Das Schicksal der Fluchträger - Philipp C. Niklas - E-Book

Das Schicksal der Fluchträger E-Book

Philipp C. Niklas

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Beschreibung

»Studio Ghibli« trifft auf »Game of Thrones« in dieser düster-epischen High-Fantasy-Saga! Errion, die westlichen Küstenlande des Heiligen Einigen Reiches von Líohim, im Jahr 1877 n. L.: Drei Jahre nach dem rätselhaften Tod des alten Großkaisers machen die Freunde Fionn und Kellen einen seltsamen Fund: Unter den Planken eines auf Grund gelaufenen Einmasters stoßen sie auf ein antik anmutendes Schwert, schwarz wie Schatten. Fionn fühlt sich unwiderstehlich davon angezogen, aber als er es berührt, durchfahren ihn schreckliche Visionen – und mit ihnen die unumstößliche Gewissheit, dass sich sein Schicksal von nun an für immer verändern wird. Bald schon sehen sich die beiden Freunde von einem mächtigen Feind verfolgt, der nicht nur damit droht, ihre Heimat zu zerstören und alles, was Fionn liebt, sondern der es darauf abgesehen hat, die gesamte Menschheit zu vernichten. Ein fesselndes und eindrückliches Abenteuer voll düsterer Geheimnisse, verborgener Magie und unerwarteter Wendungen, in dem moralisch graue Figuren folgenschwere Entscheidungen treffen und bitterste Konsequenzen tragen müssen - Ein Muss für alle Fans düster-epischer High-Fantasy!

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Seitenzahl: 737

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PHILIPP C. NIKLAS

Das Schicksal der Fluchträger

1: Träume & Erinnerungen

 

IMPRESSUM

 

Deutsche Erstausgabe Mai 2024

Copyright © Philipp C. Niklas

 

Alle Rechte, einschließlich die des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks jeglicher Form, sind vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Autors urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

 

Der Autor behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

 

Lektorat & Korrektorat: Claudia Fritzsche

Umschlaggestaltung, Innenlayout & Satz: OH, JA!

Landkarte: © Philipp C. Niklas

Charakter-Illustrationen: Florian R.

Umschlagmotive: Adobe Stock (brillianata; Dmitryi; chernikovatv)

Zusätzliche Motive Landkarte: Adobe Stock (javieruiz; daboost)

Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf

 

ISBN 9783989952980

www.philippcniklas.com

 

 

PHILIPP C. NIKLAS

 

 

Roman

 

LANDKARTE

»Als alles vorbei ist, bin ich alleine.

Stille umgibt mich, lange Zeit. Aus der Stille kommen schließlich die Erinnerungen. Sie umfließen mich und ich lasse sie durch mich hindurchströmen.

Ich kenne diese Erinnerungen. Es sind meine. Doch da sind auch welche, die ich nicht kenne, die ich nie durchlebt habe. Aber auch sie sind mir vertraut, auf eine seltsame Weise. Sie gehörten jenen, die jetzt nicht mehr da sind. Fremden wie Freunden.

Meinen Freunden.

Durch sie sehe ich das Ende, wieder und wieder, viele Male. Und ich sehe, wie alles begann …

… vor so langer Zeit.«

 

 

PROLOG

 

Líohim im Jahr 1874 nach Líhenor in der Nacht der Wintersonnenwende

 

 

DIE NACHT war selbst für Mittwinter ungewöhnlich früh und dunkel über Líohim hereingebrochen. Undurchschaubar war sie, schwer wie die Vorahnung, und ihre Kälte schnitt wie blanker Adamantenstahl durch Stoff, Stahl und Leder von Khons weißer Rüstung.

