Das rote Nachthemd - Florian Lettre - E-Book

Das rote Nachthemd E-Book

Florian Lettre

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Beschreibung

F.L. hat sein ganzes Leben als Arzt gearbeitet. Jetzt ist er alt und denkt über sein Leben nach. Die alten Bilder erscheinen vor ihm.. Er versucht, sie zu ordnen. Und er denkt darüber nach, wie manches hätte anders sein können. Und er beschreibt, was die, denen er begegnet ist, schreiben würden über das, was er mit ihnen erlebt hat.

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Florian Lettre

Das rote Nachthemd

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1.Splitter

2.Frühe Bilder

3.Im Dschungel des Eros

4.Unerwartet

5.Bei den Kranken

6.Nachdenken

7.Menschen um Florian

8.Phantasien

9.Requiem

10.Späte Bilder

11. Wie das Leben endet

12.Das Gitterbett

Impressum neobooks

1.Splitter

Florian hatte über vierzig Jahre als Arzt gearbeitet. Jetzt hatte er Ruhe. Sein Leben erschien vor ihm. Ungeordnet. Es gefiel ihm, die alten Sachen wieder zu sehen. Die schönen und die nicht so schönen. Und die traurigen. Und die unangenehmen. Alles.

Eines Tages war ein Brief vom Präsidenten der Universität gekommen. Maria hatte ihn aufgemacht.

„Du sollst nächste Woche zum Präsidenten kommen.“

„Ich? Was soll das bedeuten?“

„Weiß ich auch nicht.“

Florian las sich das Schreiben genau durch. Er konnte nicht erkennen, warum er zum Präsidenten kommen sollte. Er kannte den Mann nicht. Manchmal wurde sein Name in der Zeitung erwähnt. Ein Bild war dabei gewesen. Er hatte es vergessen. Der Mann war ihm gleichgültig. Er hatte nichts mit seiner Arbeit zu tun.

In der nächsten Woche hatte Maria seinen guten Anzug bereitgelegt und ein weißes Hemd. Eine Krawatte lag dabei.

„Was soll das? Ich bin kein Pfingstochse.“

„Das ziehst du an. Ich will nicht, dass du beim Präsidenten wie ein heruntergekommener Asylant erscheinst.“

„Nun übertreibe nicht! Ich bin immer sehr gut angezogen. Eine Kollegin hat gesagt, ich sei der am besten angezogene Arzt in der Abteilung. Frauen haben dafür ein Gespür.“

„Wenn es nach dir ginge, wärst du der am schlechtesten angezogene Arzt.“

„Ich verdanke alles dir.“

„Ja, ja. Das kannst du dir sparen. Pass auf dich auf!“

Florian fuhr zum Präsidenten. Er war viel zu früh da. Er suchte das Zimmer des Präsidenten und meldete sich bei der Sekretärin.

„Entschuldigung. Mein Name ist L. Ich habe einen Termin beim Präsidenten.“

Die Sekretärin sah in ihrem Kalender nach.

„Ja, das stimmt. Nehmen sie bitte einen Moment Platz. Der Präsident hat noch etwas zu erledigen. Ich werde sie hereinrufen.“

Florian setzte sich auf dem Gang vor dem Sekretariat auf einen Stuhl.

Gedanken überfielen ihn. Gedanken an früher. Situationen. Das damals nahm ihn gefangen. Er saß wieder auf einem Stuhl. Er wartete. Er wartete lange. In der Tasche hatte er seine Doktorarbeit. Bisher war alles gut gegangen. Er hatte alle Prüfungen bestanden. Dies war seine letzte Prüfung. Dann war er Doktor. Ich mache mir keine Sorgen, dachte er. Dieses Mal nicht. Meine erste Prüfung ohne Sorgen. Was soll mir noch passieren? Diese alte Frau kann mir nichts anhaben. Ich bin seit einer Woche zum zweiten Mal Vater. Maria hat ihr Baby zur Welt gebracht. Diese alte Frau hat keine Kinder. Alles ausgetrocknet. Neben der Tür das Schild mit dem Namen und dem Titel der alten Dame. Ihre Vorlesung war langweilig gewesen. Nur wenige Studenten saßen im Hörsaal, wenn sie ihre Vorlesung hielt.

Dann ging die Tür auf. Die Sekretärin bat ihn herein. Sie war freundlich und zuvorkommend.

„Frau Professor erwartet sie“, sagte sie. Florian ging hinter ihr in das nächste Zimmer. Bücher an den Wänden, ein großer alter Schreibtisch. Zeitschriften und Bücher auf dem Schreibtisch.

Zwei Bilder an der Wand dahinter. Breite vergoldete Rahmen. Stillleben. Ein Reh und eine Vase mit Blumen.

„Herr L.?“

„L.“, sagte Florian. In seiner Stimme war Respekt. Die alte Frau sah müde aus. Ihre Augenlider ließen nur einen kleinen Teil der Augen sehen.

„Ihre Dissertation befasst sich.....“ Sie referierte das Wichtigste aus seiner Doktorarbeit. Sie hatte sie tatsächlich gelesen. Ungewöhnlich. Sie verwickelte ihn in eine Diskussion über eine bestimmte Einzelheit in seiner Doktorarbeit. Florian dachte: Rede du, das ist mir gleichgültig. Du willst dich nur aufspielen. Du kannst mir nichts anhaben. Plötzlich sagte sie:

„Herr L.! Sie machen einen tranigen Eindruck. Haben sie Beruhigungsmittel genommen?“

Florian wollte nicht tranig sein. Das ging ihm gegen den Strich. Wie konnte sie so etwas sagen? Er war seit einer Woche Vater zweier Kinder.

„Ja, ich habe ein Beruhigungsmittel genommen“, wollte er sagen. Im letzten Moment fiel ihm ein: Dann kann sie mich durchfallen lassen. Dieses alte Aas! Was hat sie gegen mich? Etwas an mir gefällt ihr nicht. Sie kann meine Art zu reden nicht ausstehen. Nicht genug Ehrerbietung. Aber ich gehe dir nicht auf den Leim! Was soll Maria sagen, wenn ich nach Hause komme und durchgefallen bin.

„Nein“, sagte Florian „ich habe keine Medikamente eingenommen. Ich bin so.“ Er lächelte die alte Frau an. Sie hob ihre Augenlieder und sah ihn missbilligend an. Sie schüttelte sogar den Kopf. Sie war angewidert von diesem jungen Mann. Einige Monate später bekam er seine Doktorurkunde während einer Feierstunde im Hörsaal der Universität ausgehändigt. Maria saß neben ihm. Ihr Sohn lag zu Hause in seinem Bettchen und schlief fest.

Die Sekretärin kam.

„Der Präsident erwartet sie.“

Florian ging mit ihr durch ihr Zimmer und kam in ein großes Zimmer mit breitem Schreibtisch und Büchern an den Wänden. Das war alles nicht billig, dachte er. Der Präsident stand auf und gab Florian die Hand. Er konnte sich jetzt wieder an das Bild in der Zeitung erinnern.

„Sie sind seit 1970 Mitglied unserer Universität. Das sind zwanzig Jahre. Eine lange Zeit. Sie waren einige Jahre Assistenzarzt. Dann wurden sie Oberarzt. Sie haben sich vor fünf Jahren habilitiert. Nun hat mir ihr Chef vorgeschlagen, sie zum außerplanmäßigen Professor zu ernennen. Ich habe mir ihren Werdegang angesehen und bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich keine Einwände habe. Ich gratuliere ihnen. Damit sind sie nun Kollege.“

Der Präsident übergab Florian die Urkunde und dann war Florian wieder auf dem Gang mit den Stühlen. Er fuhr nach Hause. Er war etwas stolz, aber nicht sehr viel. Vor ihrem Haus stand Maria und machte ein Foto. Sie hatte ihn erwartet.

„Wie war es?“

„Ich bin jetzt Professor.“

„Das habe ich mir gedacht. Warum solltest du sonst zum Präsidenten kommen? Wo ist die Urkunde?“

Florian holte die Urkunde heraus.

„Sieht ganz ordentlich aus. Büttenpapier. Und ein Siegel. Ich gratuliere dir“. Sie drückte ihn an sich und gab ihm einen Kuss.

„Er hat gesagt, ich sei jetzt Kollege. War ich das vorher nicht?“

„Für ihn nicht.“

Am nächsten Morgen verkündete der Chef, dass Herr L. zum außerplanmäßigen Professor ernannt worden sei und gratulierte. Dann ging es zur Arbeit wie immer. Die Oberschwester sagte „Herr Professor“ zu Florian. Er sah sie nachdenklich an. Er wusste nicht, ob sie sich über ihn lustig machte. Es vergingen ein paar Monate bis sich Florian an die neue Anrede gewöhnt hatte. Früher hatte er gedacht, dass ein außerordentlicher Professor etwas ganz Besonderes sei. Er hatte nicht gewusst, dass das ein Professor zweiter Klasse war. Aber immerhin, dachte er. Dieser Doktor und dieser Professor, das waren Titel. Mehr nicht. Sie waren nicht die wichtigsten Punkte in seinem Leben. Sie waren wichtig, aber nicht die wichtigsten.

„Guten Morgen“, hatte Florian gesagt.

