion« hieß, mit Y, weshalb mir die Verbindung nicht sofort klar gewesen war.

Rosie war eingestellt worden, um ein Forschungsprojekt zu Bipolaren Störungen zu leiten, das mit einer Pilotstudie beginnen sollte – der »Traumjob« und Anlass für unseren Wohnortwechsel. Nachdem Hudson jedoch wenige Monate nach unserem Umzug mit der schulischen Nachmittagsbetreuung seine Probleme hatte, reduzierte Rosie im Einvernehmen mit ihrem Vorgesetzten Judas ihre Stundenzahl, um Hudson an drei Nachmittagen pro Woche von der Schule abzuholen. Die übrigen zwei Tage übernahm Rosies Vater diesen Dienst.

Als dann der Förderantrag für das Hauptprojekt vorbereitet wurde, benutzte Judas Rosies Teilzeitstatus als Grund, um die Projektleitung jemand anderem zu übergeben.

»Er hat meinen Job gerade ohne jede Rücksprache an Stefan vergeben.«

»Du bist zurückgestuft worden?«

»Meine Festanstellung bleibt erhalten, aber ich bin aus der Projektleitung raus.«

»Also keine Verwaltungsarbeit mehr? Keine Förderausschüsse? Kein Sich-Herumschlagen mit Personalproblemen? All das, worüber du dich immer beschwert hast. Grandios! Wir sollten feiern!«

»Don, ich will die Projektleitung.«

»Dann sollten wir nach alternativen Möglichkeiten für Hudsons Nachmittagsbetreuung suchen, damit du wieder Vollzeit arbeiten kannst.«

»Nein. Hudson braucht nachmittags einen von uns. Und damit wären wir wieder beim Thema.« Ich war älter als Rosie und hatte immer in Vollzeit gearbeitet, deshalb lag mein Einkommen wesentlich höher. Wenn Rosie sich jetzt wieder um Hudson kümmerte, kam sie aus dem Teufelskreis nicht heraus.

Das Problem der Rosie-Kreuzigung stand nur deshalb an zweiter Stelle, weil ein noch wichtigerer Punkt im Glück unseres Kindes bestand.

 

5. Hudsons Eingewöhnungs- und Anpassungsproblem.

Hudsons Reaktion auf unseren Umzug war vorhersehbar gewesen. Genau wie ich, hatte auch er eine Aversion gegen Veränderungen. Es war ein rational nachvollziehbarer Widerstand gegen die Erfordernis, gut funktionierende Abläufe neu zu organisieren und zu optimieren. Auf Hudson wirkten Veränderungen – namentlich der Beginn von Kinderbetreuung, Vorschule und Schule – traumatisch.

Hudsons schulische Leistungen variierten. Mathe: exzellent; Sport: miserabel; Englisch: hervorragend; Handschrift: unlesbar; Naturwissenschaften: unterfordert; Kunst: eine Herausforderung. Zu Hause beschäftigte er sich fast ausschließlich mit Lesen.

In der Erwachsenenwelt ist die ungleichmäßige Ausprägung von Fähigkeiten vorteilhafter, als überall mittelmäßig zu sein. Ob eine Ärztin einen Ball mit einem Stock trifft oder den Weg in ihre Praxis ohne Beachtung der Straßennamen findet, spielt keine Rolle für die Ausübung ihres Berufs. In der Schule ist es dagegen ein Nachteil, etwas anderes als durchschnittlich zu sein – mit Ausnahme von Sport.

In Australien meldeten wir Hudson in einer Privatschule an, die gemäß meiner Tabellenkalkulation geringfügig besser abschnitt als die nächstgelegene staatliche Schule. Es war eine weiterführende Schule angeschlossen, sie warb mit einem besonderen Mathematikprogramm sowie damit, »Vielfalt zu begrüßen und zu fördern«.

Die Vielfalt schloss Mädchen mit ein – in Rosies Augen unabdingbar. »Ich will auf keinen Fall, dass er Frauen als eine andere Spezies betrachtet.«

Ich wies darauf hin, dass ich eine gemischte Schule besucht hatte und dennoch die Mehrheit aller Menschen als andersgeartete Spezies betrachtete.

»Das mag ja stimmen, aber zumindest hattest du die Chance, beide Geschlechter zu beobachten.«

Hudsons Schulbesuch in Australien hatte Anfang Oktober begonnen, im vierten Schulquartal des fünften Jahrgangs. Zunächst schien er die Wissensvermittlung zu genießen. Rosie machte sich Sorgen, weil er keine Freundschaften schloss, aber vermutlich nahm sie ihre eigenen sozialen Fähigkeiten als Maßstab. Hudson beschwerte sich lediglich über die Organisation des nachmittäglichen Freizeitprogramms – es wechselte von Tag zu Tag, ohne einsehbaren Stundenplan. Genau das führte schließlich zu Rosies Entscheidung, ihn mittags nach dem Unterricht abzuholen, und in der Folge zu den weiteren Ereignissen an ihrem Arbeitsplatz.

Doch acht Monate später, nachdem er die Hälfte seines letzten Grundschuljahres absolviert hatte, waren wir überzeugt, dass etwas nicht stimmte. Seine Zensuren hatten sich verschlechtert, und obwohl sein Zeugnis in der Gesamtbewertung vage blieb, las Rosie zwischen den Zeilen heraus, dass es ein Problem gab. Wir baten seinen Lehrer um ein Gespräch und wurden für den zwölften Tag des dritten Schulquartals einbestellt.

Laut Rosie hatte Hudson außerdem an mindestens drei Tagen Unwohlsein vorgetäuscht, um dem Unterricht fernzubleiben. Zu Hause hatte er auch einige Male wegen irgendeiner Kleinigkeit einen Wutanfall bekommen. Offenbar schlug er sich mit etwas herum. Ich wartete darauf, dass ich begreifen würde, was sich dahinter verbarg. Was immer es war – es hatte absolute Priorität.