Der junge Ritter mit dem grauen Haar stand alleine auf seinem Wachposten auf den verschneiten Zinnen des inneren Nordwestturms. Die behandschuhte Rechte fest auf dem Heft seines Langschwertes, sah er der Dunkelheit unvermindert fest in die Augen. Etwas lag darin auf der Lauer, das spürte er tief in sich mit einer Gewissheit, die so grausam war wie die Schwärze der Nacht und ihre Kälte. Und es würde nicht mehr lange dauern, bis es sich offenbarte.

Die Dunkelheit war durch jede noch so dicke Mauer gesickert, hatte alle Konturen der Stadt aufgelöst, alle Lichter verlöscht, Sterne wie Schneeflocken, ja selbst den Schimmer des knochenfahlen Vollmonds. Die Fackel, die Khon auf seinem Wachposten entzünden wollte, hatte sie noch im Keim erstickt.

Khon hatte sie schon am Mittag gewittert, wie ein Wolf den anstehenden Wetterwechsel witterte, und wie ein Wolf war er deswegen den ganzen Tag unruhig über die Mauern geschlichen, die Hand am Stahl, jederzeit bereit, ihn zu ziehen.

Die Dunkelheit dieser Winternacht war die Verdichtung all dessen, was sich in den letzten Wochen in den vom Schneematschverwelkten Gassen von Líohim angesammelt hatte. Gerüchte und Halbwahrheiten, Gemunkel und Getuschel, so unhaltbar und flüchtig wie die Gestalten, die sie erwähnten. Einmal hatte Khon auf seinen Streifgängen durch die Stadt sogar schon jenen unheilvollen Namen gehört.

Amkash …

Es war im Vorbeigehen geschehen, so schnell, dass Khon nicht nachverfolgen konnte, wer das gesagt hatte, oder weshalb. Er hatte nur das eine Wort verstehen könne, flüchtig, fetzenhaft, in der Menge. Aber er hatte es gehört. Erzählt hatte er davon nur dem schlaksigen Peridur und dem alten Farrím. Die hatten das halbherzig als nichts weiter als das übliche Stadtgeschwätz abgetan.

»Hör auf, immer die Teufel an die Wand malen zu wollen«, hatte Peridur gesagt und der alte Farrím ihm geraten, lieber einem guten Wein nachzugehen, statt solchem Unsinn.

Der schmächtige Peridur war im kaiserlichen Palast als Dienstmann von Prinz Markían angestellt. Farrím war der dienstälteste unter den zwölf Mitgliedern der Kaiserwache. Die beiden waren Khon die einzigen Freunde in Líohim. Er mochte sie und vertraute ihnen, aber selbst ihnen hatte er nie die ganze Wahrheit erzählt.

Die Wahrheit …

Sein heiliger Eid, der Grund warum er hier war; er, der mit einundzwanzig Jahren der jüngste Ritter war, den die Kaiserwache je aufgenommen hatte. Jenes schwärzeste aller Geheimnisse, das er tief und noch tiefer in den Katakomben von Líhenor verwahrt hatte und verborgen hielt. Niemand durfte davon wissen, niemand je davon erfahren.

Und so hatte auch niemand außer Khon die schleichende Bangigkeit bemerkt, die sich in den letzten Wochen über Líohim zusammengezogen hatte, und niemand hatte seinen Worten Bedeutung beigemessen, als er dafür plädierte, die Stadttore besser zu bewachen. Im Gegenteil: Als die ersten Dämmerschatten über die Berge im Rücken der Stadt gekrochen waren und Khon von Nervosität gepackt wurde, hatten die anderen aus der Kaiserwache gar über ihn gescherzt.

»Ein Wolf der die Nacht fürchtet! Hat man sowas schon gesehn!«, hatten sie gelacht.

Aber als das undurchdringliche Schwarz kurz darauf den Palast, die Häuser, Mauern, Türme, Kuppeln und den Hafen von Líohim unter sich begraben hatte, mussten sogar sie bemerkt haben, dass etwas anders war als sonst.