„Guten Morgen“, sagte die Sekretärin. Sie sah vor sich hin. Sie war in Gedanken.

„Wie geht es ihnen?“ sagte Florian. Sie sah auf. Etwas war in ihrem Blick.

„Mir geht es gut“. Sie betonte das „mir“. Florian wusste nicht, was er davon halten sollte.

„Dann ist alles in Ordnung.“

„Ja.“ Die Sekretärin sah wieder vor sich hin. Da war etwas. Florian sah die Sekretärin an und sagte:

„Was ist denn?“

Die Sekretärin schwieg. Sie sah Florian nur an. Nach einer Weile sagte sie:

„Doktor L.! Ich weiß nicht, ob ich ihnen das sagen soll. Wir kennen uns schon lange. Ich bin von ihnen nie enttäuscht worden. Bisher jedenfalls.“

„Sie machen mich neugierig“.

„Es ist nicht angenehm für sie.“ Die Sekretärin sah sich um. Sie waren allein.

„Was?“

„Heute war Doktor W. bei unserem Chef. Er hat mit ihm gesprochen.“

„Ja?“

„Ich habe das Gespräch zufällig gehört.“

„Ja?“

„Es drehte sich um ihre Erkrankung.“

„Ach. Um mich.“

„Und um ihre Erkrankung. Sie hatten doch einen Schlaganfall.“

„Ja. Das war furchtbar. Ich hatte Glück, dass ich mich erholt habe.“

„Man merkt nichts mehr davon. Sie arbeiten mehr als andere Mitarbeiter.“

„Arbeit ist gut bei so etwas.“

„Doktor W. hat davon erfahren.“

„Ich habe ihm davon erzählt. Wir arbeiten jeden Tag zusammen.“

„Sie sollten nicht so vertrauensvoll sein.“

„Warum? Der Chef weiß auch davon.“

„Doktor W. hat gesagt, dass es untragbar sei, einen Arzt nach einem Schlaganfall als Oberarzt zu beschäftigen.“

„Das hat er gesagt?“

„Ja, das hat er gesagt.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Doktor W. ist mein Freund. Wir arbeiten zusammen.“

„Sie sind manchmal naiv.“

„Vielen Dank, dass sie mir das gesagt haben. Ich bin ganz verunsichert.“

„Deshalb habe ich gezögert, mit ihnen zu sprechen.“

Florian ging aus dem Zimmer. Es war wie ein Schlag mit einer Keule gewesen. Er ging langsam nach unten zu den Patienten.

„Gut dass du wieder da bist. Wir haben eine Menge Patienten.“ Doktor W. sah aus wie immer. Es war viel zu tun. Florian rief den nächsten Patienten. Er wollte das Gespräch vergessen. Er konnte es nicht vergessen. Immer wieder sah er seinen Kollegen an. Er sah aus wie immer.

Maria und Steffi saßen schon eine Weile in dem Restaurant. Jede hatte ihren Kaffee vor sich und einen Teller mit etwas Gebäck. Sie saßen allein an ihrem Tisch.

„Merkwürdig: wir sind jetzt über dreißig Jahre verheiratet, aber ich kenne Florian nicht viel besser als damals als wir uns kennen lernten.“

„Hat er sich verändert in dieser Zeit?“ Maria musste nachdenken. Dann sagte sie:

„Dieser Schlaganfall war natürlich eine schlimme Sache. Er kam aus heiterem Himmel.“

„Ich habe dich bewundert. Du hast das großartig gemeistert. Ich hätte das nicht so gekonnt.“

„Was sollte ich anders tun? Die Kinder waren klein. Sie brauchten mich. Ein Glück, dass sich Florian so gut erholt hat. Ein Arzt hatte mir gesagt, dass er nicht alt werden würde. Jetzt ist er fast sechzig.“

„Er ist noch Professor geworden. Das hätte ich ihm nicht zugetraut. Er ist eher zurückhaltend. Er kann sich nicht gut in den Vordergrund spielen.“

„Da hast du Recht. Wenn wir Leute eingeladen haben, sagt er manchmal den ganzen Abend nichts. Das ist richtig peinlich.“

„Ich habe ihn aber auch schon anders erlebt. Wir hatten einmal eine wüste Diskussion mit euch über Sozialismus und Kapitalismus. Florian war für Sozialismus und Detlef für Kapitalismus.“

„Er ist ein Linker.“

„Ein Linksaußen.“

„Ja, das ist er.“

„Dabei ist er doch aus dem Osten abgehauen.“

„Er hatte sich den Westen anders vorgestellt. Er hat der Propaganda geglaubt und war dann enttäuscht.“

„Er hat hier weiter studiert und ist Arzt geworden und Professor. Was will er eigentlich?“

„Er findet dieses System hier ungerecht. Er ist manchmal naiv.“

„Warum hast du ihn eigentlich geheiratet? Du hattest viele Chancen bei Männern. Du hättest dir einen anderen suchen können. Und ein schöner Mann ist er nicht gerade. Er macht so auf bescheiden. Ist er das?“

„Ja, das ist er. Er meint, er habe nur Glück gehabt. Verdient habe er das alles nicht. Mich nicht und seinen Beruf nicht.“

„Da ist Detlef aus ganz anderem Holz geschnitzt. Der litt nie an Minderwertigkeitsgedanken. Der hatte immer große Pläne und dann wurde nichts daraus. Gut, dass ich ihn los bin. Ein guter Liebhaber war er. Das kann ich nicht bestreiten.“ Maria schwieg nach diesen Worten ihrer Freundin.

„Du sagst nichts dazu?“ sagte Steffi nach einer Weile.

„Wir sind alle älter geworden, Florian auch“, sagte Maria.

„Du siehst immer noch sehr gut aus. Du hast kaum Falten. Bei mir ist das anders. Wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe, erkenne ich mich nicht. Das ist eine andere Frau, die mich da ansieht.“

„Das geht mir auch so. Am meisten stört mich, dass ich manchmal so ungehalten bin. Ich weiß nicht, woher das kommt. Dann bin ich auch ungerecht. Hinterher ärgere ich mich. Florian leidet darunter. Glaube ich.“

„Bist du nicht zufrieden? Du hast zwei gesunde Kinder. Du hast einen schönen Beruf.“

„Es war etwas viel für mich. Die Arbeit im Labor und dann nach Hause zu den Kindern. Ich bin immer zuerst in die Küche zum Herd und habe das Mittagessen gemacht. Danach habe ich mich erst ausgezogen. In den letzten Jahren ist es besser geworden. Die Kinder gehen ihre eigenen Wege. Sorgen macht man sich trotzdem.“

„Du warst immer sehr pflichtbewusst. Ich war da ganz anders.“

„Dich haben diese charmanten Männer interessiert. Hinter denen warst du her.“ Steffi musste lachen.

„Siehst du das so?“

„Stimmt das nicht?“ Steffi sah ihre Freundin lächelnd an.

„Vielleicht hast du Recht. Glück habe ich mit diesen Männern nicht gehabt. Jetzt bin ich alt und allein. Keiner will mich mehr.“

„Du hast mich.“

„Wenn wir damals nach Paris gegangen wären, wäre alles anders gekommen. Wir hatten schon alles geregelt. Und dann kam Florian und wir sind beide hier geblieben.“

„Freundinnen sind wir geblieben. Du hast mir das nicht übelgenommen.“

„Alte Freundschaften halten am längsten.“

Steffi sah auf die Uhr. Sie musste los. Sie würden sich bald wiedertreffen. Und dann würden sie mehr über Detlef als über Florian reden.

Diese Splitter seines Lebens. Waren sie für den, der sie las, zu ordnen? Zogen sie ihn hinein in dieses Leben? Florian kamen Zweifel. Er begann den Splittern eine Ordnung zu geben.

2.Frühe Bilder

Florian war erstaunt, wie genau er sich an einzelne Szenen seines Lebens erinnern konnte. Diese Erinnerung reichte teilweise bis in seine Kindheit zurück. Allerdings waren diese Erinnerungen wie Inseln in einem Meer des Vergessens.

Er war ein schüchterner kleiner Junge und hatte kaum Freunde, mit denen er spielen konnte. Bei schönem Wetter war er im Garten, der sich um das Haus herum hinzog. Im hinteren Teil des Hauses wohnten seine Eltern, im vorderen Teil seine Verwandten. Er ging gern zu der jungen Frau im vorderen Teil des Hauses. Die Verwandten waren erst vor einiger Zeit eingezogen und hatten in dem Haus geheiratet. Florian war bei der Hochzeit dabei gewesen. Er hatte in der Kirche Blumen gestreut. Die junge Frau gefiel ihm. Er musste daran denken, wie sie in ihrem Brautkleid ausgesehen hatte. Das weiße Kleid hatte im unteren Teil einen breiten dunkelblauen Streifen. Der Stoff war aus Fallschirmseide. Es war die Zeit nach dem Krieg. Es gab kaum etwas zu kaufen. Aber das war er gewohnt.

