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Der Arzt war vierzig Jahre Arzt gewesen. Er hatte tausende Patienten betreut. Er erinnerte sich an sie, und sie erinnerten sich an ihn. Er hatte manchen geholfen und manchen auch nicht.
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Seitenzahl: 328
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von Florian Lettre
Wir saßen auf unseren Holzstühlen vor der Tür. Wir waren zunächst vier. Aber wir wurden mehr. Immer mehr kamen, und einige sahen sich um. Sie lasen das Schild neben der Tür und setzten sich. Manche sahen uns fragend an, und einige sprachen uns an. Neben mir saß ein älterer Mann.
„Sind sie das erste Mal hier?“ sagte ich. Ich hatte lange gewartet, bis ich das sagte. Ich war unentschieden gewesen, ob ich etwas zu dem Mann sagen sollte. Man konnte einfach nebeneinander sitzen und nichts sagen. Ich sagte dann doch etwas zu dem Mann, weil ich hoffte, etwas von ihm zu erfahren. Er sagte zunächst nichts, und ich nahm an, er habe mich nicht verstanden. Dann sagte er doch etwas.
„Ich komme seit drei Monaten hierher.“ Mehr sagte er nicht. Offenbar wollte er nicht mehr sagen. Ich respektierte das und schwieg.
Neben dem älteren Mann saß eine Frau. Sie drehte sich zu mir.
„Ich bin zum ersten Mal hier. So wie sie.“ Sie wollte wohl auch etwas erfahren. Was hinter dieser Tür vor sich ging, die sich bisher nicht einmal geöffnet hatte.
Und dann ging die Tür doch auf, und ein Mann trat heraus. Groß und schlank, in weißem Kittel.
„Frau M. bitte.“ Eine der Frauen stand auf und verschwand hinter der Tür, die sich wieder schloss.
Nun hatte ich ihn gesehen. Diesen Mann im weißen Kittel, bei dem meine Hoffnungen waren. Ich war nicht enttäuscht von seinem Aussehen. Das war auch nicht wichtig. Wichtig war etwas anderes. Was er sagen würde. Ich sah nochmals in meine Tasche, in der die Befunde verstaut waren. Das Warten ging weiter. Der Termin, den ich erhalten hatte, war schon lange überschritten. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, aber der Mann neben mir sagte doch etwas. Dabei sah er mich nicht an.
„Ich habe Darmkrebs“, sagte er. Seine Stimme klang niedergeschlagen. Ich fühlte mich nicht wohl dabei. Ich wollte nicht gern mit Krebskranken zusammen sein, in einen Topf geworfen werden. Ich hatte keinen Krebs. Ich hatte etwas anderes. Ich hatte hier eigentlich nichts zu suchen. Nach einer Weile sah mich der Mann doch an und senkte und hob seinen Kopf mehrmals und presste die Lippen aufeinander.
„Kann man ihnen helfen?“ sagte ich. Der Mann antwortete zunächst wieder nichts. Das war wohl seine Art. Dann sagte er doch etwas.
„Ich bekomme Chemotherapie.“ Und nach einer neuen Pause:
„Heute ist es die dritte.“ Ich wusste nicht, was Chemotherapie ist. Jedenfalls wusste ich es nicht genau. Es war etwas zur Behandlung von Krebs.
„Ist es schlimm?“ sagte ich.
„Es geht so. Man fühlt sich an dem Tag nicht gut. Am nächsten Tag ist es etwas besser. Es dauert eine Woche bis man sich wieder normal fühlt.“ Ich dachte, dass es gut wäre mehr über diese Chemotherapie zu wissen.
„Was wird da gemacht?“ sagte ich.
„Man bekommt eine Infusion. In den Arm. In die Vene. Das dauert eine halbe Stunde. Dann kann man wieder nach Hause.“
„Fahren sie mit dem Auto?“
„Nein, das geht nicht. Ich fahre mit dem Bus. Manche bekommen ein Taxi bezahlt. Wenn sie starke Übelkeit haben.“ Ich sagte nichts weiter. Der Mann sollte nicht das Gefühl haben, ich würde ihn ausfragen wollen. Der Mann wurde dann aufgerufen und verschwand hinter einer anderen Tür. Ich wartete weiter, und schließlich öffnete sich die Tür auch für mich.
Der Raum war nicht sehr groß und ohne Fenster. In der Mitte stand ein Schreibtisch, an der einen Wand eine Liege, an einer anderen Wand ein Regal mit ein paar Büchern und Kästen mit Spritzen und Pflastern und anderen Dingen, die ich nicht kannte. Ich setzte mich auf den Holzstuhl vor dem Schreibtisch. Der Mann in seinem weißen Kittel saß hinter dem Schreibtisch. Er hatte Unterlagen vor sich und sah mich an. Er hatte mir beim Eintreten die Hand gegeben und etwas gesagt, das ich nicht verstand. Es war wohl sein Name gewesen.
„Sie sind Herr M.“, sagte er. Ich bejahte das.
„Hat ihnen ihr Hausarzt Unterlagen mitgegeben?“ Ich holte die Unterlagen aus meiner Tasche und gab sie ihm. Er überflog sie und stellte mir dann eine Menge Fragen und untersuchte mich. Ich fühlte seine Hände auf meinem Körper. Ein Fremder fasste mich an. Sonst fasste mich nur meine Frau an. Und die Kinder, aber dann war ich nicht nackt.
„Sie haben offenbar T.“, sagte der Mann, nachdem er wieder hinter seinen Schreibtisch gegangen war und sich gesetzt hatte. Mein Hausarzt hatte mir das auch gesagt. Der Mann beobachtete mich. Er wollte wohl wissen, wie dieses Wort auf mich wirkte. Ich hatte jedoch nicht verstanden, was mein Hausarzt mir versucht hatte zu erklären. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass er selbst nicht genau wusste, was das eigentlich ist.