Nun legte sich der Schnee auf Khon. Lautlos und dünn wie schüttere Seide bedeckte er Schwert, Rüstung und Umhang und verfing sich in seinen Augenbrauen. Der junge Ritter zog den geölten Stahl ein Stück heraus und rieb ihn, damit er in der Scheide nicht festfror. Dann löste er die Schnallen seines Umhangs und entledigte sich des durchgeweichten schweren Stoffs. Seinen Helm hatte er schon am frühen Nachmittag abgelegt. Er konnte das unhandliche Ding nicht leiden, weil es ihm die Sicht so sehr einengte. Wobei das bei dieser widernatürlichen Finsternis keinen Unterschied gemacht hätte. Im aufkommenden Wind suchten ihn die Worte seines Freundes Peridur erneut mit düsterem Hohn heim.

Ich soll nicht immer die Teufel an die Wand malen.

Dabei waren die Teufel schon längst hier! Diese Dunkelheit war ihr Werk! Und alles, was Khon nun noch tun konnte, war hier auf der Wehr zu stehen und auszuharren, bis sie sich zeigten.

 

Das Schneetreiben wurde strenger, die Flocken scharf wie gefrorene Glasscherben, die aus der Dunkelheit hervorstachen. Jemand kam die Treppe herauf.

Leichte Schritte, aber in Eile.

Fackelschein mühte sich flackernd voraus, dann steckte der Knappe Hollever Fink seinen Lockenkopf durch die Türe.

»Mein Herr Khon, Ihr werdet an den Gemächern von Prinz Markían gebraucht! Es ist dringend!«

»An den Gemächern des Prinzen?« Khons Bartstoppeln knirschten vom Frost. »Weswegen?«

»Ich weiß nicht, mein Herr Khon. Aber Ihr müsst sofort kommen! Der Herr Peridur braucht Eure Hilfe!«

Ausgerechnet bei Peridur hatte es also begonnen, dachte Khon, dem Knaben über die Treppen folgend. Der schmächtige Kerl konnte nichts gegen einen solch übermächtigen Feind ausrichten. Das mussten die Teufel von Amkash gewusst haben. Doch er, Khon, war bereit.

Auf der Treppe warf Hollever Fink einen verstohlenen Blick zu seinem Ritter zurück. Kurz wie ein Funkenschlag war er, aber Khon fing ihn auf. Der Knappe beschleunigte ertappt seine Schritte. Eine düstere Befürchtung überkam Khon.

Seine Worte haben steif geklungen, dachte er. Einstudiert. Aufgetragen. Was, wenn dies … wenn der Junge …

Als hätte die Dunkelheit seine Gedanken belauscht, hallte ein heller Glockenton durch die tiefschwarze Nacht, zart wie von jungem Silber, viel zu rein für eine solche Nacht. Diese Glocken schlugen nicht für die Lebenden, das wusste Khon instinktiv. Fünf Mal ertönten sie. In ihrem Echo quollen Geräusche von überall her im Palast auf.

Schreie. Rufe. Wehklagen.

Der Knappe tat sich schwer, die Glocken und die Geräusche zu ignorieren. Sie hatten das Ende der Treppe erreicht. Auf der letzten Stufe blieb Khon stehen.

»Hollever?«

Der Knappe hielt inne. Seine Fingerknöchel wurden weiß, so sehr klammerte er sich an der Fackel fest.

»Wer hat dich geschickt?«

Hollever Finks zögerliches Schweigen erzitterte unter dem Lärm, der sich nun am Ende des Korridors sammelte. Er kam rasch näher und klarte zum Getrampel schwerer Stiefel, dem Geschepper von Rüstungen und dem Gebell von Hauptmann Belissar auf.

Der Knappe stand mit dem Rücken zu der heranstürmenden Meute.

»Es tut mir leid, Herr Khon! Ich wollt‘s nicht tun! Wirklich nicht! Er hat mich dazu gezwungen!«

Die letzten Worte gingen schon im Lärm der neun Männer unter, die nun hinter ihm auf den Korridor brachen. Drei von ihnen trugen die weißen Rüstungen der Kaiserwache, alle hatten sie Stahl in den Händen und maßlose Abscheu in den Visagen.

