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Was wäre, wenn deine große Liebe nach langen Jahren wieder auftaucht? Darfst du alles riskieren für einen Traum? Für das ganz große Glück? Keiner schreibt so unnachahmlich über Männer und Gefühle wie ›Das Rosie-Projekt‹-Autor Simsion. Adam Sharp gefällt sein Leben: er lebt mit Claire zusammen, arbeitet als IT-Berater in London und gewinnt beim Pub-Quiz alle Musikfragen. Aber ab und zu überkommt ihn die Erinnerung an Angelina Brown. Vor über 20 Jahren, im sonnigen Melbourne, erlebte er mit ihr, was es bedeutet, wenn man die Liebe findet – und sie verliert. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er sie damals nicht hätte gehen lassen? Völlig überraschend meldet sich Angelina bei ihm. Was will sie? Haben die Songs doch recht, die von der ewigen Liebe erzählen? Sie lädt ihn in ihr Landhaus nach Frankreich ein. Adam muss sich fragen: wieviel Risiko darf man eingehen, wenn Träume auf einmal wahr werden könnten? Der große Roman über die Mitte des Lebens und das Gefühl, noch jung zu sein, übers Begegnen und Auseinanderleben, und eigentlich darüber, ob in der Liebe gestern und heute zusammenpassen. Der neue Roman vom Autor des Weltbestsellers ›Das Rosie-Projekt‹, Graeme Simsion.
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Seitenzahl: 445
Graeme Simsion
Der Mann, der zu träumen wagte
Roman
Aus dem australischen Englisch von Annette Hahn
FISCHER E-Books
Dieses Buch widme ich wiederum meiner Frau Anne – als Erstleserin, Mittäterin und Inspiration.
Außerdem möchte ich mich damit vor der Musik und den Musikern verneigen, die so viel zum Leben meiner Generation beigetragen haben. Sollten Sie die Songs in diesem Buch nicht kennen, empfehle ich, sie herunterzuladen und beim Lesen zu hören – eine Playlist findet sich am Ende.
Wäre mein Leben vor dem 15. Februar 2012 ein Song gewesen, dann vermutlich »Hey Jude«: eine einfache Melodie, die meine armselige Jugend, den sad song meiner Entwicklungsjahre, aufnähme und better machte. In der Mitte würde er anschwellen – »better, better, BETTER« –, um kurz etwas Außergewöhnliches anzukündigen … aber dann käme nur noch naa-na-na-nanananaa, wieder und wieder und an und für sich recht hübsch, aber eigentlich nur, weil es das heraufbeschwört, was vorher war.
Ein Tag, der in meinem alten Kinderzimmer in Manchester begann, umgeben von Schallplatten und Fotoalben, musste unweigerlich die Vergangenheit heraufbeschwören.
Der Gang zum Bahnhof, durch nieselgraue Straßen voll eingemummelter und in ihre Handys eingestöpselter Pendler, erinnerte mich nicht so sehr an vergangene Tage, als dass er eine Sehnsucht nach ihnen weckte – nach einem Sommer unter blauem Himmel eine halbe Welt entfernt, wo die Musik aus Ghettoblastern zusammenklang mit dem Lachen lässig gekleideter Biertrinker, die aus den Pubs auf die Fußwege strömten.
Mein Weg führte mich am Radisson Hotel vorbei, der einstigen Gewerbehalle der Stadt und Kulisse eines bahnbrechenden Moments der Musikgeschichte. 17. Mai 1966. Ein Konzertbesucher schreit dem jungen Bob Dylan, der nach der Pause mit elektrischer Gitarre auf die Bühne zurückgekehrt ist, »Judas!« entgegen, und der antwortet mit einer aufreizend schnellen und rockigen Version von »Like a Rolling Stone«. Mein Vater war im Publikum dabei, Zeuge jenes historischen Augenblicks.
Und in der Bahnhofshalle sang jetzt ein junges Mädchen mit hellblauem Daunenanorak und einer Beanie-Mütze, wie auch ich sie trug. Adeles »Someone Like You«, diesen Song über glanzvolle Tage und Schuldgefühle und das Verstreichen der Zeit. Es wäre einfach nur ein schönes Lied gewesen, hätte es in mir nicht Erinnerungen an eine andere junge Frau von vor zweiundzwanzig Jahren geweckt und damit die Aussage bekräftigt, dass Liebe die Zeit eben nur manchmal überdauert.
Ich lehnte mich gegenüber der Musikerin an die Wand. Zwischen uns eilten Leute vorüber, ein paar warfen Münzen in ihren Keyboard-Koffer. Sie sang ohne Mikrophon und überließ die Verstärkung der Akustik des überdachten Raums. Ihr Spiel war recht einfach, aber sie hatte eine gute Stimme und ein Gefühl für den Song.
Ich gab mich ganz dem Moment hin, fühlte, wie Musik und Darbietung die schlichten Emotionen in etwas Komplexeres verwandelten, und tauchte einen Moment lang in den süßen Schmerz der Nostalgie ein, der sich anders anfühlte als die Trübsal, mit der ich wie üblich im Haus meiner Mutter erwacht war.
Ich warf eine Zwei-Pfund-Münze in den Keyboard-Koffer und erntete ein Lächeln. Früher einmal hätte ich mehr investiert: einen Zehner gestiftet, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen, Begleitung am Keyboard angeboten, damit sie sich aufrecht hinstellen und singen könnte, einen besonderen Lebensmoment geschaffen. Doch diese Zeit war vorbei. Im Moment entnahm ich meinem Konto an Erinnerungen mehr, als ich eingab.
Vielleicht käme irgendwann der Tag, an dem mir nichts als Erinnerungen blieben und ich entscheiden müsste, ob ich meiner romantischen Seite nachgeben und in ihnen schwelgen sollte – oder meiner zynischen Seite und mich fragen, wie verlässlich diese Erinnerungen denn überhaupt waren.
Malte ich den australischen Himmel im Nachhinein blauer, weil er den Hintergrund meiner Großen Verlorenen Liebe bildete?
Wurde Dylan damals in der Gewerbehalle wirklich ausgebuht? Vor etwa einem Monat hatte ich den Bootleg-Mitschnitt aus der Plattensammlung meines Vaters gezogen, worauf meine Mutter eine andere, gar nicht gestellte Frage beantwortete.
»Zu diesem Konzert hatte dein Vater eine Eintrittskarte. Aber er ist nicht hingegangen. Er musste nämlich zur Arbeit, um für seine Familie zu sorgen.«
Ich hätte eher die ursprüngliche Version unterschrieben, dass er dabeigewesen war. Unermüdlich dichtete meine Mutter meinen unzuverlässigen Vater in einen verantwortungsvollen Gehaltsempfänger mit Vorbildfunktion um, und das umso häufiger, seit ich nicht mehr dem nachging, was sie als »normale Arbeit« bezeichnete. Nur deswegen konnte ich jedoch mitten in der Woche durch halb England reisen und sie zu ihrem Arztbesuch begleiten.
Egal. Ich sollte mich bald mit wichtigeren Problemen herumzuschlagen haben. Denn als ich am Abend zu Hause meinem Hang zum Vergangenen nachging, indem ich im Internet Trivia der Musikgeschichte sammelte, um beim Pubquiz glorreich zu punkten, begab es sich, dass ein kosmischer DJ – vielleicht der Geist meines Vaters – bei den »nanananaas« von »Hey Jude« gleichsam die Nadel anhob, so etwas wie »Na, hier passiert ja nun auch nichts Neues mehr« sagte und die Platte auf die B-Seite drehte.
»Revolution.«
Ich saß zu Hause in Norwich am Computer und sammelte Informationen über Pete Best, den vergessenen Schlagzeuger der Beatles, als unten in der Bildschirmecke eine E-Mail aufpoppte.
Von: [email protected]
Hi.
Das war alles. Hi. Nach zweiundzwanzig Jahren, davon zwanzig ohne jeglichen Kontakt, beschließt meine Große Verlorene Liebe Angelina Brown aus heiterem Himmel, die Welt zu verändern, und schreibt Hi.
Selbstverständlich spielte gerade ein Song, um dem besonderen Moment Gewicht zu verleihen. Da ich Kopfhörer trug, erklang »My Sentimental Friend«, ein Hit der Herman’s Hermits aus dem Jahr 1969, mitten in meinem Schädel. Mit der sinngemäßen Textzeile vom Mädchen, das er einst gekannt und das ihm dann das Herz verbrannt’, sollte es von nun an einen festen Platz im Soundtrack meines Lebens haben. Gut, es war nicht Wordsworth, aber stimulierend genug, um beim Eintreffen der E-Mail über ihre Absenderin nachzudenken.