Kapitel 3

An einem Freitagmorgen klingelte um 10.18 Uhr das Telefon. Rosie hatte unseren Sohn um 5.00 Uhr für eine dreitägige Skifreizeit zur Schule gebracht. Die Tage zuvor hatte er immer wieder davon geredet und schien sich darauf zu freuen.

Ich war zu Hause und bereitete mich gerade auf die Anhörung in meinem Disziplinarverfahren vor, die für den Nachmittag angesetzt war. Dazu rief ich mir noch einmal den Verlauf des ganzen Eklats ins Gedächtnis.

 

Der Eklat hatte sich in der letzten Vorlesung vor den Semesterferien ereignet. Ich hatte die vom Lehrplan vorgegebenen Inhalte bereits vierundzwanzig Minuten vor Vorlesungsende vermittelt und sah die Möglichkeit, die Empfehlung aus einem für mich obligatorischen Fortbildungsseminar für »fesselnderen« Unterrichtsstil umzusetzen, zu dem ich einmal verpflichtet worden war.

»Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«, erkundigte ich mich. Kollektives Einatmen, Applaus, leise Gespräche. Normalerweise ermunterte diese Frage die Studenten nur, individuelle Überlegungen vorzubringen, die für den Kurs selbst selten von Belang waren. Ich verzichtete daher auf Rückfragen und konnte in jeder Vorlesung das Maximum an Informationen vermitteln.

Eine Studentin, Anfang zwanzig, hob die Hand.

»Professor Tillman, glauben Sie, dass Rassenzugehörigkeit genetisch bedingt oder ein rein soziales Konstrukt ist?« Sie warf ihrer Nachbarin einen kurzen Blick zu, vermutlich um sich zu vergewissern, dass sie die Frage korrekt formuliert hatte.

»Das ist ein interessantes Thema, das allerdings außerhalb unseres Kursrahmes liegt und für die Prüfung daher nicht relevant ist.« Ich ging davon aus, dass die Diskussion damit beendet war, doch zu meiner Überraschung waren auch die anderen Kursteilnehmer an der Beantwortung der Frage interessiert. Exzellent.

Einleitend setzte ich mich mit der Formulierung der Frage auseinander. »Glauben« sei ein Wort, das in der Wissenschaft, wenn überhaupt, nur sparsam eingesetzt werden sollte. Während ich darüber, nicht zum ersten Mal, referierte, kam mir ein, wie ich fand, ausgezeichneter Einfall.

In der Welt gehört Melbourne zu den Städten mit der größten ethnischen Vielfalt, und die im Vorlesungssaal anwesenden Studierenden spiegelten das wider. Viele von ihnen studierten Genetik mit dem Ziel, sich später für Medizin einzuschreiben, übrigens ein beliebtes Berufsfeld für Migranten und deren Nachkommen sowie Studierende aus Übersee.

Ich erklärte, die Teilnahme am nachfolgenden Experiment sei freiwillig, und wählte dann archetypisch ausgeprägte Beispiele für die »drei großen Rassen« aus, wie sie im späten neunzehnten Jahrhundert beschrieben wurden: eine große schlanke Frau aus Ghana namens Beatrice, die – wie ich wusste – Ärztin werden wollte; den einzigen Skandinavier im Raum, einen untersetzten Dänen, dessen Namen ich nicht kannte; sowie eine der zahlreichen chinesischen Studentinnen namens Hui. Sie war klein und zierlich und damit ein starker Kontrast zur hochgewachsenen Beatrice und dem stämmigen Dänen.

Negrid, mongolid und kaukasisch. Mir war bewusst, dass die Begriffe in der heutigen Zeit nicht akzeptabel waren. Das sagte ich auch laut, trotzdem wirkten die Studierenden schockiert. Offensichtlich lieferte ich gerade eine aussagekräftige Lektion über die Subjektivität und Evolution von Klassifizierungsschemata. Die Frau, die die interessante Frage gestellt hatte, schien die Szene mit ihrem Smartphone zu filmen.

Die drei Studierenden sahen einander an und lachten. Ich konnte nachvollziehen, warum Wissenschaftler in der Vergangenheit – fälschlicherweise – davon ausgegangen waren, dass sie eigene Subspezies des Homo sapiens darstellten.

Der zweite Teil des Experiments war dazu gedacht, genau diese Schlussfolgerung in Frage zu stellen. Ich dirigierte die drei Kandidaten an drei auseinanderliegende Punkte des Podiums und wandte mich an den Kurs.

»Stellen Sie sich die Bühne als zweidimensionales Koordinatensystem vor, mit Beatrice am Schnittpunkt Null – in Anlehnung daran, dass die menschliche Spezies in Afrika entstanden ist. Hui steht für die X-Achse und der männliche Student mit blasser Haut und blauen Augen die Y-Achse.«

»Ich heiße Arvid«, unterbrach der dänische Student. »Arvid, der Arier. Mein Großvater wäre stolz darauf, dass ich ausgewählt wurde, aber vielleicht ist das gar nicht so gut.« Es wurde getuschelt. Die Vertreter der Generation Y waren definitiv gefesselt.

»Ich fordere Sie nun auf, sich selbst Ihrem äußeren Erscheinungsbild gemäß in diesem Koordinatensystem zu positionieren«, fuhr ich fort und wies erneut darauf hin, dass die Teilnahme freiwillig sei.

Fast alle machten mit. Zu den Ausnahmen gehörten die Fragestellerin sowie ihre Freundin, ich vermutete, dass sie das Experiment so besser verfolgen konnten. Die anderen betraten die Bühne und begannen, sich einzuordnen und Plätze zu tauschen. Nach ein paar Minuten verließ Beatrice ihren Platz und kam zu mir.

»Professor Tillman, sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist?«

»Sehen Sie ein Problem?«

»Für mich nicht.« Sie lachte und deutete auf eine kleine Gruppe um Arvid, den Arier. »Es macht mich nur ganz fertig, die Typen da drüben streiten zu sehen, wer von ihnen der weißeste ist.« Auch die indischen und pakistanischen Studenten diskutierten lebhaft.