Sein Vater war ein großer breitschulteriger Mann. Florian freute sich, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam. Er war Werkleiter in einem volkseigenen Betrieb, der für die ganze DDR Fahrstuhlkäfige herstellte. Nach dem Krieg gehörte der Betrieb einem privaten Besitzer. Als dieser nach dem Westen gegangen war, wurde der Betrieb volkseigen. Sein Vater hatte erwogen, mit nach dem Westen zu gehen. Er hatte erwartet, dass der Besitzer ihn und seine Familie mitnahm. Das erfüllte sich nicht. Sein Vater hatte befürchtet, dass er seine Stelle verlieren würde. Aber die neuen Herrn im volkseigenen Betrieb waren froh über einen erfahrenen Mitarbeiter. Sein Vater saß abends bei seinem Weinbrand und erzählte von den Problemen im Werk. Er sprach mit Begeisterung von seiner Arbeit. Die Mutter war froh, wenn er zu Hause seinen Weinbrand trank und nicht im Gasthaus. Oft war es eine ganze Flasche. Die Mutter und auch Florian hatten es nicht gern, wenn der Vater in ein Gasthaus ging. Dann kam er erst in der Nacht nach Hause und war betrunken. Am nächsten Morgen ging er trotzdem zur Arbeit. Die Mutter schämte sich, wenn die Nachbarn darüber redeten. Der Vater war stolz auf Florian, wenn er aus der Schule gute Zensuren brachte.

In diesem Jahr passierte viel. Es war im Februar 1945, als Florians Schwester am Morgen aus der Schule nach Hause kam. Sie klagte über Ohrenschmerzen. Gegen Mittag kam der Arzt. Er verordnete ein Medikament gegen das hohe Fieber. Die Schwester hatte Scharlach. In der Nacht wurden die Ohrenschmerzen schlimmer und das Fieber stieg. Am Morgen kam der Arzt nochmals. Er machte ein bedenkliches Gesicht. Die Schwester hatte weiter hohes Fieber. Sie war unruhig und redete wirr. Sie griff sich immer wieder an den Kopf. Der Arzt sprach mit dem Krankenhaus in der Kreisstadt. Es gelang ihm, ein Bett für Florians Schwester zu bekommen. Es war drei Monate vor Ende des Krieges. Der Krankenwagen kam und brachte die Schwester ins Krankenhaus. Florian war den ganzen Tag allein. Erst am Abend kam die Mutter nach Hause. Vater und Mutter sahen sehr ernst aus. Am nächsten Tag war Florian wieder allein. Die Mutter kam wieder erst am Abend nach Hause. Sie hatte geweint. Am nächsten Tag zog sie schwarze Sachen an.

„Mutter,“ sagte Florian „was ist denn?“ Die Mutter nahm seinen Kopf in ihre Hände und drückte ihn an sich. Florian sah, dass sie weinte.

Am nächsten Tag mussten alle im Hause in den Keller wegen Fliegeralarm. In der Nacht gab es Unruhe im Hause. Am Morgen war Besuch da. Es waren die Verwandten aus Dresden. Sie waren ausgebombt. Florian wusste nicht, was das ist. Sein Cousin war auch da.

„Was ist ausgebombt?“ sagte Florian zu ihm.

„Wir hatten Fliegeralarm.“

„Wir auch.“

„Als wir aus dem Keller kamen, brannte unser Haus.“

„Warum?“

„Durch die Bomben.“

„Was habt ihr gemacht?“

„Wir sind zu Fuß zu Euch gelaufen.“

„Das ist weit.“

„Die ganze Nacht sind wir gelaufen.“ Florian konnte sich nicht vorstellen, dass jemand soweit laufen kann. Es war der 13. Februar 1945. Die Verwandten blieben einige Wochen bei ihnen. Florian spielte gern mit seinem Cousin. Eines Tages sagte er:

„Wenn meine Schwester wiederkommt, können wir zu dritt spielen. Vater, Mutter und Kind. Du bist das Kind.“

Der Cousin sah ihn an.

„Deine Schwester kommt nicht wieder.“ Florian sah ihn ungläubig an:

„Sie kommt nicht wieder?“

„Weißt du nicht, dass sie gestorben ist?“ Florian rannte zur Mutter. Das musste ein Irrtum sein. Die Mutter nahm ihn in ihre Arme.

„Deine Schwester ist gestorben.“ Florian sagte nichts. Er verstand das nicht. Alte Leute sterben und Soldaten sterben. Aber seine Schwester? Er verstand das nicht. Am nächsten Tag ging seine Mutter mit ihm zum Friedhof. Auf dem Hügel lagen Blumen über Blumen. Florian hatte noch nie so viele Blumen gesehen.

„Wenn sie so schöne Blumen hat, dann bin ich nicht traurig.“ Die Erwachsenen schüttelten den Kopf.

„Er kann das noch nicht verstehen“, sagten sie.

Anfang Mai kamen die Russen. Florian sollte zum Friseur gehen. Er ging nicht gern zum Friseur. Er sah zum Fenster hinaus auf die große Straße.

„Mutter, da kommen komische Panzer.“ Die Mutter sah auf die Straße.

„Das sind die Russen.“

Alle hatten Angst vor den fremden Soldaten. Die ganze Familie hatte sich in den Keller geflüchtet. Der erste Russe nahm sich das Fahrrad mit, das man im hinteren Hof vergessen hatte. Es war nicht in Ordnung. Der nächste Russe kam zusammen mit anderen. Er war ein Lehrer, der Deutsch sprach. Die Stadt war übergeben worden. Ein mutiger Mann war mit einer weißen Fahne zum Stadtrand gegangen, den fremden Truppen entgegen. Nach einigen Tagen begann der Bäcker in der kleinen Stadt wieder zu backen.

Die Zeit nach dem Krieg war für alle eine schwere Zeit. Aber für Florian war das selbstverständlich. Er kannte keine besseren Zeiten. Mittags kochte sein Mutter für ihn Meerrettichsoße mit Kartoffeln. Pudding gab es nur selten. Das war ein Festtag. Er hatte nur wenige Spielsachen. Zu Weihnachten gab es Geschenke, die durch Tauschen erworben wurden. Auf dieses Fest mit seinen Geschenken freute er sich das ganze Jahr.

Im September kam Florian in die Schule. Er bekam eine Zuckertüte. In der Spitze waren ein paar Bonbons aus Zucker. Die Schule war ein großes Gebäude mitten in der Stadt. Mutter und Tante begleiteten Florian. In der Turnhalle gab es eine Ansprache, von der Florian nichts verstand. An der einen Wand hing eine große rote Fahne. Am nächsten Tag begann der Unterricht. Er begann mit dem Buchstaben A. Am nächsten Tag folgte das B.

Florian übte zu Hause das Schreiben der Buchstaben. Florian saß in der ersten Reihe, weil seine Mutter das so gesagt hatte. Der Lehrer war jung und freundlich. Florian war froh, wenn er wieder zu Hause bei seiner Mutter war. Das erste Problem kam, als er aus den Buchstaben ein Wort machen musste. Das Wort klang anders als die einzelnen Buchstaben. Er schaffte das.

Als Kind war Florian meist allein. Er hatte keine Freunde. In der Schule saß er in der ersten oder zweiten Reihe. Seine Mutter wünschte das so. Er machte, was seine Mutter wollte. Er war diesen beiden Erwachsenen, die seine Eltern waren, unterlegen. Er hatte keine Chance gegen sie. Wenn er einen Bruder oder eine Schwester gehabt hätte, wäre das vielleicht anders gewesen. So lernte er früh, sich unterzuordnen. Später dachte er, dass er dadurch für immer geprägt wurde. Er versuchte, den Lehrern alles Recht zu machen. Er war ein fleißiger Schüler. Seine Hausaufgaben erledigte er immer. Die anderen Jungen kamen am Morgen zu ihm und wollten sie abschreiben. Er gab sie ihnen. Im Unterricht meldete er sich nur selten. Aber er lernte zu Hause fleißig auswendig und schrieb gute Arbeiten. Am Ende des Schuljahres hatte er gute Noten in seinem Zeugnis. Die Eltern waren stolz und lobten ihn. Er war glücklich. In der Schule hatte er Angst vor den Raufbolden. Er war ihnen nicht gewachsen. Er suchte sich andere Jungen, die ihm beistanden. Dafür gab er ihnen von seinem Frühstücksbrot. Er hatte immer reichlich davon. Auf dem Weg nach Hause hatte er Angst vor anderen Kindern. Er war froh, wenn er wieder zu Hause war und in seinen Büchern lesen konnte. Er flüchtete gern in diese Welt der Bücher. Er las alles im Bücherschrank seiner Eltern und auch seiner Tante, die mit im Hause wohnte. Er las alle Karl-May-Bücher und die Zukunftsromane von Dominik. Er las auch die Mädchenbücher seiner verstorbenen Schwester. Später las er dann Ganghofer. Im Bücherschrank standen auch die Klassiker-Ausgaben: Goethe, Schiller, Lessing, Shakespeare. Er las alles. Im Lexikon suchte er nach bestimmten Stichworten: Geschlechtsverkehr, Geschlechtsorgane. Als er entdeckte, was beim Geschlechtsverkehr wirklich passierte, war ihm das unangenehm. Eine andere Art Kinder zu zeugen wäre ihm lieber gewesen. Ein Raufbold aus seiner Klasse fragte ihn, ob seine Eltern auch ficken. Florian wusste nicht was das ist und die ganze Klasse lachte.