„Wissen sie, was das ist?“ Ich verneinte diese Frage. Der Mann lächelte jetzt auf eine eher freundliche Art.
„Es ist eine Wucherung von bestimmten Zellen. Diese Zellen haben wir alle. Sie sind wichtig für die Immunabwehr. Für die Abwehr von Infektionen. Bei ihnen sind einzelne dieser Zellen bösartig geworden und haben begonnen zu wuchern.“ Das Wort bösartig gefiel mir nicht. Es erzeugte Unruhe in mir. Man könnte fast sagen Angst. Es erinnerte an ein anderes Wort, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Der Mann bemerkte das und hielt jetzt inne.
„Fragen sie ruhig“, sagte er. In meinem Kopf ging es durcheinander. Ich hatte bisher nichts mit Krankheiten zu tun gehabt. Ich ging jeden Tag in mein Büro und machte meine Arbeit. Meine Frau ging auch in ein Büro. Unsere beiden Kinder gingen zur Schule. Wir sprachen nicht über Krankheiten. Wir waren alle der Meinung, dass man gesund leben soll. Dann kann einem nichts passieren. Wenn man krank wurde, war man irgendwie selbst schuld.
„Diese Zellen......Wenn die gut sind gegen Infektionen und so......Was ist dann so schlimm, wenn sie sich vermehren?“ Ich kam mir vor wie ein Vierzehnjähriger in der Schule. Wir hatten in der Schule nicht über Krankheiten gesprochen. In Biologie hatten wir über Pflanzen und Tiere gesprochen. Der Mann in seinem weißen Kittel war jetzt ganz ruhig. Er war wohl froh, dass er mich in dieses Gespräch gezogen hatte.
„Das ist genau das Problem. Diese Zellen sind an sich gute und wichtige Zellen. Aber wenn sie sich ungehemmt vermehren, schädigen sie andere gesunde Zellen. Sie schädigen die Blutbildung. Dadurch kann es zur Blutarmut kommen. Und da sie im Knochen sitzen, können die Knochen geschädigt werden.“ Diese Sache fing an, mir immer mehr Angst zu machen. Es war eine unheimliche Sache, und sie saß in meinem Körper. Sie saß in mir drin.
„Wie kommt es zu diesem.......“. Ich wollte dieses Wort nicht aussprechen.
„Das sind Mutationen, die in diesen Zellen auftreten. Mutationen sind Veränderungen der Gene.“ Das wurde immer gefährlicher. Die Gene, das waren doch die, die alles in uns steuerten.
„Also ist das erblich?“ Der Mann lächelte jetzt wieder. Er amüsierte sich wohl über meine Unwissenheit.
„Nein, erblich ist es nicht. Die Geschlechtszellen sind nicht betroffen.“ Das beruhigte mich etwas. Unsere Kinder waren also nicht gefährdet. Ich überlegte jetzt, wie ich hier wieder herauskam. Ich sollte mich nur vorstellen. Das hatte ich gemacht. Eigentlich konnte ich jetzt wieder gehen. Ich versuchte etwas zu lächeln.
„Dann weiß ich nun Bescheid. Sie haben mir sehr geholfen. Bekommt mein Hausarzt eine Mitteilung? Einen Brief?“
„Natürlich bekommt er das. Es dauert einige Tage.“ Ich wollte aufstehen und durch diese Tür.
„Wir müssen etwas tun gegen diese Krankheit“, sagte der Mann.
„Das steht dann in dem Brief“, sagte ich. Mein Hausarzt würde mir etwas verschreiben und damit war es genug.
„Ihr Hausarzt hat sie zu uns geschickt, damit wir diese Behandlung machen. Diese Behandlung ist etwas defizil. Man muss sich damit auskennen. Wenn es ihnen recht ist, werden wir diese Behandlung machen.“ Er wollte mich nicht weglassen. Er wollte mich hier festhalten. Ich wollte das nicht. Ich wollte mein altes Leben wieder haben. Ich war manchmal unzufrieden damit gewesen. Aber jetzt wollte ich es wieder haben. So wie es gewesen war.
„Die Behandlung ist nicht schlimm“, sagte der Mann. „Sie nehmen alle sechs Wochen ein paar Tabletten. Das ist alles.“ War das die Wahrheit? Sagte der Mann die Wahrheit?
„Ist das Chemotherapie?“ Der Mann war jetzt ernst. Er hatte gemerkt, dass ich Angst hatte.
„Das ist eine Art Chemotherapie. Aber eine sehr milde. Die meisten Patienten vertragen diese Tabletten gut.“ Etwas stimmte da nicht. Ich hatte ganz anderes über diese Chemotherapie gehört. Ich sagte ihm das.
„Es gibt verschiedene Arten von Chemotherapie. Manche werden nicht gut vertragen. Diese ist gut verträglich.“ Ich war immer noch misstrauisch.
„Wie lange muss ich diese Tabletten einnehmen?“
„Die Plasmazellen bilden ein bestimmtes Eiweiß. Die Menge werde ich immer wieder messen lassen. Wenn die Behandlung wirkt, wird das Eiweiß weniger. Das dauert mehrere Monate. Wenn die Tabletten wirken. Dann werden wir weitersehen.“
„Wirken die Tabletten nicht immer?“
„Nicht bei allen. Sie wirken etwa bei der Hälfte der Patienten.“
„Was ist mit denen bei denen die Tabletten nicht wirken?“
„Dann kann man andere versuchen.“ Das war überraschend.
„Ich bin also eine Art Versuchskaninchen.“ Der Mann lachte jetzt etwas. Nicht sehr. Etwas. Es entstand eine Pause, in der keiner etwas sagte. Dann sah mich der Mann an.
