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Seit Monaten schon wird Carla Brendel von einem Stalker verfolgt, der ihr Fotos mit bedrohlichen Motiven schickt: menschliche Haut. Ein Messer. Wunden. Erleichtert ergreift sie die Chance, in ein hochmodernes Wohnhaus nach Berlin zu ziehen. In ihrem perfekt abgesicherten Smart Home und der engen Hausgemeinschaft fühlt sie sich endlich in Sicherheit. Doch dann gibt es immer mehr alarmierende Vorfälle, und Carla ahnt mit Schrecken, dass der Feind gar nicht von außen kommt. Er ist schon längst bei ihr ...
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Seitenzahl: 404
Carla Brendel wird seit Monaten von einem Stalker verfolgt, der ihr Fotos mit bedrohlichen Motiven schickt: Menschliche Haut. Ein Messer. Wunden. Aus Angst vor dem Unbekannten flüchtet sie aus ihrer idyllischen Heimatstadt in Norddeutschland zu ihrer Halbschwester nach Berlin. In Ellens luxuriöser Wohnanlage Safe Haven, die mit neuesten Sicherheitssystemen ausgestattet ist, fühlt sie sich beschützt. Doch kurz nach ihrer Ankunft verschwindet Ellen spurlos, ihre Leiche wird wenige Tage später aus einem Kanal geborgen. Ein tragischer Unfall? Oder wissen die anderen Hausbewohner mehr, als sie sagen? Carlas Zweifel wachsen. Sie bleibt und sucht nach der Wahrheit. Dabei merkt sie schnell, dass im Safe Haven ganz eigene Regeln und Gesetze herrschen. Und es tödlich enden kann, wenn man zu viele Fragen stellt …
Ein raffinierter Psychothriller, der in die Abgründe der menschlichen Seele vordringt und den Leser bis zur letzten Seite in Bann hält.
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1. AuflageCopyright © 2017 by carl’s books, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: semper smile, München nach einem Motiv von Getty Images/Tom Sibley; ShutterstockSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-19743-8V002www.carlsbooks.de
Für Inge Milosch
1
Die Häuser der alten Stadt duckten sich zusammen in der Kälte. Ihre Farben verschwanden mit jeder Stunde mehr, das Braun der Backsteinfassaden, das Rot der Dachpfannen, die bunten Tupfer der Autodächer. Der Schneesturm hatte am frühen Morgen eingesetzt, er trieb die Flocken in fast waagerechten Strichen durch die Straßen und fing sie ein im Hafenbecken am Fischmarkt. Weiter draußen, auf den Wiesen und Feldern, tobte er sich aus, peitschte den Flusslauf entlang, pfiff durch die Baumwipfel.
Carlas Bauernhaus stand allein, seine jahrhundertealten Holzbalken stemmten sich den Windstärken entgegen, und die niedrige, blau-weiß lackierte Holztür versteckte sich unter dem Reetdach. In der Küche brannte Licht, ein gelb leuchtendes Rechteck im eisigen Grau.
Drinnen roch es nach Zimt und Koriander, Carlas orientalisches Stew aus Kichererbsen köchelte auf dem Herd. Sie sah hinaus. Die Scheibe war leicht beschlagen und das Schneetreiben so stark, dass sie kaum etwas im Garten erkannte. Nur einzelne Spitzen des Holzzaunes, den sie im Sommer grün gestrichen hatte, lugten hervor. Im Sommer … als ihr Leben noch in Ordnung gewesen war.
Sie betrachtete die Eiskristalle auf der Fensterbank. Wie zart sie aussahen, bizarre Sterne, jeder einzigartig geformt. Doch durch die Wärme des Hauses würden sie bald tauen, miteinander verschmelzen. Und in der Nacht zu einer Eisschicht gefrieren.
Sie nahm eine Limette, rieb die Schale in eine Glasschüssel und sog den Geruch mit geschlossenen Augen ein.
Ein Motorgeräusch wurde lauter, zweimal kurzes Hupen, dann stapften Schritte auf der anderen Seite des Hauses, die Klappe am Briefkasten schepperte. Die Limette rutschte Carla aus der Hand, rollte über die Kante der Arbeitsfläche, fiel auf den Boden. Sie hob sie mit zittrigen Fingern auf, ging durch den Flur, öffnete die Haustür.
»Moin, Carla!« Der Briefträger stieg schon wieder in den Wagen.
»Moin, Ole! Und danke!«
Sie blieb unter dem Schutz des Daches, sah zu, wie er zurücksetzte und wegfuhr, machte einen tiefen Atemzug. Die Luft war so kalt, dass sie in der Lunge schmerzte. Ihre Stimme hatte fest und munter geklungen. Ole wusste nichts von ihrer Angst, hatte keine Ahnung davon, wie viel Überwindung es sie immer noch kostete, die Post aus dem Kasten zu holen. Ein ganzer Stapel heute. Sie entdeckte einen hellbraunen Umschlag, er war dicker und größer als die anderen. Mit klammen Fingern drehte sie ihn um. Dabei ließ sie die übrigen Briefe fallen. Und atmete ihre Erleichterung in eine weiße Atemwolke. Der Großbrief kam von ihrer Krankenkasse, nur eine Infobroschüre.
Er schreibt nicht mehr. Er hat es aufgegeben.
Carla fischte die anderen Umschläge aus dem Schnee, die Kanten waren schon durchweicht. Sie entdeckte den Briefkopf des Dachdeckers. Die nächste Rechnung. Sie seufzte und sah nach oben zum frisch reparierten Reetdach, das jetzt von Schnee bedeckt war. Resthof, zum Verkauf, renovierungsbedürftig, so lautete damals die Annonce. Sie hatte das letzte Wort verdrängt, denn sie war längst verliebt in die Idee, in einem alten Bauernhaus zu wohnen, vor den Toren von Stade, ihrer Heimatstadt.
Ein Groschengrab, wie schon der erste Handwerker warnend bemerkte.
Die Wärme des Ofens umarmte sie im Inneren. Sie schloss die Tür ab. Vier Wochen war es nun her, seit der Fremde ihr zum letzten Mal geschrieben hatte. Dann war er aus ihrem Leben verschwunden. Seine letzten Briefe hatte gar nicht Ole gebracht. Er musste sie selbst eingeworfen haben. In allen Fällen war sie zu Hause gewesen, hatte aber kein Auto gehört. Also war er zu Fuß gekommen.
Wie oft hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen, ohne irgendeine Erkenntnis! Und immer noch reichte ein kleiner Auslöser, und die Gedanken kamen zurück, die alten Fragen brannten in ihr. Wie oft war er hier gewesen? Hatte er sie von der Straße aus belauert? In ihr Schlafzimmer gesehen?
Das Bauernhaus der Nachbarn, etwa hundert Meter entfernt und reetgedeckt wie ihr eigenes, verbarg sich hinter einer mannshohen Hecke. Carla hätte auch so einen Sichtschutz anpflanzen sollen, einen noch höheren. Dann wäre es unmöglich für ihn gewesen, überhaupt etwas zu sehen. Es sei denn, er wäre in ihren Garten gekommen.
Trotz der Wärme fröstelte sie bei dem Gedanken, rieb sich über die Arme, legte die Post auf das Tischchen im Flur. Dann öffnete sie den hellbraunen Umschlag, warf einen Blick auf das Cover der Broschüre über Vorsorgemaßnahmen, warf beides in den Papierkorb. Für die anderen Briefe war später noch Zeit.