War dies das erste Mal, dass sie wieder an mich dachte? Dass sie ihre Gedanken in die Zeit zurücktreiben ließ, in der »Like a Prayer« die Charts gestürmt hatte, und nun überlegte, wie es wohl dem Typen ging, den sie damals in dieser Bar in Melbourne kennengelernt hatte? Dass sie ihre Kontaktliste durchgesehen und sich spontan gefragt hatte: »Was ist aus dem wohl geworden?«
Adam Sharp anklicken, zwei Buchstaben tippen, senden.
Es musste mehr dahinterstecken. Zunächst einmal stand ich sicher nicht in ihrer Kontaktliste, denn seit der Erfindung von E-Mails hatten wir keinen Kontakt mehr gehabt.
Ihrer Mail-Adresse nach lebte sie immer noch in Australien. Ich kontrollierte es kurz auf der Weltzeit-Webseite: 13.15 Uhr in Norwich bedeutete 00.15 Uhr in Melbourne. War sie betrunken? Hatte sie Charlie verlassen? Oder er sie? Vielleicht lag die Trennung schon fünfzehn Jahre zurück.
Sie benutzte noch immer ihren Mädchennamen. Was nicht weiter überraschte. Sie hatte ihn nicht aufgegeben, als es Anlass dazu gab.
Über Charlie wusste ich nichts – nicht einmal seinen Nachnamen. In Gedanken hatte ich ihm immer ihren gegeben. Charlie Brown. Die kleine, kahle Cartoonfigur mit dem Baseball-Handschuh. Da kommt ein Ball, Charlie Brown. Verpass ihn nicht, Charlie Brown. In Wirklichkeit war ich derjenige, der ihn verpasst hatte.
Zwei Jahre zuvor, nach einigen Gläsern Bier, hatte ich sie mal gegoogelt. Und nichts gefunden. Angelina trug denselben Namen wie eine Gleichstellungsbeauftragte und eine Zeitungskolumnistin, und sie unter all den anderen, weniger offensichtlichen Links zu suchen hatte mein bierbenebeltes Hirn überfordert. Es sei denn, ich hätte nach Bildern gesucht, aber davon konnte ich mich gerade noch abhalten. Angelina war wie eine Sucht – gewesen! –, und der einzige Weg, mit einer Sucht umzugehen, ist Abstinenz.
Vielleicht. Zeit vergeht. Jeder Alkoholiker will zeigen, dass er geheilt ist. Nach zwanzig Jahren fester Beziehung sollte ich einer Exfreundin, die von sich aus Kontakt aufgenommen hatte, doch wohl ein oder zwei E-Mails schreiben können!
Vielleicht hatte sie eine tödliche Krankheit und wollte Unerledigtes abschließen. Dass mir ein solcher Gedanke kam, musste wohl auf das Frühstücksgespräch mit meiner Mutter zurückgehen. Vielleicht wollten sie und Charlie ja auch ein paar Tipps zu Urlaubsmöglichkeiten in Nordengland: »Hey, wir suchen etwas, wo es kalt und ungemütlich ist, damit wir mal aus dieser endlosen Sonne rauskommen.« Und was sagte das über meine Beziehung zu Claire, wenn ich mich zu anfällig fühlte, um auf eine harmlose Anfrage zu antworten?
Ich ließ Angelinas Mail bis zum Abend ruhen. Als Claire nach Hause kam, war ich immer noch unschlüssig. Unser Begrüßungsgespräch fand zwischen meinem Zimmer und dem Fuß der Treppe statt, also ohne Sichtkontakt, aber ich konnte mir Claire gut dabei vorstellen, da sie morgens in ihrem »Big-Meeting-Outfit« losgezogen war: graues Kostüm mit grünem Schal und Stiefeln, mit denen sie auf glatte eins fünfundsechzig kam.
»Tut mir leid, das Meeting hat länger gedauert. Essen riecht gut.«
»Jamie Oliver. Zitronen-Hühnchen. Ich hab schon gegessen.«
»Trinkst du einen Wein mit?«
»Gerne. Die Flasche ist schon offen und steht im Kühlschrank.«
»Wie geht’s deiner Mum?«
»Die Ergebnisse sind noch nicht da. Ich glaube, sie hat ein bisschen Angst.«
»Hast du sie von mir gegrüßt?«
»Vergessen.«
»Ach, Adam …! Hast du Elvis gefüttert?«
»Wenn nicht, würdest du es merken.«
Das war ein anschaulicher Einblick in die Beziehung, die Angelinas E-Mail auf die Probe stellen könnte. Wir waren ein funktionierender Haushalt. Wir stritten nicht; wir freuten uns auf gemeinsame Mahlzeiten an den Wochenenden; wir kümmerten uns umeinander. Gute Freunde. Über solche Beziehungen werden keine Songs geschrieben, aber sie haben ihr Gutes. Wir hatten es besser getroffen als meine Quizteam-Kollegin Sheilagh und ihr Mann Chad, die mit allen gut auskamen außer miteinander. Oder unsere Freunde Randall und Mandy, deren Sorgerechtskrieg um die Zwillinge (nach künstlicher Befruchtung), ausgetragen zwischen San José und Liverpool, jede Menge Verluste eingebracht hatte.
Oder meine Eltern, wo wir schon dabei sind.
Doch in den letzten zwei Jahren war nach und nach die Romantik unserer Beziehung verblasst. Vor drei Monaten hatte ich ein Einzelbett gekauft. Der vorgebliche Grund war mein Schnarchen gewesen und dass Claire ihren Schlaf brauchte, weil sie mit dem geplanten Verkauf ihrer Softwarefirma unter Stress stand. Unser Sexualleben zog dann gleich mit aus, und ich vermisste es nicht so sehr, wie ich gedacht hätte. Ich war nicht sicher, ob das gut oder schlecht war.
Unser Arrangement ähnelte vermutlich dem vieler Paare in unserem Alter. Es wäre schon weit hergeholt, unsere aktuellen Defizite einer Beziehung zuzuschreiben, die zweiundzwanzig Jahre zuvor geendet hatte. Wenn ich ein Problem mit einem Datenbankabgleich hatte oder mich an den Namen des Leadsängers der Bonzo Dog Doo Da Band zu erinnern versuchte oder Claire morgens zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gab, dachte ich nicht an Angelina. Das passierte nur, wenn ich Musik hörte, oder in den seltenen Momenten, in denen ich mal ein ganzes Lied auf dem Klavier spielte. In diesen wenigen Minuten oder Stunden befand ich mich im Jahr 1989 …
Ich spielte in einer Bar – keinem Pub, sondern einer echten Bar – in Melbourne, Australien, an der Victoria Parade im Stadtteil Fitzroy am Rande der Innenstadt. Sie gehörte zu den wenigen Lokalen, die lang geöffnet hatten, und die Gäste waren eine Mischung aus Yuppies und Babyboomern. Zu der Zeit war ein Babyboomer noch jemand, der kurz nach Kriegsende zur Welt gekommen war, nicht jemand wie ich, der fast zwanzig Jahre später geboren wurde.
In den meisten Nächten waren es mehr Boomer als Yuppies, und mein Repertoire der Sechziger und Siebziger wurde gut nachgefragt. Am frühen Abend tröpfelten die Gäste eher, richtig voll wurde es erst, wenn die Leute mit dem Abendessen fertig waren und wenn die Nachzügler aus den Pubs antanzten, ihre Schirme ausschüttelten, die Wintermäntel und Wollmützen über den Garderobenständer warfen und eisgekühltes Lager bestellten. Es war Anfang Juli, mitten im Winter, und mit seinem Versprechen von ständiger Sonne befand sich Australien bislang in der Bringschuld.
Für die Inneneinrichtung hätte das Lokal bestimmt keine Preise gewonnen. Es gab eine Theke mit acht bis zehn Barhockern, etwa ein Dutzend kleine Tische, an den Wänden Spiegel und alte Filmplakate. Keine Küche – nur Snacks in Tüten. Aber sobald genügend Leute da waren und mehr Gäste standen als saßen, schufen Lärm und Rauch ausreichend Atmosphäre, um das zu kompensieren.
