Schritt für Schritt zum Glück - Graeme Simsion - E-Book
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Schritt für Schritt zum Glück E-Book

Graeme Simsion

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Beschreibung

Der unterhaltsame Pilgerweg-Roman durch Italien von Bestseller-Autor Graeme Simsion (»Das Rosie-Projekt«)  Als Zoes gute Freundin Camille sie bittet, mit ihr aufzubrechen und den Franziskus-Weg bis nach Rom zu wandern, stimmt sie spontan zu. Der Pilgerweg, die skurrilen Herbergen, der Muskelkater unter Zypressen - all das ist ein Abenteuer. Besonders, als Zoe dabei Martin begegnet, dem Mann, mit dem sie schon einmal von einem gemeinsamen Leben geträumt hatte. Eröffnet dieser Weg durch Italien eine zweite Chance für die beiden? Ein Roman übers Aufbrechen und Ankommen und darüber, was uns im Leben und in der Liebe wirklich wichtig ist. »Bewegend, mit sanftem Witz.« New Daily, Melbourne Bestseller-Autor Graeme Simsion (»Das Rosie-Projekt«) und seine Frau, Psychologin und Autorin Anne Buist, haben »Schritt für Schritt zum Glück«  gemeinsam geschrieben, jeder aus seiner Perspektive, wie bei ihrem Jakobsweg-Roman »Zum Glück gibt es Umwege«. Beide kennen den Franziskusweg aus eigener Wandererfahrung.

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Seitenzahl: 425

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Graeme Simsion | Anne Buist

Schritt für Schritt zum Glück

Ein Pilger-Roman

 

Aus dem australischen Englisch von Annette Hahn

 

Über dieses Buch

 

 

Künstlerin Zoe kennt sich aus mit der Suche nach Lebenssinn. Vor ein paar Jahren ist sie den Jakobsweg gegangen - und denkt gern an diese Erfahrung. Überraschend meldet sich ihre Freundin Camille aus Frankreich. Sie möchte unbedingt, dass Zoe zu ihr kommt und gemeinsam mit ihr auf den Franziskus-Weg aufbricht, bis nach Rom. Spontan sagt Zoe ja, denn es gibt eine alte Schuld, die Zoe gegenüber ihrer Freundin abtragen will.

Bald stellt sich heraus, dass eine ganze Gruppe gemeinsam aufbrechen wird Richtung Italien. Camille, durch Krankheit geschwächt, wird von ihrem Mann Gilbert begleitet, der sich weniger auf spirituelle denn auf kulinarische Entdeckungen freut und die regionale Küche von der Provence bis in die Toskana genießen will. Zoe trifft auf Martin, den englischen Ingenieur, dem sie damals auf dem Jakobsweg begegnet ist. Beide spüren die große Anziehungskraft für einander, die sie elektrisiert, aber auch verunsichert. 

Zusammen mit weiteren Weggenossen wandern die vier über steile Pfade, picknicken in Olivenhainen und suchen bei Regengüssen Schutz unter alten Eichen. Sie streiten sich, sie helfen einander und alle müssen sich fragen, was in hrem Leben wirklich Bedeutung hat. Viele Wege führen nach Rom - und nicht nur Zoe und Martin gibt es dabei überraschende Wendungen. 

 

Weitere Titel von Graeme Simsion und Anne Buist: »Zum Glück gibt es Umwege«

Weitere Romane von Graeme Simsion: »Das Rosie-Projekt«, »Der Rosie-Effekt«, »Das Rosie-Resultat«, »Der Mann, der zu träumen wagte«

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Bestseller-Autor Graeme Simsion (»Das Rosie-Projekt«) und seine Frau, Psychologin und Autorin Anne Buist, haben »Schritt für Schritt ins Glück«  gemeinsam geschrieben, jeder aus seiner Perspektive, wie bei ihrem Jakobsweg-Roman »Zum Glück gibt es Umwege«. Beide kennen den Franziskusweg aus eigener Wandererfahrung.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

1Zoe

In meiner Hosentasche meldete sich per Vibrationsalarm das Schicksal.

Der Typ, der den Teambildungsworkshop für das Flüchtlingsheim leitete, in dem ich ehrenamtlich arbeitete, reihte gerade ein Klischee an das andere: Altruismus ohne Empathie ist wie ein Schiff ohne Ruder … Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt … Letzteres hatte ich am eigenen Leib erfahren. Aber wann war es so kompliziert geworden, Menschen zu helfen?

In Gedanken war ich schon bei der Hausaufgabe, die er uns gestellt hatte. Überlegen Sie sich drei Ereignisse, die Ihr Leben nachhaltig beeinflusst haben. Ich war auf nur zwei gekommen.

Das erste fiel in meine College-Zeit: Ich hatte meiner Zimmerkollegin Camille bei einer Abtreibung geholfen, was zu einem Roadtrip von Saint Louis nach Los Angeles geführt hatte, zum Bruch mit meiner strenggläubigen Mutter und zu der Geisteshaltung, die mich zu dem gebracht hatte, wo und wer ich jetzt war.

Das zweite Ereignis war der tödliche Autounfall meines Ehemanns Keith. Meine Suche nach Antworten und nach Heilung hatte mich spontan in den Osten Frankreichs geführt – also zu Camille nach Cluny – und dort zu besagtem ersten Schritt, der zu einer Zwölfhundert-Meilen-Wanderung von Camilles Haustür bis an die Westküste Spaniens werden sollte, auf dem historischen Camino de Santiago de Compostela – dem Jakobsweg. Die Pilgerreise hatte mich stärker gemacht: stark genug zu entscheiden, dass mir meine Karriere wichtiger war, als mit Martin – dem Ingenieur, in den ich mich unterwegs verliebt hatte – nach England zu gehen.

Und nun saß ich drei Jahre später im Konferenzzimmer eines Hotels in San Francisco, umgeben von negativer Energie, während draußen im Hafen die Sonnenstrahlen über weiße Schaumkronen tanzten. Ich zog mein Handy aus der Tasche: eine E-Mail von einem Gilbert Morvan mit .fr-Endung im Absender. Tarnten Internetbetrüger sich jetzt schon als Franzosen?

Dann fiel es mir ein: Das war Camilles Ex-Mann. Ich entsperrte mein Telefon, und das Schicksal nahm seinen Lauf.

Camille pilgert auf dem Assisiweg nach Rom, um den Papst zu sehen.

Was war das denn? Gilbert war Camilles Ex. Sie hatten sich kurz nach meiner Pilgerreise getrennt.

Und sie will den Papst sehen? Camille war zwar katholisch, doch im College hatte sich ihre Frömmigkeit darin erschöpft, mal eben zum Beichten zu gehen, um gleich wieder sündigen zu können. Und das auf immer gleiche Weise: Ihr gefielen Männer nun mal. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, sie war im Zwiespalt. Damals hielt ich sie einfach für scheinheilig. Nicht weil sie herumvögelte, sondern weil sie überhaupt in die Kirche ging.

Noch dazu ist der Franziskusweg ein Wanderweg. Es gibt nur zwei Fernwanderwege, die durch Cluny führen, der andere ist der Camino de Santiago. Für den hatte Camille mich packen sehen und war allein schon bei der Vorstellung ausgeflippt, drei Monate ohne Make-up aushalten zu müssen. Sie stand auf Designermode-Schnäppchen, sexy Dessous und Parfüm von Chanel. Nicht auf Merino-Unterwäsche, Sport-BHs und Seifenstückchen, die man von Hostel zu Hostel bei sich trägt. Zu Fuß bis nach Rom marschieren sah ich sie auf keinen Fall!

Wie es aussah, lag ich damit sogar richtig, aber auf schlimmstmögliche Weise:

Camille hat Multiple Sklerose. Ohne Unterstützungschafft sie es nicht. Wir sind wieder zusammen. Am Freitag geht es los.

Mit anderen Worten: Versuch gar nicht erst, es uns auszureden. Freitag war überübermorgen. Und wie es aussah, unternahm Camille ihre Pilgerreise aus dem traditionellsten aller Gründe: Hoffnung auf Heilung.

Mein Nachbar stupste mich. Der Kursleiter starrte mich und mein Handy an. »Worte reichen oft nicht aus …«

Ich stand auf und ging zur Tür.

»Zoe? Alles in Ordnung?«, wollte der Kursleiter wissen.