»Da ist er!«, bellte Belissar, und Hollever Fink kreischte: »Ich hab ihn belauscht, Hauptmann! Er wollte zu Prinz Markían! Bestimmt wollte er auch ihn umbringen!«

Der Hauptmann funkelte Khon durch die Sehschlitze in seinem Helm an. »Nehmt ihn fest!«

Die Männer stürzten vorwärts, auf Khon im Treppenausstieg zu, und innerhalb eines halben Herzschlags wurde dem jungen Ritter mit dem grauen Haar mit vollkommener Klarheit bewusst, dass ihn jemand an die Teufel von Amkash verraten hatte.

Er riss sein Schwert aus der Scheide. Der Stahl schnitt lautlos durch die Luft und brachte die Männer abrupt auf Abstand.

Khon kannte die drei in den weißen Rüstungen.

Bakkhos, Stylian, Lykas.

Der Rest waren gewöhnliche Nachtwachen. Sie umstellten ihn, griffen aber nicht an. Abneigung und Feindseligkeit schlugen ihm von ihnen allen entgegen, aber auch Skrupel und von einigen sogar … Furcht.

Das ist gut, dachte Khon. Sollen sie mich fürchten! Und er rief: »Es stimmt! Ich habe Valentyn getötet! Und ich werde auch Markían töten! Stellt euch mir in den Weg, und ich werde euch ebenso abschlachten! Ich habe es schon mit Zahlreicheren und Besseren als euch aufgenommen!«

»Niederträchtiges Scheusal!« Der Hauptmann Belissar schob sich zwischen den Männern vor. »Ich habe seiner lichten Gnaden schon einst nach dem Turnier zu Prinz Markíans Namenstag gewarnt, dass dahergelaufenes Gesindel wie du nichts in der Kaiserwache zu suchen hat! Männer! Nehmt diesen Mörder fest!«

Vom Befehl ihres Hauptmanns angespornt, erhoben die Männer ihre Schwerter und gingen auf Khon los.

Der junge Ritter mit dem grauen Haar festigte seinen Griff um das Heft. Er atmete ein und während des Einatmens ließ er alles an sich, jeden Muskel, jede Faser, jeden Gedanken, sich nach dem Stahl in seinen Händen ausrichten; auf den Kampf hin. Alles jenseits dessen schwand in die Bedeutungslosigkeit ab. Er atmete aus. Dann schlugen die Schwerter über ihm zusammen.

Khons Stahl wirbelte herum und fing die wilden Hiebe auf, lenkte sie ab und stach seinerseits mit grausamer Präzision zurück. Sein Schwert krachte, streifte Stahl, Panzerplatten und Leder, bis es endlich in weiches Fleisch fuhr. Der Erste kreischte auf und kippte zu Boden. Dem Nächsten schlitzte Khon die Kehle auf, dem darauf die Achsel, Bauch, Wange. Einem fegte er mit einer einzigen flinken Bewegung scheppernd den Helm vom Schädel, zerfetzte ihm das Ohr und schlug ihm die Waffe aus der Faust. Mit zwei Schwertern behauptete er sich beidhändig gegen die nächste Angriffswoge, als etwas in ihm aufriss; ein formloses Empfinden, gleich einer Wunde, hässlich und brennend wie die Bitterkeit alter Erinnerungen … und alten Zorns, schwarz, fern und fremd.

Nein!

In diesem halben Herzschlag Unaufmerksamkeit rannte eine der Nachtwachen geradewegs in Khons Stahl. An seiner Seite schoss ein sengender Schmerz auf. Die Nachtwache würgte Blut über Khons Schulter und verreckte hustend und gurgelnd, doch sie war nahe genug herangekommen, um ihm sein Messer an der Flanke durch die Lamellenrüstung zu jagen. Schon quoll dunkles Blut zwischen den weißen Schuppen auf. Mit einem Keuchen, das schwer von Schmerz und Wut war, trat Khon den dummen, toten Kerl von sich weg. Noch in der Bewegung merkte er, wie sich seine Muskeln um die Einstichwunde verkrampften.