Als die Studierenden sich schließlich aufgeteilt hatten, begann ich mit der Auswertung und deutete auf das nun Offensichtliche hin: Wir hatten es nicht mit einzelnen Kategorien zu tun, sondern mit einem Spektrum, besser gesagt, multiplen Spektren. Im Anschluss daran wollte ich über Erklärungen für die rapide Entwicklung bestimmter nicht überlebensnotwendiger Körpermerkmale an bestimmten geographischen Orten referieren. Doch da klingelte mein Handy.

Während der Vorlesungen werden nur Anrufe von Rosies Arbeitsnummer durchgestellt, und die sollten unserer Absprache gemäß nur im Notfall stattfinden.

»Was, zum Teufel, ist da bei dir los?«, hörte ich Rosies Stimme.

»Ich halte eine Vorlesung. Gibt es einen Notfall?«

»Du bist der Notfall. Das läuft alles über Twitter. Was machst du da bloß?«

»Du bist auf Twitter? Während der Arbeitszeit?«

»Eine Freundin hat mich angerufen. Aus Columbia.«

»Du hast eine Freundin in Südamerika?«

»Aus der Columbia. Universität. Da hast du zehn Jahre lang gearbeitet …«

»Zwölf.«

»Das ist jetzt nicht …«

Zu meiner weiteren Verwirrung gab es eine zweite Unterbrechung. Drei Männer vom Sicherheitsdienst betraten den Hörsaal. Einer von ihnen kam auf mich zu, ließ sich meine Identität bestätigen und führte mich hinaus. Somit konnte ich das nachfolgende Geschehen nicht weiterverfolgen, doch anhand der anschließenden Benachrichtigung über das Disziplinarverfahren sowie eines Besuchs von Beatrice konnte ich den weiteren Hergang rekonstruieren.

Die Twitter-Kommentare bezichtigten mich als Verfechter eben jener Rassentheorien, die ich zu widerlegen versucht hatte, sowie auch der Diskriminierung, der Eugenik und der öffentlichen Demütigung.

Allen Kursteilnehmenden wurde psychologische Betreuung angeboten; es gab eine formelle Beschwerde. Die Verbreitung über soziale Medien zog drei Presseartikel nach sich, die die Fakten falsch darstellten und mein Verhalten als repräsentativ für ein generelles Übel bezeichneten. Das war mir neu: Ich war eher gewohnt, für untypisches als für typisches Verhalten kritisiert zu werden. Nur ein einziger Reporter kontaktierte mich persönlich, und sein Artikel erschien mir wahrheitsgemäß und ausgewogen. Unglücklicherweise war er ein – in Rosies Worten – »rechter Spinner«, und die Universität würde ihn aufgrund seiner Ansichten zu anderen, von dieser Sache unabhängigen Themen als fragwürdig einschätzen.

Meine Verteidigung umfasste zweiundsechzig Seiten, und Rosie bestand darauf, dass ich sie zusammenfasse.

»Das hier ist die Zusammenfassung.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du erklärst darin, dass du einem wissenschaftlich gebildeten Publikum, dessen Teilnahme freiwillig war, auf kreative Weise eine wissenschaftliche Fragestellung nahebringen wolltest, und wärst du nicht unterbrochen worden, hätten deine Schlussfolgerungen nicht nur die derzeitige wissenschaftliche Meinung wiedergegeben, sondern auch progressive philosophische und politische Ansichten. Kann man das so sagen?«

»Unfassbar! Du bist ein Genie, wie du alles genau auf den Punkt bringst. Dieser eine Satz stimmt genau und entlastet mich.«

»Darauf würde ich nicht bauen. Bei solchen Dingen geht es nicht um Wissenschaftlichkeit.«

Zur Anhörung durfte ich einen »Fürsprecher« mitbringen. Die offensichtliche Wahl wäre ein Anwalt gewesen, doch dann bekam ich von unerwarteter Seite ein Alternativangebot – von der ehemaligen Dekanin der Fakultät für Naturwissenschaften, Professor Charlotte Lawrence, die mittlerweile eine andere Universität leitete.

Professor Lawrence und ich waren bei diversen Gelegenheiten »aneinandergeraten«, wie man so sagt, die Formulierung ist nicht wörtlich zu verstehen. Fast immer war es dabei um Konflikte zwischen persönlicher und wissenschaftlicher Integrität (vertreten von mir) und dem öffentlichen Image der Universität (vertreten von ihr) gegangen. Allerdings war sie eine Expertin, was die Verwaltung einer akademischen Institution anging, und besaß deshalb eine hohe Glaubwürdigkeit. Ich wunderte mich, dass sie etwas mit mir zu tun haben wollte.

Ihre Einschätzung der Situation entsprach Rosies: Der Universität werde es nicht nur um Wahrheitsfindung gehen.

»Was auch immer dabei herauskommt – sie werden Angst haben, dass jeder zukünftige Förderantrag mit Ihrem Namen darauf die falsche Art von Aufmerksamkeit mit sich bringt.« Professor Lawrence musste das nicht weiter ausführen. In der akademischen Welt geht nichts über die Gabe, die Fördermittel zu gewinnen.