»Ja, ich bin dabei, den Worten Taten folgen zu lassen.«

 

Den Rest der E-Mail las ich auf der Straße; das meiste waren praxisbezogene Fragen. Wie weit schafft man es an einem Tag? Haben die Hostels Klimaanlage? Wie kleiden Frauen sich am Abend?

Ich hatte von Leuten gehört, die im Rollstuhl auf den Fahrradrouten pilgerten. Prompt hatte ich Camille, typisch französisch in Stilettos, vor Augen, die von Gilbert an einer staubigen Schnellstraße entlanggeschoben wurde, während die Lastwagen an ihnen vorbeibrausten.

Da kam mir eine Idee: Vielleicht könnte ich den Karren organisieren, den Martin von Cluny nach Santiago gezogen hatte – das Ding war fürs Militär zu einer geländegängigen Krankentrage weiterentwickelt worden. Es wäre besser, wenn Camille den Straßenverkehr meiden und lieber Wanderwege nehmen würde.

Zu Martin hatte ich seit drei Jahren keinen Kontakt mehr. Meine damalige Entscheidung, meinem Traum zu folgen und in San Francisco als Zeichnerin zu arbeiten, hatte er als Zurückweisung empfunden – und ich schätze, das war es auch. Ich hatte mir eingeredet, er sei nur eine Urlaubsaffäre gewesen. Es war dann doch schwerer gewesen, ihn loszulassen, als ich gedacht hatte, aber der Camino ist nun mal nicht das wahre Leben.

Als ich damals zu Camille nach Frankreich geflogen war, hatte ich sie achtundzwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Und der eine Tag bei ihr in Cluny hatte gereicht, dass ich nach Spanien flüchtete. Wir waren emotional wie spirituell sehr verschieden, und im College hatte sie mich wahnsinnig gemacht. Bis sie mich um Hilfe bat.

Seit diesem Ereignis sind wir auf untrennbare Weise verbunden – auch wenn sie sich manchmal ein ganzes Jahr nicht meldet oder ich mir die Namen ihrer Freunde nicht merken kann. Eine solche Verbundenheit spüre ich zu sonst niemandem.

Ich brauchte keine Meditation oder göttliche Weisung, die mir eingaben, was ich schon wusste: Ich würde Camille begleiten.

Noch bevor ich zu Hause ankam, hatte ich den Redakteur der Reisen-Redaktion vom San FranciscoChronicle angerufen, um ihm eine Serie aus Cartoons und Geschichten vom Assisiweg anzubieten, und als Antwort ein »Vielleicht« bekommen. Ein Freund aus meiner Flüchtlingsorganisation kannte jemanden, der vorübergehend eine Wohnung brauchte. Das Universum spielte mir in die Karten.

Auch das Timing passte. Meine politischen Cartoons schafften es immer seltener bis zur Veröffentlichung – man merkte wohl, dass ich die Menschen, die ich zeichnete, nicht besonders mochte. Wann immer ich etwas für eine meiner Töchter tat, bekam ich Ärger mit der anderen. Und von der ehrenamtlichen Arbeit hatte ich eigentlich auch genug.

 

Blieb nur noch, Martin zu informieren. Ich leitete ihm Gilberts E-Mail weiter, schrieb, ich werde mit Camille nach Rom gehen und wisse natürlich, dass das jetzt überfallartig komme, aber wenn er vielleicht mit seinem Karren … Dann stürzte ich mich in die Internetrecherche, um ein günstiges Flugticket nach Frankreich zu ergattern.

Während ich gerade Angebote verglich, kam Martins Antwort. Eine so lange Reise quasi ohne jede Vorwarnung sei für ihn nicht drin. Er habe Sarah – seiner Tochter – bereits gemeinsame Zeit versprochen. Ich konnte direkt seine Stimme hören. Reserviert in jeder Hinsicht. Und der Subtext: Zwei Tage vorher sagst du Bescheid? Du wartest doch geradezu darauf, dass ich dich enttäusche. Doch der Grund war derselbe wie vor drei Jahren: Sarah hatte ihr Leben offenbar immer noch nicht im Griff. Normalerweise brauchen Studierende die Eltern nicht mehr ständig um sich.

Allerdings gab es für den Karren eine weitere Option. Ich war auf Facebook mit Bernhard befreundet, dem jungen Mann, der beim Design geholfen und das Ding an die deutsche Marine vermarktet hatte. Oder irgendetwas in der Art. Ich schrieb ihn an, worauf er umgehend antwortete.

Ich bring das Ding persönlich vorbei; schick mir die Adresse.

Kein »Ich freu mich darauf, dich wiederzusehen« – aber so war Bernhard nun mal nicht.

Den billigsten Flug gab es bei der KLM. Wenn ich morgen startete, könnte ich beim Zwischenstopp in Amsterdam noch ins Stedelijk Museum für moderne Kunst, das ich schon immer einmal hatte sehen wollen.

Folglich blieben mir zwölf Stunden, um alles Nötige zu organisieren. Zwei davon verbrachte ich mit der Suche nach einem Geschenk für Camille und eine im Outdoor-Shop. Dort wusste ich genau, was ich wollte: praktische, leichte und schnell trocknende Sachen - zwei T-Shirts, zwei Thermopullis, eine Fleecejacke, eine Regenjacke, eine Zip-off-Trekkinghose. Die leichtesten Wanderschuhe – pfeif auf Knöchelschutz. Drei Paar Socken. Außerdem einen neuen Rucksack und noch mehr Geschenke für Camille und Gilbert.

Als ich am nächsten Morgen in den Bus zum Flughafen stieg, war ich überrascht, wie leicht und befreit ich mich auf einmal fühlte. Warum hatte ich das nicht längst einmal gemacht?

Ich war auf dem Weg, eine mir seit dreißig Jahren ans Herz gewachsene Freundin zu besuchen, eine Seelenfreundin, und erneut einen Camino zu gehen, was mir die Chance bot, die beste Zeit meines Erwachsenenlebens zu wiederholen – noch dazu in Italien. Kirchen voller Kunst; Mauern, die Schlachten und Seuchen und das Beste und Schlechteste der Weltgeschichte gesehen hatten; und nicht zu vergessen: Linguine mit Artischocken. Das alles lag vor mir. Ich war aufgedreht und konnte nicht schlafen, weder im Flugzeug noch in den Zügen und Bussen, die mich von Amsterdam über Lyon und Mâcon nach Cluny brachten. Ich hoffte, meine Freude über das alles mit Camille teilen zu können und dass es ihr helfen würde, mit ihrer Krankheit klarzukommen.

 

Cluny sah anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Anstelle winterlicher Grautöne präsentierten sich ein vor Autos und Touristen bunt wimmelnder Hauptplatz, jede Menge Leute auf Restaurant-Terrassen und Kaskaden von Blumen, die über Fassaden und aus Blumenkästen rankten. Die uralten Mauern der Abtei, die bei meinem ersten Besuch so düster gewirkt hatten, waren zum Leben erwacht.

Ich machte mich auf den Weg zu Camilles Haus und erkannte den Hügel wieder, auf dem ich Martin vor drei Jahren das erste Mal gesehen hatte. Halbwegs rechnete ich damit, dass er wieder dort herumlief und seinen Karren hinter sich herzog. Aber da waren nur Bäume und die Friedhofsmauer.

Im Weitergehen setzte ich mich mit Jetlag-vernebeltem Hirn zum ersten Mal damit auseinander, dass ich gleich Camille begegnen würde, meiner impulsiven Freundin, die nun mit einer Krankheit geschlagen und in ihrer Verzweiflung fromm geworden war. Ich musste den Rucksack absetzen, um Taschentücher zu suchen, und setzte mich schniefend unter einen Baum.

Es war besser, dass Martin nicht mitkam. Es gab auch so genug, mit dem ich klarkommen musste.

2Martin

Für meine Antwort auf Zoes E-Mail musste ich nicht großartig überlegen. Ich hatte Sarah schon zugesagt, die aus Edinburgh kommen wollte, um die zweite Hälfte ihrer Semesterferien bei mir in Sheffield zu verbringen. Es sollte so etwas wie einen Durchbruch für uns darstellen.

Julia, meine Ex, hatte keine Zeit verloren, mir Karrierecoaching, Psychotherapie und Elterntraining aufzuhalsen, und schien davon auszugehen, dass ich bei allem versagte. Sie fürchtete, Sarah sei drauf und dran, magersüchtig zu werden, und stehe kurz davor, ihren so hart erkämpften Medizinstudienplatz zu verlieren, der von positiven Berichten ihrer Psychologen abhing.