Ich war seit drei Wochen in Australien. Eine australische Versicherungsgesellschaft führte eine neue Generation von Datenbanksystemen ein, und ich hatte einen fünfzehnmonatigen Betreuungsauftrag ergattert, mit dem ich all ihre Niederlassungen auf der ganzen Welt abklappern würde. Ich war sechsundzwanzig, hatte mein Informatikdiplom gerade mal fünf Jahre in der Tasche und schwamm auf der neuen Technologiewelle, die meine Berufskollegen in ihren Dreißigern verpasst hatten. Das Computerwesen befreite mich von meinen Untere-Mittelklasse-mit-Gesamtschule-Wurzeln, nachdem ich meinen ursprünglichen Plan, Rockstar zu werden, ad acta gelegt hatte.
In meiner ersten Woche in Melbourne war ich mit ein paar Kollegen in die Bar gegangen, um auf einen frischgebackenen Vater anzustoßen, und am Ende landete ich irgendwie am Klavier. Ich weiß noch, dass ich Elton Johns »Daniel« spielte, denn so hieß der neue Erdenbürger. Der Barbesitzer, ein bulliger Typ namens Shanksy, spendierte mir ein kleines Bier – ein pot, wie man in Australien sagt. Ich dankte ihm, dass ich auf seinem Klavier spielen durfte, und er sagte: »Jederzeit wieder, mate.«
Ich nahm ihn beim Wort, und die Bar wurde mein zweites Zuhause. Shanksy sorgte für meine Getränke, und ich stellte ein Glas für Trinkgeld aufs Klavier. Meine Erträge waren erquicklich, doch um Geld ging es mir dabei nicht. Für meinen Job wurde ich gut bezahlt und bekam außerdem einen Wohnungszuschuss, der für ein Loft über einem vegetarischen Restaurant in der Brunswick Street ausreichte, fünfzehn Straßenbahn-Minuten von meiner Arbeit entfernt und zehn zu Fuß von der Bar.
Mit dem Klavier kam ich bald sehr gut zurecht. Es war ein altes Schätzchen des australischen Herstellers Beale mit noch schönem Klang, außerdem gab es ein Mikro und einen kleinen Verstärker. Meist ging ich auf dem Weg zur Arbeit vorbei oder nach meiner morgendlichen Laufrunde und unterhielt dann mit meinen Fingerübungen die Putzfrau.
Am Abend machte es den entscheidenden Unterschied aus. Ohne das Klavier wäre ich der einsame Mann an der Theke gewesen, der für sein Bier bezahlte und weder Grund hatte, mit irgendjemandem zu reden, noch Grund bot, von jemandem angesprochen zu werden. Der viel zu viel Zeit gehabt hätte, über die Leere in seinem Leben nachzudenken.
Ich hatte sie nicht hereinkommen sehen, sondern bemerkte sie erst, als sie ans Klavier trat. In einer Stadt, in der sich beinahe jeder vornehmlich schwarz kleidete, trug sie ein weißes Wollkleid und dazu hohe Stiefel. Mitte zwanzig, schulterlanges dunkelbraunes Haar zu heller Haut, vielleicht eins siebzig mit den Absätzen.
In der Hand hielt sie einen pinkfarbenen Cocktail. Wir befanden uns zwar in einer Cocktailbar, aber das hier war Australien, und die meisten Leute tranken Bier, Wein oder einfache Mixgetränke, sofern sie nichts Stärkeres kippten, was dann meist B52s oder Flaming Lamborghinis waren. Die Spirituosensammlung hinter der Theke war eher Show, und Shanksys Cocktailkenntnisse hielten sich in Grenzen. Heute Abend allerdings hatte er etwas Pinkfarbenes gemixt. Mit Kirsche und Schirmchen.
Ich spielte »Brown-Eyed Girl« von Van Morrison, und sie kam gerade nahe genug, um mich spüren zu lassen, dass sie da war, und nippte an ihrem Getränk.
Als ich geendet hatte, klatschte sie, trat näher und fragte: »Kennen Sie ›Because the Night‹?«
Nun konnte ich sie aus der Nähe betrachten, und sofort fielen mir ihre Augen auf: groß und braun, und unter dem rechten war eine feine Linie Mascara, die bis zur Mitte der Wange reichte wie eine Tränenspur – vermutlich der Grund für ihren Klavierbesuch.
Normalerweise nehme ich Parfüm nicht wahr, außer, es wurde frisch aufgetragen, und vielleicht war das bei ihr der Fall, denn der Duft war stark und markant. Fürs Protokoll: Es war Obsession von Calvin Klein. Seit dem Moment bin ich in der Lage, es aus zwanzig Metern Entfernung zu erschnuppern. Steigt eine Frau damit in den Bus, habe ich es sofort in der Nase – und die dazugehörigen Erinnerungen sofort im Kopf. Wie Proust bei seinen Madeleines.
»Das ist von Patti Smith«, fügte sie hinzu, während ich mich fragte, ob ich die verschmierte Wimperntusche kommentieren sollte.
»Und Bruce Springsteen.«
»Sagen Sie das noch mal!« Sie lachte.
»Bruce Springsteen. Sie haben es zusammen geschrieben. Springsteen hat es nie im Studio eingespielt, aber auf dem Live-Album ist es drauf.«
»Zusamm geschriem, aye? Luuwli.«
So, wie sie meinen Akzent nachmachte, hätte ich eher aus Glasgow denn aus Manchester stammen müssen, aber bei ihrem anschließenden Hundert-Watt-Lächeln war alles zu verzeihen.
Trotzdem verzog ich in gespielter Entrüstung das Gesicht.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Aber ich liebe Ihren Akzent.«
Ich beschloss, das Risiko einzugehen, selbst für unhöflich gehalten zu werden, und strich mit dem Zeigefinger vom linken Auge aus über meine halbe Wange.
Es folgte ein kurzer Austausch in Zeichensprache, mit fragendem Blick, dann Nicken und Lachen, bis sie meine Botschaft verstand, ihren eigenen Zeigefinger anfeuchtete, erst die falsche Wange säubern wollte und es schließlich schaffte, die Wimperntuschenträne zu verwischen.
»Warten Sie«, sagte ich und ging zur Theke, auf der ein Stapel Papierservietten lag. Auf dem Rückweg merkte ich, dass es still geworden war, und das nicht nur, weil der Klavierspieler eine Pause machte. Ausnahmslos alle – von Shanksy hinter der Theke bis zu dem Pärchen, das noch in Mänteln im Türrahmen stand – beobachteten mich. Beobachteten uns. Auf keinen Fall wollte ich das, was ich für einen kleinen diskreten Moment gehalten hatte, in der Öffentlichkeit breittreten oder gar Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass sie geweint haben könnte. Ich schnäuzte mich also in die Serviette, stopfte sie in die Tasche und setzte mich wieder ans Klavier.
»Nun denn. ›Because the Night‹ ist gewünscht, richtig?«
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wange, dann sah sie sich um.
»Ist gut so. Das meiste haben Sie erwischt«, flüsterte ich.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich singe?«
Üblicherweise antworte ich auf diese Frage mit einem höflichen Ja, dem die Erfahrung und der Ratschlag meines Dads zugrunde liegt. Er hatte stets – so sagte er zumindest – die feste Regel, dass niemand, aber auch gar niemand dort mitsingen oder -spielen durfte, wo er gerade musizierte.
»Und wenn Eric Clapton reinkommt und spielen will … dem sag auch, er kann sich verpissen. Denn wenn der Boss nachher findet, dass er Clapton lieber mag als uns, dann hat Clapton unseren Job und wir nichts mehr zu essen.«
Er hatte diese Lektion zum Thema Sicherheit im Job so oft erzählt, dass diese Geschichte trotz der Unwahrscheinlichkeit, Mr. Clapton im Publikum des King’s Head in Manchester zu sehen, geschweige denn, auf dessen Bühne, als reales Ereignis in unsere Familienhistorie einging.
»Du weißt ja«, pflegte meine Mutter zu erzählen, »einmal hat dein Dad sogar Eric Clapton gesagt, er soll sich verpissen – entschuldige die Wortwahl, aber genau das hat er gesagt –, damit er weiterspielen und seine Familie ernähren kann. Davon können wir alle etwas lernen.«
Und wenn mein Vater »Verpiss dich« zum lieben Gott persönlich gesagt hätte – ich hätte hundert zu eins gewettet, dass seine Antwort dieser jungen Frau mit den großen braunen Augen und dem Schmierfleck auf der Wange gegenüber ähnlich ausgefallen wäre wie meine, selbst ohne den Erwartungsdruck, den die gespannte Gästeschar dieser gut gefüllten Bar ausübte.