Angefangen hatten seine Nachstellungen mit einer Freundschaftsanfrage auf Facebook. Er hatte sich Sven Petersen genannt, ein norddeutsch und irgendwie vertraut klingender Name, sie fand auch ein winziges Foto von ihm, auf dem aber wenig zu erkennen war. Ein großer, schlanker Mann in Regenkleidung vor einem Segelboot. Seine Profilseite gab auch nicht viel her. Immerhin, als Heimatort hatte er Stade angegeben, nach seinem Geburtsjahr musste er vierunddreißig sein.
»Na, endlich mal ein Verehrer! Du hast es gut«, hatte Carlas Freundin Jule damals gewitzelt. »Vielleicht kannst du ihn bald mal treffen?«
»Merkwürdig, wenn der ungefähr in unserem Alter ist, müssten wir ihn doch längst mal hier gesehen haben, so groß ist Stade doch nicht!«, hatte Carla entgegnet.
Das war der Anfang gewesen.
Sven Petersen schien immer online zu sein, und sobald Carla sich meldete oder einen Schnappschuss postete, kommentierte er, charmant und humorvoll. Sie sah kein Problem darin, ihm zu erzählen, wo sie wohnte und ihm ihre persönliche E-Mail-Adresse zu geben. Natürlich war sie auch neugierig, was er ihr so dringend zusenden wollte.
Er schickte ein Foto. Carla erkannte nicht, was darauf abgebildet war, es schien einfach eine beige, leicht fleckige Oberfläche zu sein. Als sie ihn fragen wollte, gab es Svens Profil nicht mehr. Er war von Facebook verschwunden. E-Mails an ihn kamen zurück, die Adresse war ungültig. Und im Stader Telefonverzeichnis gab es keinen Mann mit diesem Namen, deutschlandweit dafür unzählige. Carla war zuerst beunruhigt, doch er meldete sich nicht noch einmal bei ihr. Etwa zwei Wochen später, als sie gerade aufgehört hatte, an den Vorfall zu denken, kam das nächste Foto per E-Mail. Dasselbe rätselhafte Motiv. Dazu nur ein Gruß, Dein Sven. Am selben Abend ein Anruf, bei dem sich niemand zu erkennen gab.
Carla ging zur Polizei, und was die Techniker herausfanden, machte ihr Angst. Die Fotos zeigten menschliche Haut. Stark vergrößert und deshalb fast nicht erkennbar.
Carla änderte ihre E-Mail-Adresse, löschte ihr Facebook-Profil, beantragte eine geheime Telefonnummer, die sie nur ihrer Familie und engsten Freunden mitteilte. Danach war Ruhe. Genau so lange, bis sie sich wieder sicher fühlte. Dann kam der erste Brief per Post an. Gruß,Sven. Dein Verehrer.
Sie warf einen Blick auf die unterste Schublade im Küchenschrank. Verborgen hinter dem wurmstichigen Holz, unter den gefalteten Tischdecken lagen weitere Briefe und Fotos, die immer diese Ausschnitte von Haut zeigten.
Sie hatte sie zerreißen und wegwerfen wollen, doch die Polizei riet ihr, sie aufzubewahren, damit sie irgendwann als Beweismittel dienen konnten. Falls der Absender einen Fehler machte und seine wahre Identität preisgab.
Eines Morgens riss Carla einen neuen Umschlag auf und stieß auf das Foto, das ihren Atem zum Stocken brachte. Wieder Haut. Aber diesmal klaffte eine Schnittwunde darin, und ein dünnes Rinnsal Blut lief heraus.
Nach diesem Vorfall kam Jule fast täglich vorbei, um die Post für sie zu öffnen. Sie verschwieg Carla, was auf den Fotos zu sehen war, ließ sie einfach verschwinden. Aber Carla fand sie, in Jules Wohnung versteckt. Sie musste Bescheid darüber wissen, was der Fremde trieb. Sie sah, dass die Schnitte größer und tiefer wurden, dass das Blut längst kein dünnes Rinnsal mehr bildete, und ihre Angst wuchs immer mehr. Wessen Haut war das auf den Bildern? Hatte er jemanden in seiner Gewalt, den er quälte? Vielleicht sogar zu Tode folterte? Oder waren das seine Fantasien, das, was er mit ihr machen wollte?
Der Horror steigerte sich weiter. Mit einem Brief, der mehr als den üblichen knappen Gruß enthielt: Alles geht irgendwann zu Ende. Auch meine große Liebe. Bald ist mein Herz frei für dich. Die Worte hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Und sein letztes Foto. Wieder ein Stück Haut. Eine klaffende Wunde, in der ein Messer steckte. Blut lief heraus.
Das Messer auf dem Bild hatte ungewöhnlich ausgesehen, mit einem leicht gebogenen Holzgriff. Ein Zeichen war eingeprägt. Vielleicht ein Buchstabe oder eine Zahl? Ein Firmenlogo? Das Foto war unscharf. Aber die Polizei hatte Techniker, Spezialisten. Das Messer musste ihnen einen Hinweis auf den Täter geben! Das hatte Carla damals gehofft. Aber sie hatte sich getäuscht.
Das Telefon läutete, und Carla schreckte aus ihren Gedanken auf.Sie lief in den Flur und sah auf das Display. Eine Berliner Vorwahl. »Brendel?«
»Carla, bist du das?« Eine Frauenstimme, die ihr bekannt vorkam. Sehr vertraut sogar … »Ja?«
»Ich bin es, Ellen! Deine Mutter hat mir deine neue Nummer gegeben.«
Wie lange war das her, dass ihre Halbschwester und sie telefoniert hatten? Mindestens ein Jahr … »Wie schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir?«
»Gut. Danke. Richtig gut. Und dir?« Ellens Stimme klang merkwürdig, nach aufgesetzter Munterkeit, Carla spürte die Anstrengung dahinter. Sie antwortete im selben Plauderton, alles sei prima bei ihr.
»Bist du noch bei deinem Schwager im Restaurant?«, fragte Ellen.
»Na klar, wo sollte ich sonst sein?«
»Wie geht es Hauke denn?« Sie zögerte. »Es tat mir so leid, dass ich nicht zu Monis Beerdigung kommen konnte. Was machen die Kinder?«
»Sie halten sich tapfer. Und auch Hauke kommt ganz gut zurecht. Stürzt sich halt in die Arbeit, das Restaurant läuft wieder super, wir sind immer Wochen im Voraus ausgebucht.«
»Das freut mich!«
Carla hatte nicht verstanden, warum Ellen sich so zurückgezogen hatte. Ausgerechnet in dieser schweren Zeit, als Carlas leibliche Schwester ganz unerwartet die Diagnose Krebs erfuhr und zwei Jahre später den Kampf endgültig verlor. Sie waren alle eng zusammengerückt, die ganze Familie, aber offenbar fühlte sich Ellen nicht als Teil davon.
Carla räusperte sich. Sie musste es einmal aussprechen, es war ein Vorwurf, den sie schon lange mit sich herumtrug. »Anderthalb Jahre ist Monis Tod nun her. Wir haben gedacht, du kommst mal vorbei.«
»Ach, Carla, du hast ja recht … Ich war so viel im Ausland in letzter Zeit. Sogar in Abu Dhabi, stell dir vor. Aber ich würde so gern mal wieder bei euch in der Küche sitzen und deine berühmten Muscheln essen.«
»Kein Problem, die Muscheln stehen auf der Karte«, sagte Carla kühl.
»Im Moment tobt hier der Wahnsinn, ich bin an drei Bauprojekten gleichzeitig dran. Es läuft bombastisch.«
Wenn Carla das Wort »prima« benutzte, musste es bei Ellen natürlich »bombastisch« laufen. Die coole Ellen, die Überfliegerin, die immer besser gewesen war als sie und Moni. Ellen, die schon mit fünfzehn wusste, dass sie eine berühmte Architektin werden wollte. Das Mathegenie. Niemand hielt dem Vergleich mit ihr stand. Ihr Vater hatte sie Carla oft als leuchtendes Beispiel vorgehalten: Seht euch Ellen an!