Als ich vor drei Jahren den Camino gegangen war, hatte sie eine Überdosis Schlaftabletten genommen, was Julia als »Hilferuf« interpretierte. Ich hatte Sarah beim Wort genommen, als sie darauf bestand, ich solle nicht nach Hause kommen – ein Fehler, für den ich immer noch bezahlte.

Zoes Anfrage – samt Einladung – war genau in dem Moment eingetrudelt, als ich meinen PC zur Nacht herunterfahren wollte. Nun konnte ich nicht mehr schlafen. Ich las die Mail erneut und widmete mich zunächst dem praktischen Teil. Die Ingenieurs-Hochschule in Cluny, wo ich den Karren entwickelt hatte, besaß einen Prototyp; ich hatte die britischeArmee gebeten, ihn als Ansichtsexemplar dorthin zu schicken. Ich schrieb der Hochschule eine E-Mail mit der Bitte, mir den Karren auszuleihen, und eine weitere an Zoes Freund Gilbert, um seine Adresse zu erfragen.

Danach hatte ich Zeit, mir das Hirn zu zermartern, was ich tun würde, wenn ich nicht für eine Zwanzigjährige verantwortlich wäre, die unter normalen Umständen studieren, feiern oder ihren eigenen Camino gehen würde, anstatt die Beziehung zu ihrem Vater kitten zu müssen.

Vor drei Jahren war die Antwort klar gewesen, so klar, dass ich damals nach San Francisco flog, um Zoe genau zu dem einzuladen, was sie mir jetzt vorschlug. Nach meiner Rückkehr aus Santiago war ich sicher gewesen, dass, selbst wenn sie nicht den Assisiweg mit mir ginge, wir doch einen Weg finden würden, um zusammen zu sein. Dann hatte sie den Stecker gezogen. Was mich ziemlich deprimierte. Um ehrlich zu sein – und das war ich dem später angeheuerten Psychotherapeuten gegenüber dann auch –, hatte es mich geradezu am Boden zerstört. Und nun hatte sie offenbar entschieden, dass sie mich wiedersehen wollte, und ich war derjenige, der nein sagte. Was für ein Karma!

Am nächsten Morgen kam eine Nachricht von Sarah.

Überlege, nicht zu kommen. Wäre für dich okay, oder?

Keiner von uns telefonierte gern, aber manchmal war es der einzige Weg.

»Was ist los?«

»Nichts. Ich will nur nicht in Sheffield festhängen.«

»Du hättest zu deiner Mutter fahren können.«

»Hätte ich tatsächlich gern gemacht, aber die ist verreist und lässt mich dort nicht allein wohnen. Was ein bisschen albern ist, wenn man bedenkt, dass ich schon zwei Jahre allein in Edinburgh lebe.«

»Allerdings haben wir eine Abmachung getroffen. Ich habe mich auf die Zeit mit dir gefreut.«

»Was wollen wir denn machen? Die ganze Zeit in Sheffield? Ist ja nun nicht gerade Paris.«

Ich sollte immer der Fels in der Brandung sein. Verlässlich, beständig, da. Das Problem war nur, dass Sarah bei aller emotionalen Instabilität einen äußerst wachen Intellekt besaß, den sie vorzugsweise für irgendwelche Spielchen nutzte. Wir spielten also zwanzig Minuten lang Fels und Brandung, bis meine Frustration überhandnahm.

»Hör zu, ich habe die Gelegenheit ausgeschlagen, eine Wandertour durch Frankreich …«

»Mit Zoe?«

Verdammt nochmal! »Warum sollte ich mit Zoe wandern?«

»Also: ja.«

»Also: nein. Ich habe ihr abgesagt. Okay?«

»Nein, nicht okay. Ich will nicht diejenige sein, die dir einen Urlaub mit deiner Freundin verdirbt, nur damit wir den ganzen Tag in Sheffield sitzen und uns langweilen.«

»Ich dachte, du musst lernen. Aber egal: Auch wenn du nicht herkommst, würde ich trotzdem nicht nach Frankreich fahren.«

»Ich komme nicht. Also bleibst du ganz umsonst zu Hause.«

Ich stellte mir vor, wie ich meinem Therapeuten erklärte, dass ich, wenn Sarah definitiv nicht käme, tatsächlich nach Frankreich fahren könnte. Ich ahnte, dass er die Logik nicht gleichermaßen überzeugend fände wie ich.

Kaum eine Stunde später schrieb Sarah erneut.

Tut mir leid, dass ich so mies drauf war. Läuft gerade nicht so toll bei mir. Wie wäre es, wenn ich nach Frankreich mitkäme? Gewinn für alle Seiten.

Was willst du in Frankreich?

Aber hallo? Frankreich statt Sheffield?

Ich überlegte den ganzen Nachmittag, und je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel es mir. Der Camino de Santiago hatte mich verändert, wie er bekanntermaßen jeden veränderte; vielleicht wäre für Sarah so ein Pilgerweg genau der richtige Impuls. Sie und ich würden auf jeden Fall gemeinsame Zeit verbringen. Und wenn – falls – Zoe wieder Teil meines Lebens würde, wäre es nicht schlecht, wenn Sarah sie kennenlernte.

 

Vierundzwanzig Stunden später stand ich am TGV-Bahnhof Mâcon-Loché, zwei Stunden von Paris und eine Dreiviertelstunde von Camilles Haus in Cluny entfernt. Sarah wollte direkt aus Edinburgh einfliegen.

Ich hatte vereinbart, dass mich Jim abholte, der amerikanische Immobilienmakler, mit dem ich während meiner Lehrtätigkeit an der Ingenieurs-Hochschule zusammengewohnt hatte. Ich entdeckte seinen Wagen in der Kurzparkzone, warf meinen Rucksack auf den Rücksitz und stieg ein.

Jim wirkte unverändert. »Lass mich raten: Du hast dein ganzes Geld verschenkt und bist hier, um neu anzufangen.«

»Das war beim letzten Mal.«

»Früheres Verhalten ist der beste Ratgeber für zukünftiges Verhalten. Paar verkauft Haus, weil es zu groß ist, und dann …«

Ich schilderte die Situation und erfuhr, dass er Camille persönlich kannte – was er mir voraushatte.

»Als ich damals mit deiner Zoe zum Abendessen verabredet war, hatte das bei Camille stattgefunden. Sie war gerade dabei, sich von ihrem Mann zu trennen. Camille, nicht Zoe.«

In seiner Stimme schwang ein gewisser Unterton mit. »Und du standest schon in den Startlöchern? Früheres Verhalten ist der beste Ratgeber …«

Jim lachte. »Nein, die war mir zu abgedreht. Mitten im Gespräch fällt ihr ein, dass sie ihre Einkäufe im Laden vergessen hat. Biegt links ab und merkt erst später, dass sie nach rechts wollte. Cluny ist nicht gerade die Medina von Fes.«

»Weißt du, dass sie jetzt im Rollstuhl sitzt? Multiple Sklerose.«

»Scheiße. Und ich dachte, ich hätte sie vor ein paar Wochen beim Kaffee mit ihrem Ex gesehen.«

Jim fuhr zur Hochschule, wo mein Karren auf mich wartete – immer noch originalverpackt.

»Du hast das Ding doch an die britische Armee verkauft, oder?«, meinte Jim. »Wenn die ihn genommen haben, müsstest du ihn doch an jedes andere Militär dieser Welt verkaufen können. Außer dem amerikanischen, natürlich.«

»Theoretisch ja. Genau das hat der Deutsche auch gedacht, der die Idee hatte, das Ding für den Krankentransport umzubauen, und wir machten einen Deal. Was ich bislang gekriegt habe, sind dreiunddreißig Komma drei Prozent von nichts.« Und achtzehn Monate Gejammer, das Design sei schuld, und dann hatte er amateurhafte »Verbesserungsvorschläge«. Bernhard und ich konnten einfach nicht miteinander, und als er schließlich das Handtuch warf, war ich unendlich erleichtert, ihn los zu sein.