Er war erkrankt. Die Zeitungen berichteten auf der ersten Seite. Dann gab es jeden Tag ein Bulletin der Moskauer Ärzte. Florian konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann sterben würde. Der Mann war so mächtig. Es war nicht möglich, dass er nicht mehr sein würde. Man würde ihn am Leben erhalten. Er würde gesund werden. Dann verschlechterte sich der Zustand von Tag zu Tag. Hoffnung keimte auf. Florian hoffte von Tag zu Tag mehr, dass er sterben würde. Und dann geschah das Unglaubliche. Im Radio kam Trauermusik. Den ganzen Tag Trauermusik. Der Kerl war tot. Eine Riesenüberschrift in der Zeitung. Und Bilder weinender Menschen. Florian erfasste ein Gefühl von großem Glück. Es gab etwas das stärker gewesen war als diese Macht. Vielleicht hatte es mit Gott zu tun. Der hatte die Geduld verloren mit diesem Menschen, der ihn verleugnete. Ungestraft verleugnete. Bisher jedenfalls. Dann wurde der Mann beerdigt. Im Mausoleum an der Kremlmauer neben Lenin. Wieder weinten die Menschen. Florian weinte nicht. Er war nicht traurig. Er war froh. In der Schule versammelten sie sich auf dem Schulhof. Der Schulleiter hielt eine Rede. Florian sah um sich. Niemand durfte sehen, dass er froh war. Die Russen hatten ihren Führer verloren. Es geschah ihnen recht nachdem sie seinem Vaterland den Führer genommen hatten. Florian hatte die beiden in den sowjetischen Filmen über den großen Krieg gesehen. Er war stolz auf seinen Führer gewesen. Es durfte nur niemand davon wissen. Zu Hause wurde nicht mehr über den deutschen Führer gesprochen. Man sah aber noch die Stelle an der Wand im Wohnzimmer. Dort hatte sein Bild gehangen. Über den Führer sprach niemand mehr. Aber auf Deutschland auf ihr Vaterland waren alle im Hause stolz. Florian war auch stolz auf dieses Land. Die Sieger hatten es unterworfen und geteilt. Das würde nicht ewig so sein. Das wusste er. Das erhoffte er.

Florian war das letzte Jahr in der Grundschule. Er war jetzt vierzehn. Die Abschlussprüfung stand vor der Tür. Er lernte für die Prüfungen. Es waren viele Prüfungen. Er war gut vorbereitet als sie begannen. Er war der Einzige an seiner Schule, der in der Mathematikarbeit keinen Fehler machte. Die Lehrer waren stolz auf ihn. Es gab Schulen, wo kein Schüler eine Mathematikarbeit ohne Fehler abgab. Die Aufgaben waren von einer Zentrale ausgearbeitet worden. In diesem Land wurde alles organisiert. Manchmal klappte es. Manchmal nicht.

Der Sommer war heiß. Und dann kam dieser Tag. Florian saß vor dem Radio. Mühsam konnte er den Westberliner Sender empfangen. Es gab einen Bericht von der Sektorengrenze in Berlin. Ein großes Haus stand in Flammen. Es gab Demonstrationen. Die Demonstranten forderten eine Rücknahme von Normerhöhungen. Florian war voller Hoffnung, dass sich jetzt etwas ändern würde. Er wusste nicht genau, was sich ändern konnte. Vielleicht würde sein Vaterland wieder vereinigt werden. Er hasste diese Leute, die hier regierten. Am nächsten Tag stand in der Zeitung etwas von einem neuen Kurs. Die Demonstrationen seien von Provokateuren aus dem Westen angezettelt worden. Florian glaubte das nicht. Alle im Haus glaubten das nicht. Als er in die Schule kam, stand ein sowjetischer Panzer vor dem Rathaus. Er stand einfach so da. Soldaten waren nicht zu sehen. In der Schule hieß es, die Prüfung im Fach Gegenwartskunde falle aus. Florian war froh. Dieses Fach hatte er nicht gern. Am nächsten Tag war der Panzer wieder weg. Florian machte die letzten Prüfungen. Er war der beste Schüler der ganzen Schule. Er war stolz auf sich. Und seine Eltern auch. Und auch sein Klassenlehrer. Es gab eine Feier im größten Betrieb der Stadt. An der Stirnseite hing wie immer ein Bild von W.U.

Nach der Grundschule kam er in eine andere Stadt in die Oberschule. Im Westen hieß das Gymnasium. Er war jetzt vierzehn und unsicher wie er zurechtkommen würde. Er setzte sich in die letzte Reihe neben Rudolf. Der kam aus einem kleinen Dorf und sein Vater war Bauer in einer LPG. Rudolf fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zehn Kilometer zur Schule. In einem eisigen Winter erfror er sich die Ohren. Bald zeigte sich, dass sie die besten Schüler in ihrer Klasse waren. Nur im Turnen war Rudolf besser.

„Florian, einen Augenblick! Ich wollte sie etwas fragen.“

Florian blieb stehen und sah den Lehrer an. Er hatte bei ihm Geschichte.

„Sie haben heute die Meinung geäußert, das russische Proletariat sei noch nicht reif für eine Revolution gewesen. Wie kommen sie darauf?“

„Das ist mir nur so eingefallen. Das hat nichts zu sagen.“

Der Lehrer sah ihn nachdenklich an.

„Das beruhigt mich. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn sie auf die Argumente des Klassenfeindes hereinfallen würden.“

„Da müssen sie keine Angst haben. Die Sowjetunion ist für mich die Vorhut des Sozialismus.“

„Die Oktoberrevolution ist einzigartig in der Geschichte. Zum ersten Mal hat das Proletariat die Macht übernommen.“

„Ich dachte, die Pariser Kommune wäre das erste Mal.“

„Das stimmt schon. Aber das war nur eine kurze Episode. Die Oktoberrevolution hat die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in Russland beseitigt.“

„Das Proletariat ist für mich die einzige progressive Klasse.“

„In unserem Land steht das Proletariat in einem harten Kampf mit Resten der alten Ordnung. Immer wieder werden überholte Standpunkte vertreten. Der Klassenfeind ist noch nicht bezwungen.“

„Das ist mir klar.“

„Sie könnten sich offensiver für den Sozialismus einsetzen. Sie sind ein guter Schüler. Die anderen hören auf sie.“

„An mir soll es nicht liegen. Der Geschichtsunterricht bei ihnen hilft uns sehr.“

„Es gibt einige in ihrer Klasse, die nicht auf unserer Seite stehen, die wankelmütig sind.“

„Ich kenne keinen. Denken sie an einen bestimmten Schüler?“

„Thomas und Lutz beziehen nie Stellung. Sie lernen ihre Hausaufgaben, aber am Unterricht beteiligen sie sich kaum.“

„Thomas ist einfach schüchtern. Er traut sich nicht. Wenn ich mit ihm spreche, hat er die richtige Einstellung.“

„Und Lutz?“

„Der hat eine Freundin. Die nimmt ihn ganz in Anspruch.“

„Wer ist seine Freundin?“

„Sabine“.

„Das ist ein Mädchen mit vielen Interessen. Sie nimmt an mehreren Arbeitsgemeinschaften teil. Manchmal macht Lutz unpassende Bemerkungen. Das gefällt mir nicht.“

„Sie müssen sich keine Sorgen machen. Der Sozialismus wird siegen.“ Florian lächelte den Lehrer an. War es ein ironisches Lächeln? Der Lehrer war zufrieden.

„Bitte gehen sie jetzt zum Unterricht.“

Florian ging schnell weiter. Am Ende des Gangs stand Sabine aus der Nachbar-Klasse.

„Was wollte der von dir?“

„Das Übliche.“

„Sei vorsichtig, das ist ein Hundertprozentiger.“

„Weiß ich. Keine Sorge. Der erfährt nichts von mir. Er hat dich gelobt.“

„Das kann er sich sparen. Von dem will ich nicht gelobt werden. Der sollte einen besseren Unterricht machen.“

„Ja. So ein primitiver Geschichtsunterricht. Immer nur Klassenkampf. Der Einzelne spielt keine Rolle.“

„Genau. So kann man Geschichte nicht darstellen.“

„Ich habe ein Buch aus dem Westen gelesen. Da ist die französische Revolution ganz anders beschrieben.“

„Das ist interessant. Kannst du es mir borgen?“

„Kann ich.“

„Was hast du am Nachmittag vor?“

„Ich gehe in die Sport-AG. Ich stehe in Turnen auf einer Vier.“

„Du bist in allen anderen Fächern so gut. Ich beneide dich.“

„Du bist auch sehr gut. Ich muss weiter. Der Unterricht hat schon begonnen.“

Florians Vater war schon vor dem Krieg in die Partei eingetreten. In welche? In die kommunistische. Das war doch klar. An der Ostfront war er desertiert und hatte im Nationalkomitee „Freies Deutschland“ mitgearbeitet. Er kehrte bald zurück. Er wurde Parteisekretär in seiner Fabrik. Er sprach gern von den alten Zeiten. Florian hing an seinen Lippen. Das waren Zeiten gewesen.