»Wie schön für dich«, sagte Carla. Als Ellen schwieg, setzte sie nach: »Warum rufst du an?«
»Ich hatte mir überlegt – du warst doch lange nicht in Berlin, oder?« Ellen zögerte wieder. »Und ich bin ja schon vor einiger Zeit in dieses tolle Wohnhaus in Mitte gezogen, Safe Haven heißt das Gebäude. Ich dachte, vielleicht hast du Lust, mich hier mal zu besuchen?«
Carla nahm den Hörer ans andere Ohr und ging in die Küche. Das Stew hatte lange genug geköchelt, sie drehte das Gas ab. »Klar, das wäre schön, aber ich hab jetzt keinen Urlaub. Vielleicht mal im Frühjahr … Was meinst du?«
»Nein, es … also, es wäre recht dringend, ich muss etwas mit dir besprechen.«
Carla traute ihren Ohren kaum. Ellen wollte ausgerechnet mit ihr etwas besprechen? Und bekam kaum noch einen geraden Satz heraus? Wo war ihre Coolness hin?
»Sag doch, worum es geht. Wir können jetzt darüber reden, ich habe Zeit.«
»Nicht am Telefon. Und ich kann auch leider nicht zu dir kommen.«
Wie stellte sie sich das vor? Dass Carla alles stehen und liegen ließ und den nächsten Zug nahm? Und was war mit dem Restaurant?
»Ich würde dich nicht fragen, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe. Bitte glaub mir.«
Carla spürte nun deutlich Ellens Angst, und ihre Abwehr verwandelte sich in Beunruhigung. Was konnte da nur los sein? »Ich muss das erst mit Hauke besprechen«, sagte sie. »Ich sag dir später Bescheid.«
Schon die Vorstellung, spontan auf diese Reise zu gehen, durch Bahnhöfe zu laufen, massenhaft fremde Menschen um sich zu haben, legte sich wie ein Gewicht auf ihre Brust. Aber all das konnte und sollte Ellen nicht wissen.
»Heute noch? Bitte, Carla.«
»Okay. Ich kläre das so schnell wie möglich«, versprach Carla.
* * *
Der Zeiger der Standuhr rückte vor auf die Vier, die melodischen Schläge hallten durchs Haus.
Carla schob den Anruf bei Hauke vor sich her, das gestand sie sich nun ein. Weil es sehr gut sein konnte, dass Hauke sie sogar ermuntern würde zu fahren. Er machte sich Sorgen um sie, schimpfte mit ihr, dass sie sich nur noch in ihrem Haus vergrub, außer zur Arbeit ins Restaurant nirgendwo mehr hinging. »Und du?«, gab sie dann mit gespielter Leichtigkeit zurück. »Du machst es doch genauso!«
Sie waren beide in Stade geboren, kannten sich seit dem Kindergarten, drückten gemeinsam die Schulbank. Um sie herum hatte sich eine feste Clique gebildet. Carla und Moni, Hauke, Jule … und Joshua, mit dem Carla zuletzt zusammen gewesen war. Der Gedanke an ihn gab ihr einen Stich.
Für Hauke stand immer fest, dass er das Restaurant der Familie übernehmen würde. Er ging nach dem Abitur für fünf Jahre weg, ließ sich als Souschef bei anderen Köchen ausbilden, sammelte Erfahrung, dann stieg er endgültig bei seinem Vater im Gasthaus zum Hecht ein. Da waren er und Moni längst ein Paar.
Hauke – wo wäre Carla heute ohne ihn? Durch ihn lernte sie kochen, und bald entschied sie sich ebenfalls für diesen Beruf. Sie machte ihre Lehre in Hamburg und in Eckernförde. Wenn sie zwischendurch nach Hause kam, traf sich die ganze Clique immer noch, meist auf ein paar Biere im Fiddler’s Green.
Sie waren Freunde, kannten sich durch und durch. Nichts würde sich daran jemals ändern. Die Trauer um Moni hatte sie noch enger zusammengebracht. Aber weder Hauke noch Jule konnten etwas tun gegen Carlas Angst vor diesem Stalker. Und Carla spürte, wie die Ungeduld ihrer Freunde langsam wuchs. Der Fremde war und blieb verschwunden! Er war Vergangenheit. Warum fand Carla nicht wieder in ihr normales Leben zurück? Wieso verkroch sie sich vor der Welt?
Die Stunden an diesen Winternachmittagen quälten Carla wie schon lange nichts mehr. Die Welt draußen wurde früh von der Dämmerung verschluckt. Sie schützte ihn, den Fremden.
Ihre Freundin Jule wohnte eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt. An den Tagen, an denen Carla freihatte, so wie heute, kam Jule direkt von der Werbeagentur zu ihr. Leider selten vor acht Uhr abends. Noch vier Stunden also allein. Carla vermied es noch immer, die Lampen einzuschalten, ließ im Erdgeschoss die Rollläden herunter, im ersten Stock zog sie die Vorhänge zu. Wenn sie oben Licht machte, zeigte sie ihm, wo sie war, auch wenn er nur Schemen von ihr sehen konnte. Sie hörte Jules Stimme in ihrem Kopf: Er ist nicht mehr da. Hör auf damit, Carla! Doch es nützte nichts.
An anderen Tagen, wenn sie die Dunkelheit nicht ertrug, schaltete sie alle Lampen gleichzeitig an, vom Keller bis zum Dachboden. Dann fühlte sie sich wie ein Versuchstier in einem grell beleuchteten Labor. Eine Maus in einem Käfig, der man Krankheitserreger eingespritzt hatte, um zu sehen, wie lange sie damit überlebte. Und genau so verhielt sie sich: wie ein Labortier. Rastlos lief sie von Ecke zu Ecke. Sie kochte, sie räumte auf, sie aß, sie trank, aber sie erfüllte nur ihre Rolle in der Versuchsanordnung dieses Fremden.
Nicht an ihn denken.
Sie setzte sich in den Sessel im Wohnzimmer. Sollte sie Hauke anrufen? Nein, jetzt war er gerade mit den Kindern zusammen, die kurze Zeit am Tag, die sie gemeinsam hatten. Sie nahm ihr Buch und schlug es auf. Doch statt zu lesen, grübelte sie über Ellens Worte am Telefon. Ihre Halbschwester war eine erfolgreiche Architektin, die sich vor Arbeit und bestimmt auch vor Geld nicht retten konnte. Die in einem Luxus-Wohngebäude in Berlin-Mitte lebte. Was war es, das ihr Angst einjagte? Hatte sie sich Feinde gemacht? Ob sie wegen irgendwas erpresst wurde? Und wieso sollte ausgerechnet Carla ihr helfen können? Warum rief sie nicht einfach eine Freundin, einen Freund in Berlin an? Einen Anwalt – oder gleich die Polizei?
Als sich die Haustür knarzend öffnete, fuhr sie zusammen. Sie war so in Gedanken versunken, hatte Jules Auto gar nicht gehört!
Seit der Sache mit dem Stalker hatte Jule einen Schlüssel zum Haus, er schepperte nun in der Schale auf dem Schuhschrank. Und ein schwerer Gegenstand, vermutlich ihre Tasche, knallte gegen die Wand an der Garderobe. Etwas war nicht in Ordnung, das spürte Carla sofort.
»Hey, wo steckst du?«, rief Jule.
»Sofa.«
Sie tauchte im Türrahmen auf. »Na?« Ihr Lächeln wirkte angestrengt.
»Was ist los?«, fragte Carla.