„Wissen sie, ich habe hier viele Patienten mit diesen Erkrankungen. Vielen kann ich nicht helfen. Da schreitet der Krebs fort und fort und ich bin ziemlich hilflos. Bei ihrer Erkrankung kann ich etwas machen, und die Behandlung wird meist gut vertragen. Ich bin froh, wenn ein Patient mit dieser Erkrankung zu mir kommt.“
„Dann habe ich Glück gehabt?“
„Kann man so sagen.“ Wieder entstand eine Pause, in der keiner etwas sagte.
„Dann schreibe ich ihnen ein Rezept?“ Er schrieb etwas auf seinen Block und erklärte mir genau, wie ich die Tabletten einzunehmen hatte. Dann stand er auf und kam zu mir auf die andere Seite des Schreibtisches, der zwischen uns gestanden hatte. Er drückte mir die Hand, gab mir einen neuen Termin und ich durfte gehen. Ich hatte mich noch bedankt. Und dann stand ich wieder vor der Tür. Die anderen sahen mich an. Sie wollten wohl sehen, wie es mir ergangen war. Der Mann in seinem weißen Kittel war hinter mir gewesen und hatte die Frau hereingerufen, die neben dem Mann gesessen hatte, der zur Chemotherapie in ein anderes Zimmer gegangen war.
Ich sah mir das Schild neben der Tür nochmals an. Prof. Dr. Florian L. Ich ging durch mehrere Gänge, in denen Menschen saßen und warteten. Ich war in einem großen Raum mit einem gläsernen Dach. Und dann stand ich vor dem Gebäude. Die Sonne schien hell von einem blauen Himmel. Ich zog meine Jacke aus. So warm war mir. Ich war dem Leben zurückgegeben. Ich hatte ein Gefühl als ob ich glücklich sei. Ich ging die Straße zwischen den großen Bäumen entlang. Ich war jetzt sicher, dass ich glücklich sei und dass ich das verdient hatte. Die Menschen gingen neben mir, und ich war froh wieder zu ihnen zu gehören.
An der Bus-Haltestelle war eine Apotheke. Ich war lange nicht in einer Apotheke gewesen. Ich musste einige Zeit warten, und als ich an der Reihe war und mein Rezept abgegeben hatte, sah mich die Apothekerin an. Sie holte die Schachtel von hinten. Sie war nicht groß. Sie hatte eine blaue Beschriftung. Ich ging, und ich merkte, wie mir die Apothekerin hinterher sah.
Zu Hause war die Wohnung ganz still. Die Frau war in ihrem Büro zwischen den Akten. Die Kinder waren in der Schule. Ich war nicht oft allein in der Wohnung. Ich holte mir etwas zu trinken und setzte mich im Wohnzimmer in einen Sessel. Alles in mir war schwer. Ich schlief ein. Ich träumte etwas von früher. Als ich jung war und ein Problem mit einem Kollegen im Büro hatte. Als ich erwachte, hatte ich Hunger und ging in die Küche zum Kühlschrank. Ich fand eine Packung mit Nudeln, die ich öffnete und warm machte. Es schmeckte nicht besonders. Ich wusste nicht, was ich mit diesem Tag anfangen sollte. Ich war mir jetzt nicht mehr ganz sicher, dass ich glücklich war. Das Gefühl, das ich unter den Bäumen im Krankenhaus gehabt hatte, ließ sich nicht mehr so herstellen. Es gab diese Packung mit der blauen Beschriftung. Ich holte sie aus der Tasche. Die Tabletten waren eingeschweißt und nicht sehr groß. Sie waren wohl gut zu schlucken. Ich entfaltete das Blatt mit den Informationen. Die waren für den Patienten. Ich fühlte mich nicht als Patient. Ich begann zu lesen. Alles war sehr klein geschrieben. Ich verstand nur wenig. Immerhin verstand ich, dass die Tabletten auch unangenehme Wirkungen haben konnten. Nicht bei allen Menschen, die sie einnahmen. Hoffentlich würde ich nicht zu diesen gehören. Ich musste mich auf etwas einlassen, das unangenehm werden konnte. Ich begab mich in eine unübersichtliche Situation. Ich war nicht begierig darauf. Wer ging schon gern einen Weg, an dem Gefahren lauerten. Musste ich ihn gehen? Ich überlegte, und dann dachte ich: ich muss ihn gehen. Ich habe keine Wahl. Ich musste etwas gegen diese wuchernden Zellen tun, die in mir saßen und mich zerstören wollten. Diese kleinen Tabletten waren eine Hilfe, die ich nutzen musste. Ich löste eine Tablette aus der Verschweißung. Sie lag jetzt vor mir. Ein Verbündeter, dem ich vertrauen konnte, der mir helfen würde. Ich nahm die kleine Tablette und legte sie auf meine Zunge. Sie ließ sich leicht schlucken. Sie schmeckte etwas bitter. Ich hatte etwas getan. Ich hatte mein Schicksal in meine Hand genommen. Ich war diesen Zellen nicht mehr ausgeliefert. Sie konnten nicht mehr machen, was sie wollten. Ich hatte ihnen Grenzen gesetzt. Ich nahm auch die anderen Tabletten. So wie es auf dem Zettel stand, den mir der Mann in seinem weißen Kittel gegeben hatte. Jede Tablette wurde etwas bitterer. So kam es mir vor.
Ich erwachte durch ein Geräusch. Offenbar war ich wieder eingeschlafen. Die Frau kam in das Wohnzimmer. Wir hatten vor einundzwanzig Jahren geheiratet. Ich war ihr immer treu gewesen. Ich wusste nicht, ob sie etwas mit anderen Männern gehabt hatte. Sie war erstaunt, dass ich auf dem Sofa saß.
„Ich war so müde. Ich bin zweimal eingeschlafen.“ Im Gesicht der Frau war nichts zu entdecken. Ich konnte nichts entdecken. Die Gefühle, die sie zweifellos hatte, kamen nicht bis in ihr Gesicht. Sie blieben stecken. Irgendwo tiefer.