»Welche Tonart?«
Sie sang nicht schlecht, und die Leute waren begeistert. Ich meine, sie waren begeistert! Gut, sie traf die Töne und gab alles, aber es war ein sexy Song, und sie war mehr Olivia Newton-John als Debbie Harry – oder meinetwegen auch Patti Smith.
Aber wer war ich, ein Urteil zu fällen? Sie bekam Standing Ovations und Zugabe-Rufe. Nach einer fünfminütigen Performance hatte sie ihr Publikum voll im Griff, und ich war ein Teil davon. Ich hatte keine Ahnung, was da ablief.
»Möchten Sie noch etwas anderes singen?«, bot ich an.
»Vielleicht ›Daydream Believer‹?« Sie lachte. »Der sang mit Ihrem Akzent, oder? Davy Jones?«
Davy Jones von den Monkees stammte wie ich aus Manchester – für eine Australierin hatte sie ein überraschend gutes Gehör. Und erstaunliche Kenntnisse über Popmusik vor ihrer Zeit.
»›What number is this, Chip?‹«, zitierte ich Davy Jones aus dem kurzen Wortwechsel vor dem Song auf der Single.
Wieder dieses Lächeln. »›Seven A.‹« Äußerst erstaunliche Kenntnisse.
»Kennen Sie ›Both Sides Now‹?«, erkundigte sie sich dann.
»Nüh davon gehört …« Ich grinste.
Ich spielte das Intro. Dieser Song würde nicht so anregend werden wie der davor, in dem sie, nur einen Meter entfernt, heiser gefordert hatte, dass jemand sie berührt. Aber das Lied von Joni Mitchell gehörte schon eher zu denen, die ihr Gesangslehrer ihr empfohlen hätte, und sie sang ihn richtig schön.
Sie hatte die Wolken betrachtet und die Liebe und gerade angefangen, sich das Leben anzusehen, als ein kleiner eleganter Typ in blauem Nadelstreifenanzug, mit roten Hosenträgern und viel Gel im Haar ankam und sich voll spürbarer Ungeduld neben sie stellte. Er war um die fünfunddreißig, mit ähnlich geschniegeltem Äußeren wie Michael Douglas als Gordon Gekko in dem Film Wall Street.
Ich spielte eine Extra-Wiederholung des Schlussrefrains, worauf er mich wütend anblitzte und die Lippen vorschob, für den Fall, dass seine verschränkten Arme die Botschaft noch nicht ausreichend übermittelten. Sobald die Frau die letzte Zeile gesungen hatte, ließ er eine Münze in mein Trinkgeld-Glas fallen. Ich spielte den Song zu Ende und dachte, das war’s. Gordon Gekko drehte sich um und ging ein paar Schritte, doch sie blieb, wo sie war. An meiner Seite.
»Kennen Sie ›Angel of the Morning‹?«, wollte sie wissen.
Ich spielte A-Dur und hob die Brauen, um zu sehen, ob sie mit der Tonlage einverstanden war, die sie meiner Einschätzung nach in der Höhe etwas fordern würde. Sie parierte mit der ersten Zeile a cappella.
Instinktiv begann ich, den Takt mit dem Absatz mitzuklopfen. Wenn man den Takt mit dem vorderen Fuß klopft, bleibt der Rhythmus im Fuß, aber wenn man den Takt mit der Ferse hält, spürt man ihn im ganzen Körper. Ich spürte noch mehr. Sie legte eine Hand auf meine Schulter und drückte mit jedem meiner Taktschläge sanft zu. Es war eine extrem intime Geste, wenn man bedachte, dass wir nicht nur vor, sondern umgeben von Publikum waren. Mir ist egal, ob irgendjemand zuschaut, lass es uns tun, nur du und ich, und danke, dass du da bist und auf meiner Seite.
Das laute Hüsteln und der warnende Blick ihres Aufpassers sagten: Noch ein Akkord, und ich brech dir die Arme!
Ich spielte E-Dur. Ich saß in einer Bar in Melbourne, nicht im Süden von Chicago, und der schnieke Kerl im Anzug war kein Leroy Brown.
Er sah mich an. Meine Sängerin sah mich an. Sie sahen einander an. Dann gingen sie zur Tür. Sie hatte immer noch einen kleinen schwarzen Fleck auf der Wange.
Ich hätte die beiden einfach weggehen lassen sollen. Sie waren Gäste und hatten, abgesehen von dem beleidigenden Trinkgeld, nichts getan, um mich zu provozieren.
Zum Teil war es eine Reaktion darauf, dass er sie so herumkommandierte und dass sie sich fügte, nachdem sie nur wenige Minuten zuvor den Mut aufgebracht hatte, vor der ganzen Meute in der Bar ein schwieriges Lied zu singen.
Es war außerdem ein schlechter Tag auf der Arbeit gewesen. Meine Kollegen hatten mir den Spitznamen »Seagull« – Möwe – verpasst, nach einem Witz, dass IT-Berater nur reinfliegen, rumkrächzen, viel Wind machen, auf alles scheißen und wieder rausfliegen. Vermutlich hatte ich das verdient, da ich mich übermäßig ins Zeug gelegt hatte, einen guten Eindruck zu machen, um das dreifache Gehalt der Festangestellten zu rechtfertigen, das ich bekam. Technisch war ich auf jeden Fall versiert, als Berater jedoch noch grün hinter den Ohren.
Aber das Trinkgeld war eine Beleidigung gewesen. Gordon Gekko konnte von meinem gut bezahlten Job nichts wissen. Und vielleicht sprach durch mich auch mein toter Vater, als ich ihm einen Abschiedsgruß von Lennon-McCartney hinterherschickte.
»You’re Going to Lose that Girl«.
Beide drehten sich um. Es war zu dunkel, um ihre Gesichter zu erkennen. Ich musste den Song bis zum Ende durchspielen, um den Anschein aufrechtzuerhalten, die Wahl sei zufällig erfolgt. Das Ganze war prophetischer als beabsichtigt. Die zwei standen im Türrahmen und lauschten, während ich sang, er werde das Mädchen verlieren, weil ich es ihm wegzunehmen würde, yeah.
Yeah, yeah, yeah. Am Ende war ich es dann, der das Mädchen verlor.
Hi stand auf dem Bildschirm.
Miau sagte Elvis und strich mir um die Beine.
Mum sagte das Telefon, das auf Leise gestellt war.
Eins nach dem anderen.
»Ich habe die Ergebnisse«, erzählte meine Mutter. »Ich fürchte, es sind schlechte Nachrichten.«
Ich kannte sie zu gut, um jetzt anders zu antworten als mit einem neutralen: »Es ist aber schon spät am Tag, um jetzt noch Ergebnisse zu bekommen.« Es war nach zehn Uhr abends.
»Ich habe sie ja auch schon seit einigen Stunden. Ich wollte dir nur nicht das Abendessen verderben.«
»Oh.«
»Sie konnten nichts finden. Also wissen wir immer noch nicht, was es ist.«
Ein Ausbruch der Erleichterung darüber, dass meine Mutter nicht an Krebs erkrankt war, hätte nur zu einer Predigt über unangebrachten Optimismus geführt, illustriert womöglich mit einer Geschichte aus meiner Kindheit, die ich wohlweislich vergessen hatte.
Das Hi lachte mich immer noch an. Eine Verbindung zu meiner Vergangenheit und die Chance auf einen Realitätsabgleich. Nichts weiter. Sie war zehntausend Meilen entfernt. Ein kleiner Drink konnte nicht schaden.
Ich gab der Katze frisches Wasser und kehrte an den Bildschirm zurück. Claire war zu Bett gegangen.
Antworten.
Hi. Während mein Finger über der Maus schwebte, sah ich sie wieder, wie sie neben dem Klavier stand, die verschmierte Träne auf der Wange, und ihre Aufregung zu verbergen suchte. Mich zu ihrem Verbündeten machte. »Ich liebe Ihren Akzent.«
Löschen.
»Ay-up, lass«, tippte ich mein »Hallo« in bestem Manchester-Slang.
Senden.
Ich spielte bis Lokalschluss durch. Während ich meinen Trinkgeldbecher leerte, kam Shanksy mit seinem Wischeimer und Schrubber zu mir.
»Du weißt, wer das war, oder?«
»Wen meinst du?«
Das war natürlich ein Scherz. Junge Frauen mit wunderschönen braunen Augen, die in die Bar spazieren und »Take me now« – Nimm mich jetzt – singen, waren in dieser Nacht nicht allzu zahlreich gewesen.