Verdammt!

Er hatte sich aus seiner Konzentration reißen lassen. Er musste jenes schwarze Empfinden zurückdrängen, was es ihn auch kostete – er musste sich wieder auf den Kampf konzentrieren und einzig darauf. Mehr durfte es in diesem Moment nicht für ihn geben.

Verdammt!

Die verbliebenen vier Wachen drängten ihn jetzt wankend zurück in die Turmtreppe, aber das war ein Vorteil, den der verwundete Khon zu nutzen wusste: Die Treppe war so eng, dass nurmehr zwei auf einmal an ihn herankommen konnten. Und sie mussten ihn frontal angreifen.

Khon überwand den Schmerz in seiner Seite und wehrte auch den Rest der Männer ab. Zuletzt stand er nur noch dem Hauptmann gegenüber.

Zwischen ihnen lag ein Feld aus Leichen und Blutlachen, so schwarz und dampfend wie Khons Schwerter. Khon war groß, hatte breite Schultern und eine breite Brust, doch Hauptmann Belissar war ein Koloss von einem Mann und von dreißig Jahren Dienst vernarbt und abgehärtet – doch durch den Tod seines Kaisers, sein Versagen und dieses Gemetzels auch blind vor Zorn. Er stieß einen Kampfschrei aus und tobte mit dem Breitschwert auf Khon zu.

Der hielt die Schwerter ausgestreckt, doch bewegte sich nicht …

… noch nicht … noch nicht …

Dann – ein flinker Ausfallschritt zur Seite, ein gezielter Seitenhieb gegen das Schienbein mit dem einen Schwert, mit dem anderen im selben Zug ein Schnitt durch die Kniekehle und der Hauptmann knickte ein, glitschte in der Lache aus und kam dröhnend zu Fall.

Khons Schwerter glitten durch den Kettenpanzer an seinem Hals wie durch dünnes Eis.

Als der Hauptmann sich nicht mehr regte, zog Khon die Klingen aus dem toten Leib. Tief durchatmend richtete er sich auf. Die Verletzung an seiner heftig blutenden Flanke jagte ihm mit jedem Atemzug neue Messerstiche durch Magen und Zwerchfell. Er ließ das fremde Schwert fallen, presste die Hand auf die Wunde und sah sich um.

Alle neun Männer waren tot. Der Knappe Hollever Fink war verschwunden.

Khon musste sich eingestehen, dass er einen fatalen Fehler begangen hatte. All seiner Wachsamkeit zum Trotz … nie hätte er damit gerechnet, dass der Wille des Feindes schon so weit vorgedrungen war. Nur – wer war es, der ihm innerhalb der Palastmauern hörig war?

Belissar? Nein. Der Hauptmann hatte sich zwar nie etwas daraus gemacht, zu verbergen, dass er ihm nicht über den Weg traute, aber ebenso wäre er nie dazu imstande gewesen, seinen Kaiser auf diese Weise zu hintergehen. Wer immer es war … wer immer den Knappen Hollever Fink nach ihm geschickt hatte, wusste, dass Khon kommen würde, wenn sein Freund Peridur ihn um Hilfe rief.

Peridur …

Wenn die Teufel von Amkash gnädig gewesen waren, hatten sie ihm einen schnellen Tod geschenkt. So wie Khon jenen, über denen er jetzt stand. Zäh troff das Blut von der Spitze seines Stahls. Das Blut seiner Kameraden.

Nein.