„Ich mache uns etwas zu essen“, sagte sie und ging in die Küche. Ich hörte sie hantieren. Dann kam ein Duft aus der Küche. Ich bekam wieder Appetit. Es dauerte nicht lange bis sie mit dem Tablett kam und den Tisch deckte. Und dann saßen wir zusammen und aßen und tranken.
„Willst du mir nicht erzählen, wie es heute war?“ Ich erzählte von dem Mann in seinem weißen Kittel. Ich konnte nichts entdecken im Gesicht dieser Frau, mit der ich seit einundzwanzig Jahren verheiratet war. Vorher hatten wir uns auch gekannt. Aber nicht sehr lange. Ich hatte sie gefragt, ob wir heiraten wollen, und sie hatte ja gesagt. Ich brauchte nicht lange, um alles zu erzählen. Ich erzählte nur das Wichtigste. Jedenfalls das was ich für wichtig hielt.
„Hast du diese Tabletten schon genommen?“
„Ja.“
„Und?“
„Nichts. Garnichts.“
„Gut“, sagte die Frau. „Du warst in der Klinik. Das ist die Universität. Da sind Professoren. Die müssen es wissen. Ist deiner Professor?“
„Ich glaube ja. Auf dem Schild stand Professor.“
„Hat er sich nicht vorgestellt?“
„Ich habe ihn nicht verstanden. Er hat so leise gesprochen.“
Ich war froh, dass ich wieder in das normale Leben zurückgekehrt war. Diese Gefahr, die über mir gelauert hatte, hatte sich etwas zurückgezogen. Die Angst war nicht mehr so deutlich. Ich wusste nicht, wie es morgen früh sein würde. Jetzt war es erträglich.
Wir saßen noch zusammen, und als die Frau aus ihrem Büro erzählte, war es fast so wie früher. Ich hörte ihr gern zu. Es waren Nachrichten aus einer anderen Welt. Diese Welt war noch in Ordnung. Auch wenn es dort zeitweise drunter und drüber ging. Wir gingen schließlich zum Fernseher und saßen nebeneinander, und es wurde immer mehr so wie es gewesen war. Wir standen dann vor unserem Bett. Die Frau hatte ihr Nachthemd etwas offen gelassen, und ich sah einen Teil ihrer Brüste und die Haare zwischen ihren Beinen, und als sie sich hinlegte waren ihre Beine gespreizt, und ich konnte zwischen ihre Beine gleiten. Es ging wie immer, und als ich dann neben ihr lag, dachte ich, dass es so schlimm nicht sein konnte. Ich schlief ohne einen Traum.
Am Morgen machte ich das Frühstück für uns beide. Wir saßen nebeneinander im Auto. Ich setzte die Frau vor ihrem Büro ab und fuhr weiter. Es hatte eine Episode gegeben mit einer Schachtel mit blauer Beschriftung. Diese Episode war vorüber.
Auf dem Schreibtisch in meinem Büro lag ein Stapel von Akten, die gestern gekommen waren. Alles musste aufgearbeitet werden. Ich musste das nachholen, was ich gestern versäumt hatte. Ich kam gut voran. Zum Mittagessen traf ich mich mit H. Wir gingen immer zusammen essen. Seit sechs Jahren. Ich hatte ihm erzählt, dass ich in das Krankenhaus gehen würde. Er hatte es vergessen. Er erzählte mir von seinem Kollegen, der ein fauler Kerl war und immer versuchte, die Arbeit anderen aufzuhalsen.
Am Abend sah ich diese Schachtel mit der blauen Beschriftung im Badezimmer liegen. Ich nahm die Tabletten wie es auf dem Zettel stand, den ich daneben gelegt hatte. Einen Moment dachte ich, dass diese Episode nicht nur eine Episode gewesen war. Ich versuchte, diesen Gedanken zu vergessen. Ich vergaß ihn.
Es war ein schwerer Tag gewesen. Jetzt saß L. im Auto und fuhr nach Hause. Er war jetzt in der Mitte der Fünfziger. Er machte diese Arbeit schon viele Jahre. In den letzten Jahren fiel ihm die Arbeit manchmal schwerer. Heute hatte er drei neue Patienten gehabt. Die anderen kannte er, manche schon mehrere Jahre. Diese Frau war neu gewesen. Das war schwierig. Der Orthopäde hatte sie wegen Rückenschmerzen mehrere Monate behandelt. Er hatte ihr Schmerzspritzen gegeben. Die Schmerzen waren schlimmer geworden. Nun hatte der Orthopäde sie überwiesen, weil er wohl auch den Knoten am Hals gefunden hatte. Er hatte sie untersucht und in beiden Brüsten Knoten getastet. Der Brustkrebs war fortgeschritten. Wahrscheinlich hatte der Orthopäde sie die ganze Zeit nichtuntersucht. Er schickte sie zum Röntgen. Er wollte etwas Zeit gewinnen. Dann musste er ihr sagen, dass sie Brustkrebs hatte. Sie musste nicht mehr operiert werden. Dafür war es zu spät. Er hatte kein gutes Gefühl, wenn er daran dachte. Er war unsicher, was er ihr zumuten konnte. Er war froh, dass er noch einige Tage Zeit hatte. Der andere neue Patient hatte Blutarmut. Er musste die Befunde aus dem Labor abwarten. Er hatte gern Patienten mit Blutarmut. Er musste herausfinden, was die Ursache war. Es war wie ein Puzzlespiel. Manchmal konnte man am Ende etwas machen und manchmal nicht. Wer war der dritte neue Patient? Er hatte es vergessen. Dann fiel es ihm wieder ein: T. Das war ein guter Fall. Der Mann war um die Fünfzig und wusste gar nichts über diese Krankheit. Aber das war häufig so. Natürlich würde der Mann daran sterben. In ein oder zwei Jahren. Oder in drei, wenn er Glück hatte. Aber jetzt konnte er etwas machen gegen diese Krankheit. Und die Behandlung war nicht schlimm. Ein paar Tabletten. Hoffentlich würden die Tabletten bei diesem Patienten wirken. Wenn sie wirkten, würde der Patienten von ihm begeistert sein. Sie würden gut zueinander stehen. Irgendwann würden die Tabletten ihre Wirkung verlieren. Sie heilten nicht, sie drängten die wuchernden Zellen nur zurück. Die schlimmsten blieben übrig und begannen wieder zu wuchern. Und dann war nichts mehr zu machen. Es würde ein böses Ende geben. Aber das war er gewöhnt. Er war froh, dass der Mann das nicht so genau wissen wollte. Er wollte sowieso nicht viel über seine Krankheit wissen. Er schob sie weg. Das war häufig so. Wenn es gut ging, würde der Mann bis zum Schluss an ihn glauben. Er hatte ihm einmal geholfen, er würde ihm wieder helfen. Glaubte er. Das Ende würde ihn zerstören. Er würde froh sein zu sterben. Die Krankheit würde ihn völlig fertig machen. Am Ende würde er einsehen, dass gegen diese Sache nichts mehr zu machen war.