„Hast du gleich gewusst, dass Hitler ein Verbrecher war?“

„Natürlich“, sagte der Vater. „Ihr Programm war das Verbrechen, der Krieg.“

„Hast du Ernst Thälmann sprechen hören?“

„Ja, einmal. In Hamburg.“

„Sprach er gut?“

„Sehr gut. Einfach und klar.“

„Und Wilhelm Pieck?“

„Der war Parteivorsitzender. Ich habe ihn damals nicht gesehen. Schade.“

„Aber nach dem Krieg hast du ihn gesehen.“

„Natürlich. Zuletzt bei der Delegiertenversammlung in Berlin.“

„Sind viele Arbeiter in deiner Firma in der Partei?“

„Nein.“

„Wie viele?“

„Zwanzig.“

„Von wie vielen?“

„In der Fabrik arbeiten etwa hundert Leute.“

„Werden sie dich wieder wählen als Parteisekretär.“

„Ich hoffe es. Ich muss gute Arbeit leisten.“

„Was heißt das?“

„Ich muss den Kollegen klarmachen, was die Partei will und warum es gut für sie ist.“

„Verstehen sie es?“

„Nicht alle. Manche glauben dem RIAS und diesen Westsendern. Wir müssen sie überzeugen. Beharrlich und unermüdlich.“ Florian war begeistert von diesem Vater. Er war sein Vorbild. Er wollte werden wie er. Es machte ihm nichts aus, dass die anderen Schüler ihm misstrauten und manchmal schwiegen, wenn er näher kam.

Es war nicht sein Vater. Sein Vater glaubte dem RIAS und den anderen Westsendern. Er hielt nichts von der Partei. Die Mutter hielt auch nichts von der Partei.

Mädchen waren für Florian fremde Wesen. Seine Schwester war früh gestorben. Er konnte sich kaum an sie erinnern. Florian kannte nur wenige Mädchen. Die meisten Mädchen hatte er in Büchern kennen gelernt. Manchmal hatte er mit Mädchen gespielt und das hatte ihm gefallen. In der Schule war er verliebt in ein Mädchen aus einer anderen Klasse. Er ging damals in die fünfte Klasse und war schon ein guter Schüler. Das Mädchen hieß Jutta und war auch eine gute Schülerin. Es war kleiner als Florian und ihm gefiel ihr Gesicht. Er konnte nicht sagen, was das Besondere an diesem Gesicht war. Wenn er das Mädchen sah, musste er immer wieder hinsehen. Aber nicht zu oft, damit niemand Verdacht schöpfte. Es sollte niemand wissen, was das Mädchen ihm bedeutete. Er sprach nie ein Wort mit ihm. Als er die Grundschule beendet hatte und bei der Abschlussfeier ausgezeichnet wurde, sah er das Mädchen das letzte Mal. Es erhielt auch eine Auszeichnung. Nur dieses Mädchen kam für ihn in Frage. Aber es war unerreichbar. Es war sehr sportlich und er war nicht sportlich. Der Turnunterricht in der Schule war für ihn eine Qual. Er war am glücklichsten, wenn der Turnunterricht vorüber war. Er glaubte, dass die Seele eines Mädchens sich in ihrem Gesicht spiegelt. Bei Jungen glaubte er das nicht. Er hatte zu viele Bücher gelesen.

Florian war wieder in ein Mädchen aus einer anderen Klasse verliebt. Es hatte ein Gesicht mit ganz regelmäßigen Gesichtszügen. Ein Puppengesicht. Es gefiel Florian. Sie fuhren nach der Schule mit dem gleichen Zug nach Hause. Er getraute sich nicht, das Mädchen anzusprechen. Er war glücklich, wenn er sie aus der Ferne sah.

Es war vor der Reifeprüfung. Im Westen nennt man das Abitur. Da geschah etwas Unerwartetes. Florian war wie jeden Tag mit dem Zug von der Schule nach Hause gefahren und kam vom Bahnsteig. An der Sperre stand das Mädchen. Er wollte vorübergehen.

Da sprach sie ihn an: „Hallo! Wie wäre es mit uns beiden?“

Florian stutzte einen Moment und wusste nicht, was er sagen sollte.

Dann sagte er: „Ich habe zu viel zu tun. Die Prüfungen fangen bald an.“

Das Mädchen lachte schrill und ging zurück in den Bahnhof. Florian rannte nach Hause. Er war verstört. Vor einem Jahr wäre das das größte Glück für ihn gewesen. Aber er hatte das Mädchen aus den Augen verloren und sich inzwischen in ein anderes Mädchen verliebt, das er auch nie ansprach. Er bewunderte das Mädchen für seinen Mut. Es hatte das getan, was er nicht schaffte. Er dachte darüber nach, was in ihm vorgegangen war, bevor es ihn ansprach. Später dachte er immer wieder an diese Szene. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er anders reagiert hätte? Wenn er mitgegangen wäre, hätten sie sich vielleicht geküsst. Sie hätten eine wunderbare Zeit haben können. So musste er noch viele Jahre warten bis er eine Frau kennen lernte. Später dachte er manchmal an das Mädchen. Hatte es nur mit ihm Schularbeiten machen wollen, weil er ein guter Schüler war?

Florian fuhr in der Frühe mit dem Fahrrad los. Er fuhr an mehreren Fabriken vorbei. Schließlich erreichte er die Fabrik, in der er einen Monat arbeiten würde. Er wollte sich in den Schulferien etwas verdienen und ein Fahrrad kaufen. Beim Pförtner musste er sich anmelden. Dann sollte er zum Meister gehen. Nach längerem Suchen fand er den Meister. Ein freundlicher älterer Herr. Er ging mit ihm zu den Garderobeschränken und suchte einen für Florian aus. Er bekam einen grauen Kittel. Der Meister ging mit ihm zu einer Maschine und stellte ihn dem Arbeiter vor. Die Maschine war eine Drehbank. Sie stand in einem großen Saal neben anderen Maschinen. Alle machten Krach. Überall waren die Arbeiter an ihren Maschinen zu sehen. Der Arbeiter an der Drehbank war jung, aber natürlich viel älter als Florian.

„Sie gehen noch zur Schule?“

„Ja, ich habe Ferien.“

„Wie lange müssen sie noch zur Schule gehen?“

„Zwei Jahre.“

„Und dann?“

„Das weiß ich noch nicht.“

Florian stand neben dem Arbeiter vor der Maschine. Er wusste nicht, was da passierte. Er getraute sich nicht, den Arbeiter zu fragen. Er kam sich überflüssig vor. Er war überflüssig. Er wusste nicht, was der Arbeiter von ihm dachte. War er eine Abwechslung oder eine Belastung. Wie sollte er die Zeit bis zur Mittagspause überstehen. Und dann noch der Nachmittag. Und dann noch die vielen Tage. Zu Hause war es kühl und ruhig und Bücher zum Lesen waren da. Hier fühlte er sich unwohl. Man musste kein Fahrrad haben. Aber es wäre schön.

„Sehen sie die Späne?“

„Ja.“

„Man muss aufpassen, dass es nicht zu viele werden.“ Der Arbeiter zeigte Florian, wie die Späne entfernt wurden. Florian versuchte ihm zu helfen. Danach hatte er verölte Hände. Unangenehm. Er hatte Angst, seinen Kittel dreckig zu machen. Der Kittel des Arbeiters hatte große Ölflecken. Der Zeiger auf der großen Uhr rückte nur langsam voran. Sehr langsam. Wie sollte er das aushalten. Florian wollte an etwas anderes denken. Es fiel ihm nichts ein. Plötzlich ertönte ein lauter Ton. Was hatte das zu bedeuten. Der Arbeiter stellte die Maschine ab. Auch die anderen Maschinen wurden abgestellt.

„Frühstück“, sagte der Arbeiter. Er ging weg und Florian folgte ihm unentschlossen.

„Haben sie etwas zu essen mitgebracht?“

„Ja. Ich gehe zu meinem Schrank.“ Die Mutter hatte ein Butterbrot eingepackt. Florian ging zu seinem Schrank und holte sein Butterbrot. Dann folgte er den Männern zum Frühstücksraum. Sie saßen an langen Bänken. Florian wusste nicht, wo er sich hinsetzen sollte. Er setzte sich an einen freien Platz an Ende einer Bank. Die Männer hatten alle ihr Frühstück ausgepackt. Florian schmeckte sein Butterbrot. So gut hatte es ihm lange nicht geschmeckt.

Die Männer sprachen über das vergangene Wochenende. Sie hatten kurze Reisen unternommen oder einen Geburtstag gefeiert oder waren beim Fußball gewesen oder hatten sich einfach zu Hause erholt. Über Frauen sprachen sie nicht.

„Die jungen Leute sprechen nicht mit jedem“, sagte der Mann neben Florian. Er war erschrocken. Er wusste nicht, ob er gemeint war. Er hätte sich nicht getraut, einen Arbeiter anzusprechen. Er lächelte verlegen.

Dann ging es wieder zur Maschine. Die Zeit bis zum Mittagessen und am Nachmittag zog sich endlos hin. Am nächsten Tag bekam Florian kleine Arbeiten. Nach einigen Tagen setzte man ihn vor eine Maschine. Es war eine Schleifmaschine. Ein Arbeiter erklärte ihm die Arbeit. Die Maschine sollte Rohre auf einen bestimmten Durchmesser abschleifen. Florian hatte nicht verstanden, wie man sich an das richtige Maß herantasten musste. Immer wieder kontrollierte er mit der Schublehre den Durchmesser. Der Arbeiter sah sich seine Arbeit an. Er schüttelte den Kopf. Er hatte wohl gedacht, dass Florian das machen könnte. Er konnte es nicht. Er hatte das nicht gelernt. In den nächsten Tagen bekam er einfachere Arbeiten. Allmählich vergingen die Tage etwas schneller. Es war schön, wenn Florian wusste, was er am nächsten Tag zu arbeiten hatte. Die Arbeiter waren freundlich, aber es war etwas zwischen ihnen und Florian. Er wusste nicht, was es war und das machte ihn traurig. Er hätte gern zu ihnen gehört.