Jim brachte mich samt Karren zu Camille, die etwa einen Kilometer außerhalb der Stadt wohnte. »Zwei Gästezimmer. Drei Schlafzimmer. Im Schlafzimmer bewacht ein halb lebensgroßer Jesus das Ehebett. Geräumige altmodische Küche. Ausgebauter Dachboden. Vor zwei Jahren wollte sie mal was Kleineres. Die Treppen sind jedenfalls nicht behindertengerecht. Finde raus, was sie vorhat, und wir sind quitt.«

Eine zierliche – petite – Frau um die fünfundvierzig öffnete die Tür, vermutlich Camilles Pflegerin. »Sind Camille oder Gilbert da?«, fragte ich auf Französisch.

»Ah, du bist Martin!«, rief sie auf Englisch mit starkem französischem Akzent, küsste mich auf beide Wangen und verkündete: »Ich bin Camille. Komm rein. Gilbert ist zum Flughafen gefahren, um deine Tochter abzuholen. Sie wollte ein Taxi nehmen – ein Taxi von Lyon nach Cluny! Verrückt.«

Meine Entschuldigung in Sarahs Namen musste warten, denn – zack! – war Camille schon in die Küche verschwunden, wo sie jedoch augenblicklich wieder umdrehte und zur Eingangstür zurückkehrte, an der ich noch stand. Sie war schätzungsweise so groß wie Zoe, knapp eins siebzig, trug enge weiße Jeans, ein hellblaues T-Shirt und blau-weiße High Heels. In denen sie problemlos herumspazierte.

»Ich sagte: Komm rein. Was ist das?« Sie deutete auf den Karton, in dem der Krankenkarren war, mit dem ich sie morgen hatte herumkutschieren wollen.

»Das ist ein Karren …«

»Ach, natürlich. Ich vergaß. Du bist ja der englische Karrenkerl. Als Zoe damals erzählte, sie hätte sich in einen Mann mit einem Karren verliebt, wusste ich sofort, dass du das warst, weil jeder in Cluny deinen verrückten Karren kannte und niemand sonst mit so was den Chemin gelaufen wäre. Aber jetzt willst du sicher erst einmal was trinken – Bier?«

»Ein Bier wäre phantastisch, aber vorher würde ich gern noch duschen.« Und überlegen, wie wir das mit der Multiplen Sklerose klären.

»Natürlich, deine chambre ist oben. Gehörte mal meinem Jungen, der leider nicht mehr bei uns ist. Sein Name steht an der Tür.«

»Wie heißt … hieß … er?«

»Bastien.«

Sie machte keine Anstalten, mich zu begleiten, also stieg ich mit meinem Rucksack allein nach oben. Im Zimmer stand ein ziemlich schmales Bett, und es gab glücklicherweise keine besonderen Andenken an den verstorbenen Bewohner.

Ich war froh, vor Zoe da zu sein; ein wenig Zeit zum Nachdenken konnte ich gut gebrauchen. Mir war nicht klar, ob sie unsere Beziehung wieder aufleben lassen wollte. Unabhängig davon verordnete ich mir das Mantra »Immer langsam«.

Ich zog mich aus und ging ins angrenzende Badezimmer – wo Zoe gerade aus der Dusche kam.

»Scheiße!« Sie sah sich um, vermutlich nach einem Handtuch, stürzte an mir vorbei ins Gästezimmer, wo auch keins auf dem Bett lag, und fing dann an zu lachen. »Ich dachte, du kommst nicht.«

»Ich habe dir eine E-Mail geschrieben.«

Sie trug das Haar kürzer, ansonsten sah sie genauso aus wie die Frau, von der ich mich vor drei Jahren am Flughafen von San Francisco verabschiedet hatte. Wobei sie damals etwas anhatte.

»Kriege ich einen Kuss?«, fragte sie.

So viel zu »Immer langsam«. Das war eine doch recht klare Botschaft, und ich ging spontan darauf ein. In dem Moment flog die Tür auf, und Camille kam ins Zimmer.

»Ich hatte ganz vergessen zu sagen, dass Zoe schon hier ist. Aber wie ich sehe, hast du sie ja gefunden.«

Camille und Zoe waren seit ewigen Zeiten befreundet; ich war hier der prüde Engländer. Als wären wir zwei Teenager, die von einem Elternteil überrascht wurden.

Korrigiere: Eltern im Plural.

»Camille? Du hast die hier vergessen.« Ein älterer Mann, nicht besonders groß und übergewichtig, einen Stapel Handtücher im Arm, kam ins Zimmer. Als er Zoe und mich sah, fuhr er zurück. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich kapierte: Das war Gilbert, der Ehemann. Allerdings kam er mir vage bekannt vor. Und er war zum Flughafen gefahren, um Sarah abzuholen.

Just in diesem Moment kam meine Tochter die Treppe hoch, guckte ins Zimmer, nahm die Szene in sich auf, wandte sich zum Gehen und stieß mit einem großen blonden Mann in Lederjacke zusammen.

Was um alles in der Welt machte Bernhard denn hier?

3Zoe

Als ich mit Anziehen fertig war, musste ich immer noch grinsen. Die Überraschung hatte mir einen Energieschub verpasst. Martins Gesichtsausdruck, als wir erwischt wurden, war so herrlich britisch – so typisch er –, dass ich komplett vergaß, beschämt zu sein. Und schließlich waren wir alle erwachsen – kein Thema also.

Ich gesellte mich zu den anderen ins Wohnzimmer und merkte sofort, dass es wohl doch ein Thema war. Bernhards Freundin wirkte verspannt. Groß, schmal, durchdringender Blick aus braunen Augen, krauses schwarzes Haar im Pferdeschwanz, weite Jeans und T-Shirt. Zu ernst.

Dann stellte Martin sie vor. Sie war nicht Bernhards Freundin. Allerdings hatte Martin nie erwähnt, dass Julia oder Sarah dunkelhäutig waren. Ich hatte keine Ahnung, was und wie viel er ihr von uns erzählt hatte. Vielleicht dachte sie, wir stünden ständig in Kontakt und das hier sei eines unserer regelmäßigen Treffen.

Sarah folgte Camille in die Küche. Flucht. Ich wusste immer noch nicht, was mit Camilles Krankheit war. Martin schien Fragen zu haben und zog mich in den Flur.

»Was zum Teufel macht Bernhard denn hier?«

Ich erklärte es.

»Er bringt seinen Karren vorbei? Das ist alles? Bist du sicher?«

Besagter junger Mann spazierte gerade – mit Gilbert parlierend – an uns vorbei. Er hatte in den drei Jahren zugelegt, was ihm recht gut stand. Gilbert war ebenfalls fülliger geworden, was nicht so vorteilhaft war, aber er hatte mich bei der Begrüßung herzlich umarmt und wirkte aufgeräumt und munter. Martin folgte den beiden nach draußen, und ich ging in die Küche.

Sarah schnitt Gemüse, Camille holte Zutaten aus dem Kühlschrank. Durch ihren kurzen, fransigen Haarschnitt wirkte sie jünger als bei unserer letzten Begegnung. Sie spürte meine Anwesenheit, ohne sich zu mir umzudrehen.

»Hilfst du mir, das Huhn zuzubereiten?«

»Camille … Ich bin Vegetarierin, erinnerst du dich?«

Sie drehte sich um. In der Hand hielt sie einen großen toten Vogel, mit Kopf. »Weißes Fleisch. Tatsächlich kein Hühnchen, sondern ein Kapaun, ein kastrierter Hahn. In Amerika ist das nicht erlaubt wegen der Chemie.«

»Vegetarisch bedeutet: überhaupt kein Fleisch.« Im letzten Jahr hatte ich sogar vegan gelebt, aber darauf wollte ich nicht weiter eingehen.

»Ich esse auch nicht viel Fleisch«, sagte Sarah. »Aber hey, heute gibt es einen speziellen Anlass.«

Ich ging nach draußen. In der Auffahrt standen zwei halb zusammengebaute Karren, an denen Bernhard und Martin wie die Kontrahenten in einer Reality-Show herumschraubten. Neben ihnen parkte ein Motorrad mit Beiwagen; damit musste Bernhard aus Stuttgart angereist sein.

Bernhard war fertig und stellte sich neben Martin.

»Das ist die alte Version, richtig?«

»Die mit der originalen Radaufhängung. Die Armee …«

»Die britische Armee.« Bernhard deutete auf das einzelne Rad seines Karrens. »Das hier ist stabiler. Es kann zweihundertfünfzig Kilo tragen.«

»Was dir nichts nützt, wenn du das Gewicht nicht den Berg hochkriegst. Beim Entwickeln geht es immer um Kompromisse …«

Jungs und ihr Spielzeug. Hätte ich gern zu Sarah gesagt, die dazugekommen war, aber ich musste erst einmal die Lage klären. Die junge Frau hatte einen Selbstmordversuch hinter sich. Brauchte sie ihren Vater immer noch, damit er auf sie aufpasste? Ich ging wieder in die Küche.