Es waren sechs Wochen vergangen, als ich wieder vor dieser Tür saß. Man hatte mir in einem anderen Zimmer schon etwas Blut abgenommen und zur Untersuchung ins Labor geschickt. Der Mann, der jetzt neben mir saß, sah nicht gut aus. Er war dünn. Nicht schlank sondern dünn. Er war in meinem Alter. Die Falten in seinem Gesicht waren tief eingegraben. Seine Augen blickten unruhig hin und her. Es dauerte nicht lange bis er mich ansprach.
„Sind sie neu hier?“ sagte er. Ich sagte ihm, dass ich das zweite Mal hier sei.
„Ich bin das fünfte Mal hier. Ich muss jede Woche kommen. Heute bekomme ich wieder Chemotherapie. Die Infusion dauert zwei Stunden. Wenn ich daran denke, wird mir jetzt schon übel. Dieses Kotzen ist das Schlimmste. Und natürlich diese Schmerzen. Ich nehme starke Mittel gegen die Schmerzen. Morphium. Jeden dritten Tag bekomme ich ein neues Pflaster. Ich bin dann wie benebelt. Die Schmerzen sind dann erträglich. Ganz weg sind sie nicht. Ohne das Morphium könnte ich sie nicht aushalten. Ich kann nichts essen. Meine Frau kocht mir, was ich will. Ich will gar nichts. Dadurch habe ich so abgenommen. Früher sah ich nicht so aus. Ich kann mich nicht ansehen. Wenn ich mich im Spiegel sehe, erschrecke ich. Ich weiß nicht wie das weitergehen soll. Professor L. ist ein guter Arzt. Er kümmert sich um mich. Man kann gut mit ihm reden. Er hat für alles Verständnis.“
„Was sagt er? Kann er ihnen helfen?“
„Er sagt das nicht so genau. Die Medikamente, die er mir gibt, sind teuer. Ich sehe das, wenn ich sie in der Apotheke hole. Die eine Infusion kostet fast zweitausend. Ich bin ein teurer Patient. Die Kasse bezahlt das. Ohne Probleme.“
„Ich nehme nur Tabletten. Die vertrage ich gut. Bisher jedenfalls.“
„Da haben sie Glück. Was haben sie denn?“
„T. Das ist eine Wucherung von Zellen.“
„Nie davon gehört. Ist das Krebs?“
„Ich weiß nicht.“
„Haben sie ihn nicht gefragt?“
„Nein, nicht so direkt.“
„Ich habe Pankreaskarzinom. Wissen sie was Pankreas ist?“ Ich verneinte das.
„Das ist die Bauchspeicheldrüse. Sie liegt hier oben.“ Er zeigte auf eine Stelle in seinem Bauch. Ich war froh, dass meine Krankheit nicht Karzinom hieß. Karzinom war offenbar Krebs. In diesem Moment kam eine Schwester vorbei. Sie begrüßte den Mann, der neben mir saß. Sie gingen zusammen weg. Sie hatte ihn wohl zur Chemotherapie geholt.
Dann war ich an der Reihe. Wir saßen uns wieder gegenüber. Er hinter dem Schreibtisch und ich davor.
„Wie geht es ihnen?“ sagte er.
„Gut.
„Wie vertragen sie die Tabletten?“
„Kein Problem.“ Sein Gesicht hatte sich immer mehr aufgehellt. Ich hatte ihm Freude bereitet. Er sah seine Unterlagen über mich durch.
„Sie wissen, dass ich diesen Stoff in ihrem Blut jedes Mal messen lasse. Dieses Eiweiß wird von den wuchernden Zellen gebildet. Je niedriger dieser Wert ist umso weniger dieser Zellen haben sie in ihrem Körper.“
„Wie ist der Wert heute?“
„Das weiß ich noch nicht. Den Wert bekomme ich erst morgen. Wir müssen uns noch etwas gedulden. Ich freue mich aber, dass sie die Tabletten bisher gut vertragen.“ Es entstand eine Pause. Dann sah er mich wieder freundlich an.
„Was macht die Arbeit? Schaffen sie das? Oder ist es ihnen zu viel?“
„Ich arbeite wie immer. Abends bin ich vielleicht etwas müder als früher. Es kann sein, dass ich mir das nur einbilde.“
„Was arbeiten sie?“
„Ich bin in einem Büro. Wir machen die Abrechnungen für die Firma. Es handelt sich um eine Exportfirma. Wir handeln mit dem Osten.“
„Und ihre Frau?“
„Die arbeitet auch in einem Büro. Beim Senator für Wirtschaft.“
Es entstand eine Pause.