Khon hatte ihre Eide abgelegt, ihre weiße Rüstung getragen, ihre Mahlzeiten gegessen und ihre Gebräuche gepflegt, doch war er nie einer von ihnen gewesen. Und es hatte keinen anderen Weg gegeben. Sein geheimer Auftrag, der ihn erst nach Líohim geführt hatte, vor all der Zeit, war wichtiger als jeder Kaiser und jeder Freund. Dieser eine Auftrag durfte niemals scheitern, und er wartete auf ihn, in den Katakomben von Líhenor.

Diese Erkenntnis stieß Khon hart zurück in die Gegenwart, in den von Leichen übersäten Korridor. Die Wunde an seiner Flanke hatte ihn wie benommen inmitten der Toten verharren lassen, und so hatte er wertvolle Zeit verloren.

Khon raffte seine Sinne zusammen und hörte nun deutlich, wie der Lärm von allen Seiten wieder lauter wurde. Stimmen, Rufe, Schritte – alle, die den Krach des Gemetzels gehört hatten, eilten herbei. Der ganze Palast war in Aufruhr und suchte nach ihm! Er musste in die Katakomben, bevor es zu spät wäre!

 

Der Zugang zu den Katakomben von Líhenor befand sich im alten Zisternenhaus, im Südwesten des äußeren Mauerrings. Khon schlüpfte von einem Säulenschatten in den nächsten, wich Lichtern und Geräuschen aus. In der Kälte hing ihm sein Atem als verräterische Wolke nach, trotzdem blieb er zunächst ungesehen, doch sowie er sich aus dem Schutz der Mauern wagen musste, wandte sich die widernatürliche Finsternis der Nacht gegen ihn. Die Dunkelheit riss auf und milchig weißes Mondlicht ergoss sich auf ihn und nur auf ihn. Seine blutbesudelte weiße Rüstung leuchtete weithin durch das Schneetreiben.

Schon kamen sie auf ihn zu. Zwei, drei, fünf – Khon bahnte sich seinen Weg mit Stahl. Der Schnitt in seiner Flanke ließ ihn das Gewicht der Rüstung peinsam schwer fühlen und verlangsamte seine Reflexe.

Für euch Möchtegern-Helden bin ich immer noch schnell genug.

Nur einem gelang ein Hieb gegen seinen Oberschenkel. Khon erreichte das Zisternenhaus humpelnd, eine Spur von schwarzem Blut und toten Männern im Schnee hinterlassend, doch vorerst ohne weitere Verfolger. Er brach die Tür auf und hastete die endlosen Stufen hinunter, tiefer und tiefer, wobei er sich an der Wand abstützen musste, um im Dunkeln nicht zu stürzen.

Unten in den Katakomben hielt er sich an einem geschliffenen Pfeilersockel in Gestalt eines Löwengreifs fest, legte Schwert, Rock und Rüstung ab und stieg in das hüfthohe Wasser. Es war eisig kalt, doch auf seinen Wunden an Flanke und Oberschenkel war es wie siedendes Eisen. In jeder Richtung gähnten Schatten und Schummer, die zu Tunneln und Schächten und endlosen Kammern jenseits des unendlich weit reichenden Säulengewölbes führten. Leise war von irgendwoher das Plätschern zu hören, wo Valyans Aquädukt dunkel ins Dunkel mündete.

Khon watete ans hinterste Ende der unterirdischen Basilika, wo der Eingang schon nicht mehr zu sehen war und wohin sich niemand sonst wagte. Dort klaffte, Schwarz in Schwarz, ein aus dem Fels geschlagener Torbogen, der halb mit nassem Schutt und Geröll zugeschüttet war. Khon kletterte darüber und gelangte in eine weitere Kammer, mehr eine Höhle. Ihre grob behauenen Wände und Decken waren Schemen und Schatten, fern und nah zugleich.

Aus dem Nichts trat die Statue eines großen steinernen Kaisers auf einem Thron mit Sockel in das schwache Zwielicht. Sein Antlitz trug einen ernsten und weihevollen Ausdruck, es war mit einem schlichten Stirnreif bekränzt. In seinem Schoß lag ein unscheinbares verschnürtes Bündel.