»Kann ich was helfen?«, fragte ich Camille, die Kartoffeln schälte. »Tut mir leid wegen des Hühnchens, aber …«

Sie zeigte auf einen Handrührer. »Schau mal, ob du die … die …«

»Rührstäbe?«

»Genau, die Rührstäbe reinkriegst. Ich glaube, da gibt es ein Problem.«

»Wusstest du, dass Martin und Sarah kommen?« Die beiden Rührstäbe rasteten ohne jeden Widerstand ein.

»Natürlich. Er hat Gilbert eine E-Mail geschrieben. Sie gehen den Anfang mit. Drei Wochen, glaube ich. Hat er dir das nicht gesagt?«

»Ich habe meine Mails noch nicht gelesen.« Ich hatte für Europa eine neue SIM-Karte besorgt, sie aber noch nicht eingesetzt. Ein Teil von mir hätte das Handy gern zurückgelassen, so wie bei meinem ersten Camino, aber die praktischen Aspekte überwogen.

Camille redete mit dem Herd. »Du und ich. Wieder auf großer Reise.«

»Wie … Geht es dir gut?«

Sie drehte sich um. »Du hältst mich für verrückt, oder?«

»Ich glaube, jeder, der einen Camino – einen Chemin – geht, muss mindestens ein bisschen verrückt sein.« Oder naiv, hätte ich hinzufügen können – denn das war ich beim ersten Mal definitiv gewesen.

»Früher hätte ich so etwas nie in Erwägung gezogen. Den Papst – ja. Das Wandern – nein. Aber nachdem du …«

»Dir ist schon klar, dass das richtig, richtig hart wird, oder? Und lang?«

»Wie das Leben, meinst du? Obwohl das in meinem Fall ja nun nicht so lang wird, wie ich immer dachte.« Sie hielt kurz inne. Dann: »Es sei denn, Gott hat mit mir Erbarmen.«

Sie war also tatsächlich krank. Die Ärzte mussten es festgestellt haben, bevor sich ernsthafte Symptome zeigten. Das war schon mal gut.

 

Das Abendessen wurde zum Festmahl, das mit Beaujolais und frischgebackenen Käsewindbeuteln begann. Toll, wenn man Käse aß. Ich beschloss, es zu tun. Es war schon immer der Käse gewesen, der mir das vegane Leben schwergemacht hatte.

»Océane studiert jetzt in Paris«, erzählte Camille. »Sie lebt bei ihrem Vater.«

»Und Bastien wohnt bei seiner Mutter«, ergänzte Gilbert. »Das war traurig, aber letztlich für alle das Beste.«

»Ach herrje«, Martin stöhnte und schüttelte den Kopf. Er benahm sich seltsam. Und irgendwie hatte ich vergessen, dass Bastien ja Gilberts Sohn war und nicht Camilles.

Gilbert schloss die Lücken. »Als Camille und ich uns damals trennten, wollte er bei seiner Mutter leben. Marianne ging es zu der Zeit nicht so gut«, er tippte sich an den Kopf, was wohl auf instabile psychische Gesundheit hinweisen sollte, »aber jetzt geht es ihr besser.« Er sah zu Camille. »Relativ.«

»Bastien war ein Geschenk Gottes«, sagte Camille. Jetzt fiel es mir wieder ein: Sie hatte Probleme gehabt, von Océanes Vater erneut schwanger zu werden. Nach einer Fehlgeburt und einer künstlichen Befruchtung hatten wir Briefkontakt gehabt und sogar telefoniert. Bastien war dann ein »Glücksfall« gewesen, aber ich hatte nicht registriert, dass er quasi als Bonus mit der neuen Partnerschaft gekommen war.

»Seit drei Monaten sind wir wieder zusammen«, fuhr Gilbert fort und legte eine Hand auf Camilles Schulter. »Als Camille mir von der Diagnose erzählte, habe ich sie zu den Ärzten begleitet. Die Krankheit war der Grund für all unsere Probleme.«

Wie froh war Camille wirklich, dass ihr Ex zurückkehrte, anstatt sich erst recht aus dem Staub zu machen? Aber irgendjemand musste auch die Kernfrage stellen.

»Also, du hast Multiple Sklerose, richtig?«, fragte ich nach. »Entschuldige, aber ich dachte, du …« Camille wartete, dass ich den Satz beendete. »… könntest nicht mehr richtig laufen.«

»Das ist ein Stereotyp«, erklärte Sarah, die Medizinstudentin – wobei sie zwei Jahre nach ihrem Highschool-Abschluss genau genommen erst im allgemeinen Vorstudium sein konnte. Und für den Fall, dass jemand das Wort »Stereotyp« nicht verstand, fügte sie hinzu: »Also dass man bei dieser Krankheit immer nur an die typischen Symptome und den typischen Verlauf denkt.«

Ich sah Martin an. Ich konnte immer noch nicht erkennen, was er dachte. Daran musste ich arbeiten.

Camille winkte ab. »Es hat schon vor langer Zeit begonnen. Ich bin mal auf einem Auge blind gewesen. Aber nicht sehr lange, deshalb habe ich mir keine Sorgen gemacht.«

Ich konnte sehen, dass Gilbert zögerte. »Bei Camille zeigt sich die Krankheit … auf besondere Weise. Nicht so sehr körperlich.«

»Hin und wieder beeinträchtigt sie eher die kognitiven Funktionen – das Denkvermögen – als die motorischen«, erklärte unsere angehende Medizinstudentin und beförderte sich damit sowohl zur Neurologin als auch zur Grundschullehrerin. »Zunächst«, ergänzte sie.

»Ja«, bestätigte Gilbert. »Camille vergisst manche Sachen.«

»Unwichtige Sachen«, sagte Camille.

»Und manchmal ist sie etwas taktlos; ihr solltet also nicht beleidigt sein. Und außerdem …«

»Außerdem ist es unhöflich, beim Essen über Krankheiten zu sprechen«, sagte Camille.

»Dann brauchen wir also keinen der beiden Karren?«, hakte Martin nach. »Weder den guten noch den weniger guten?«

Bevor Bernhard anfangen konnte zu streiten, sagte Camille: »Ihr habt die für mich mitgebracht?« Sie lachte. »Also, im Moment brauche ich so etwas nicht. Am Ende wird bei mir natürlich alles kaputt sein.«

Eine unangenehme Stille kam auf, die Martin unterbrach, indem er Bernhard für den nächsten Morgen Hilfe beim Einpacken seines Karrens anbot.

»Der kann hierbleiben. Ich gehe doch mit.«

»Wieso?«, wollte Martin wissen.

»Wieso nicht? Ich habe gerade nichts Besseres vor.«

Sarah offenbar auch nicht. Musste sie denn nicht studieren? Meine Mädchen hätten keine zehn Pferde zum Wandern mit mir und einer Bande von Erwachsenen gebracht.

»Die alte Truppe ist wieder vereint.« Bernhard grinste.

Gilbert bot an, Wein nachzuschenken, und Martin leerte sein Glas, um Platz zu schaffen. Diesmal wusste ich, was er dachte – und empfand selbst genau das Gegenteil: Ich hatte Bernhard schon vor langer Zeit lieb gewonnen, und wenn er Martin nervte, war das nur ein Ausgleich dafür, dass Sarah mich nervte.

Camille servierte den riesigen Vogel.

»Die Haut sieht megaknusprig aus«, sagte Sarah. »Danke für den Kochkurs.«

Gilbert holte ein üppiges Kartoffelgratin mit viel Käse und Sahne. Er raunte Camille etwas zu, woraufhin sie in die Küche sauste und anschließend verkündete, die Bohnen kämen etwas später. Sie musste vergessen haben, sie aufzusetzen. Hatte das etwas zu bedeuten? Wenn ich ein Essen für sechs Leute hätte kochen wollen, hätte ich sicher auch etwas vermurkst.

Ich nahm mir etwas Brot. Ganz leichtes Weißbrot. Meine Ballaststoffe würde ich mir anderweitig holen müssen.