Sie empfahl, ich solle persönliche Referenzen sammeln. »Und nicht nur von heterosexuellen weißen Männern.«

»Weshalb sind Geschlecht und sexuelle Orientierung relevant? Die Anschuldigung lautet ›Rassismus‹.«

»Don, lassen Sie uns jetzt nicht darüber diskutieren, sonst ändere ich meine Meinung bezüglich meiner Hilfestellung womöglich noch. Sie sind ein heterosexueller weißer Mann mittleren Alters, der die meiste Zeit seines Lebens an angesehenen Universitäten der westlichen Welt verbracht hat. Sie sind ein Musterbeispiel für Privilegierung.«

Wenige Tage später trafen wir uns erneut, und ich hatte keine guten Nachrichten. David Borenstein, mein früherer Dekan, hatte mir per E-Mail mitgeteilt, dass mir niemand von der Columbia Universität Referenzen ausstellen werde. Sobald es um Rassismus geht, ist kein Platz für Feinheiten: Es wird von uns erwartet, dass wir so etwas unmissverständlich verurteilen. Wäre dies an der Columbia passiert, hätte ich trotz meiner langjährigen Bewunderung für Dich – sowohl im wissenschaftlichen wie auch persönlichen Bereich – keine andere Wahl gehabt, als das Arbeitsverhältnis zu kündigen.

Angesichts von Davids E-Mail war ich umso verwunderter, dass Professor Lawrence sich für mich einsetzen wollte. Ihre Erklärung hatte auffallende Ähnlichkeit mit dem Zeitungsartikel, der meine Haltung unterstützt hatte, einschließlich der Begriffe »berufsmäßige Empörer«, »Industrie des kollektiven Aufschreis« und »Identitätspolitik«. Offenbar war auch sie eine »rechte Spinnerin«. Ich wies sie darauf hin.

»Don«, sagte sie, »wir kennen uns schon ziemlich lange. Sie sind nicht unbedingt sehr taktvoll und einfühlsam, aber Ihre Integrität und Ihren Anstand habe ich nie bezweifelt. Ich bin immer noch Naturwissenschaftlerin und Akademikerin, und ich will nicht, dass irgendein Akademiker Angst haben muss, seine Meinung in wissenschaftlichen Angelegenheiten frei zu äußern.«

Rosie staunte über Professor Lawrences Engagement.

»Ich schätze, bevor Charlotte all diese Nettigkeiten gesagt hat, hat sie dir bestimmt ihre Meinung gegeigt. Dich zusammengestaucht.«

»Ich bin mit beiden Redewendungen vertraut, aber nein, es gab keinen ›Anschiss‹.«

»Sie ist lesbisch, oder?«

»Vermutlich. Ihre Partnerin ist weiblich. Warum?«

»Weil ich eine Frau bin und mich mein ganzes Leben lang mit Diskriminierung und Vorbehalten herumschlagen muss, in der Zeitung oder im Fernsehen oder auf Plakaten, alles Kleinigkeiten, über die man sich nicht weiter aufregt, weil man sonst als kleinlich gilt, aber sie summieren sich. Sie nehmen dir täglich etwas von deiner Lebensfreude, und du kannst nichts dagegen tun. Jetzt, als Mutter, ist es schlimmer geworden – die Art, wie die Leute mit mir reden, wenn ich Hudson dabeihabe, und bei der Arbeit … nicht nur Judas, alle sehen das Muttersein als Teil meiner Identität, so wie sie es bei Stefan als Vater eines vierjährigen Kindes nicht tun. Ich denke mal, wenn ich lesbisch wäre, wäre die Diskriminierung noch viel schlimmer.«

»Ich habe nie behauptet, dass irgendeine Rasse über- oder unterlegen ist. Genau das war ja …«

»Don, du hörst nicht zu. Stell dir vor, du wärst einer deiner Studenten aus … egal … sagen wir: Indien. Oder mit Eltern aus Indien. Die Leute sehen deine Hautfarbe und fragen dich ohne jeden Zusammenhang: ›Wo kommst du her?‹. Du machst etwas gut – oder schlecht –, und sofort wird die Tatsache erwähnt, dass du aus Indien bist. Vielleicht rettest du als Arzt jemandem das Leben, und ihr oder ihm wäre es lieber, du wärst weiß. Und du spürst das.« Rosie hielt inne und lachte auf. »Na gut, du würdest das vielleicht nicht unbedingt spüren.«

»Willst du damit sagen, ich hätte Studenten Leid zugefügt, weil ich sie an etwas erinnert habe, das sie … sowieso schon ärgert?«

»Ich will sagen, dass du ihrem alltäglichen Ärger noch eins draufgesetzt hast. Sie gehen in einen Kurs, um etwas über die Huntington-Krankheit oder progressive Muskeldystrophie zu lernen, und plötzlich geht es um ihre Hautfarbe, und sie sollen sich danach einordnen. Stell dir vor, du wärst … Mir fällt jetzt grad kein Beispiel ein.«

Aber mir. Meine Grundschullehrerin hatte unser Schriftbild bewertet, indem sie uns zunächst in eine zufällige Reihenfolge gesetzt und dann immer jeweils zwei Nachbarn verglich. Bei jedem Vergleich rutschte ich einen Platz weiter nach hinten, bis ich schließlich unweigerlich am hinteren, »schlechten« Ende landete. Es war nervig und ärgerlich.

»Kein Beispiel nötig«, erwiderte ich.

 

»Don? Hier ist Neil Warren, Hudsons Klassenlehrer.«

»Gibt es ein Problem?« Mein erster Gedanke war, dass Hudson irgendetwas Wichtiges vergessen hatte. Die Schule hatte zwar eine Packliste ausgegeben, aber Rosie und Hudson waren sich in einigen Punkten uneinig gewesen. Hudson hatte den Inhalt seiner Kommodenschubladen in vier große Taschen gepackt, die Rosie dann auf eine reduzierte. Vielleicht hatte sie versehentlich das Falsche aussortiert.

»Ich fürchte, ja. Hudson hatte eine massive Krise … fast einen mentalen Zusammenbruch.« Ich war im ersten Moment irritiert, als ich das Wort »Bruch« im Kontext einer Skifreizeit hörte, aber dann wurde schnell klar, worum es ging: einen Ausraster. »Er mochte seine Skischuhe nicht. Also … jetzt geht es ihm wieder gut, aber er will nicht Ski fahren, und wir haben niemanden, der sich um ihn kümmern kann, wenn er nicht bei der Gruppe bleibt. Ich fürchte, Sie müssen ihn wieder abholen.«

Ich sprang sofort ins Auto. Der Genetikvorlesungseklat würde warten müssen.