»Sergeant Carey aus Mornington Police. Angelina Brown.«
Meine Sängerin hatte nicht wie eine Polizistin ausgesehen. Und wie sollte ich eine Polizeibeamtin erkennen, die noch nicht mal in dieser Stadt arbeitete? Und hieß sie nun Carey oder Brown?
Shanksy klärte mich auf. Meine Verwirrung rührte daher, dass ich erst vor kurzem in das Land gekommen war, das der Welt Serien wie Skippy und Neighbours geschenkt hatte. Carey hieß in Wahrheit Kerrie – und nur im Fernsehen werden Polizeibeamte mit ihren Vornamen bezeichnet. Ms. Brown war eine Schauspielerin, was den besonderen Anklang beim Publikum erklärte.
»Wer war der Typ?«, wollte ich wissen.
»Keine Ahnung. Ich hab sie hier noch nie gesehen. Keine schlechte Darbietung.«
»Danke«, erwiderte ich. »Hat dir der Beatles-Song gefallen?«
Er lachte. »›You’re Going to Lose that Girl‹. Das war hart an der Grenze, mate. Dein Glück, dass alle hier dasselbe dachten.«
Nur dass alle anderen wussten, wer sie war – und für mich dadurch unerreichbar. Vermutlich war ich die einzige Person im Raum gewesen, die das Gefühl gehabt hatte, hier könnte gerade etwas Besonderes anfangen. Wenn Menschen zusammen Musik machen und singen, entsteht eine spezielle Magie, und die war auch bei ihrem Witzeln über meinen Akzent und dem Austausch über ihr verschmiertes Mascara spürbar gewesen. Doch mein plumper Abschiedsgruß hatte sicherlich jede Chance, die bestanden haben könnte, mit einem Schlag zunichtegemacht.
Vielleicht spielte da ein Element der Selbstsabotage herein. Mein Umzug nach Australien war nicht nur von der Aussicht auf Geld und Sonne motiviert gewesen. Ich hatte in England eine Beziehung gehabt – meine erste ernsthafte Beziehung. Aber nach achtzehn Monaten, neun davon in gemeinsamer Wohnung mit Katze, wollte Joanna Kinder, und dafür war ich noch nicht bereit. Das Problem war, dass ich nicht sicher wusste, ob ich jemals bereit sein würde. Ich konnte keinen Termin benennen. Am Ende löste ich die aussichtslose Situation, indem ich in ein Flugzeug stieg und ans andere Ende der Welt reiste. Ich wollte mir erst über mich selbst klarwerden, ehe ich jemand anderen wieder enttäuschte.
Selbst wenn ich auf eine neue Beziehung aus gewesen wäre, hätte ich sicher keine bekannte Schauspielerin gewählt, die das Recht hatte, in Ruhe ein paar Lieder zu singen, ohne sofort vom Klavierspieler verfolgt zu werden. Außerdem hatte sie ja ganz offensichtlich einen Freund. Aus all diesen Gründen ließ ich die Sache auf sich beruhen.
Angelina nicht. Vierzehn Tage später kam sie erneut in die Bar, allein. Es war sechs Uhr abends und das Lokal leer. Normalerweise wäre ich so früh gar nicht da gewesen, aber ich hatte eine Kollegin aus der Verwaltung zum Essen eingeladen, mein erstes Date in Australien. Indirekt war Angelina dafür verantwortlich. Sie hatte etwas in mir geweckt, selbst wenn es nur das Mantra meiner Mutter war, mit dem Leben doch bitte einfach weiterzumachen.
Es war nur logisch, die Verabredung mit Tina in meiner Bar zu beginnen. Wir waren direkt aus dem Büro hingegangen, also trug ich Anzug und Krawatte, außerdem hatte ich mir vorher Haare und Bart schneiden lassen.
Die Abwesenheit anderer Gäste minderte den erhofften Effekt zwar, aber wir setzten uns einfach an einen Tisch nahe der Theke und hatten gerade Getränke bestellt, als Angelina hereinkam.
Sie strahlte nichts von dem Selbstbewusstsein aus, das »Because the Night« befeuert, sondern eher die Unsicherheit, die seine Glaubwürdigkeit unterminiert hatte. Sie sah auch jünger aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie suchte meinen Blick, musterte Tina kurz und wandte sich zum Gehen. Dann setzte sie sich an den letzten Tisch an der Tür.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mir erlaubte zu hoffen, dass sie vielleicht meinetwegen gekommen war, und noch ein paar weitere, bis ich mir klarmachte, dass ihre Handlungen genau dies signalisiert hatten, bis hin zu der Entscheidung, die Bar nicht einfach wieder zu verlassen, um genau diese Absicht zu verschleiern.
Als Shanksy an ihren Tisch trat, um die Bestellung aufzunehmen, sagte Tina: »Ist das nicht Angelina Brown?«
Normalerweise hätte ich jetzt mit meinem neu erworbenen Wissen angegeben: »Ja, aus Mornington Police. Sie spielt Sergeant Kerrie, oder?«
Stattdessen antwortete ich: »Wer?«
»Das ist die Schauspielerin aus einer Fernsehserie. Ich hab die ein- oder zweimal gesehen, einfach nur, um zu gucken, worum es geht. Sie spielt die Kluge, nicht die Heiße, aber wenn man sie so in echt sieht, ist sie schon ganz attraktiv, oder?«
Ich nahm die Gelegenheit wahr, sie erneut zu beäugen.
»Ja, geht so«, erwiderte ich. Ich hielt sie für die schönste Frau, die ich je im Leben gesehen hatte.
»Sie löst immer den Fall oder gibt den Leuten gute Hinweise und scheint echt tough zu sein, aber dann hat sie diese Affäre mit dem Pathologen. Sie ist nicht verheiratet, aber er, und er ist ein echtes Ekelpaket, und alle wollen, dass sie ihn endlich abschießt und lieber mit dem Detective Sergeant zusammenkommt, der sie wirklich gern mag, aber zu schüchtern ist, um ein Signal zu geben. Aber, wie gesagt, ich seh das eigentlich gar nicht.«
Zumindest gab mir Tina Zeit zum Nachdenken. Warum hatte Angelina so lange gewartet? Was war mit dem Freund? Wie sollte ich Kontakt zu ihr aufnehmen, bevor sie wieder aus meinem Leben verschwand?
Ich konnte Tina schlecht sagen, sie solle sich verdrücken, damit ich eine andere anbaggern könne. Ganz abgesehen von Anstand und Moral wäre es ein Karrierekiller, die Frau zu beleidigen, die das Football-Tippspiel der Firma organisierte und somit jeden aus meiner Abteilung kannte. Ich hätte sagen können, dass ich Angelina kenne – die Freundin eines Freundes –, oder, Gott verbiete!, die schlichte Wahrheit, dass sie ein Mal zum Klavier gesungen hatte, aber ich hatte gerade so getan, als wüsste ich nicht, wer sie war. Es bestand auch keine Möglichkeit, Shanksy vor Tinas Augen eine Nachricht überbringen zu lassen.
Hinter der Theke goss der für Angelina einen Orangensaft ein. Sie würde also nicht lange bleiben. Irgendwie musste ich ihr eine Botschaft zukommen lassen. Und genau hier lag die Lösung. Eine plumpe Lösung, doch sie musste reichen.
Ich fing Shanksy auf dem Weg zu Angelinas Tisch ab.
»Tina, das ist Shanksy. Sag ihr, was ich hier mache.«
»Er ist hier der Pianist. Wenn er Lust dazu hat.«
Ich erhielt die gewünschte Reaktion. »Nicht im Ernst!«, meinte Tina.
Ich gab Shanksy das Signal, ihr Getränk aufzufüllen, und ging zum Klavier, da ich nun einen Grund hatte, vor quasi leerem Haus zu spielen.
Ich versuchte, mich an den Text zu »I’ve Gotta Get a Message to You« von den Bee Gees zu erinnern. Es würde mehr als seltsam wirken, wenn ich jetzt einen Song spielte, den ich nicht gut kannte, nur um »eine Message rüberzubringen«. Ich saß am Klavier und war kurz davor, diese wunderschöne Frau mit einer geschummelten Version der Brüder Gibb zu umwerben, als die Eingebung kam.
»You Are So Beautiful«.
Es war mehr ein Song, um gegen ein Uhr nachts die Letzte-Bestellung-und-ab-nach-Hause-Gäste rauszuschmeißen, aber die Grundidee, dass sie nun mal wunderschön war, passte.