Jule stieß Luft durch die Nase aus. »Wir hätten die Ausschreibung gewinnen können. Unser Entwurf war mit Abstand der beste, aber Lerchfeld, dieser Vollidiot …«
Carla richtete sich auf. »O nein. Sag, dass es nicht wahr ist. Es tut mir so leid.«
Jule hob die Schultern, ging in die Küche, Carla hörte sie am Kühlschrank hantieren, dann kam sie mit zwei Flaschen Bier zurück und ließ sich in den Sessel gegenüber fallen. »Das Konzept ist genial, und alle wissen es. Es ist Lerchfelds beschissener Ruf, der uns alles kaputt macht.«
Sie tranken aus der Flasche.
»Kann ich dich irgendwie aufmuntern?«
Jule rang sich noch ein Lächeln ab. »Was hast du da auf dem Herd? Das riecht unglaublich lecker.«
»Ein Stew aus Kichererbsen mit Koriander, etwas Zimt und Couscous. Und zum Dessert ein Parfait von Limetten und Papaya.«
»Das hört sich traumhaft an.«
Wenig später saßen sie am Esstisch in der Küche. Carla freute sich, mit welchem Genuss Jule aß. Sie war schlank, fast schlaksig, und konnte futtern, so viel sie wollte, ohne zuzunehmen, worum Carla sie glühend beneidete.
Sie nahm einen Schluck Bier. »Heute Vormittag hat Ellen angerufen.«
Jule sah sie überrascht an. »Die gibt es auch noch? Was wollte sie?«
»Dass ich nach Berlin komme. Sie muss mit mir reden.«
»Worüber denn?«
»Sie wollte es mir am Telefon nicht sagen. Sie klang irgendwie verzweifelt.«
Jule hob die Augenbrauen. »Ellen? Bist du sicher, dass sie es war? Hat sie irgendeinen Architekturpreis nicht bekommen, oder was?«
Carla legte die Gabel auf den Tellerrand. »Nein, es klang nach einem ernsten Problem. Da läuft irgendwas schief bei ihr. Ich überlege, ob ich hinfahre.«
»Aber Madame hat’s nicht nötig herzukommen, wenn hier jemand Probleme hat.«
Carla zuckte mit den Schultern. »Ich bin ja auch nicht begeistert. Aber Sorgen mach ich mir schon. Ich dachte, ich rede mal mit Hauke.«
»Du hast ewig nicht freigenommen. Hauke kriegt das schon hin.«
»Ja, glaube ich auch.« Carla stocherte mit der Gabel in ihrem Essen herum.
Jule betrachtete sie aufmerksam, nahm sich noch eine Portion von dem Stew. »Aber du hast Angst, stimmt’s?«
Carla nickte zögernd. »Einfach so losfahren. Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht absichern. Im Bahnhof, im Zug. Woher weiß ich, dass …«
»Dass er dich nicht verfolgt? Ich bitte dich, das ist doch Quatsch.« Jule verzog den Mund. »Mal gesetzt den Fall, es gibt ihn überhaupt noch, aber da er dich seit Wochen in Ruhe lässt, ist das höchst unwahrscheinlich … also, selbst wenn, dann kann er doch nicht wissen, dass du wegfährst, und schon gar nicht, wohin. Berlin ist riesig und total anonym. Wenn du dir irgendwo keine Sorgen machen musst, dann dort.«
Da war sie wieder, die Ungeduld in Jules Blick. Für sie war der Spuk vorbei. Carla nahm ihren Teller und stellte ihn auf die Spüle.
»Schaffst du dein Stew nicht mehr?«
»Ist längst kalt.«
Jule aß die Reste von Carlas Portion im Stehen. »Das ist viel zu gut, um es wegzuwerfen.«
»Vielleicht hast du recht mit Berlin.« Carla sah auf die Uhr. Es war halb neun, sie sollte Hauke jetzt endlich anrufen. Ellen wartete auf ihre Antwort.
Jule sah sie an. »Fahr hin. Kümmer dich um Ellen. Und mach es auch für dich selbst.«
Carla nickte. Es war Anfang Januar, und das Jahr begann so gut und hoffnungsvoll. Es war wirklich Zeit für einen Neuanfang in ihrem Leben.
2
Es war am Nachmittag des nächsten Tages, als ein Taxi Carla durch eine Straße mit klassischen Berliner Bürgerhäusern fuhr und vor einem imposanten Glasbau hielt, der in eine Lücke in der Häuserzeile eingepasst worden war. Riesige Panoramafenster, silbern schimmernde Stahlträger, strenge Geometrie. Dennoch wirkte das Gebäude luftig und leicht und fügte sich als harmonischer Baustein in die Straßenbebauung ein. Carla hatte keine Ahnung von Architektur, aber hier hatte Ellen eindeutig einen guten Job gemacht.
Sie zahlte und stieg aus. Die Straße war nur auf einer Seite bebaut, auf der anderen grenzte sie an einen kleinen Park mit Bänken und einem Spielplatz, der jetzt trostlos wirkte mit seinen verlassenen Spielgeräten unter kahlen Bäumen. Carla blickte noch einmal an der Glasfassade des Gebäudes hoch, in der sich die blasse Wintersonne spiegelte. Sie trat zur Haustür. Ein Kameraauge war auf sie gerichtet. Fünf Klingeln mit Nummern, aber keine Namensschilder. Wie besprochen, schickte sie Ellen eine WhatsApp. Bin vor dem Haus.
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ihre Halbschwester stand vor ihr. Sie umarmten sich. Verändert hatte sich Ellen in den eineinhalb Jahren kaum. Sie trug einen Hosenanzug und Stiefel mit hohen Absätzen, die ihre große schlanke Figur betonten. Das dunkelbraune, kräftige Haar, das sie beide von ihrem Vater geerbt hatten, fiel auch bei ihr noch immer bis auf die Schultern. Ellens Haut schimmerte makellos unter einem perfekten Make-up.
»Danke, dass du so schnell gekommen bist. Wie war die Fahrt?« Sie wirkte souverän, von der Panik am Telefon spürte Carla nichts.
»Hat alles prima geklappt.« Das war nicht einmal gelogen. Sowohl auf dem Gleis als auch im Zugabteil waren nur wenige Menschen gewesen, und Carla hatte kein ungutes Gefühl verspürt.
Ellen führte sie in die Eingangshalle, einen hohen Raum aus grauem Waschbeton, kühl, minimalistisch und elegant. Sie blieb aber nach ein paar Schritten stehen. »Weißt du was, ich überlege gerade … wir sollten vielleicht direkt etwas essen gehen.«
Carla sah sie erstaunt an. »Jetzt, am Nachmittag?«
»Du wirst doch sicher hungrig sein. Ich bring nur rasch deinen Koffer nach oben. Dann können wir gleich los.«
»Soll ich nicht erst mal mit raufkommen?
»Ich würde gern so schnell es geht mit dir reden. Nachher zeige ich dir hier alles in Ruhe.« Ellen rang sich ein Lächeln ab. »Ich lade dich in ein besonders gutes Restaurant ein, okay?«
Carla hob nur die Schultern. »Gut, wenn du meinst.«
Ellen nahm ihr den Rollkoffer ab, hielt ihr Smartphone in die Nähe eines runden schwarzen Feldes und drückte einen Button auf dem Display. Carla hörte, wie sich der Aufzug in Bewegung setzte.
»Wie funktioniert denn das?«
»Das Handy sendet per Funk einen Code an ein Terminal. Das sicherste Einlasssystem, das es derzeit gibt. Auch alle Türen hier lassen sich so öffnen und verschließen. Und der Aufzug weiß sogar, in welche Etage du möchtest. Es ist so wie in modernen Hotels, dasselbe Prinzip. Du musst dir nur die App runterladen, und ich schicke dir deinen persönlichen Zugangscode aufs Handy. Bin gleich zurück!«
Die Kabine öffnete sich. Ellen fuhr nach oben.