Kapitel 4

Die Fahrzeit zum Skilager sollte laut Navigationsgerät drei Stunden und achtzehn Minuten dauern. Ich informierte Rosie per Textnachricht: Hudson Krise. Fahre hin.

In Ermangelung detaillierter Informationen war mein weiteres Vorgehen kaum zu planen. Mr Warrens Worte ließen viel Spielraum für Interpretation – von störrischer Verweigerung bis zu einem psychischen Kollaps war fast alles drin. So etwas hatte ich als Kind gelegentlich ebenfalls durchlitten, mit zunehmendem Alter dann eher selten – und in den dreizehn Jahren, vier Monaten und drei Tagen, seit ich Rosie kannte, nur ein einziges Mal. Hudson hatte derlei Episoden bereits einige Male zu Hause erlebt – in den letzten Monaten gehäuft –, was wir durch die »Auszeit-Methode« aber jedes Mal wieder gut in den Griff bekommen hatten.

Meine Aufgabe bestand vermutlich darin, Mr Warren zu versichern, dass eine Wiederholung in nächster Zeit unwahrscheinlich sei, sofern man die auslösenden Umstände geklärt hatte. Ich schätzte Hudsons Lehrer auf mein Alter – um die fünfzig. Infolge einer Gewohnheit, von der ich mich nur schwer lösen konnte, hatte ich auch seinen BMI geschätzt: etwa fünfundzwanzig. Beim Elternabend hatte er recht freundlich gewirkt, aber ich wusste aus eigener Erfahrung, dass die oberflächliche Einschätzung von Lehrern durch Eltern oftmals ungenau war.

Nachdem ich die Serpentinen zum Skiort bewältigt hatte, stellte ich den Wagen auf einem Parkplatz »nur für Notfälle« ab, übersah dabei aber leider einen im Schnee versteckten Poller. Der Schaden im Frontbereich des Porsche war nicht weiter der Rede wert. Das Auto war eine »Dauerleihgabe«, nachdem Phil, Rosies Vater, erkannt hatte, dass es vernünftiger war, einen neuen Toyota zu kaufen als an einem alten Fahrzeug mit unpraktischem Design festzuhalten. Professor Lawrence textete ich, dass ich wegen eines Notfalls nicht an der Anhörung im Disziplinarverfahren teilnehmen könne.

Unterdessen hatte Rosie eine Reihe von Sprach- und Textnachrichten geschickt, wo doch eine einzige Nachricht vollkommen ausgereicht hätte: Was zum Teufel ist da los? Ist Hudson ok? Ruf mich SOFORT an.

Rosie wollte das Gleiche wissen wie ich, was ich aber nicht eruieren konnte, weil ich zuerst sie anrufen musste.

»Bist du sicher, dass ich nicht lieber dazukommen sollte?«, fragte sie.

Da es in Gesprächen unhöflich ist zu sagen: »Siehe erste Antwort«, wiederholte ich: »Als Erstes muss ich die Situation klären.«

»Du hättest mich anrufen sollen. Was ist mit deinem Disziplinarverfahren? Oh Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

»Die Anhörung wurde verschoben. Ich rufe wieder an, wenn ich mehr Informationen zur Hudson-Situation habe.«

Eine Mitarbeiterin der Skischule brachte mich zu Hudson, der auf einer Bank saß und Der Marsianer las. Ich konnte keinerlei Anzeichen einer Krise entdecken. Neben Hudson saß ein etwa gleichaltriges dünnes Mädchen mit weißen Haaren, das ich sofort als Albino einstufte. Sie trug eine Sonnenbrille und aß ein Snickers.

»Was ist passiert?«, fragte ich Hudson.

»Ich muss nach Hause fahren. Sie auch.« Er deutete auf seine Nachbarin, die nun ihre Kopfhörer aus den Ohren zog.

»Kam sie auch nicht mit den Skischuhen zurecht?«

Das Mädchen antwortete selbst. »Ich bin sehbehindert.« Das wunderte mich nicht: Albinismus geht mit hoher Lichtempfindlichkeit und eingeschränktem Sehvermögen einher.

»Als Mr Warren das gemerkt hat«, fügte Hudson hinzu, »hat er die Elternerlaubnis überprüft, und weil das da nicht draufstand, darf sie jetzt laut Gesetz nicht Ski fahren.«

»Ich bin neu in der Klasse«, sagte das Mädchen. »Ich bin nur mitgefahren, weil, ich wollte alle kennenlernen. Und jetzt muss ich nach Hause.«

»Denn ich wollte alle kennenlernen«, korrigierte Hudson. »Oder: weil ich alle kennenlernen wollte.« Mein Vater war ein strenger Kritiker des neumodischen Weil-Gebrauchs ohne Inversion. Hudson hatte ihn sich deshalb abgewöhnt und korrigierte mittlerweile auch andere.

»Sie konnten meine Eltern nicht erreichen, weil, mein Vater … denn mein Vater ist gerade in Thailand, und meine Mutter ist grad nicht im Laden. Übrigens heiße ich Blanche.«

Aufgrund der weißen Haare war der Name leicht zu merken.

»Und deine Mutter geht auch nicht ans Handy?«

»Sie hat keins. Wegen Krebs. Mein Vater auch nicht.«

Während ich noch überlegte, bei welchen Krebsformen von einer Handybenutzung abgeraten werden mochte – Mundhöhlen- oder Kehlkopfkrebs, möglicherweise ein Hirntumor? –, erläuterte Blanche: »Sie hat keinen Krebs, aber sie will auch keinen kriegen. Von den Strahlen.«

»Können wir sie mitnehmen?«, wollte Hudson wissen. »Wir müssen aber erst die Erlaubnis einholen, weil auf der Elternerlaubnis stehen muss, dass …«

Ich hatte immer noch keine relevante Information zur Grundsituation erhalten. Ich strich mit Zeigefinger und Daumen quer über meine Lippen: das Schweige-Signal. In unserer Kommunikation mit Hudson bedeutete es: Hör auf zu reden, um wichtigen Input zu erhalten.