Ich fing an, bevor ich Zeit gehabt hatte, den Rest des Liedes zu überdenken. Es war nicht die totale Katastrophe, aber der Text brauchte Joe Cockers Stimme, um den Schmalz zu mildern.
Ich gab mein Bestes. Ich versuchte, eher Tina anzusehen als Angelina, während ich von einer Frau sang, die »alles bot, was ich mir erhofft hatte«, die mir »Glück und Freude brachte« und ein »Geschenk des Himmels« war, aber dann fiel mir ein, dass Angelina denken könnte, ich singe für mein Date. Als ich also das letzte, langgezogene »für mich« sang und mir wie der letzte Idiot vorkam, drehte ich mich zu Angelina und warf ihr einen, wie ich hoffte, bedeutungsvollen Blick zu.
Sie lachte.
Ich kehrte an meinen Tisch zurück und merkte gleich, dass etwas nicht stimmte. Ein einziger Blick hatte mich doch nicht verraten können! Die meiste Zeit über hatte ich Tina angesehen. Aber genau dies erwies sich als das Problem – und die Lösung.
»Adam, das war wunderbar«, sagte Tina, »aber … wow! Das ist schon ziemlich heftig. Ich meine, wir kennen uns ja gar nicht richtig. Ich bin gerade dabei, eine beendete Beziehung zu verarbeiten, und will einfach nur … du weißt schon … ein bisschen Spaß haben.«
Um sechs Uhr abends in eine leere Bar ausgeführt und mit einem kitschigen Liebeslied vollgesülzt zu werden, war zweifelsohne ein unpassender Beginn für das erste Date mit dem Neuen in der Firma.
»Hey«, meinte ich, »ich doch auch.«
»Ich wünschte, das stimmt«, erwiderte Tina, »aber es scheint mir offensichtlich, dass du nach mehr suchst. Wärst du mir böse, wenn wir es dabei bewenden lassen? Ich kann mit der Straßenbahn nach Hause fahren, und wir tun so, als wäre nichts passiert.«
Ich wollte aufstehen, doch Tina hielt mich davon ab.
»Ist schon okay. Wir können noch austrinken. Du scheinst ein empfindsamer Mensch zu sein. Es war nicht das, was ich erwartet hatte. Nach dem, wie ich dich aus der Arbeit kenne … Das sollte jetzt keine Beleidigung sein.«
Während Tina austrank, trat Angelina an die Theke, zahlte und ging.
Shanksy wartete, bis ich die Rechnung beglichen hatte – »Einen Song für deine Freundin zu spielen, bringt dir keine zwei Freigetränke ein« –, und ließ mich noch halb durch die Tür gehen, ehe er mich zurückrief.
»Ach, das hätte ich fast vergessen! Deine Freundin hat dir etwas dagelassen.«
Er reichte mir einen Umschlag, auf dem »Englischer Klavierspieler« stand. Mit anderer Tinte war »und Begleitung« hinzugefügt worden. Sie hatte den Brief vermutlich nur abgeben wollen und nicht damit gerechnet, mich so früh am Abend persönlich anzutreffen.
Es war die fotokopierte Einladung zu einer Abschiedsparty für Jenny und Bryce, die mir nichts sagten. Sie waren »auf dem Weg nach England«, vermutlich, um irgendwo in London zu kellnern und so das Geld für den Rucksacktrip durch Europa zusammenzuverdienen. Oder, was wahrscheinlicher war, um sich mit Kursen in Datenbankdesign fit zu machen, damit es keine Notwendigkeit mehr für überbezahlte Importarbeiter wie mich gäbe.
Die Party hatte passenderweise das Motto »Bring a Brit«. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich mir insgeheim etwas Persönlicheres gewünscht hatte.
Am folgenden Freitagabend traf ich kurz nach zehn Uhr an dem zweistöckigen Haus in einem östlichen Vorort von Melbourne ein. Es war eine große Party, vielleicht siebzig Gäste, die meisten in Jeans, obwohl die Kleidung insgesamt stylischer war, als ich es bei Leuten in ihren Zwanzigern auf einer Party erwartet hätte. Schauspieler und ihr Gefolge, vielleicht, auf jeden Fall cooler als meine IT-Truppe.
Angelina stand mit einer Gruppe etwa gleichaltriger Frauen im Wohnzimmer. Zum kurzen Rock trug sie eine tief burgunderrote Jacke sowie eine Baskenmütze. Sie war auffallend, aber geschmackvoll geschminkt, deutlich anders als ihr Look in der Bar beim Abgeben der Einladung, der wiederum anders war als am ersten Abend beim Singen. Das Parfüm war dasselbe.
Sie winkte mich zu sich in ihre Runde, berührte mich leicht am Arm und lächelte ein stummes Willkommen. Ich nahm die Gelegenheit wahr, ihre linke Hand zu mustern: kein Ring.
Die Runde unterhielt sich angeregt darüber, welche Taktiken es gab, um Anzeigen wegen Trunkenheit am Steuer zu vermeiden, und Angelina gelang es, mir ohne Worte mitzuteilen, dass sie sich über mein Kommen freue und ich ihre Freundinnen für die Unhöflichkeit entschuldigen müsse, ihr keinen Raum für meine Vorstellung gegeben zu haben. Sie werde es bei nächster Gelegenheit nachholen, vorher wolle sie aber zum Gespräch beitragen. Und in der Zwischenzeit solle ich nicht weggehen.
Ich lächelte. Ich hatte nicht die Absicht wegzugehen.
Das Gespräch war recht oberflächlich, und die junge Frau, die ihren Führerschein zu verlieren drohte, konnte offenbar nicht viel mit den eher albernen Ratschlägen anfangen, die hauptsächlich von einer blonden Frau mit unangenehm hoher Stimme im Jayne-Mansfield-Retro-Look kamen.
Angelina stellte die erste ernstzunehmende Frage: »Wie lange ist dein Führerschein auf Probe denn noch gültig?«
»Wieso?«
»Weil sie nach dem Datum des Gerichtstermins entscheiden und nicht nach dem Tag, an dem sie dich erwischt haben.«
»Bist du sicher?«
»Ziemlich sicher. Wenn du an dem Tag, an dem du zum Gericht musst, einen richtigen Führerschein hast, wird er dir nur vorübergehend entzogen. Wenn du den Richter nett anlächelst.«
»Nett anlächelst« löste bei Jayne Mansfield ein wissendes Lachen aus, und ich musste nun annehmen, dass Angelina einige Erfahrung mit dem Gesetz hatte – im negativen Sinn. Schauspielerin und Gesetzesbrecherin. Eindeutig nicht mein üblicher Umgang.
Sie hatte es immer noch nicht geschafft, mich vorzustellen, als eine vertraute Gestalt mit schwarzer schicker Hose, schwarzem Rollkragenpulli und glänzend polierten Schuhen auftauchte. Er wirkte älter als die meisten Gäste.
Der Typ taxierte mich kurz, zog die Augenbrauen hoch und verzichtete auf eine Begrüßung. »Richard!«, rief Jayne Mansfield dem bisherigen Gordon Gekko zu. »Miranda ist mit 0,8 Promille erwischt worden. Da kommt sie doch wieder raus, oder?«
»Ich passe. Meine Arbeit lasse ich im Büro.« Grinsend fügte er hinzu: »Genau wie Angelina. Sie macht auch nur bei der Arbeit auf sexy.«
Okay. Anscheinend waren sie zusammen. Offenbar war er Anwalt. Und zweifelsohne ein erstklassiges Arschloch.
Jayne Mansfield antwortete mit Gekicher, das länger andauerte als nötig. Ich sah Richard geradewegs an, und sein Gesichtsausdruck bestätigte, dass seine Bemerkung gehässig gemeint war.
Angelina stand einfach da und nahm es hin. Dieses Schema war mir bekannt, und das nicht nur von ihrem Gesangsabend in der Bar. Mein Vater hatte einen sehr bissigen Humor gehabt, neben dem selbst Richards verblasst wäre. Zu oft hatte ich ihn als Kind gegen meine Mutter gerichtet gehört.
Richard strafte seine Aussage Lügen, er lasse die Arbeit im Büro, indem er eine Anekdote über eine Richterstochter erzählte, die eine Anzeige wegen sittenwidrigen Verhaltens bekommen hatte.
Ich drückte Angelinas Arm in, wie ich hoffte, diskreter Weise, und ging ins Esszimmer. Sie folgte wenig später nach. Ich spürte ihre Anwesenheit, bevor ich sie sah.