Auf den Hauptgang folgten eine Käseplatte, die Gilbert ausführlich erläuterte, und ein clafoutis aux mirabelles, ein Mirabellenauflauf, allerdings mit Schafskäse. Camille als Köchin kannte ich noch gar nicht. Na gut, vor drei Jahren hatte sie was mit Kaninchen gemacht, also … Im College war sie jedenfalls Fan von Instantnudeln und Essen to go gewesen.

Irgendwann kamen wir endlich dazu, über das zu reden, weshalb wir eigentlich hier waren. Zum Glück hatte Gilbert bereits einige Recherchen angestellt. Als ich damals zum Camino de Santiago aufbrach, wusste ich nichts außer Folge den Jakobsmuscheln und Ruh dich aus, wenn du müde bist.

Er holte einen Ausdruck von der Anrichte. »Der Assisiweg, benannt nach dem heiligen Franz von Assisi. Dreiundsechzig Tage von Cluny nach Assisi. Danach vierzehn Tage von Assisi nach Rom auf der Via di Francesco, dem Franziskusweg. Insgesamt also siebenundsiebzig Tage und eintausendsechshundert Kilometer. Schwierigkeitsgrad: einfach bis anspruchsvoll.«

Eintausend Meilen.

Martin nahm das Blatt entgegen. »Ein ehrgeiziger Zeitplan.«

Gilbert wirkte überrascht. »So wird es empfohlen.«

»Weil sie davon ausgehen, dass du von Anfang bis Ende unverändert fit bist.«

»Es dauert so lange, wie es dauert. Und natürlich erwarten wir nicht, dass ihr alle uns bis zum Ende begleitet.«

Ich wollte gerade versprechen, dass ich das tun würde, hielt dann aber inne. Das konnte warten. »Wie schwer ist dein Rucksack, Camille?« Ich rechnete damit, Kosmetika, kniehohe Stiefel und ein Abendkleid rausschmeißen zu müssen.

»Sechs Komma zwei Kilo«, antwortete Gilbert.

»Zehn Pfund«, verkündete Sarah für den Fall, dass ich nicht umrechnen konnte. Na, das würde ja nervig werden.

Ich lief in mein Zimmer – unser Zimmer – und kehrte mit den Seidenschlafsäcken und Campinghandtüchern zurück, die ich für die beiden gekauft hatte. »Die hier werdet ihr brauchen.«

Gilbert schüttelte den Kopf. »Danke, Zoe, aber so was haben wir schon.«

»Im Organisieren ist er gut«, kommentierte Camille.

»Besser als ich«, sagte Martin. »Ich wollte in Cluny ein Handtuch und einen Schlafsack für Sarah kaufen, aber …«

»Hier, bitte.« Ich gab Sarah die Sachen, die sie verlegen akzeptierte.

»Und das hier braucht niemand?« Bernhard deutete auf den verbliebenen Schlafsack und das Handtuch. »Die sind nämlich viel besser als meine.«

Er konnte die Sachen haben, ich war ihm sowieso noch etwas schuldig.

»Für die ersten zwei Nächte habe ich schon eine Unterkunft reserviert«, fuhr Gilbert fort. »Aber nicht für Bernhard, der für mich ganz überraschend dazugekommen ist. Er ist natürlich eine willkommene Überraschung.«

»Kein Problem«, sagte Bernhard. »Ich kann mir etwas organisieren.« Darin war Bernhard gut. Und kam immer günstig dabei weg.

»Wir brauchen noch ein Zimmer für mich und eins für Sarah«, sagte Martin, ohne mich anzusehen.

»Schon reserviert«, sagte Gilbert.

Ich war davon ausgegangen, dass Martin und ich uns zusammen ein Zimmer nehmen würden – und fortsetzten, was wir einmal begonnen hatten. Doch seine Tochter warf mir einen kritischen Blick zu. Es war drei Jahre her. Und ich hatte ihm einen Korb gegeben.

»Und ein Zimmer für mich, nehme ich an«, sagte ich.

Martin sah mich an. Wieder auf diese undurchschaubare Art. »Und heute werde ich wohl auf dem Dachboden schlafen«, sagte er. Während ich mich noch wunderte, woher er wusste, dass es einen Dachboden gab, fügte er zu Camille gewandt hinzu: »Ich habe einen Schlafsack. So richtig altmodisch und schwer.«

4Martin

Nachdem wir – zur Zufriedenheit des einzig qualifizierten Ingenieurs vor Ort – geklärt hatten, welcher Karren der bessere war, ließen wir beide zurück. Wie die Pilger von früher gingen wir von unserer Unterkunft direkt zu unserem Startpunkt: Cluny centre ville. Doch anders als die Urwanderer waren vier von uns bereits von weither angereist – Sheffield, Edinburgh, Stuttgart, San Francisco –, und das per Transportmittel, die die antiken Pilger sich nicht einmal hätten vorstellen können. Und wir vier hatten uns noch vor wenigen Tagen nicht vorstellen können, überhaupt herzukommen.

Nun, da ich mehr über Camilles Krankheit wusste, achtete ich auf Zeichen, die auf den von Gilbert angekündigten Unterstützungsbedarf hinwiesen. Ihrer beider Gepäck hatte er nach einer Empfehlungsliste zusammengestellt, aber Zoe fiel auf, dass Kühlschrank und Obstschale noch geleert werden mussten. Und hatte Camille tatsächlich »vergessen«, dass sie mein Zimmer vorher an Zoe vergeben hatte? Oder war sie davon ausgegangen, dass wir ohnehin das Bett teilen würden? Zoe konnte es ihr nicht vorgeschlagen haben, denn sie hatte nicht gewusst, dass ich kommen würde – nachdem Camille auch vergessen hatte, ihr das zu erzählen. Aber hatte Zoe sich derart klar zu ihren Gefühlen für mich geäußert, dass Camille die Zuteilung der Zimmer nicht weiter hinterfragt hatte?

Was Sarah betraf, die uns – beinahe – in flagranti erwischt hatte, so hatte ich ihren Blick als »Lass uns nie wieder darüber reden« interpretiert. Damit konnte ich leben.

An diesem Tag trug sie kurze Hosen, die zu eng aussahen, als dass sie aus einem Outdoorladen stammen konnten. Ich hoffte, Bernhard würde sie nicht anbaggern, obwohl ich ziemlich sicher war, dass sie jeden solcherlei gearteten Versuch ignorieren würde: Er war wohl kaum ihr Typ. Allerdings fiel mir auf, dass sie seit unserer letzten Begegnung sichtbar abgenommen hatte. Vielleicht war an Julias Befürchtung hinsichtlich der Magersucht etwas dran.

In Cluny machten wir halt, um beim Vertreter der Organisation »Freunde des Camino« unsere Pilgerausweise abzuholen: Jules Chevalier hielt in demselben Café Hof, das ihm auch damals als Ausgabestelle gedient hatte, als Zoe und ich nach Spanien aufgebrochen waren. Er sah kaum verändert aus: etwa im selben Alter wie Gilbert, aber weniger bourgeois, eher ein bisschen verlottert.

Ich freute mich, Sarah das Ausweisritual erklären zu können. Selbst für einen eingerosteten Atheisten wie mich hatte der Camino eine spirituelle Komponente, und Monsieur Chevalier war daran gelegen, dass niemand losging, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Er sprach zunächst allein mit Zoe, während wir übrigen an einem anderen Tisch Kaffee tranken. Dann reichte Zoe den Staffelstab an mich weiter, und Monsieur Chevalier kam direkt zur Sache.

»Sie machen einen schweren Fehler. Dem Weg nach Rom fehlt die Tradition der Chemins nach Santiago de Compostela.«

»Leider weilt der Papst nicht in Santiago«, wies ich auf das Offensichtliche hin.

Bevor ich es weiter ausführen konnte, winkte er ab. »Das verstehe ich, und ich sage das nur Ihnen: Sie hätten Ihre Freunde überzeugen sollen, den traditionellen Weg zu gehen. Da es aber nun mal so ist, wie es ist, sollten Sie sich darum kümmern, dass alle das richtige Schuhwerk tragen und sich so verhalten, dass sie den Weg sicher zurücklegen. Sie haben die Erfahrung.« Die hatten Zoe und Bernhard ebenfalls, doch ich schwieg.

Er nippte an seinem Kaffee. Gleich käme der Segen.