»Erst einmal möchte ich wissen, worin genau das Problem besteht.«

»Das ist doch egal. Ich muss nach Hause, fertig.«

»Mr Warren hat etwas von Skischuhen erzählt. Vielleicht können wir das Problem lösen.«

Hudson sah schweigend zu Boden, was für gewöhnlich bedeutete, dass er schweigend zu Boden sehen wollte. Eine weitere Befragung würde sich als unproduktiv erweisen.

»Kann es sein, dass du irgendetwas falsch verstanden hast?«

»Auf keinen Fall, Dad. Ich habe nichts gemacht. Die müssen dafür sorgen, dass sie passende Schuhe haben!«

»Aber sie haben doch sicher Schuhe in allen möglichen Größen.«

Hudson erklärte, er habe verschiedene Größen probiert, aber alle Schuhe waren entweder so eng gewesen, dass es ihm weh tat, oder so weit, dass er damit die Ski nicht hätte kontrollieren können.

Der Mann beim Skiverleih habe etliche Schuhe verschiedener Marken angeschleppt sowie zusätzliche Socken und Einlagen, aber nichts habe geholfen. Dann sei der Geschäftsführer gekommen und habe erklärt, dass der Schuh fest sitzen müsse. Hudson war nicht zu überzeugen gewesen.

Blanche unterbrach ihn. »Alle gaben Hudson die Schuld«, sagte sie, »weil, alle hatten ihre Schuhe schon an und wollten endlich Ski fahren.«

Hudson war extrem schmerzempfindlich und hatte eine Aversion gegen allerlei Formen des Körperkontakts, vor allem, wenn er sie nicht kontrollieren konnte. Als Kind hatte ich dasselbe Problem gehabt und war regelmäßig als »Weichei« gehänselt worden. Hätte mir jemand ungewohnt enge Schuhe an die Füße geschnallt, noch dazu unter Zeitdruck, hätte ich mich vermutlich auch verweigert.

Ich versuchte, mich selbst in Hudsons aktuelle Lage zu versetzen. Ich würde ebenfalls auf der Stelle nach Hause fahren wollen. Mein Vater wäre mit mir damals zum Skiverleih zurückgegangen und hätte schimpfend auf irgendwelchen Schuhen bestanden und mich am Ende »Heulsuse« genannt. Ich wollte es besser machen.

Ich fand die Angestellte, die vorübergehend auf Hudson und Blanche aufgepasst hatte, und erklärte das Problem.

»Reden Sie mal mit Lucy. Ich bin sicher, ihr fällt irgendetwas ein.«

Wir warteten an der verabredeten Stelle, und Lucy kam auf einem Snowboard angefahren. Ich schätzte ihr Alter wie auch ihren BMI auf zweiundzwanzig.

»Wir mögen also keine Skischuhe«, wandte sie sich an Hudson.

»Ich mag keine Skischuhe«, erwiderte er. »Alle haben irgendwo weh getan. Am Knöchel, am …«

»Genau. Geht mir genauso. Hast du ein Problem damit, in den Schnee zu fallen?« Sie veranschaulichte ihre Frage, indem sie sich in den Schnee fallen ließ. Mit Schwung. »Jetzt du.«

Hudson reagierte nicht, aber Blanche folgte Lucys Anweisung, warf sich in den weichen Schnee und stand lachend wieder auf. Wahrscheinlich fühlte Hudson sich nun unter Druck gesetzt. Langsam und vorsichtig ließ er sich fallen und wiederholte die Aktion noch zwei Male, jeweils etwas heftiger. Daraufhin ließ Blanche sich wieder fallen, mit noch mehr Schwung, und Hudson wollte offenbar mithalten und warf sich mit voller Kraft in den Schnee.

»Ungefähr so sehr wird es weh tun, mehr nicht«, erklärte Lucy. »Also: Habt ihr Lust, snowboarden zu gehen?«

»Ich bin sehbehindert«, sagte Blanche.

»Bin ich schwarz oder weiß?«, wollte Lucy wissen.

Blanche lachte. »Weiß.«

»Dann gibt’s kein Problem.«

Ich erklärte, dass ich nicht Blanches Vater sei und nicht über ihren Unterricht verfügen könne. Lucy informierte mich, dass der Preis für Snowboarden und Skifahren gleich sei. Und die Gebühr für Snowboards und Schuhe sei durch die nicht benutzte Skiausrüstung gedeckt. »Und Sie können auch mitmachen, wenn Sie wollen.«

»Snowboard fahren zu können wäre mir in keiner Weise von Nutzen«, entgegnete ich.

»Ich denk ja nur an die Kinder. Am Anfang ist jeder ein bisschen unkoordiniert, und wenn die Kids sehen, dass Sie auch hinfallen …«

»Ich erhole mich gerade von einer Operation meiner Kniesehne, und es wäre unvernünftig, sie über Gebühr zu belasten.«

Lucy nickte. »Also gut. Und zusätzlich vermeiden Sie, vor den Kindern blöd auszusehen.« Sie lachte, aber ich hatte das Gefühl, kritisiert worden zu sein.

»Wenn Blanche hinfällt und stirbt, könnten wir verklagt werden«, sagte Hudson. »Ihre Eltern haben keine Erlaubnis unterschrieben.«

Da hatte er vermutlich recht. Gerade in diesem Augenblick kam eine andere Mitarbeiterin der Skischule angelaufen und verkündete, Blanches Mutter sei am Festnetztelefon.

Blanche erklärte ihr die Situation und hielt mir dann den Hörer hin.