Während Carla wartete, blickte sie sich in der Halle um. Über ihr, in der hohen Decke waren unzählige Strahler eingelassen, es wirkte wie ein Sternenhimmel.
Etwas fehlt, dachte Carla unwillkürlich. Geräusche. Wie konnte ein bewohntes Haus so still sein? Dann plötzlich wusste sie, was sie noch merkwürdiger fand: Es fehlten auch Gerüche. Das Haus roch nicht neu, nicht alt, nicht nach den Menschen, die hier wohnten.
Carla dachte an ihr Reethaus, das nach feuchtem Holz roch, nach dem Essen, das sie gerade kochte, manchmal auch nach frisch gewaschener Wäsche oder nach kalter Asche im Kamin.
Wieder saß sie in einem Taxi. »Ich zeige dir etwas Besonderes«, hatte Ellen verkündet. Die Sonne war verschwunden, Berlin sah grau, nasskalt und ungemütlich aus, und Carla verlor ziemlich schnell die Orientierung, durch welchen Stadtteil sie gerade fuhren. In direkter Umgebung von Ellens Wohnung hatte sie einige Restaurants gesehen. Warum waren sie nicht einfach dorthin gegangen?
Ellen wirkte unruhig, alle paar Sekunden blickte sie sich um. Carla zwang sich, sich nicht anstecken zu lassen.
Endlich hielt der Fahrer. Die Häuser in der Straße besaßen prachtvoll verzierte Stuckfassaden. In jedem zweiten Gebäude befand sich ein Lokal. Ellen führte sie in ein japanisches Restaurant mit grasgrün gestrichenen Wänden, einem Boden aus schwarzen Steinplatten und dunklen, edlen Holztischen. Es war fast jeder Platz besetzt. Das Publikum war jung und leger gekleidet, Carla tippte auf eine Mischung aus Studenten und Touristen. Eine Kellnerin führte sie an einen winzigen Zweiertisch, nebenan unterhielt sich eine größere Gruppe lautstark auf Spanisch. Alle Geräusche hallten von den kahlen Wänden und dem nackten Boden wider. Warum hatte Ellen dieses Restaurant ausgesucht? Carla fand es extrem ungemütlich, hier musste man sich ja anbrüllen, um sich zu unterhalten.
Ellen nahm sofort einen Platz mit Blick auf die Tür, hängte ihren Mantel über die Stuhllehne. Ihre Nervosität überstrahlte alles, sie behielt immer den Eingang im Auge. Sie ließ Carla aus der Speisekarte aussuchen. Als die Kellnerin kam, orderte sie selbst nur einen Weißwein.
»Du isst gar nichts?«
»Ich … nein, vielleicht später.«
»Ellen, ich hab mich dir zuliebe sofort in den Zug gesetzt. Warum wolltest du, dass ich komme? Worüber willst du mit mir reden?«
Ellen warf den spanischen Touristen, die nun laut durcheinanderriefen und lachten, einen genervten Blick zu. »Meine Güte, die haben Temperament.«
»Es ist sowieso furchtbar laut«, sagte Carla.
Ellen sah sie an, und Carla erkannte die Angst in ihren Augen. »Wir sind nicht zufällig hier. Ich muss sicher sein, dass wir nicht … dass ich ungestört mit dir reden kann.«
»Was meinst du? Denkst du, dass uns jemand belauschen könnte?« Der Einwand war bei dem Lärmpegel geradezu lächerlich.
»Ich habe etwas rausgefunden über jemanden. Derjenige weiß nicht, dass ich sein Geheimnis kenne. Sonst würde er mich umbringen.«
»Was?« Carla sah sie erschrocken an. »Bist du schon zur Polizei gegangen?«
»Sie könnten mich nicht schützen. Und was sollten sie auch unternehmen? Ich habe keine Beweise. Das ist ja das Furchtbare. Ich habe nichts in der Hand.«
Carla versuchte, Ellens Worte zu verarbeiten, doch sie klangen wirr und verrückt für sie. »Aber … wie kann ich dir denn helfen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich das wüsste. Ich habe lange gezögert, dich anzurufen. Aber ich halte es allein nicht mehr aus.« Sie unterbrach sich, weil die Kellnerin mit den Getränken kam. Dann fuhr sie fort: »Ich muss einfach mit jemandem sprechen, dem ich vertrauen kann. Aber wenn ich dich da hineinziehe, kann es gefährlich für dich werden.«
Carla schwankte zwischen ihrer Sorge um Ellen und ihrer eigenen, aufkeimenden Angst. Was konnte ihr passieren, wenn Ellen sie in dieses Geheimnis einweihte? Wollte sie überhaupt Bescheid wissen? Aber sie ertrug es nicht, Ellen so leiden zu sehen.
»Du kannst mir vertrauen. Erzähl es mir.«
»Carla …« Sie senkte die Stimme, sodass Carla sich anstrengen musste, sie überhaupt zu verstehen. »Falls mir etwas zustoßen sollte, dann glaub nicht, dass es ein Unfall war. Kümmere dich um das Haus. Sprich mit den anderen im Safe Haven. Aber pass auf mit …« Ihr Handy meldete sich mit einem schrillen Ton, Ellen kramte in ihrer Handtasche, fand es nicht. Ein Brief fiel heraus auf den Boden. Carla hob ihn auf. In einer schönen geschwungenen Handschrift waren die Initialen C.B. darauf geschrieben.
»Gib mir den.« Ellen schnappte Carla den Umschlag weg und stopfte ihn in die Tasche zurück, und endlich fand sie dort das Handy. Als sie auf das Display blickte, entspannten sich ihre Gesichtszüge. Fast schien sie zu lächeln. Auch Carla hatte dort kurz einen Namen aufleuchten sehen. Albert? Sie war sich nicht sicher.
»Da muss ich drangehen.« Ellen meldete sich und lauschte dann mit konzentriertem Gesichtsausdruck. Sie sagte etwas ins Telefon, das wie »Warte mal!« klang, stand auf, hängte sich die Tasche über die Schulter.
»Bitte entschuldige. Ist zu laut hier«, sagte sie zu Carla und sah sich suchend um. Sie lief ein paar Schritte, blickte durch ein Fenster nach draußen, kam zurück, nahm ihren Mantel von der Stuhllehne und öffnete dann eine Tür, die auf einen Innenhof hinausführte. Es schneite. Carla sah gerade noch, wie Ellen sich den Mantel über die Schultern warf und die Arme vor der Brust kreuzte, um sich vor der eisigen Luft draußen zu schützen. Die tanzenden Schneeflocken verfingen sich in ihrem dunklen Haar und verschwanden darin. Dann fiel die Tür zu.
Carla nippte an ihrem Wein, schob das Glas dann aber weg. Was sie nun vor allem brauchte, war einen klaren Kopf. Hatte Ellen sie vor jemandem warnen wollen? Vor jemandem, der im Safe Haven lebte?
Die Spanier zahlten ihre Rechnung, indem jeder einen Geldschein in die Mitte des Tisches warf. Carla sah ihnen ungeduldig zu, wie sie sich furchtbar umständlich und chaotisch mit ihren Steppjacken und Mänteln gegen den Winter draußen wappneten und dann, immer noch lachend und lärmend, verschwanden.
Ohne die Gruppe war es schon deutlich stiller. Die Kellnerin brachte die Sushis, die Farben waren eine Pracht: Weiß, Grün und Orange. Carla wollte auf Ellen warten, vielleicht hatte sie ja nun doch Appetit. Wann kam sie endlich zurück? Carla blickte immer wieder zur Tür in den Innenhof. Ellen hielt es schon sehr lange in der Kälte aus. Carla sah auf die Uhr. Seit wann war sie eigentlich weg?