Sekhems Fluch.

Die Waffe des Herrn von Ombos, geschmiedet aus dem Fleisch der Sternenschwärze, nach der die Teufel von Amkash seit Jahrtausenden trachteten.

Der alte Líhenor hat seinen Teil erfüllt, dachte Khon. Er stieg aus dem Wasser und nahm dem Kaiser das Bündel ab. Bei der Berührung seiner Finger mit dem Stoff blitzte ein schwarzes Empfinden durch seinen Geist und seinen Körper – ein alter Zorn, schwarz, fern und fremd, doch innigst vertraut zugleich.

Einzig; jetzt war er keine bloße Erinnerung mehr. Jetzt war er in die Wirklichkeit, ins Hier und Jetzt gerückt, hatte die Form eines übermächtigen und hasserfüllt flammenden Verlangens angenommen, das für den halben Herzschlag, den es dauerte, Khons Körper und seinen Verstand seiner Gewalt zu entreißen suchte.

Doch Khon widerstand, wie er es einst schon tat. Die Schwere seiner Schuld und seiner Taten zwangen ihm die Kraft dazu ab; sie ließen ihm keine andere Wahl. Er bezwang das schwarze Verlangen und all seine Widermacht und rang den unbändigen Schmerz nieder, den ihm dies bereitete.

Verflucht sollt Ihr sein, Meister!, schrie er im Stillen, Elender Lügner!

Doch er siegte. Der schwarze Blitz in seinem Geist verlosch funkenlos.

Khon beruhigte sich, besann sich auf sein Ziel: Er hatte Sekhems Fluch, jetzt musste es ihm nur noch gelingen, zu den Anlegern im Süden des Palastes zu kommen. Dort würde er ein Segelboot entern und über das Binnenmeer und danach durch die Meerenge von Andín flüchten. Das Unterfangen war riskant und schwierig, aber auch das würde er schaffen. Er machte kehrt und watete zum Ufer zurück, doch schon auf halbem Weg zurück schwand seine Zuversicht.

 

Bei dem Löwengreifpfeiler stand eine Gestalt in weißer Rüstung und weißem Umhang und mit einer gespannten Arbalest auf dem Arm. Ihr Bolzen war auf Khon gerichtet.

»Ist es wahr?«

Die schnarrende Stimme des alten Farrím zitterte ebenso sehr wie seine Armbrust. Trotz seiner Vorliebe für alles, was ihm einen ordentlichen Rausch verschaffen konnte, konnte Farrím so zielsicher sein wie ein Falke, wenn es ihm darauf ankam – das wusste Khon. Doch er wusste auch, dass er nicht auf ihn schießen würde; nicht sofort wenigstens. Er watete auf Farríms Silhouette zu, bis er ihm in die Augen sehen konnte. Dann blieb er stehen.

Stille breitete sich in den Katakomben aus, eine schreckliche Stille, in der Khon eine grausame Möglichkeit überkam. War Farrím … war er gar der Verräter? Er musterte ihn, wie er dort oben bei dem Löwengreifpfeiler stand, in der wenigen Zeit, die er dafür hatte. Dann kam er zu einem Schluss: Nein, Farrím war es nicht. Khon erkannte es an seinem Blick, der so voller Ungewissheit war, voll Unglaube, ganz so, wie es auch seine Stimme unter dem Zittern gewesen war.

Nein, er war es nicht. Er wusste von nichts.

»Farrím, ich –«, wollte Khon nun sagen, doch Farrím schnitt ihm das Wort sofort ab.

»Ob es wahr ist, will ich wissen!«

»Ich habe seine lichten Gnaden nicht getötet, wenn es das ist, was du meinst!«

»Und Hauptmann Belissar? Bakkhos? Stylian? Lykas? Die anderen, dort draußen im Schnee? Was ist mit denen?«

Die Worte hallten in dem Säulengewölbe wider. Ihr Echo ließ Khons Schweigen nackt und schuldbeladen wirken. Er wollte einen Schritt auf Farrím zu gehen, doch der hielt ihn an.