»Hallo«, sagte Blanches Mutter. »Tut mir leid, ich weiß nicht einmal Ihren Namen.«

»Keine Entschuldigung nötig. Wir sind uns nie begegnet, also erwarte ich auch nicht, dass Sie meinen Namen kennen.«

Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ich bin Allannah. Wirklich zu dumm, dass ich auf der Einverständniserklärung die Frage zu irgendwelchen Einschränkungen überlesen habe. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Es ist sehr nett, was Sie alles für uns tun.«

»Ich tue rein gar nichts. Was Sie beruhigen sollte. Ich habe das Problem an eine professionelle Kraft namens Lucy weitergeleitet. Skilehrer wird man nur nach einer harten gründlichen Ausbildung – sofern sie den Job also nicht auf betrügerische Weise errungen hat, sollte sie kompetent sein. Allerdings muss ich Sie bitten, mich von jeglicher Haftbarkeit zu entbinden für den Fall, dass Blanche sich beim Snowboarden verletzt oder stirbt.«

»Ähm … das ist jetzt rein hypothetisch, oder? Sie führen doch nichts im Schilde?«

»Korrekt.«

Sie lachte. »Na ja, die Lehrer kenne ich im Grunde genommen ebenso wenig wie Sie. Tut mir leid, das klang jetzt sicher unhöflich.«

»Überhaupt nicht.« Sie argumentierte rational.

»Ich frage nur ungern, aber könnten Sie Blanche wohl auch mit zurücknehmen? Wir wohnen in Thornbury.«

»Ich habe einen besseren Vorschlag. Wenn ich die Tagesaktivitäten zu Lucy outsource, könnte sie Hudson und Blanche abends wieder beim Lehrer abgeben. Dann würden die beiden an allen Klassenaktivitäten teilnehmen, die nichts mit Skifahren zu tun haben, und Blanche kommt ihrem Ziel näher, alle kennenzulernen.«

»Ist das Ihr Ernst? Das alles würden Sie für Blanche organisieren?«

»Der Mehraufwand ist unerheblich.«

»Was soll ich sagen? Vielen, vielen Dank, es tut mir so leid …«

»Keine Entschuldigung nötig. Blanche wird Hudson Gesellschaft leisten.«

»Tja, also nochmals vielen Dank. Sie sind wirklich nett. Und könnten Sie bitte noch sicherstellen, dass Blanche keinen Zucker isst?«

 

Es gab Komplikationen. Rosie war von meiner Lösung zwar beeindruckt, bestand aber darauf, dass ich bis zur Übergabe der Kinder an Mr Warren dabliebe. »Vielleicht ist er nicht ganz so begeistert wie du.«

Damit hatte Rosie recht, auch wenn der Mann zu Anfang freundlich war.

»Nennen Sie mich Neil. Also, eigentlich können Sie mich Rabbit nennen … ein alter Spitzname, der hängengeblieben ist. Erwähnen Sie ihn bitte nur nicht vor den Kindern. Also, hören Sie, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie den ganzen Weg gekommen sind und dann auch noch Blanche mitnehmen. Das ist hier wie einen Sack Flöhe hüten.«

»Flöhe?« Erst redete der Mann von Kaninchen, jetzt von Flöhen – vielleicht war er Hobby-Zoologe.

Rabbit lachte. »Purer Stress.«

Ich kannte die Redewendung mit den Flöhen nicht, und es schien mir ein sehr umständlicher Weg, etwas auszudrücken, das mit zwei Worten gesagt werden konnte. Ich fragte mich, wie effektiv der Mann mit Elfjährigen kommunizierte.

Seine Freundlichkeit verschwand, als ich ihm mitteilte, dass Hudson und Blanche bleiben würden. Es dauerte siebenundfünfzig Minuten, um all seine Einwände zu entkräften. Ich hatte mich bereits entschieden zu bleiben, um in den Intervallen zwischen wechselnden Zuständigkeiten und Unterrichtseinheiten die Aufsicht übernehmen zu können.

Für jedes seiner Argumente – den Mangel an Aufsichtspersonen, das gesetzliche Verbot, ungeplante und somit nicht durch die Einverständniserklärung der Eltern gebilligte Aktivitäten durchzuführen, die Notwendigkeit, Ausnahmen zu vermeiden – hatte ich eine Lösung parat.

Rabbit unterbrach: »Mein Gott, jetzt weiß ich, woher Hudson das hat.«

»Woher Hudson was hat?«

»Egal … Hören Sie, ich mache diese Skifreizeit seit dreizehn Jahren – in den Ferien, in meiner eigenen Urlaubszeit. Deshalb darf ich bestimmen, wie es läuft. Ich könnte Hudson nach Hause schicken. Blanche auch. Aber sie ist neu in der Klasse und außerdem behindert …«

Er brach ab und klopfte ein paarmal mit der flachen Hand auf den Tisch. »Aber ich weiß zu schätzen, was Sie für die Kinder tun und dass Sie sogar hierbleiben wollen. Sonst müsste ich Sie wirklich bitten, Ihren Sohn nach Hause zu fahren. Sie müssen nämlich wissen – und ich bitte Sie, das auch Ihrer Frau zu sagen –, dass das Problem nicht nur die Skischuhe sind.«

Kapitel 5

»Scheiße nochmal, was soll das denn jetzt heißen? ›Nicht nur die Skischuhe‹?«

Zurück in Northcote, hatte ich Rosie ausgiebig Bericht erstattet, aber keine Antwort auf ihre Frage. Die drei Tage im Schnee waren einigermaßen anstrengend gewesen. Eine Unterkunft zu finden hatte sich so früh in der Saison als unproblematisch erwiesen. Aber ich verbrachte viele Stunden in Handtücher gehüllt in einem Waschsalon, um immer wieder meinen einzigen Satz Klamotten zu waschen und zu trocknen. Die Zeit nutzte ich, um mein Aufbaustudium in Informatik fortzusetzen. Außerdem oblag mir die Beaufsichtigung von Hudson und Blanche, und Rabbit war wohl aufgrund seines Flöheproblems für keine weiteren Gespräche verfügbar gewesen.