»Was sollte das denn?«, wollte ich wissen.
»Sie hat das nicht böse gemeint. Sie ist einfach ein bisschen dumm.«
»Sie meinte ich nicht.«
»Zuviel getrunken. Mach dir keinen Kopf. Ist nicht dein Problem.«
Ich wartete, völlig gefangengenommen von ihrer Präsenz und dem Duft, der sie, zumindest für mich, umgab, und sie fügte hinzu: »Wir haben uns getrennt. Vor einer Woche. Es geht uns beiden nicht besonders gut.«
»Kann ich dir was zu trinken holen?«
»Danke, gern. Das ist sehr lieb von dir.«
Auf dem Weg zur Küche fiel mir ein, dass sie meinen Namen gar nicht kannte, was vermutlich der Grund war, weshalb sie mich nicht vorgestellt hatte. Bis ich Wodka, Orangensaft und Eis zusammengesucht hatte, war sie verschwunden.
Kurz darauf entdeckte ich sie am oberen Ende der Treppe. Unten lag ein handgeschriebenes Schild: Gäste bitte unten bleiben.
Ich brachte ihr den Drink nach oben. »Mir war nicht mehr nach Reden«, sagte sie. »Mit jemand anderem, meine ich.«
»Schwierig, ohne jemand anderen zu reden«, entgegnete ich, und sie schmunzelte über den schwachen Witz. »Ich bin übrigens Adam.«
»Ach, wie schade! Ich hatte gehofft, du heißt irgendwas mit uh in deinem Namen, damit es zum Akzent passt.«
»Wie Gus? Oder Duncan? Oder Douglas?«
»Duuglas«, lachte sie. Es war ein attraktives Lachen, ein bisschen angeheitert, und es gefiel mir, dass ich der Auslöser dafür war. »Entschuldige. Du bist doch nicht beleidigt, oder?«
»Du darfst mir jeden Namen geben, den du willst.« Sogar einen schottischen.
»Also gut, Duuglas«, sagte sie. »Wo hast du deine Freundin gelassen?«
Ich erzählte die Tina-Geschichte, ausführlich und mit ein paar Manchester-Slangausdrücken als extra Effekt, und sie lachte die ganze Zeit. Ich genoss jede Sekunde.
»Der Song war gut gewählt«, sagte sie. »Als schön werde ich nur selten bezeichnet, und doch ist es das, wonach jeder in meiner Welt sich sehnt.«
»Der spontanen Eingebung bei Liedern kannst du vertrauen. Das ist wie mit der Assoziation bei Wörtern. Stimmt immer.«
»Ach, komm schon«, meinte sie. »Als ich in der Bar gesungen habe … Danach habe ich mich im Spiegel angeschaut und die verschmierte Wimperntusche gesehen. Ich sah aus wie Alice Cooper.«
»Dir ist schon klar, dass ich jetzt nie wieder Alice Cooper sehen kann, ohne an dich zu denken, oder? Ab jetzt ist er für mich der sexyste Mann auf Gottes Erdboden.«
Die Partymusik setzte für ein paar Minuten aus, dann erklang Joe Cockers röhrige Stimme mit »You Can Leave Your Hat On«. Angelina lächelte und fasste mich am Arm. Unsere nonverbale Kommunikation schien folgendermaßen abzulaufen:
»Ich hätte gern, dass du mich küsst.«
»Das meinst du nicht im Ernst, oder?«
»Doch, doch, das meine ich ernst. Deshalb lasse ich deinen Arm nicht los.«
»Nein, das kann nicht sein. Du willst von mir, Adam Sharp, Datenbankingenieur aus Manchester, einen Kuss haben?«
»Ich stehe hier und hebe dir mein Gesicht entgegen, und es wäre ganz schön blöd für uns beide, wenn du mich jetzt nicht küssen würdest.«
Ich hatte schon eine Weile niemanden mehr geküsst. Mit geschlossenen Augen ließ ich mich hineinfallen: in die Weichheit, die Offenheit, das Wunder, dass es ausgerechnet diese Frau war. Am liebsten hätte ich nie mehr aufgehört, aber wir befanden uns im öffentlichen Raum, sichtbar für jeden, der auf die Idee gekommen wäre, von unten die Treppe hochzuschauen.
Wir zogen uns gegenseitig den Flur hinunter, und da war ein Zimmer – offenkundig das Elternschlafzimmer, mit Familienfotos und angeschlossenem Bad. Da die Tür keinen Schlüssel hatte, lehnte ich mich dagegen, während ich Angelina erneut küsste.
Nach einigen Sekunden brach sie den Kuss ab, drehte sich mit mir herum, so dass sie mit Rücken die Tür zudrückte, und sagte: »Siehst du, auf sexy mache ich nicht nur bei der Arbeit.« Es hätte eine heiße Anmache sein können, aber Angelina klang eher unsicher als verführerisch. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob sie sich auf das berief, was wir bereits getan hatten, als hätte sie allein mit dem Kuss ihren Standpunkt klarmachen wollen, doch sie zog mich wieder an sich. Alle Spekulation endete, und ich spürte, wie mich die Erregung überkam.
Ihr Körper schmiegte sich an mich. Ihr Kuss war noch intensiver als zuvor. Es gab nicht viel Vorspiel, und das lag ebenso an ihr wie an mir. Schon nach kurzer Zeit machten wir uns an der Kleidung zu schaffen: hochraffen, öffnen, beiseiteschieben, mit Angelina zwischen mir und der Tür. Ich fühlte mich nicht mehr so überwältigt wie vor dem ersten Kuss, sondern elektrisiert, lebendig, völlig im Moment gegenwärtig. Wir waren zwei Menschen, die sich körperlich liebten, alles andere war egal.
Dann, ganz plötzlich, begann sie zu keuchen, erst lustvoll, dann offenbar überrascht, weil alles so schnell geschah. Doch bevor Joe Cocker oder gar ich zum Ende kommen konnten, zog Angelina sich zurück, nahm ihre Handtasche und huschte ins Bad. Auf ihrem Kopf saß noch immer die Baskenmütze.
Die gut zehn Minuten, die sie verschwunden blieb, verbrachte ich damit, mich innerlich zu verfluchen, dass ich es viel zu schnell hatte angehen lassen. Als sie wiederkam, wurde meine Befürchtung bestätigt: Mit einem Gesichtsausdruck, der sich wie Was hab ich nur getan? las, marschierte sie geradewegs zur Tür. Ich nahm unsere Gläser, folgte ihr nach unten und nahm einen Umweg über die Gästetoilette, um den Lippenstift abzuwischen, der sich auf meinem Gesicht verteilt hatte. Danach konnte ich sie nicht mehr entdecken.
Richard stand noch immer im Wohnzimmer. Als ich vorbeikam, riss er sich aus einem Gespräch mit Jayne Mansfield los. Wenn er vorhin schon zu viel getrunken hatte, befand er sich mittlerweile im Vollrausch.
»Tut mir leid, mein Freund, die is’ weg. Nach Hause ohne dich. Ich hab da einen Rat für dich, Engländer.«
Ich dachte, er wolle mich warnen oder mir gar drohen. Jayne Mansfield sah aus, als freute sie sich darauf.
Richard bekam einen weiteren zusammenhängenden Satz zustande. »Wie schrieb schon der unsterbliche Barde: Es ist nicht alles Gold, was glänzt.«
Mir wären einige Erwiderungen eingefallen, doch es hatte keinen Sinn, sich jetzt in irgendetwas reinziehen zu lassen.
Die Gastgeberin bestätigte, dass Angelina gegangen war, und ließ mich das Telefon benutzen, um ein Taxi zu rufen. Vorher kommentierte sie noch mein Sweatshirt mit dem Union Jack.
»Wie schön, einen Mann zu sehen, der stolz auf seine Herkunft ist!«
»Ich wollte doch dem Partymotto gerecht werden.«
Sie sah mich fragend an. »Welchem Motto?«
Das hätte das Ende sein können. Nicht unbedingt etwas, das man eines Tages den Enkeln erzählt, aber eine Erinnerung, die mir ein Lächeln ins Gesicht zauberte, sobald ich »You Can Leave Your Hat On« hörte. Oder »Because the Night«. Oder »Both Sides Now«. Oder »You Are So Beautiful«.
Alles deutete auf ein einmaliges Ereignis hin, und wahrscheinlich hätte ein vernünftiger Mensch gefolgert, dass sich hier nicht zum ersten Mal eine frisch getrennte Frau aus therapeutischen Gründen einen x-beliebigen Typen geschnappt und hinterher wieder abserviert hatte.