»Die Menschen gehen aus den unterschiedlichsten Gründen auf Pilgerreise, und alle werden auf irgendeine Art verändert. Diejenigen, die ein weiteres Mal losziehen, suchen mehr. Wenn Sie mit der richtigen Einstellung gehen, werden Sie es finden, auch auf dem Assisiweg.« Dramatische Pause. »Der Chemin wird Sie befreien. Und jetzt schicken Sie mir den jungen Mann. Und bestellen mir noch einen Kaffee.«

Bis Monsieur Chevalier uns alle mit Rat und Segen versorgt hatte, verging eine volle Stunde, so konnte ich kurz verschwinden und Brot und Salami für unser Mittagessen besorgen. Als Camille, seine letzte Kandidatin, wieder an unseren Tisch kam, schnappte Bernhard sich seinen Rucksack mit einem Blick, der sagte: Können wir jetzt endlich mal los?

»Aber haben wir nicht etwas vergessen?«, hakte ich nach. »Weshalb sind wir denn überhaupt hergekommen?«

»Ach so«, meinte Zoe. »Monsieur Chevalier hat mir zu Anfang gleich gesagt, dass er für den Assisiweg keine Pilgerpässe ausstellt. Das macht eine andere Organisation. In Sainte Cécile.« Nach einem Blick in die Runde fügte sie schnell hinzu: »Das liegt auf dem Weg.«

 

Vermutlich hätte Monsieur Chevalier argumentiert, der Assisiweg sei weniger geschichtsträchtig als sein bekannterer Bruder, aber nach Rom sind die Menschen schon gepilgert, noch ehe Santiago zum Ziel wurde. Was die Authentizität betraf, folgte keiner der Wege – bis auf wenige Etappen – den antiken Pfaden, und zwar aus dem rein praktischen Grund, dass sie zu Autostraßen und Bahnstrecken geworden waren. Der Bezug zu Franz von Assisi rührte daher, dass er als sehr naturverbunden galt – Wanderungen oder Reisen von ihm waren nicht dokumentiert.

Tatsächlich sind hinter Cluny der erste Abschnitt des Assisiwegs und der Camino de Santiago identisch, so dass Zoe, Bernhard und ich zunächst auf vertrautem Terrain wanderten.

Wir verließen die befestigte Straße, und der Wanderweg war einigermaßen breit, aber es wäre unpraktisch gewesen, als Gruppe nebeneinanderher zu laufen und uns zu unterhalten, also teilten wir uns in Pärchen auf. Ich wäre gern mit Zoe gegangen, wollte aber nicht, dass Sarah dachte, sie sei nur als Mittel zum Zweck dabei.

Wie das so oft der Fall ist, wenn man sich viel Zeit für schwierige Themen nimmt, machten auch wir diesbezüglich keine Fortschritte. Sarah zeigte sich jedoch höflich interessiert, als ich von meinem ersten Camino erzählte. Ich zeigte ihr die Jakobsmuscheln, die an den Laternenpfählen und Bäumen neben dem Assisizeichen zu sehen waren, das wiederum aus einem großen T (beziehungsweise dem griechischen Buchstaben Tau) auf orangefarbenem Grund mit einer stilisierten Taube bestand, die entweder nach links, nach rechts oder geradeaus flog, je nachdem, wohin der Weg führte.

»Was ist bequemer – Rucksack oder Karren?«, wollte sie wissen.

»Wenn ich die Frage am ersten Tag ehrlich beantwortet hätte, wäre ich damit gar nicht erst losgezogen.«

»Und hättest all das Schöne nicht erlebt. Einschließlich Zoe.«

»Was hat Monsieur Chevalier zu dir gesagt?«

»Ach, irgendwas … Wusstest du, dass er den Camino schon neun Mal gegangen ist? Und seine Frau … ungefähr dreißig Mal?«

»Ja, komisch, wie Menschen wieder und wieder dasselbe machen können«, antwortete ich.

»Wenn ich Chirurgin wäre, würde ich die gleiche OP auch immer wieder durchführen.«

»Hast du vor, Chirurgin zu werden?«

»Immer wieder dieselben Sachen zu machen, ist eigentlich nicht das, was ich im Leben will. Warum gehst du nicht mit Zoe?«

 

Kurz nach Mittag erreichten wir das zehn Kilometer von Cluny entfernte Sainte Cécile.

»Ich habe uns etwas zum Mittagessen reserviert«, sagte Gilbert. »Ein exzellentes Restaurant.«

Zoe und ich tauschten Blicke. Ich sah uns schon um drei Uhr nachmittags noch sitzen, während Gilbert Cognac zu den Petits Fours bestellte.

»Dann bin ich jetzt mal der Spielverderber«, sagte ich. »Ich habe beim ersten Camino ein paarmal Mittagessen mit zwei Gängen probiert und es nachmittags immer bitter bereut. Außerdem haben wir Obst und Salami.«

Man konnte Gilbert ansehen, wie er mit sich rang, ob er protestieren sollte. Meine Erfahrung verlieh mir einen Vorsprung, auch wenn es in diesem Fall eine erfundene Erfahrung war. Schließlich nickte er.

»Mein Arzt würde zustimmen. Weniger Mittagessen, mehr Wandern.«

Camille schlüpfte in die Kirche, um eine Kerze anzuzünden, ging anschließend in einer Tankstelle zur Toilette, dann machten wir uns wieder auf den Weg.

Zu der Adresse, die Zoe für die Pilgerausweise bekommen hatte, waren es noch ein paar Kilometer. Eine nette Bäuerin gab sie ohne weitere Ratschläge aus, dafür allerdings mit einer guten Tasse Kaffee, den ihr halbwüchsiger Sohn gekocht hatte.

Nachdem wir wieder aufgebrochen waren, hörten wir etwa eine Viertelstunde später hinter uns ein Moped knattern. Es war der Kaffee kochende Junge, der uns erst überholte, dann mit aufspritzendem Kies einscherte und anhielt.

»Tampons!«, rief er. »Ihr vergesst die tampons.«

Ich bekam mit, dass Sarah verstört zu Zoe und Camille sah. Sie hätte im Französischunterricht besser aufpassen sollen, denn der Junge zog einen Stempel – tampon – aus der Tasche und versah unsere noch jungfräulichen Pilgerpässe mit dem Tau-Symbol und trug Ort und Datum ein.

 

Auf der zweiten Etappe nach Tramayes ging ich mit Zoe. Der Weg war derselbe wie beim letzten Mal, aber sonst war alles anders: Zoe neben mir, ein Rucksack, der mehr Bewegungsfreiheit bot als der Karren, die Jahreszeit. Der August in Frankreich war heiß. Käppi, Sonnenbrille und Shorts ersetzten die Fleecejacken, Mützen und Handschuhe, die wir im Winter getragen hatten.

Und seltsam: Beim ersten Mal hatte ich schnell einen Blick für die Jakobsmuscheln bekommen, das Tau mit der Taube jedoch kaum registriert. Nun sah ich es überall.

Während die anderen vorausmarschierten, blieb Zoe stehen und holte etwas aus der oberen Tasche ihres Rucksacks. »Ich weiß, du glaubst nicht an solche Sachen, aber …«

Sie hielt mir ein kleines hölzernes Tau entgegen, das sie bei unserer Passdame gekauft haben musste. Es hing an einer Schnur, und ich ließ es mir um den Hals binden. Ihr eigenes hatte sie schon an ihrer Kette mit dem Taubenanhänger befestigt. Die war mir am Vortag bereits aufgefallen, weil es das einzige Schmuckstück gewesen war, das sie getragen hatte.

»Welchen weisen Ratschlag hat der Monsieur dir denn diesmal mit auf den Weg gegeben?«, wollte ich wissen.

»Er sagte, der Chemin werde mich befreien … Warum lachst du?«

»Mir hat er dasselbe prophezeit. Und ich muss gestehen, dass ich mir eigentlich genau das Gegenteil erhoffe.«

»Ich wusste überhaupt nicht, dass du kommst. Erst als du in mein Badezimmer geplatzt bist …«

»In unser Badezimmer – wenn es nach deiner Freundin gegangen wäre.«

»Habe ich mich etwa beschwert?«

»Darf ich das als erneute Einladung verstehen?«

»Jetzt ist ja niemand da, der uns dazwischenfunken kann.«

5Zoe

»Und? Gute Entscheidung oder schlechte?«, fragte Martin nach einem zärtlichen, aber verhältnismäßig kurzen Kuss, der mir signalisierte, dass er sich noch nicht im Klaren war, wie es mit uns weitergehen würde. Damit waren wir zu zweit.