„Ist T. Krebs?“ sagte ich. Er sah mich überrascht an. Die Frage war ihm nicht so angenehm. Er sprach bedächtiger als sonst als er antwortete.
„In der Medizin werden als Karzinom Wucherungen des Epithels bezeichnet. Diese Zellen sind keine Epithelzellen.“ Also kein Krebs. Ich war beruhigt. Aber dann sagte er noch etwas.
„Die Laien nennen das Blutkrebs. Leukämien nennen sie auch Blutkrebs.“ Angst war in mir. Sofort.
„Also habe ich Leukämie?“
„Nein. Das ist keine Leukämie. Bei Leukämie werden wuchernde weiße Blutkörperchen ins Blut ausgeschwemmt. Ihre Zellen sitzen im Knochen. Sie werden nicht ins Blut ausgeschwemmt. Im allgemeinen jedenfalls. T. ist eben etwas Besonderes.“ Die Angst war wieder geringer.
„Haben sie viele Patienten mit dieser Krankheit?“
„Ich habe viele Patienten mit T. Bei ihrem Hausarzt ist das selten. Deshalb hat er sie zu mir geschickt.“
„Ich glaube, er wusste nicht viel über diese Krankheit.“
„Das ist meist so. Der Hausarzt kann nicht alle Krankheiten gut kennen. Er kennt sich dafür mit den Krankheiten gut aus mit denen er viel zu tun hat. Zuckerkrankheit und Herzschwäche und so. Davon verstehe ich nicht so viel. Weil ich selten damit zu tun habe.“ Wir verabschiedeten uns. Er gab mir immer die Hand. Mir gefiel das. Es verband irgendwie.
Die Ambulanz endete gegen zwei Uhr. L. freute sich auf das Mittagessen und auf seinen Freund mit dem er sich seit vielen Jahren zum Mittagessen in der Mensa traf. Dieses Mittagessen war eine Insel in diesem wogenden Ozean, dem er sonst ausgesetzt war. Es war ein Ruhepunkt. Der Einzige am ganzen Tag. Abgesehen vom Feierabend zu Hause. Als er den großen Essenssaal betrat, sah er seinen Freund schon an einem Tisch sitzen. Er saß allein und er war froh darüber. So konnten sie ungestört reden.
„Wie war dein Tag?“ Der Freund sagte zunächst nichts. Er kannte das. Man musste immer auf eine Antwort warten. Und dann erzählte der Freund von den Streitereien mit einem Kollegen, der ihm vorgesetzt war und der ihn immer wieder schikanierte. Sein Freund empfand das jedenfalls so. Er sagte mehrmals „ja,ja“ um seine Zustimmung zu signalisieren. Sie hatten sich beide Grießbrei mit Kirschen geholt. Die Kirschen waren angedickt. Sie aßen das gern. Das Essen in der Mensa war einfach. Es schmeckte ihnen. Und sie saßen zusammen und redeten. Sie hatten keine Geheimnisse. Das lag daran, dass sie sich lange kannten. Der Freund war der Einzige, dem er vertrauen konnte. Die anderen Kollegen waren Konkurrenten. Man musste vorsichtig mit ihnen sein. Als eine Pause entstand, sagte er zu seinem Freund:
„Sagst du deinen Patienten immer die Wahrheit?“ Er konnte das zu seinem Freund sagen, weil er ihm vertraute und sie keine Geheimnisse voreinander hatten. Wieder sagte der Freund nichts. Er dachte wohl nach über diesen Satz, der da in den Raum gesetzt worden war und nicht so leicht zu beantworten war. Schließlich sagte der Freund:
„Ja, ich sage die Wahrheit.“
„Weil du ein ehrlicher Mensch bist. Du bist der einzige aufrichtige Mensch, den ich kenne. Ich bin nicht aufrichtig.“
„Deine Frau ist auch aufrichtig.“
„Sie ist eine Frau. Das sagt alles.“
„Du hast recht, Frauen sind nicht aufrichtig. Sie müssen so sein.“
„Sie würden uns vor den Kopf stoßen, wenn sie sagen würden, was sie denken.“
„Sie halten nicht viel von uns. Wir reden große Worte, und es ist nichts dahinter. Das erkennen sie bald, und dann haben wir verspielt.“
„Vor der Ehe merken sie das nicht.“
„Ja. Weil sie verliebt sind. Und einen Mann haben wollen so wie die Freundin oder die Mutter. Wir haben nur Glück, dass es eine Weile dauert, bis sie das erkannt haben.“
„Sie ficken doch auch gern. Oder nicht?“
„Manche ficken gern, manche nicht. Gisela hat immer gern gefickt.“
„Hat sie immer einen Orgasmus?“
„Oft. Wie ist es mit deiner Frau?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du weißt es nicht?“
„Nein, ich weiß es nicht.“
„Nach zwanzig Jahren oder so weißt du das nicht. Das spricht nicht für dich.“
„Du weißt auch nicht, was ich für ein Mensch bin. Doch, du bist der einzige Mensch, der alles von mir weiß. Ich sollte vorsichtiger sein. Was du für ein Mensch bist: ich könnte es nicht sagen. Obwohl wir uns so lange kennen. Wie sind wir zu dieser Diskussion gekommen?“
„Du hast mich gefragt, ob ich meinen Patienten immer die Wahrheit sage.“
„Du hast gesagt, dass du es tust Und ich habe gesagt, dass ich es nicht immer tue.“
„Warum tust du es nicht? Hast du Angst?“
„Ja, habe ich.“
„Dass sie weinen?“
„Das auch.“
„Sie müssen die Wahrheit wissen. Du bist verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Auch wenn sie bitter ist.“
„Ja, das stimmt.“
„Also, was soll die ganze Diskussion?“
„Man kann tricksen.“
„Was soll das sein?“
„Heute hat mich ein Patient mit T. gefragt, ob er Krebs hat. Ich habe gesagt, dass wir Ärzte nur die epithelialen Geschwülste als Krebs bezeichnen. Er war zufrieden. Ich sah, wie erleichtert er war. Das Wort Krebs hätte ihn nur erschreckt.“
„Und was sagst du, wenn ein Patient ein Pankreaskarzinom hat?“
„Dem armen Menschen ist nicht zu helfen. Dem sage ich, was er hat.“
„Da kannst du nicht tricksen.“
„Natürlich kann ich das. Die meisten Kollegen machen das. Die sagen, dass sie ihn behandeln werden und das gibt sofort Hoffnung.“
„Sie wissen nicht, dass die Behandlung nichts bringt.“
„Ja, so ist es.“
Sie standen jetzt auf und gingen zusammen weg. Es war schon leerer geworden in der Mensa. Vor Florians Klinik verabschiedeten sie sich. Sie würden sich erst am nächsten Mittag wieder sehen. Aber das bestimmt.