Eines Tages kam ein Mann zu Florian. Er trug einen weißen Kittel. Die Arbeiter trugen blaue Jacken und Hosen.

„Wir haben einen Engpass. Könnten sie die Bohrmaschine übernehmen. Der Kollege N. wird ihnen alles zeigen.“

„Ich will es gern versuchen“, sagte Florian. „Aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe.“

„Sie schaffen das schon.“

Sie gingen zusammen zu der Bohrmaschine. Ein Arbeiter war dabei, die Maschine einzurichten. Florian passte genau auf, was er ihm erklärte. Er wollte sich dieses Mal besser anstellen. Es ging ganz gut. Schließlich standen beide nebeneinander. Der Mann sagte leise:

„Der Kollege, der hier gearbeitet hat, ist nach dem Westen.“ Florian war erschrocken. Er fand alles im Westen besser. Aber auf Republikflucht stand Gefängnis.

„Ach“, sagte er.

„Man kann es verstehen. Drüben ist vieles besser.“

„Ja, ja“, sagte er undeutlich. Der Mann war also auch für den Westen. Florian lächelte ihn an. So ein Satz und so ein Lächeln reichten aus. Man wusste Bescheid übereinander.

1980 überschritt die Zahl der Arbeitslosen im Westen die Millionengrenze. Sie hat sie nie wieder unterschritten. Aber das war alles erst viel später. Damals war sich Florian sicher, dass der Kapitalismus sich gewandelt hatte und das bessere Wirtschaftssystem sei.

Florian war in der Jungen Gemeinde. Das war in der DDR nicht ohne Probleme. Die jungen Leute trafen sich jede Woche beim Pfarrer und lasen im neuen Testament. Es wurde gebetet. Florian mochte den Pfarrer. Er hatte eine sanfte Stimme. Er konnte interessant erzählen. Manchmal erzählte er sogar über seine Zeit im Krieg.

Eines Tages kam Florians Lehrer ins Klassenzimmer. Er war sein Klassenlehrer.

„Ist noch einer von euch in der Jungen Gemeinde?“ Er war sich wohl sicher, dass sich niemand melden würde. Es hatte eine Kampagne gegen die Junge Gemeinde gegeben und der Lehrer erwartete, dass seine Schüler begriffen hatten, was sich hinter dieser losen Verbindung junger Leute verbarg. Florian war verunsichert und wusste nicht wie er reagieren sollte. Schließlich meldete er sich doch.

„Ich gehöre dazu.“

Der Lehrer sah ihn erstaunt an. Florian gehörte neben Rudolf zu seinen besten Schülern. Er wollte, dass seine Klasse gute Leistungen brachte. Er sagte nichts und begann mit dem Unterricht. Das Thema Junge Gemeinde wurde nie wieder erwähnt. Florian hatte das Gefühl, dass sein 0Klassenlehrer die ganze Sache für sich behalten hatte. Er ging weiter zu den Treffen der jungen Leute. Es war ein Mädchen dabei, das ihm gefiel. Er wagte nicht, sie anzusprechen. Vor Weihnachten bastelten sie kleine Geschenke. Die sollten zu Weihnachten an die Pförtner in den Fabriken verteilt werden. Florian beteiligte sich nicht. Es war ihm zu gefährlich. Er hatte Angst, Schwierigkeiten zu bekommen.

Eines Abends ging Florian nach Hause. Er kam von der Schule und es war sehr dunkel. Die Sterne waren zu sehen. Er sah zum Himmel und ein Gedanke war da.

„Es gibt keinen Gott“, dachte er. Im nächsten Moment überfiel ihn Angst. Durfte man so etwas denken?

„Es gibt keinen Gott“, dachte er wieder. Es passierte nichts. Alles war wie immer.

„Es gibt keinen Gott“, sagte er leise. Seine Stimme kam ihm fremd vor. Wieder passierte nichts.

„Es gibt keinen Gott“, sagte er fast triumphierend. Er verstand nicht mehr, warum er sich diesem Gedanken so lange wiedersetzt hatte. Dabei war es offensichtlich, dass es keinen Gott gab. Es war nichts von ihm zu sehen. Garnichts. Dieses alte Testament hatten sich vor dreitausend Jahren ein paar Juden ausgedacht. Sie hatten ihre Gründe gehabt. Sie brauchten so etwas für ihr kleines Volk. Das war alles. Florian ging nicht mehr zur Jungen Gemeinde.

In der Pause gingen alle auf den Schulhof. Die Mädchen hatten ihren Kreis und die Jungen auch. Der Kreis der Jungen war unordentlich. Der Kreis der Mädchen war ordentlich. Sie gingen in Reihen von drei oder vier. Die Jungen gingen durcheinander. Am Ende der Pause ertönte ein Klingelzeichen. Die Kreise lösten sich auf. Mädchen und Jungen trafen sich an der Tür zum Hof. Die Jungen sahen nach den Mädchen. Die Mädchen hatten den Blick gesenkt. Nicht alle. Einzelne sahen zu den vorbeigehenden Jungen. Sie sahen bestimmte Jungen an. Gutaussehende. Florian war unter ihnen. Er wusste, dass er manchen Mädchen gefiel. Er hatte Glück gehabt. Er hatte das dichte dunkle Haar von seinem Vater geerbt. Es war fast schwarz. Diese Farbe hatten auch seine Augenbrauen. Er hatte feine Gesichtszüge. Die kamen wohl von seiner Mutter. Von ihr kamen auch die Grübchen neben seinem Mund. Die Nase war nicht zu groß und nicht zu klein, sie passte genau in sein Gesicht. Er war ein stattlicher Junge. Der Sport hatte seiner Figur gut getan.

Auf dem Weg nach oben in die Klassenräume sprach ihn ein Mädchen an.

„Du gehst auch zur Sport-AG.“ Ihre Augen strahlten Florian an. Wie gut Mädchen aussehen, wenn ihre Augen leuchten. Florian war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet. Er kannte dieses Mädchen nicht. Es gefiel ihm. Im letzten Moment sagte er:

„Ich habe dich schon gesehen. Diese AG ist gut. Oder?“

„Ja, sehr gut.“

„Dann sehen wir uns morgen Nachmittag.“

„Gut möglich.“ Das Mädchen verschwand in einem Klassenraum.

Florian musste immer wieder an das Mädchen denken. An ihr Gesicht und an ihre Worte. Er wartete ungeduldig auf den nächsten Nachmittag. Das Mädchen war nicht da. Er war enttäuscht. Das Turnen ging vorüber. Sie verstauten ihre Sachen in ihren Beuteln. Florian machte sich auf den Heimweg. Vor der Schule wartete das Mädchen. Seine Augen leuchteten. Dieses Leuchten.

„Du hast heute nicht geturnt.“

„Unsere AG hatte schon früher Schluss. Herr M. musste weg.“ Sie gingen zusammen den Berg hinunter. Es war schön mit einem Mädchen den Berg hinunter zu gehen. Andere Jungen und Mädchen gingen an ihnen vorüber. Einige sahen sich um.

„Na dann“, sagte das Mädchen.

„Sehen wir uns morgen?“

„Vielleicht.“

„Wir könnten zusammen ins Kino gehen.“

„Ja. Wenn du willst.“

„Hast du diesen Film schon gesehen?“

„Nein.“

„Treffen wir uns um Viertel vor sechs?“

„Vor dem Kino?“

„Ja, vor dem Kino.“ Das Mädchen ging davon. Es hatte helle blonde Haare. Ein Pferdeschwanz. Alles an ihm gefiel Florian.

Am nächsten Tag war er wie verabredet vor dem Kino. Das Mädchen hatte schon gewartet. Sie setzten sich in die letzte Reihe. Florian sah das Mädchen an. Es war ganz nah. Er fühlte seine Hand in seinem Gesicht. Und dann fühlte er den Mund des Mädchens auf seinem Mund. Er hatte sich das anders vorgestellt. Aber das war egal. Ein Mädchen hatte ihn geküsst.

Das Mädchen hatte ihn nicht geküsst. Es hatte ihn nicht angesprochen. Er sah auch nicht so gut aus. Er hatte nicht dieses dunkle dichte Haar und die dunklen dichten Augenbrauen. Seine Nase passte nicht gut in sein Gesicht. Die Mädchen sahen an ihm vorbei. Er hatte nicht die richtigen Gene geerbt. Er war ein guter Schüler. Das war alles.