Trotzdem passte es nicht. Mein Kopf sagte, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hätte, eine erfundene Einladung zu gestalten und selbst vorbeizubringen, wenn es nur um eine vorübergehende Laune gegangen wäre. Mein Gefühl sagte, dass da mehr zwischen uns war. Und was den Sex betraf: Ich hatte einfach nicht den Eindruck gehabt, dass sie mich nur benutzt hatte. Ich hielt mir ihren übereilten Abgang noch einmal vor Augen und sah eher Scham als Schroffheit.
Allerdings war ich noch immer Adam Sharp, und sie war Angelina Brown.
Früher, in meiner Schulzeit, gab es am Schuljahresende immer das übliche Drama wegen der Verabredung zum Abschlussball. Diejenigen ohne feste Freundin gerieten in die blöde Situation, jemanden fragen zu müssen – und die Mädchen sahen sich in der noch blöderen Situation, etwas antworten zu müssen wie: »Ach, weißt du, ich würde gern noch auf einen Besseren warten, aber falls sich nichts anderes mehr ergibt …«
Da war ein Mädchen namens Sarah. Ich mochte sie sehr, nur war sie wirklich wahnsinnig hübsch, und das war ziemlich ungünstig für mich, weil ich mich neben all meinen Klassenkameraden, die ebenfalls für sie schwärmten, für den Einzigen hielt, der ihre inneren Werte schätzte. Doch mit ihrem Aussehen war sie klar außerhalb meiner Liga. Erst wenige Tage vor dem Ball, nachdem ich mir ein anderes Mädchen ausgeguckt hatte, fragte Sarah, ob ich sie begleiten würde. Sie hatte nur darauf gewartet, dass ich sie frage. Denn jeder hatte gedacht, sie wäre außerhalb seiner Liga.
In dieser Situation hätte ich gern meinen Dad für ein paar weise Ratschläge in der Nähe gehabt – nicht den Dad meiner frühen Teenagerjahre, der fast immer abwesend war, sondern die Version, die mir als Kind das Klavierspielen beigebracht hatte. Vielleicht bot mir das Schicksal jetzt, acht Jahre später, eine zweite Chance.
Mittels dreier Telefonate machte ich Angelinas Agentin ausfindig.
Snobistische australische Stimme: »Eine persönliche Nachricht? Wenn Sie Fanpost schreiben wollen, können Sie sie an unser Büro schicken. Und kontrollieren Sie vielleicht noch mal, ob Sie die Richtige meinen. Miss Brown spielt Sergeant Kerrie, nicht Danni.«
»Ich bin kein Fan. Ich arbeite in einer Bar. Sie hat hier vor kurzem etwas liegen lassen.«
»Darum kann ich mich kümmern. Was hat sie denn vergessen?«
»Eine Schallplatte. Because the Night von Patti Smith.«
»Ich bezweifle, dass sie eine Schallplatte großartig vermissen wird. Sie können sie sicher behalten.«
»Sie ist aber handsigniert. Für Angelina von Patti. So haben wir auch herausgefunden, wem sie gehört.« Genial!
»Na, schön. Ich werde vorbeikommen und sie abholen.«
Ein Rückzieher lohnte sich jetzt nicht mehr. »Wunderbar. Wir haben sie hinter der Theke.« Ich gab ihr die Adresse und wies Shanksy an zu sagen, dass die Platte verschwunden sei, falls die Agentin tatsächlich auftauchte.
Doch sie kam nicht. Und auch Angelina ließ nichts von sich hören.
Da ich außerhalb von Arbeit und Bar kaum etwas unternahm, verbrachte ich ziemlich viel Zeit mit der Überlegung, was ich als Nächstes tun könnte. Mitten in der Nacht erschienen mir einige meiner Ideen recht pfiffig, doch bei Licht betrachtet, waren sie meist nur dazu geeignet, mich als Stalker auszuweisen. Angelina hatte mir durch nichts zu verstehen gegeben, dass sie mich wiedersehen wollte. Und sie wusste, wo sie mich finden könnte.
Die Suche nach einer Lösung nährte mein Verlangen, sie wiederzusehen. Sie war ausreichend interessiert gewesen, um mich zu einer Party und dort zu überraschender Nähe einzuladen. Eine gewisse Chemie zwischen uns war unverkennbar. Ich hatte es am Klavier gespürt und dann auf der Feier – ganz zu schweigen von der Zeit im Schlafzimmer. Und obwohl mir Richard in Aussehen und Karriere überlegen war, legte er es offenbar mehr darauf an, Angelina zu verletzen, als die Beziehung zu retten. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass zwischen uns etwas Bedeutsames geschehen war und sie es auch gespürt hatte. Vielleicht, nur ganz vielleicht, wenn ich es klug anstellte, hatte ich ja eine Chance.
In der Bar stand ein Fernseher, der nur gelegentlich genutzt wurde. Am frühen Abend, wenn es noch ruhig war, stellte Shanksy ihn bereitwillig ein, und an den nächsten drei Montagen sahen wir die jeweils aktuelle Folge von Mornington Police.
Richards Seitenhieb, dass Angelina nur bei der Arbeit auf sexy mache, bezog sich auf die Serie. Ihr TV-Alter-Ego Sergeant Kerrie war die Kluge und Verlässliche auf dem Revier, aber, wie bereits von Tina angekündigt, hatte sie eine heftige heimliche Affäre mit dem – verheirateten! – Pathologen des Distrikts. Es war eine Familiensendung und folglich nicht besonders explizit. Trotzdem hoffte ich, dass der Schauspieler, der Dr. Andrews spielte, nicht international erfolgreich würde, da ich ihn jetzt schon hasste.
Die große Überraschung war Danni, die »Heiße«, die die Aufgabe hatte, in Zivilkleidung den Strand zu patrouillieren, was von der Kostümabteilung weidlich ausgenutzt wurde. Die Schauspielerin war diejenige, die ich als Jayne Mansfield bezeichnet hatte, und auf dem Bildschirm ungefähr ebenso interessant wie im realen Leben.
Ich notierte mir die Produktionsfirma und beschloss, es ein weiteres Mal zu versuchen. Meine Vorgehensweise müsste selbstbewusst, aber nicht arrogant sein, bewundernd, aber nicht anbiedernd, nicht nur auf sie bezogen, sondern auch auf mich. Dazu – in Berücksichtigung ihres Berufs – gern ein bisschen dramatisch. Außerdem kreativ, um es mit ihrer Bring-a-Brit-Einladung aufnehmen zu können. Und intelligent. Nun, es würde schon einiges an Intelligenz erfordern, alle anderen Kriterien zu erfüllen.
Die Floristin stellte mir ein Dutzend Rosen zusammen – sieben weiße und fünf rote –, die ich auf einem langen Stück Pappe in Form einer Klavieroktave anordnete, wobei die roten Rosen die Funktion der schwarzen Tasten übernahmen. Wir stanzten Löcher in die Pappe und befestigten die Blumen mit Bindedraht.
Ungeachtet des Protests der Blumenhändlerin zerschmetterte ich drei der Rosenköpfe mit der Faust, um einen A-Dur-Akkord zu symbolisieren, die drei Noten, mit denen ich »Angel of the Morning« eingeleitet hatte, das ihr Freund sie nicht hatte singen lassen wollen. A für Angelina. Und für Adam. Konnte man zerschmetterte Rosen mit mehr Bedeutung aufladen?
Man konnte. Ich zerdrückte auch die weiße G-Rose, um einen Sept-Akkord daraus zu machen – eine Hinführung, die Spannung und Erwartung erzeugt.
Die Floristin bestätigte, die Karte sei der absolute Hammer.
Etwas Derartiges hatte ich noch nie gemacht – über einen konventionellen Strauß Rosen am Valentinstag war ich zu keinem Anlass hinausgekommen. Wahrscheinlich war es gut, dass ich mit niemandem außer der Blumenhändlerin darüber gesprochen hatte, die immerhin ein gewisses finanzielles Interesse mit der Sache verband, sonst hätte ich es mir wohl selbst ausgeredet.
Am Abend blieb ich bis zum Ende in der Bar. Und auch am Abend danach, genährt von Nüssen und Käse-Twisties, während meine Nerven Twist tanzten und ich mich nach jedem Song umdrehte, den Blick durch die Bar schweifen ließ und mögliche Szenarien für unser Wiedersehen entwarf.