»Die Kids machen sich gut«, sagte Lucy bei der ersten Übergabe. »Wir brauchen morgen noch ein paar Übungsstunden, dann können sie allein auf die Anfängerpisten, wenn Sie da ein Auge auf sie haben.«

Im Anschluss kam ein beunruhigender Anruf von Professor Lawrence.

»Don, die Verschiebung hat mir Zeit zum Nachdenken gegeben, und … Bitte verstehen Sie das nicht falsch, aber Sie sind schon ein ungewöhnlicher Mensch … Ich rede nicht vom Wissenschaftler, aber … Ich habe mich gefragt, ob Sie je bei einem Psychologen waren.«

»Wieso?«

»Ich denke mal, selbst ein Laie würde vermuten, dass Sie im Spektrum sind – dass Sie eine Autismus-Spektrum-Störung haben, meine ich. Wahrscheinlich bin ich nicht die Erste, die Sie darauf anspricht, oder?«

»Korrekt.«

Professor Lawrence schwieg einen Moment. »Sie stecken in Schwierigkeiten, weil man Ihnen unterstellt, Sie hätten Minderheiten diskriminiert. Dabei gehören Sie selbst …«

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, worauf sie hinauswollte.

»Ich soll mich zum Asperger-Syndrom bekennen, schlagen Sie vor. Damit auch ich Mitglied einer Minderheit bin, die auf besondere Weise geschützt werden muss.«

»Ein Mensch mit einer speziellen Einschränkung – auf die sich dann Ihr Fehlverhalten zurückführen lässt. Sie würden allerdings eine offizielle Diagnose brauchen … falls Sie nicht schon eine haben.«

Zunächst empfand ich Erleichterung. Doch schon kurz nach dem Gespräch fühlte ich mich damit unwohl.

Mich wegen des Genetikvorlesungseklats auf das Asperger-Syndrom zu berufen, kam mir feige vor. Es würde ein schlechtes Licht auf andere Menschen mit Asperger-Syndrom werfen, die so etwas wie ich nicht getan hatten. Und trotz Professor Lawrences Ferndiagnose betrachtete ich selbst mich nicht als »im Spektrum«.

Einer meiner Lunch-Kollegen in New York hatte einmal den Vorschlag einer Diagnose gemacht, doch der anwesende Psychiater erklärte, ich sei auf eine Diagnose nicht angewiesen, da ich weder gesellschaftlich noch beruflich unter meiner Persönlichkeit leide. Das Kriterium »berufliches Leid« war mittlerweile gegeben, aber nur, weil mein Arbeitgeber seine Einstellung mir gegenüber geändert hatte. Ich sah nicht ein, dass ich plötzlich ein Syndrom haben sollte, ohne mich selbst in irgendeiner Weise verändert zu haben.

Am nächsten Morgen rief ich Professor Lawrence zurück.

»Don, es ist 6.30 Uhr.«

»Das Gespräch kann einige Zeit beanspruchen, und ich habe im Anschluss eine nicht verschiebbare familiäre Verpflichtung.«

»Haben Sie sich Hilfe für Ihre familiäre Krise gesucht?«

»Natürlich. Professionelle Hilfe.« Lucy leistete ausgezeichnete Arbeit mit ihrem Snowboard-Unterricht, an dem sowohl Hudson als auch Blanche viel Spaß zu haben schienen.

»Dann schießen Sie mal los.«

»Sie schlagen vor, wir sollten angeben, dass ich aufgrund genetischer und möglichweise umgebungsbedingter Faktoren eine spezielle Gehirnkonfiguration …«

»Don, wir werden keinen Fachaufsatz über die Entstehung von Autismus abliefern müssen.«

»Was, wenn es sich um eine andere neurologische Variante handelt?«

»Zum Beispiel? Tut mir leid, ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Ich will darauf hinaus, dass die Gehirnkonfiguration jedes Menschen von genetischen und umweltbedingten Faktoren abhängt. Bestimmte Bezeichnungen haben wir nur für die Varianten, die relativ gut zuzuordnen sind und häufig vorkommen. Mein Verhalten in der Vorlesung war das Ergebnis meiner persönlichen Gehirnkonfiguration. Dabei ist es ganz egal, ob diese Konfiguration einen eigenen Namen hat oder nicht.«

»Don … Ich verstehe Sie ja, aber … damit führen Sie eine philosophische Debatte über den freien Willen. So etwas können Sie vielleicht in einer Sitzung besprechen, aber in der Anhörung zu einem Disziplinarverfahren werden Sie damit nicht weit kommen. Sie würden die nur noch mehr davon überzeugen, dass Sie verrückt sind.«

»Und geht es nicht genau darum? Nicht schuldig aufgrund von Geistesstörung?«

»Aufgrund von Behinderung.«

»Ich betrachte mich nicht als behindert.«

Ich willigte ein, Professor Lawrence erneut anzurufen, falls ich meine Meinung ändern sollte.

 

Es ging um Hudsons Zeugnis. Auf Bitte der Schule hin war das Gespräch mit Rabbit Warren in die erste Woche des dritten Schulquartals vorverlegt worden. Und es gebe »noch etwas anderes«, die Schulleiterin sei ebenfalls anwesend.

Kurz zuvor unterzog Rosie unseren Sohn – ausdrücklich ohne meine Anwesenheit (»Er soll sich nicht vorkommen wie in einer Inquisition«) – einer Inquisition. Er war nicht in der Lage – oder willens –, brauchbare Informationen zu liefern. Rosie versicherte ihm, wir wollten nur sein Bestes, genau wie die Schule. Ersteres konnte ich bestätigen.

Während Rosie und ich den Korridor einer pädagogischen Einrichtung entlangmarschierten, um ein Gespräch zu führen, in dem es vermutlich um irgendeine Form von Fehlverhalten ging, fiel mir auf, dass Hudsons und mein Leben in sehr ähnlichen Bahnen verliefen.