Florian kam in Hamburg zur Welt. In einer Villa in einem der Vororte, in dem keine armen Leute wohnen. Das Haus stammte aus der Gründerzeit. Aber es war sehr gut renoviert worden. Um das Haus war viel Rasen, gepflegter Rasen. Und Büsche, interessante Büsche. Auch Bäume, ungewöhnliche Bäume. Einige exotisch. Die Tür war groß und aufwendig gearbeitet. Das Schild war aus Messing. Vor dem Namen des Vaters stand ein Titel. Unter dem Namen des Vaters sein Beruf, seine Stellung. Und darunter ein größeres Schild mit dem Namen der Firma. Auch Messing.

Florian hatte im ersten Stock sein Zimmer. Auf dem Bett lag eine bunte Decke. Ein französisches Muster. Burgunder-Rot und ein zartes Grün. In einer Ecke stand Florians Schreibtisch. Kirsche. Ein warmer gelbbrauner Ton. An der Wand ein Regal mit Florians Büchern. Und Noten. Eine Menge Noten. Das Klavier stand im Erdgeschoss.

Florian saß mit seinem Freund auf dem Bett.

„Was machen wir heute Abend?“

„Ich habe Karten für das Schauspielhaus. Emilia Galotti. Willst du mit?“

„Gern. Kommt dein Schwester auch mit?“

„Vielleicht. Ich kann mit ihr sprechen.“

„Das wäre schön.“

„Gefällt sie dir?“

„Sie ist deine Schwester.“

„Trotzdem kann sie dir gefallen.“

„Würde dich das stören?“

„Nein. Du bist mein Freund.“

„Liebst du deine Schwester?“

„Wie man als Bruder seine Schwester liebt.“

„Es muss schön sein, eine Schwester zu haben. Meine ist 1945 gestorben.“

„Es gibt auch Probleme.“

„Man kann alles mit einer Schwester besprechen.“

„So einfach ist das nicht. Mädchen haben ihre eigenen Probleme.“

„Zankt sie mit dir?“

„Manchmal ist sie zickisch.“

„Was ist das?“

„Sei froh, dass du das nicht kennst. Mit dir wäre sie wahrscheinlich nicht zickisch.“

„Spricht sie von mir?“

„Sie hat sich schon nach dir erkundigt. Sie will wissen, welche Freunde ihr Bruder hat.“

„Was hast du gesagt?“

„Nur Gutes.“

„Danke. Du bist mein Freund.“

„Dann sehen wir uns heute Abend. Ich hole dich ab.“

„Gut. Ich warte unten auf dich.“

Am Abend sah Florian seinen Vater. Ein großer Mann. Eindrucksvoll. Sehr gleichmäßige Gesichtszüge. Volles ergrautes Haar.

„Mein Sohn, woher des Weges?“ sagte der Vater.

„Wir wollen heute Abend ins Schauspielhaus. Emilia Galotti.“

„Mit deinem Freund?“

„Ja.“

„Und seiner Schwester?“

„Vielleicht.“

„Ein nettes Mädchen.“ Florian sah seinen Vater überrascht an.

„Kennst du sie?“

„Ich kenne ihren Vater. Sehr erfolgreich. Sehr sympathisch.“

„Viel Geld?“

„Das auch.“

„Ich weiß nicht, ob sie mich mag.“

„Gib dir Mühe, mein Sohn.“

Es wurde ein wunderbarer Abend. Nach dem Theater gingen die beiden Jungen und das Mädchen in ein kleines Restaurant.

„Nett hier“, sagte das Mädchen.

„Gutes Publikum“, sagte der Freund.

„Keine Proleten“, sagte Florian.

Etwas stimmte nicht. Florian war nicht in Hamburg geboren. Sein Vater hatte kein volles ergrautes Haar. Er setzte einen Hut auf wegen der wenigen Haare auf seinem Kopf.

Florian kam in Erfurt zur Welt. In einem Krankenhaus, das ein alter roter Klinkerbau war. Seine Mutter lebte mit ihrem Sohn allein. Der Vater war im Krieg geblieben. Die Wohnung war klein: zwei Zimmer, Küche und Bad. Die Mutter ging früh zur Arbeit in der Fabrik. Sie war in der Küche. Florian machte sich allein fertig und fuhr mit dem Bus zur Schule. Er hatte nicht viel Spaß in der Schule. Er ging nicht gern zur Schule. Die Lehrer hatten ihn auch nicht gern. Er machte seine Schularbeiten ohne viel Interesse. Am Nachmittag ging er meist zu einem Sportplatz. Dort war immer etwas los. Er trat einem Sportverein bei. Fußball. Mit Büchern hatte er nichts im Sinn. Nach acht Jahren Schule sagte die Mutter:

„Florian, was willst du werden? Du musst dir jetzt Gedanken machen.“ Florian dachte nach.

„Kann ich nicht bei dir in der Fabrik arbeiten?“

„Ich werde mich erkundigen. Vielleicht kannst du ein Stelle als Hilfsarbeiter bekommen. Die suchen Arbeiter.“

„Das wäre schön.“

Am Abend saßen sie beim Essen.

„Ich habe mit dem Meister gesprochen. Ich habe ihm dein Zeugnis gezeigt. Er will es mit dir versuchen. Du musst fleißig sein. Sonst behält er dich nicht.“

„Werde ich Hilfsarbeiter?“

„Mehr ist bei deinem Zeugnis nicht drin. Vielleicht später.“

Florian fing in der Fabrik an. Er war müde, wenn er morgens in aller Frühe losgehen musste. Er war erschöpft, wenn er abends aus der Fabrik nach Hause ging. Die Arbeit war gleichförmig und interessierte ihn nicht. Die anderen Arbeiter nahmen ihn nicht zur Kenntnis. Er freute sich auf das Wochenende. Es war seine einzige Freude. Er ging in eine Kneipe, in der sich junge Leute trafen. Alle tranken ein Bier nach dem anderen. Allmählich wurden sie betrunken. Hochstimmung erfasste sie. Nach Mitternacht gingen sie unsicheren Schritts nach Hause. Sie schrien mit lauter Stimme in die Nacht. Am Sonntag schlief Florian bis zum Mittagessen, das die Mutter für ihn fertig machte. Der Nachmittag war überschattet vom Montagmorgen. Am Eingang der Firma hing ein Transparent. Auf rotem Untergrund: Vorwärts zur Erfüllung des Fünfjahrplans! Florian hatte kein Interesse am Fünfjahrplan.

Florian hatte wieder über sein Leben nachgedacht. In Wirklichkeit war er nicht in Erfurt geboren. Seine Mutter musste nicht in der Fabrik arbeiten. In Erfurt war er nie gewesen.

Florian wurde Arzt. Es war nicht so, dass er sich von frühester Kindheit an diesen Beruf gewünscht hätte. Er wünschte sich die verschiedensten Berufe. Als er kurz vor der Reifeprüfung stand, musste er sich entscheiden. Eigentlich wollte er Schriftsteller werden. Bücher hatten ihn am meisten interessiert. Aber diesen Beruf konnte man nicht ergreifen. Dazu wurde man berufen. Er wusste nicht, ob er berufen war.

So begann er Arzt zu werden. Es war ein langer und beschwerlicher Weg.

Er fuhr mit seinem Schulfreund Rudolf nach Berlin. Er sah die Stadt wieder, die er zusammen mit seinem Vater einige Jahre vorher zum ersten Mal gesehen hatte. Wieder war er überwältigt von den vielen Menschen. Aber ihn zog diese Stadt auch magisch an.

Sie gingen zur Humboldt-Universität im Ostteil der Stadt und meldeten sich für das Medizinstudium an. Sie mussten sich eine Unterkunft für ihre Studienzeit suchen. Rudolf hatte die Idee, im Studentenwohnheim zu wohnen. Sie bekamen ein Zimmer zugewiesen, das sie sich mit zwei weiteren Studenten würden teilen müssen. Am Abend fuhren sie mit dem Zug wieder nach Hause. So begann ihre Studienzeit, die erst gemeinsam war und sie später auseinander führte.

Einige Wochen später sollte ihr Studium beginnen. Einen Tag vorher waren sie wieder in Berlin und sahen sich ihr Zimmer im Studentenwohnheim an. In der Mitte stand ein Tisch und ringsherum vier Betten mit kleinen Regalen. Jeder hatte in einem Schrank ein Fach. Sie verstauten ihre Sachen und Florian überfiel eine große Sehnsucht nach zu Hause. Er konnte sich nicht vorstellen hier zu leben. Er wollte allein sein und seinen Gedanken nachhängen. Hier war überall jemand. Mit Rudolf konnte er nicht darüber sprechen. Er setzte sich in die S-Bahn und fuhr Richtung West-Berlin. Er war aufgeregt, als er hörte: Sie verlassen den demokratischen Sektor von Berlin. Er war noch aufgeregter als er auf dem nächsten Bahnhof den ersten Kiosk mit den bunten Illustrierten wiedersah. Wieder erhaschte er ein Stück von dieser wunderbaren Welt außerhalb der DDR. Am Bahnhof Zoo stieg er aus und ging zum Kurfürstendamm. Wieder sah er diese Geschäfte mit ihren Auslagen. Hier gab es alles zu kaufen. Es war eine ganz andere Welt als in der DDR. Mit einer großen Sehnsucht im Herzen fuhr er zurück ins Studentenwohnheim.