»Das war für mich keine Frage. Camille hat mich gebraucht. Es ist schön hier. Und es ist toll, dich dabeizuhaben.«

»Ich meinte deine Entscheidung vor drei Jahren.«

Er sagte nichts mehr und wartete auf meine Antwort.

Wir wanderten durch einen dichtbelaubten Wald, der immer wieder von breiten Lichtungen mit Wildblumenwiesen durchbrochen wurde. Da wir nahe dem Hügelkamm marschierten, war der Pfad eben und einfach, und wir hatten rechts und links schöne Ausblicke auf Täler und Höhen. Die einzigen Geräusche waren das Zwitschern der Vögel von oben und Martins klickende Wanderstöcke am Boden.

Ich wollte keine Spielchen spielen. Das Universum hatte mir – uns – aus dem Nichts eine zweite Chance gegeben, aber es blieb nicht viel Zeit, bevor Martin wieder nach England zurückmusste.

»Das mit den Cartoons hat sich nicht so gut entwickelt, wie ich gehofft hatte«, begann ich. »Finanziell geht es mir gut – das ist noch mal eine andere Geschichte –, aber irgendetwas fehlt.«

»Wann hast du das erkannt?«

»Spielt das eine Rolle? Ich habe nichts unternommen, und es ist sinnlos, über Dinge zu reden, die nicht passiert sind. Wie ist es bei dir?«

»Wie du schon sagst: Die Vergangenheit kann man nicht ändern. Aber es hat mich ganz schön mitgenommen. Ich dachte, zwischen uns wäre etwas gewesen.«

»Meinst du, ich war zu feige, es dir offen zu sagen?«

Schweigen.

»Martin, als du wieder ins Flugzeug gestiegen bist, wolltest du, dass ich zu dir nach London komme – entschuldige, nach Sheffield. Oder? Das war es, weshalb du eigentlich bei mir warst, ja?«

»Mehr oder weniger. Ich wollte nicht nur eine Pilgerfreundin.«

»Tessa hat damals bei mir übernachtet.«

»Wie könnte ich das je vergessen?«

»Tja, das passiert eben, wenn man unangemeldet aufkreuzt.« Es war ein bisschen so gewesen wie in den Schlafsälen auf dem Camino.

»Und sie hat es dir ausgeredet?«

»Im Gegenteil. Sie sagte: ›Mom, du vertraust doch immer deiner Intuition. Geh, wohin dein Herz dich trägt – nicht zu fassen, dass die Taube, die ich dir geschenkt habe, das Symbol für den Assisiweg ist …‹, und ich fing an, mich zu sträuben. Ich wollte selbst bestimmen, was mit mir passiert, anstatt Botschaften des Universums zu entziffern …«

Martin lachte. »Dagegen lässt sich schwer argumentieren, abgesehen vom Ergebnis. Und das war alles?«

»Nein.« Besser, alles gleich offen anzusprechen. »Du konntest wegen Sarah nicht bei mir in San Francisco leben. Das habe ich verstanden – verstehe ich auch jetzt –, aber für mich war die Ausgangslage dadurch eine völlig andere. In meinem Leben hättest du an erster Stelle gestanden, ich in deinem aber nur an zweiter. Das klingt jetzt bestimmt egoistisch.«

»Keineswegs. Wenn deine Töchter dich gebraucht hätten …«

»Haben sie aber nicht.«

Wir taten das, was ich mir geschworen hatte, nicht zu tun: die Entscheidung neu zu verhandeln. Damit hatte ich genug einsame Nächte verbracht und war oft kurz davor gewesen, ihn anzurufen.

»Aber du bist drüber hinweggekommen, oder?«, fragte ich. »Hast du inzwischen jemanden kennengelernt?«

»Ach, ein paar Schauspielerinnen, eine Bestsellerautorin, eine dänische Prinzessin … Nichts Besonderes.«

»Wow, und was lief fa…?« Er lachte. Ich revanchierte mich. »Aber du konntest nicht aufhören, an mich zu denken.«

»Das stimmt allerdings.«

Es bestand tatsächlich die Chance, dass ich mich wieder in ihn verliebte. Aber ich würde weder sein noch mein Leben vollkommen umkrempeln, ehe ich nicht ganz sicher war.

»Meine Töchter haben mir bei einer Dating-App ein Profil erstellt. Ich habe ihnen das Foto gegeben, das du bei unserer Ankunft in Santiago von mir gemacht hattest. Weil darin so viel positive Energie steckte.«

»Und dann hast du eine Million Nachrichten bekommen?«

»Ganz genau.«

»Ich meinte das ernst.«

»Ich hätte ein Foto ohne Rucksack nehmen sollen. Viele Wanderer wollten auf dem AppalachianTrail ihren Schlafsack mit mir teilen. Ich meine, der Camino war toll, aber das waren so Hardcore-Typen. Trockenei-und-rohe-Nudeln-Burschen. Und Unterwäsche wechseln überflüssig …«

»Und das war’s?«

In drei Jahren? »Hey. Ich hab’s dir erzählt. Ich habe Männer kennengelernt. Niemand Besonderen. Wie läuft es mit dir und Julia?«

»Uns beiden liegt am Herzen, dass es Sarah gut geht. Wir haben gelernt, darüber zu sprechen, ohne uns Sachen an den Kopf zu werfen.« Er lächelte. »Willst du ein Foto sehen?«

Er nahm sein Handy, öffnete eine Website, und da war sie: eine ältere, markantere Version von Sarah mit einem Leg-dich-nicht-mit-mir-an-Blick. Ich schätze, aus genau diesem Grund hatte er das Foto gewählt: um mir zu zeigen, womit er es zu tun hatte – oder womit er fertig wurde. Unter dem Bild stand »Hauptrednerin, Lean-In-Konferenz«. Wenn Sarah bei feministischen Themen ebenso redegewandt war wie ihre Mutter, würde es interessant werden zu sehen, wie sie mit Camille zurechtkam.

»Was macht sie?«

»Personalwesen. Aber sie lebt ihr eigenes Leben. Ich bin immer noch Single, und jetzt gehe ich mit dir wieder einen Camino. Erinnerst du dich an unsere letzte Nacht in San Francisco?«

»M-hm. Und ich habe auch nicht vergessen, was wir gesagt haben. Aber wir haben uns nicht versprochen, dass wir drei Jahre später, ohne jeden Kontakt, noch dasselbe empfinden würden.« Es wäre zu schmerzhaft gewesen, den Kontakt zu halten – und war daher einfacher gewesen, alles abzubrechen.

»Nein, aber …«

»Wir haben wie viele Tage?«, fragte ich.

»Drei Wochen. Sonst stehe ich ohne Job da.«

»Gib mir ein paar Tage, um darüber nachzudenken. Und dir auch.«

Wir liefen wieder eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann fragte ich: »Hat der Camino dich wirklich verändert?«

»Ich finde, ja. Ich nehme meine Umgebung bewusster wahr … also: unmittelbarer. Pflanzen … Jahreszeiten … was um mich herum passiert. Und ich denke mehr über mich nach. Was eventuell an einer Frau aus Kalifornien liegt, die ich auf dem Weg getroffen habe. Was ist mit dir?«

»Ich versuche vor allem, genügsamer und praktischer zu leben. Ich kaufe nicht mehr so viel Zeug – meine Freunde halten mich schon für eine Entrümpelungsexpertin.«

»Und die wichtigste Lektion?«

»Immer langsam. Ein Tag nach dem anderen. Ich sollte mir das zu Herzen nehmen. Wir sollten uns das zu Herzen nehmen.«

Martin lachte. »Ich bin schon gespannt, was Camille für sich mitnimmt. Meinen die beiden das wirklich ernst?«

»Ich habe noch nicht richtig mit ihr gesprochen, aber glaub mir: Ein Wandervogel war sie nie.«

»Wenn sie etwas so Untypisches tut, ist das vielleicht der beste Beweis, dass sie es ernst meint.«

»Im College hat sie mal mit Gewichtheben angefangen, weil jemand meinte, sie würde dadurch hübschere Arme bekommen, und dann hat jemand anders gesagt, sie sähe damit weniger weiblich aus, also hat sie wieder aufgehört. Sie ist sehr impulsiv.«

»Muss ja lustig gewesen sein als ihre Mitbewohnerin.«