Am Nachmittag traf sich die Abteilung, in der die Krebspatienten behandelt wurden, in ihrem Seminarraum. Es war ein schöner Raum mit viel getäfeltem Holz an den Wänden und Wandschränken mit Büchern und Zeitschriften, in denen nachgelesen werden konnte. Das Klinikum war noch nicht alt. Es war erst vor ein paar Jahren gebaut worden. Man hatte nicht gespart. Die Männer in ihren weißen Kitteln saßen um den großen Tisch herum. Und Frauen in weißen Kitteln waren auch dabei. Sie unterhielten sich über das bevorstehende Wochenende. Es war Freitagnachmittag. Man war froh, die Woche hinter sich gebracht zu haben und freute sich auf die zwei Tage ohne Patienten. Einige standen allerdings auf dem Dienstplan. Sie konnten nichts unternehmen. Sie mussten die Visiten zum Wochenende übernehmen und auch in der Nacht erreichbar sein.
Dann kam einer und setzte sich an die Stirnseite des großen Tisches. Der Stuhl war genau in der Mitte der Stirnseite und war freigeblieben. Der eine war etwas Besonderes. Er war älter als die meisten, die an dem Tisch saßen. Es war ruhiggeworden. Die Gespräche über das Wochenende hatten aufgehört. Der Eine blickte um sich. Dann blieb sein Blick auf einem, der am Tisch saß, hängen.
„Bitte“, sagte er. Er hatte eine nicht zu laute wohltönende vielleicht etwas scharfe Stimme. Der angesprochen worden war, begann seinen Vortrag, den er vorbereitet hatte. Es ging darum wie Patienten mit Pankreaskarzinom behandelt werden sollen. Es wurden Untersuchungen an Patienten mit dieser Erkrankung vorgestellt. Die Ergebnisse war in Zeitschriften veröffentlicht worden, die in der ganzen Welt von denen gelesen wurden, die diese Krankheit behandelten. Es waren sechsunddreißig, vierundfünfzig und neunundzwanzig Patienten mit verschiedenen Medikamenten behandelt worden. Bei jedem Patienten wurden mehrere Medikamente gleichzeitig eingesetzt. Bei elf, sieben und fünf Patienten war es jeweils zu einer Verkleinerung der Geschwulst gekommen. Diese Verkleinerung hielt einen oder zwei Monate an. Dann wurde die Geschwulst wieder größer. Bei den meisten Patienten war die Geschwulst weiter gewachsen. Die Medikamente hatten bei diesen Patienten keine Wirkung entfaltet. Bei allen Patienten waren unerwünschte Wirkungen aufgetreten. Sie hatten während und nach der Gabe der Medikamente vor allem unter Übelkeit und Erbrechen zu leiden. Seltener traten auch andere unerwünschte Wirkungen auf, die bei den verschiedenen Medikamenten unterschiedlich waren. Die Untersuchungen waren in Krankenhäusern in den USA, England und Frankreich durchgeführt worden.
„Ich danke ihnen für ihre Darstellung dieser Behandlung. Sie gibt eine gute Übersicht über das was zur Zeit international Standard ist.“ Das sagte der, der an der Stirnseite des Tisches in der Mitte saß, und der als letzter in den Raum gekommen war. Der, der den Vortrag gehalten hatte, wurde rot vor Freude. Ein Lob von diesem Mann war Gold wert. L. war sich nicht sicher, ob er etwas sagen sollte. Schließlich sagte er doch etwas.
„Leider muss man eine ganze Menge von Patienten behandeln bis endlich einmal einer auf die Behandlung anspricht. Bei den meisten Patienten erzeugt man nur unerwünschte Wirkungen. Man macht ihnen das bisschen Leben, das sie noch vor sich haben, durch diese Behandlungen weiter kaputt.“ Die anderen sahen sich betreten an. Einer meldete sich.
„So kann man das nicht sehen. Bisher war die Behandlung des Pankreaskarzinoms sehr unerfreulich. Jetzt gibt es erstmals Studien in denen eine Wirksamkeit von Medikamenten nachgewiesen wurde. Es besteht kein Grund mehr zu therapeutischem Nihilismus. Es ist ein Anfang gemacht. Das sollte man anerkennen.“ L. kannte diesen Kollegen als einen, der ohne Hemmungen diese Behandlungen durchführte und nicht daran dachte, was sie für die Patienten bedeuteten. Ob sie überhaupt davon profitierten. Der Kollege war voller Ehrgeiz. L. hatte Angst vor solchen Leuten. Solche Leute sollten keine Behandlungen bei diesen Patienten machen dürfen. Dachte L. Er sagte aber nichts. Er wollte nicht Öl ins Feuer gießen. Er wusste auch nicht wie der darüber dachte, der an der Stirnseite des Tisches saß. Mit dem durfte man es sich nicht verderben. Er hatte von internationalem Standard gesprochen. Also war er wohl mit diesen Behandlungen einverstanden. Er war es, denn er sagte:
„Herr Kollege, ich bitte sie die Ergebnisse der drei Studien kurz zusammenzufassen und zu unseren Therapievorschriften zu legen.“ Damit war die Sache entschieden. Was in dieser Mappe lag, war verbindlich. L. ärgerte sich, dass er sich soweit hervorgewagt hatte. Er hätte vorsichtiger sein sollen. Dabei war er überzeugt, dass er Recht hatte. Aber darum ging es nicht. Entscheidend war, was der Mann am Ende des Tisches zu sagen hatte. Er hatte die Macht. Er konnte einen versetzen auf einen anderen Posten. Er konnte einen aber auch voranbringen, wenn er es wollte. Was er wollte, war nicht so klar. Da spielte vieles eine Rolle.