Am nächsten Tag begann sein Medizinstudium. Sie mussten sehr früh aufstehen und fuhren mit der S-Bahn bis zum Bahnhof Friedrichstraße. Von dort war es nur ein kurzer Weg zum anatomischen Institut. In diesem alten Bau hatten schon viele Generationen von Studenten Medizin studiert. Florian war stolz zu ihnen zu gehören. Am Eingang des Instituts waren die Namen der Institutsleiter, des jetzigen und der früheren, angebracht. Es war eine ehrfurchtgebietende Aneinanderreihung großer Namen. Sie fanden gerade noch einen Platz. Und dann kam der berühmte Professor und begann mit seiner Vorlesung. Florian machte sich eifrig Notizen. Würde er das schaffen? Würde er mithalten können? Was waren das für Studenten, die neben ihm saßen? In der Oberschule war er immer bei den Besten. Aber hier?

Mittags gingen sie gemeinsam in die Mensa, die in einem ehemaligen Bahnhof untergebracht war. Die Schäden des Krieges waren in dieser Stadt unübersehbar. Ruinen unterbrachen die Zeilen der Häuser. Das Mittagessen war einfach und der Nachtisch immer derselbe – Kürbiskompott. Am Nachmittag gingen die Vorlesungen weiter. Erschöpft und froh saß Florian am späten Nachmittag wieder in der S-Bahn zum Studentenwohnheim. Er nahm sich vor, den Unterrichtsstoff sofort aufzuarbeiten, um nicht in Verzug zu geraten. Das war ein Vorsatz, den er nicht verwirklichen konnte. Die Zeit reichte einfach nicht aus.

Sie waren vier Studenten in ihrem Zimmer. Neben Florians Freund Rudolf gab es Norbert und Peter. Norbert war der Einzige, der sich zum Sozialismus bekannte. Er ließ den kleinen Radioapparat so umbauen, dass sie den RIAS nicht mehr empfangen konnten. Peter war der Sohn eines Chemikers, der in der Sowjetunion hatte arbeiten müssen. Der hatte dadurch Vergünstigungen. Peter war stolz darauf. Er war mit einer Medizinstudentin nach Berlin gekommen, die seine Freundin war. Florian hätte auch gern eine Freundin gehabt. Wenn er die beiden zusammen sah, beneidete er sie. Einmal hatte er mit dem Mädchen ein längeres Gespräch. Danach erzählte sie, er habe mit ihr geflirtet. Er war sich dessen nicht bewusst gewesen. Sie war Peters Freundin. Damit war sie unerreichbar. Vierzig Jahre später erfuhr er, dass sich das Mädchen das Leben genommen hatte. Peter war wegen verschiedener Fehler im Beruf in Schwierigkeiten geraten.

An den Nachmittagen waren sie meist im Präpariersaal des anatomischen Instituts. Auf eisernen Tischen waren die Leichen aufgebahrt. Unter Anleitung eines Assistenten präparierten die Studenten verschiedene Körperteile. Dabei wurden mit dem Messer Muskeln, Sehnen, Blutgefäße, Nerven und die inneren Organe freigelegt. Dann begann das Lernen der lateinischen Namen. Es war eine mühselige Arbeit. Florian hatte erwartet, hier nackte Frauenkörper zu sehen. Aber diese toten Körper waren völlig unerotisch.

Alle Studenten hatten Angst vor den Prüfungen an der Leiche, die im Abstand von zwei oder drei Wochen stattfanden. Der Assistent zeigte dabei auf Muskeln und Blutgefäße und Nerven und der Student musste den lateinischen Namen nennen. Diese Prüfungen waren ein Qual. Von den vielen Namen merkte sich Florian nur einen kleinen Teil für immer. Er benötigte die meisten später nicht. Er wurde Arzt für innere Krankheiten. Anders war das bei seinen chirurgischen Kollegen. Die mussten alle Einzelheiten des Körpers beim Operieren kennen.

Florian war einer Seminargruppe zugeteilt worden. Sie traf sich in unregelmäßigen Abständen. Von den vierzehn Studenten waren die meisten Mädchen. Florian fand bald heraus, dass nur vier Studenten wirklich für den Sozialismus waren. Alle sprachen positiv über die DDR, wenn sich die Gruppe traf. Das hatte aber keine große Bedeutung. Die wirkliche Einstellung zur DDR erkannte man an Kleinigkeiten. Eine Cordhose mit breiten Rippen konnte nur aus dem Westen sein. Ein bestimmter Pullover konnte nicht aus der DDR sein. Eine abfällige Bemerkung über den Arbeiter- und Bauernstaat sagte alles. Florian war gegen diesen Staat, gegen den Sozialismus, gegen die Arbeiter und Bauern. Er war für den Westen. Durch den RIAS wusste er, wie es dort zuging. Er war für die Freiheit. Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt. Er war gegen Ulbricht und Grotewohl. Er war gegen die SED. Das Leben hier war trist und öde. Das Leben im Westen war unvergleichlich schöner. Die Melodien, die im RIAS gespielt wurden, gefielen ihm. Die Melodien, die im DDR-Rundfunk gespielt wurden, hörte er sich nicht an. Der Kapitalismus hatte sich gewandelt. Er war jetzt die bessere Gesellschaftsform.

Florian wurde vom Medizinstudium gefangengenommen. Er hatte keine Zweifel mehr, dass dieser Beruf der richtige für ihn war. Er wusste allerdings wenig über diesen Beruf. Zunächst musste er den gesunden Menschen kennen lernen. Um kranke Menschen ging es erst einige Jahre später. Da war er dann in West-Berlin.

Es gab eine Zeit vor der Mauer in Berlin. Die S-Bahn und die U-Bahn fuhren zwischen Ost und West hin und her. Florian saß oft in der S-Bahn und fuhr in Richtung Westen. Die erste Station war Lehrter Stadtbahnhof. Man sah sich gegenseitig an. Was machen sie im Westen? Was haben sie vor? Wissen die Leute im Osten, dass sie durch den Westen fahren? Schließlich: Bahnhof Zoologischer Garten. Aussteigen und zur Rolltreppe. Hinunter im Strom der Menschen. Die ersten Geschäfte. Westwaren. Bunte Westwaren. Die Zeitungen. Die Illustrierten. Filmstars in Farbe. Der Geldwechsel. Fünf Ostmark für eine Westmark. Manchmal etwas mehr, selten etwas weniger. Auf der Straße. Das Meer der flimmernden bunten Lichter. Das erste Kaufhaus. Das zweite Kaufhaus. Die Schlange der Autos. Blitzende Autos. Viele Fabrikate. Der Kurfürstendamm. Zentrum der Farben und der schönen Sachen. Das erste Kino. Das zweite Kino. Viele Kinos. Florian zeigte seinen Ausweis an der Kasse und bezahlte mit seinen Ostmark. Er lernte die berühmten Hollywood-Schauspieler kennen. Er bewunderte sie. Er versuchte, James Dean in seinen Bewegungen nachzuahmen. Das Leben in diesen Filmen war neu für ihn und er war begeistert. Er kam nicht auf die Idee, dass das Leben im Westen in Wirklichkeit anders sein könnte. Er sah die vielen blitzenden Autos über Kurfürstendamm und Tauentzin fahren, er sah die Schaufenster mit ihren reichen Angeboten, er sah die Menschen, die gut gekleidet waren. Er wollte zu ihnen gehören. Aber vorläufig war das ein unerreichbares fernes Ziel. Er ging in den Sportpalast und in die Deutschlandhalle. In diesen riesigen Hallen hörte er die Größen des Jazz: Sidney Bechet, Louis Armstrong, Duke Ellington, Count Basie. Das Dunkel der Halle war über ihnen und unten im Licht der Scheinwerfer die Musiker mit ihren goldenen Trompeten und ihre Musik stieg in die dunkle Höhe. In der Pause tönte aus dem Lautsprecher: „.......und in der Pause einen Asbach Uralt“. Florian konnte sich keinen leisten. Aber das war nicht schlimm. Er wusste: Hier war diese wunderbare Welt. Keine DDR. Sein Stipendium reichte gerade für jeden Monat. An den letzten Tagen wartete er auf die neue Auszahlung. Sie bekamen fast alle ein Stipendium. Das war für sie selbstverständlich. Kaufen konnte er sich nur wenig in diesen Kaufhäusern mit ihrem riesigen Angebot. Eine Cordhose trugen fast alle.

Im Westen war niemand ohne Arbeit. Der Kapitalismus hatte sich gewandelt. Es gab keine Krisen mehr. Es war alles unter Kontrolle. Florian hatte noch nicht gelernt im Heute das Morgen zu suchen. Er sah nicht die Widersprüche dieser Gesellschaft. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass es einige Jahrzehnte später in diesem Land mehrere Millionen arbeitslose Menschen geben würde. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass es keine großen Jazz-Konzerte mehr geben würde, dass der Sportpalast abgerissen würde. Im Heute das Morgen zu sehen – Dialektik konnte man das nennen.

Florian hetzte in den Hörsaal. Er war spät dran. Er fand einen Platz weiter oben. Er holte ein Blatt Papier aus seiner Tasche. Er musste alles aufschreiben. Er musste ein Referat über dieses Seminar halten. Er war Seminarsekretär. Die Parteimitglieder würden aufpassen, ob er alles richtig darstellen würde. Ein korpulenter Mann kam herein und ging zum Pult. Er holte ein Manuskript aus seiner Tasche und legte es auf das Pult.