Sie stand auf und schaute durch ein Fenster nach draußen, konnte jedoch kaum etwas erkennen. Der Schnee war noch dichter geworden. Sie machte die Tür auf und sah hinaus. Leer.
Carla lief ein paar Schritte in den wirbelnden Schnee. Ringsum Mauern, kein Ausgang. Da war niemand im Hof. Keine Ellen.
Die Hofmauern waren dicht mit Kletterpflanzen überwuchert, die jetzt, ohne Blätter, nur ein graues Wirrwarr bildeten. Dann entdeckte Carla eine Tür, unscheinbar, von den herabhängenden Knöterichzweigen fast verdeckt. Ein verblasstes Notausgangsschild. Sie drückte die Klinke herunter, sie ließ sich öffnen. Sie trat hindurch und stand im benachbarten Hof, der offenbar zu einem reinen Wohngebäude gehörte. Zwei große, überdachte und gut genutzte Fahrradständer, ein Areal mit Mülltonnen. Carla blickte in jede Ecke, hinter jeden Vorsprung. Eine breite Tordurchfahrt öffnete sich. Carla ging hindurch und stand auf der Straße, an der das Restaurant lag. Passanten liefen an ihr vorbei, die Gesichter unter Kapuzen oder hinter dicken Schals verborgen. Keine Spur von Ellen.
Sie betrat erneut das Lokal, setzte sich zurück an ihren Platz und wählte Ellens Handynummer. Die Mailbox sprang an. »Wo bist du? Soll ich im Restaurant warten? Bitte melde dich.«
Die Kellnerin kam vorbei, warf einen fragenden Blick auf die Sushis, die unberührt auf dem Tisch standen.
»Sie können alles mitnehmen«, sagte Carla. »Und ich möchte zahlen.«
Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ellen erzählt ihr, dass jemand imstande wäre, sie umzubringen, und im nächsten Moment verschwindet sie einfach? War Ellen in eine Falle gelockt worden? Hatte man sie mit Gewalt dazu gezwungen, den Hof zu verlassen?
Sollte Carla zur Polizei gehen? Doch was konnte sie da erzählen? Etwas von einem ominösen Geheimnis, das Ellen aufgedeckt hatte?
Und Ellens Gesichtsausdruck hatte bei dem Anruf nicht nach Panik oder Problemen ausgesehen, im Gegenteil, sie hatte erfreut gewirkt. Erleichtert. Vielleicht gab es ja doch eine ganz andere Erklärung für ihr Verschwinden. Was, wenn sie dringend zu einem ihrer Projekte gerufen worden war? Eine Frage auf einer Baustelle? Und sie hatte keine Zeit mehr gehabt, Carla Bescheid zu sagen, würde sich aber in Kürze melden?
Sie zahlte und checkte ihre Nachrichten auf dem Handy. Nichts. Sie wählte erneut Ellens Nummer. Wieder nur die Mailbox. »Ich mach mir Sorgen. Was ist los? Wo bist du? Melde dich doch bitte!« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Ich fahre jetzt zurück zu deiner Wohnung.«
Carla stand vor der gläsernen Front des Safe Haven. In der Dämmerung wirkte das Gebäude abweisend, kein Tageslicht spiegelte sich mehr in den Fenstern, und im Inneren schien alles noch dunkel zu sein. Neben der Tür befand sich, unauffällig in die Mauer eingelassen, ein schwarzes Feld wie das am Aufzug. Sie rief die App mit dem Zugangscode auf, den Ellen ihr geschickt hatte, aber das Display sah anders aus als bei Ellen. Da war kein Button. Es hatte wieder begonnen zu schneien, und sie hatte Mühe, ihr Smartphone vor den nassen Flocken zu schützen. Nicht gerade der günstigste Ort, um irgendwelche Apps neu zu installieren. In einem normalen Haus hätte sie irgendwo bei den Nachbarn läuten können, aber hier traute sie sich nicht. Ach was, in einem normalen Haus hätte sie einfach einen Schlüssel benutzt.
Sie steckte ihre Hände kurz in die Manteltaschen, um sie zu wärmen. Dort fühlte sie ihren eigenen Schlüsselbund. Sie stellte sich vor, ihre Tür unter den Fachwerkbalken aufzuschließen, in den vertrauten kleinen Flur zu treten. Stattdessen stand sie hier frierend auf der Straße. Windböen wehten ihr Schnee ins Gesicht. Plötzlich wurde die Haustür aufgerissen. Eine Jugendliche, ganz in Schwarz gekleidet, kam herausgestürmt, und Carla musste schnell zur Seite ausweichen. Sie trug einen bodenlangen, für die eisigen Temperaturen viel zu dünnen Mantel, die Kapuze lag dekorativ auf ihrem hennarot gefärbten Haar, das ihr blasses Gesicht einrahmte. Sie sah Carla nicht mal an. Hatte das Mädchen sie überhaupt wahrgenommen? Mit schnellen Schritten lief es die Straße hinunter. Carla hatte geistesgegenwärtig mit ihrem Arm die Haustür aufgehalten. Sie trat ein, wischte über ihr nasses Gesicht. Während sie die Halle durchquerte, putzte sie ihr Handy an ihrer Hose trocken, öffnete die Seite mit dem Code erneut. Sie hielt das Gerät näher an das Feld neben dem Aufzug. Nichts tat sich. Hätte Ellen es ihr doch nur richtig gezeigt!
Gerade als sie nach der Tür zu einem Treppenhaus Ausschau halten wollte, erklang ein Surren, der Aufzug fuhr. Carla blickte auf ihr Handy. Na bitte! Sie hatte es doch geschafft.
Die Kabine hielt im Erdgeschoss. Als sich die Tür öffnete, sah sie, dass jemand anderes sie in Gang gesetzt hatte. Ein älterer Mann trat heraus, Carla schätzte ihn Anfang sechzig. Er war mittelgroß, seinen gedrungenen Körper hüllte ein schwarzer Wollmantel ein. Sein Haar war lockig, ehemals bestimmt dunkel, nun aber von silberweißen Strähnen durchzogen. Feine Lachfältchen umgaben seine warmen, braunen Augen. Als er nun auf sie zukam, sah sie, dass er einen Gehstock benutzte und ein Bein leicht nachzog.
»Ah, wir haben einen Gast? Guten Tag.« Er hatte eine tiefe Stimme.
»Guten Tag.«
Statt weiterzugehen, sah er Carla mit einem freundlichen Lächeln an. »Bei wem sind Sie denn zu Besuch?«
»Bei Frau Brendel.«
»Bei Ellen? Wie schön! Dann willkommen.«
Carla wunderte sich, sie hatte hier nicht mit einer engeren Hausgemeinschaft gerechnet.
»Ich bin übrigens Milan Wagner.«
Sie nahm die Hand, die er ihr schwungvoll entgegenstreckte, und schüttelte sie. »Carla Brendel.«
»Lassen Sie mich raten, Sie sind ihre Schwester?«
»Genau.«
»Freut mich sehr. Sie hat von Ihnen erzählt. Und? Hat sie Ihnen schon das Haus gezeigt? Unser Schmuckstück.«
»Nein, sie … Wir sind noch gar nicht dazugekommen.«
»Sie werden staunen. Und? Wo steckt Ellen? Noch bei der Arbeit?«
»Ja, sie hatte noch zu tun«, gab Carla vage zurück. Er wirkte sympathisch, und er schien Ellen sogar besser zu kennen, doch ihr Verschwinden erschien Carla zu merkwürdig, um ihn in ihre Sorge einzuweihen.
»Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag. Und grüßen Sie Ellen.« Er wandte sich zum Gehen.
»Ach, bitte entschuldigen Sie, Ellen hat mir einen Zugangscode für das Haus geschickt, aber irgendetwas muss ich wohl falsch machen, denn er funktioniert nicht.«
»Zeigen Sie mal?«
Sie gab ihm ihr Smartphone.
»Ah, ich sehe schon … Sie haben zwar den Code bekommen, aber die App noch nicht installiert. Warten Sie, das geht ganz schnell.« Er tippte auf ihrem Display herum, zeigte ihr dann den Button, den sie auch auf Ellens Handy gesehen hatte. »Versuchen Sie es jetzt bitte noch mal.«
Carla berührte mit dem Finger den hellgrünen Kreis und der Aufzug öffnete sich gleich darauf. »Danke, Sie haben mich gerettet.«
»Gern geschehen. Ich bringe Sie trotzdem kurz nach oben – zur Sicherheit.«
Sie fuhren zusammen in die zweite Etage. Auch Ellens Tür ließ sich nun problemlos öffnen. Carla dankte ihm erneut.
Er lächelte. »Wenn irgendetwas sein sollte, kommen Sie zu mir. Ich wohne ganz in der Nähe.« Er zeigte auf die Tür am anderen Ende des Flurs.
Carla war froh, ihn getroffen zu haben. Die Begegnung hatte sie ein bisschen beruhigt.
Sie betrat das Apartment, und mehrere Lampen wurden hell, obwohl sie keinen Schalter betätigt hatte. Es schien aus einem einzigen Raum mit riesiger Fensterfront bis auf den Boden zu bestehen. Eine fast unnatürliche Stille herrschte auch hier. Die Glasscheiben mussten mit einer besonderen Lärmdämmung versehen sein, von draußen drang kaum ein Laut herein.
Direkt neben der Tür stand ihr Koffer. Sie zog ihre Stiefel aus, stellte sie daneben, lief über den hellen Wollteppich und blickte hinaus. Ein weiter Blick, über den Park hinweg, über Häuserzeilen bis zum Fernsehturm im Hintergrund, der im Takt rot blinkte.
Bevor sie sich umsah, musste sie zuerst in Ellens Firma anrufen. Carla fand die Telefonnummer im Internet und fragte nach Ellen, aber die Sekretärin konnte ihr nicht weiterhelfen. Frau Brendel habe sich am Nachmittag für den Rest des Tages verabschiedet, sie erwarte privaten Besuch. Carla hinterließ ihre Handynummer, nahm der Mitarbeiterin das Versprechen ab, sofort Bescheid zu geben, sobald ihre Halbschwester sich melden würde.
Carla steckte das Handy in ihre Hosentasche, um ja nicht ein Klingelgeräusch zu verpassen. Aber vielleicht hielt Ellen es gar nicht für wichtig, irgendwem Bescheid zu geben? Vielleicht war es ihr einfach egal, dass andere Menschen sich Sorgen um sie machten? Carlas alter Groll lebte wieder auf. Auch früher war Ellen oft rücksichtslos gewesen. Vielleicht sollte Carla einfach ihren Koffer nehmen und wieder abreisen.
Doch Ellen war so verändert gewesen. Und dann dieser Satz: Falls mir etwas zustoßen sollte, dann glaub nicht, dass es ein Unfall war.
Carla sah sich in der Wohnung um. Die Möbel passten zu Ellen: modernes Design, elegant, edel. Der Wohnraum ging in eine geräumige Küche über. Auf den Arbeitsflächen lag nicht mal ein Brotkrümel herum. Dafür stapelweise Zeitschriften.
Carla legte ihren Pullover über eine Sessellehne. Es war mehr als gut geheizt hier. Ein Flur führte in den hinteren Teil der Wohnung. Hier lagen zwei Schlafzimmer und ein Badezimmer.
Alles war so aufgeräumt und sauber, dass es fast unbewohnt wirkte. Bestimmt hatte Ellen eine Putzfrau.
Carla ging zurück in die Küche, schaltete die Espressomaschine ein, warf einen Blick in den Kühlschrank. Eine abgepackte Salatmischung, Joghurt, Diätmargarine.
Sie betrachtete Ellens Zeitschriften. Es waren Architekturmagazine aus mehreren Ländern. Carla zog wahllos ein paar Ausgaben hervor. Auf einem Cover war ein Gebäude mit Glasfront abgebildet. Eine spanische Überschrift, darunter stand Berlin. Es war das Safe Haven. Sie blätterte, fand den Bericht und entdeckte auch gleich ein Foto von Ellen. Sie lächelte souverän und entspannt in die Kamera. Im Hintergrund wieder das Gebäude, in dessen Fenstern sich die Sonne spiegelte.
Carla konnte nur ein paar Brocken Spanisch, sie verstand nicht, warum das Safe Haven hervorgehoben wurde. Doch dann las sie Premio de Arquitectura. Ihr Entwurf hatte also einen Preis gewonnen.
Sie machte sich einen Espresso, lief mit der Tasse in der Hand herum, zu unruhig, um sich zu setzen.
Sie sah sich die Schlafzimmer näher an: Im ersten taubenblaue Wände, viel dunkles Holz, ein französisches Bett mit blaugrau gemusterter Tagesdecke. Kein persönlicher Gegenstand. Vielleicht ein Gästezimmer?
Das zweite Schlafzimmer war hell gestrichen, die Bezüge auf dem Bett anthrazit und aus edel verknittertem Leinen. Kissen in abgestuften Grautönen und über dem Fußende eine knallige Wolldecke, ein tomatenroter Farbakzent. Über einem Stuhl aus Stahlrohren hing eine Strickjacke. Na, so eine Unordnung, dachte Carla unwillkürlich und musste grinsen.
Was für eine Inszenierung war das hier? Und für wen? Wollte Ellen sie beeindrucken? Oder machte sie immer direkt nach dem Aufstehen so aufwendig ihr Bett, dass es aussah wie aus einem Wohnmagazin? Und das, obwohl sie hier allein lebte? Das alles wirkte so … irreal. Schlief Ellen überhaupt hier? Oder hatte sie einen Freund, bei dem sie überwiegend wohnte? Und hier kam nur ab und zu die Putzfrau vorbei?
Carla setzte sich auf die Bettkante und strich mit der Hand über die weiche rote Decke. Ihre Unruhe wuchs.
Sie rief Jule an und erzählte ihr, was passiert war.
»Klemm dich an die Sekretärin«, riet diese ihr. »Irgendwann wird sie sich da oder bei dir ja melden.«
Doch in Ellens Firma gab es keine Neuigkeiten. Carla fragte nach weiteren Telefonnummern. Gab es enge Freunde, Freundinnen, einen Partner? Sie bekam mehrere Nummern, allerdings nur berufliche, von Bauleitern und einem persönlichen Assistenten. Über Ellens Privatleben schien die Sekretärin nichts zu wissen.
Carlas Unbehagen steigerte sich mit jeder Sekunde. Sie setzte sich an den Schreibtisch vor die Panoramaglasfront im Wohnzimmer und rief die Mitarbeiter nacheinander an. Sie bekam überall die gleiche Auskunft. Ellen hatte sich für den Rest des Tages verabschiedet und wollte nicht gestört werden.
3
Die roten Lichter des Fernsehturms blinkten in gleichmäßigem Rhythmus durch die Dunkelheit. Vereinzelte erleuchtete Vierecke im grauen Häusermeer, die Fenster der nächtlichen Frühaufsteher. Oder der Schlaflosen.
Carla hockte im Sessel, hatte die Beine an den Körper gezogen und wärmte sich mit der roten Wolldecke.