Als sie zu ihren Autos gingen, um endlich das Wochenende zu beginnen, war sein Freund neben ihm.
„Du solltest vorsichtiger sein. Du machst dich unbeliebt.“
„Habe ich nicht Recht?“
„Darum geht es nicht. Die Patienten sind nicht so wichtig. Die Medikamente und die Firmen, die sie verkaufen, sind wichtig. Der Boss bekommt Geld von ihnen.“
„Weißt du das sicher?“
„Aber Florian, lebst du hinter dem Mond? Die Pharmafirmen gehen bei dem ein und aus. Er fährt auf ihre Kosten zu den Kongressen. Er lässt sich aushalten.“
„Hat er das nötig? Verdient er nicht genug an seinen Privatpatienten?“
„Man kann nie genug haben. Das weißt du doch.“
„Mir reicht das was ich verdiene.“
„Deine Frau ist da anderer Meinung.“
„Du sollst nicht so über meine Frau reden. Ich werde ihr erzählen, wie du über sie redest.“
„Ich streite alles ab.“ Als sie sich verabschiedeten, lachten sie sich an. Sie vertrauten einander. Das war selten hier, und sie wussten das.
Und nun war endlich Wochenende. Florian L. war auf dem Weg nach Hause. Er dachte jetzt nur noch an zu Hause. An die Frau, an die Kinder. Dahinter lauerte die neue Woche mit neuen Patienten und neuen Problemen. Er dachte jetzt nicht daran. Er wollte nicht daran denken. Es gab doch eine andere Welt. Nicht im Krankenhaus. Wie hatte er nur diesen Beruf ergreifen können. Immer zusammen mit Kranken.
Er hatte das Auto abgestellt und öffnete die Haustür. Er sah sofort, dass die Familie im Wohnzimmer saß. Nun kam er hinzu. Nur seine Frau sah ihn kurz an. Die beiden Söhne sahen ihn nicht an.
„Hallo“, sagte er.
„Hallo“, sagten die, die da saßen. Ihre Stimmen klangen nicht sehr froh. Er setzte sich zu ihnen.
„Wir haben ein Problem“, sagte der größere Sohn.
„So kann man das auch nennen“, sagte die Frau, die die Mutter war. L. hatte jetzt ein Gefühl von Angst in sich. Das konnte alles nichts Gutes bedeuten. Wahrscheinlich war es sogar schlimmer als er jetzt annahm.
„Unser Großer hat einen blauen Brief“, sagte die Frau.
„Ist es endgültig oder ist es eine Warnung?“ sagte er.
„Es ist nur ein Warnschuss. Es hat nichts zu bedeuten. Ich werde versetzt, das ist sicher.“ Der Große gab sich zuversichtlich. Florian L sah ihn misstrauisch an. Auf diesen Sohn war kein Verlass.
„In welchen Fächern bist du gefährdet?“
„Hör auf damit. Ich bin nicht gefährdet. Das ist Unsinn.“
„Wenn du nicht gefährdet wärst, hättest du keinen solchen Brief bekommen. Das ist doch klar.“ Den Vater ärgerte diese Ignoranz
„Mit euch kann man nicht reden. Es hat keinen Zweck.“ Der Sohn stand auf und wollte aus dem Zimmer gehen. Der Vater bekam Angst. Man musste diese Sache besprechen und Schlussfolgerungen ziehen. Man konnte das nicht so übergehen.
„Bitte setz dich! Wir können das in Ruhe besprechen. Was willst du tun, damit du versetzt wirst?“
„Papa! Ich werde versetzt. Das habe ich doch gesagt. Hast du das nicht gehört. Mich langweilt diese blöde Diskussion.“
„Wollen wir deine Schularbeiten abends zusammen durchgehen?“
„Das ist nicht nötig. Ich kann allein arbeiten. Ich gehe nicht mehr in die Grundschule. Ich gehe zum Gymnasium. Nächstes Jahr mache ich Abitur.“
„Hoffentlich.“
„Wenn der eigene Vater kein Vertrauen hat ....“ Der Vater wollte fragen, wo dieses Vertrauen herkommen solle. Er sagte nichts. Die Mutter kam mit dem Abendessen. Sie setzten sich. Es wollte kein Gespräch aufkommen. Der ältere Sohn verließ das Zimmer bald. Man hörte, wie er sich fertig machte und das Haus verließ.
„Wo geht er hin?“ sagte der Vater.
„Woher soll ich das wissen?“ sagte der jüngere Sohn ungehalten. Er wollte sich nicht in diese Sache hineinziehen lassen. Er ging auch auf sein Zimmer. Die beiden Alten saßen allein am Tisch und sahen vor sich hin.
„Hoffentlich kommt er nicht wieder so spät nach Hause“, sagte die Frau. „Gestern war er erst um zwei zu Hause.“
„Er darf in der Schule nicht müde sein“, sagte der Vater. „Was sollen wir bloß tun?“
„Wenn du das nicht weißt. Du bist der Vater.“
„Ja, ja. Ich weiß. Ich habe versagt.“
„Diese Sprüche helfen auch nicht.“