Mitten in der Nacht hatte ein Geräusch sie geweckt und im Bett hochschrecken lassen. War eine Tür gegangen? Kam Ellen zurück? Sie hatte sich getäuscht, da war niemand. Sie lauschte noch lange in die Stille, an Schlaf war nicht zu denken. Und auch jetzt, am frühen Morgen, gab es keine Spur von Ellen, keine Nachricht, nichts.
Carla zog sich an, trank auf die Schnelle einen Espresso, während sie sich im Internet informierte, wo die nächste Polizeiwache lag. Sie war nur ein paar Ecken entfernt, zu Fuß erreichbar. Erst kurz vor dem Gebäude wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht ein einziges Mal umgewandt hatte. Der Gedanke, jemand könnte sie verfolgen, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Das erste Mal seit wie vielen Wochen? Sie hatte, seit sie in Berlin war, nicht an den Stalker gedacht. Sie war so sehr mit dem Verschwinden ihrer Halbschwester beschäftigt, dass sie ihn vergessen hatte. Wenigstens das war erfreulich.
Sie betrat die mit Neonleuchten erhellte Wache. An den Wänden in schmuddeligem Beige hingen Fahndungsfotos und Warnhinweise. Ein Tresen trennte Carla von zwei Polizeibeamten in Uniform, die an ihren Computern saßen. Einer stand auf und trat zu ihr.
Sie schilderte Ellens Verschwinden und ihre Sorge, ihr sei vielleicht etwas zugestoßen. Auf den Einwand des Beamten, ein erwachsener Mensch könne sich frei bewegen, ohne jemandem Rechenschaft schuldig zu sein, war sie vorbereitet. Sie berichtete von Ellens Nervosität. Von der Bemerkung, sie habe ein Geheimnis aufgedeckt und fürchte nun um ihr Leben.
Carla konnte in den Gesichtern der Polizisten nicht erkennen, ob ihre Worte sie in irgendeiner Weise beeindruckten. Auf jeden Fall wurde eine Vermisstenanzeige aufgenommen, Ellens und ihre Daten notiert. Unternehmen könne man in der Sache allerdings vorerst nichts. Carla solle Bescheid geben, wenn ihre Halbschwester sich binnen der nächsten achtundvierzig Stunden nicht gemeldet habe.
Unschlüssig stand sie wieder auf der Straße, eingehüllt in weiße Atemwolken. In der Nähe lag ein Café, sie war vorhin daran vorbeigelaufen. Erstaunt sah sie jetzt, dass es schon geöffnet hatte. Sie brauchte dringend einen Kaffee.
In dem kleinen Raum war es nicht viel wärmer als draußen. Eine junge Frau hantierte hinter dem Tresen herum. Carla bestellte, wählte dann Jules Nummer. Sie erreichte sie noch zu Hause.
Jule klang aufgedreht, ihre Stimme sprudelte aus der Leitung. »Ich habe nachgedacht, die ganze Nacht. Warum soll ich ausbaden, was Lerchfeld uns einbrockt mit seiner Unfähigkeit? Ich schmeiß ihm die Brocken hin!«
»Richtig so«, sagte Carla. »Du hast das lange genug mitgemacht.«
»Am liebsten würde ich ihm gleich heute meine Kündigung auf den Tisch knallen.«
»Keine spontanen Aktionen. Sondier erst mal, wie die Lage auf dem Arbeitsmarkt so aussieht. Führ ein paar Vorstellungsgespräche. Du wirst mindestens nach Hamburg pendeln müssen.«
Wenn Jule in Hamburg arbeitete, würden sie sich viel seltener sehen. Und wenn ihr ein Traumjob in Kiel oder noch weiter weg angeboten wurde? Wenn sie aus Stade wegzog? Carlas Kehle wurde eng. Sie hatte Jule so sehr gebraucht in den letzten Monaten. Ihre Freundin hatte ihr eigenes Privatleben zurückgestellt, um Carla beizustehen. Sie war fast täglich vorbeigekommen. Das konnte Carla nicht auf Dauer erwarten. Sie musste ihr Leben auch allein wieder in den Griff bekommen.
»Du hast recht«, sagte Jule gerade. »Ich gehe ganz strategisch vor.« Sie kicherte. »Aber ab sofort denke ich mir meinen Teil, wenn ich mir Lerchfelds Schwachsinn anhören muss. Nämlich: Bald bin ich dich los, du Loser! Aber sag mal, was ist mit Ellen, ist sie aufgetaucht?«
»Nein, immer noch verschwunden.« Carla berichtete ihr von ihren vergeblichen Versuchen, Ellen zu erreichen. »Gerade war ich bei der Polizei. Bis übermorgen unternehmen sie aber nichts.«
»Und was willst du jetzt machen?«
»Ich bleibe erst mal hier. In ihrer Wohnung.« Sie zögerte, aber der Gedanke hatte sich längst in ihrem Kopf eingenistet: »Inzwischen glaube ich, sie hätte sich längst gemeldet, wenn sie könnte.«
* * *
Endlich hatte es aufgehört zu schneien. Die Sitzbank in dem kleinen Park vor Ellens Haus war bedeckt von einer glitzernden weißen Haube. Carla fegte sie weg und setzte sich. Sie betrachtete das Haus. Bei Tageslicht wirkte es unbewohnt, durch die Fenster war nichts zu erkennen. Ob Ellen gern hier lebte? Ob sie glücklich war? Wie wenig sie von ihrer Halbschwester wusste!
Sie ging hinein. Die Eingangshalle war leer, kühl und still. Als sie die Wohnungstür öffnete, wallte ihr Wärme entgegen. Sie musste die Heizung herunterdrehen. Sie zog die Schuhe aus und sah sich im Wohnzimmer um. Es gab keine Heizkörper, jedenfalls keine sichtbaren. Auch nicht in den Zimmern. Also der Fußboden? Vermutlich war in so einem modernen Gebäude alles computergesteuert. Auf dem Esstisch stand Ellens Notebook. Carla klappte den Deckel hoch. Das Eingabefeld für das Passwort erschien. Sie bewegte den Cursor darauf.
Margot, gab sie ein. Den Namen von Ellens Mutter. Sie war mit der dreijährigen Ellen nach München gezogen, nachdem ihre Ehe zerbrochen war. Carla versuchte es noch einmal in der Kombination mit Margots Geburtsdatum. Wieder nichts.
Klaus … Sie gab den Namen ihres gemeinsamen Vaters ein, gepaart mit verschiedenen Jahreszahlen. Ungültig. Sie klappte den Deckel des Notebooks zu. Es war sinnlos.
Ihr fiel der Brief ein, der in Ellens Handtasche gesteckt hatte. Wer schrieb im Zeitalter der E-Mails und WhatsApp-Nachrichten noch Briefe? Zu ihrer Halbschwester passte das überhaupt nicht. Vielleicht ein Liebesbrief? War sie mit jemandem zusammen? C.B., die Initialen auf dem Umschlag. Als Passwort gab das allerdings auch nichts her.
Ihre Müdigkeit wurde stärker, aber der Gedanke, sich hinzulegen, kam ihr absurd vor. Sie würde sowieso nicht schlafen können.
Fünf Minuten später stand sie vor Milan Wagners Apartment auf demselben Flur. Etwas so ungemein Praktisches wie eine Klingel gab es hier nicht, dafür einen Türspion. Zaghaft klopfte Carla. Wartete. Kein Geräusch drang aus der Wohnung. Sie klopfte kräftiger.
»Moment!«, hörte sie ihn rufen.
Er öffnete in einem weinroten Hausmantel mit Satinkragen. Darunter trug er ein schwarzes Hemd und eine dunkle Hose.
»Entschuldigung. Störe ich?«
»Aber nein. Wie kann ich Ihnen helfen?«