»Bleib, wo du bist!«

Khon gehorchte.

Farrím hielt den Abzug der Arbalest nach wie vor fest umklammert.

»Ich will es jetzt hören! Aus deinem Mund will ich hören, warum du sie kaltblütig niedergemacht hast! Oder willst du auch das leugnen?«

»Ich habe nur die getötet, die ich musste.«

»Was heißt das – musste? Sprich so, dass ich dich verstehe! Was geht hier vor?«

»Farrím, das kann ich dir nicht sagen.«

»Das überleg dir noch mal, Junge! Du warst mir immer lieb, aber ich werd dich hier und jetzt erschießen, wenn du nicht augenblicklich mit diesem Unfug aufhörst! Also rede! Sag mir, warum ich dir glauben soll und nicht Peridur!«

Peridur?

Der Name stach ärger zu als alle Wunden. Peridur? Der ihn einst aufgenommen hatte, als keiner sonst es getan hatte, damals, als Khon zuerst nach Líohim gekommen war, noch lange bevor er in die Kaiserwache eingetreten war? Sein Freund?

Nein, das kann nicht sein!

Er musste sich vergewissern!

So fragte er Farrím: »Was genau hat Peridur gesagt?«

»Er hat uns alles berichtet! Dass du seine lichten Gnaden ermordet hast und zu Markían wolltest, um ihn ebenfalls umzubringen! Er war dabei! Er hat dich aufhalten wollen, aber du hast ihn beiseitegestoßen und ihm angedroht, auch ihn zu töten, wenn er um Hilfe rief!«

Also doch. Peridur war der Verräter. Er hatte ihn an die Teufel von Amkash ausgeliefert. Noch im Widerhall der Bitterkeit, die er darüber empfand, spürte Khon, wie sich ihm nun Klarheit aufdrängte, wo zuvor nur Ahnung gewesen war. Er hatte Peridur davon erzählt, wie er den Namen von Amkash in den Straßen gehört hatte – ihm und Farrím und nur ihnen beiden. Und der Knappe Hollever Fink hatte doch gesagt, Peridur hätte nach ihm gesandt …

Gallige Wut ballte sich in Khons Magen. Er wollte es nicht glauben, und doch musste es wahr sein: Da war keine Lüge, weder in Farríms Miene noch in seinen Worten. Aber Zweifel. Khon musste die Ruhe bewahren und seinen Zorn auf Peridur aufschieben. Und er musste Farríms Zweifel für sich nutzen.

»Peridur hat dich angelogen«, sagte er. »Er hat euch alle angelogen.« Jetzt wagte Khon noch einmal einen Schritt auf ihn zu. »Er hat mir den Mord an Valentyn angehängt. Du fragst, wieso? Deshalb! Hierauf hat er es in Wahrheit abgesehen.«

Farrím blickte für einen Wimpernschlag auf das Bündel in Khons Armen.

»Lass mich gehen, Farrím! Ich will dich nicht auch töten müssen.«

»Und ich dich nicht sterben sehen! Aber ich werd’s tun!«

Nein, wirst du nicht.

Vorsichtig stieg Khon über die Stufen aus dem Wasser. Tatsächlich ließ Farrím ihn gewähren. Die hohe, trotz der Kälte von Schweiß benetzte Stirn argwöhnisch in tiefe Falten gelegt, den Finger weiterhin am Abzug der Arbalest, musterte er den triefend nassen Khon eindringlich. Hinter seinen tiefliegenden Augen wirbelten die Gedanken wilder als die Schneeflocken draußen.

Er hatte sich noch nicht entschieden, ob er ihm glauben sollte aber Khon konnte nicht länger warten: Von oben war jetzt Lärm zu hören. Das Trampeln vieler Schritte hallte über dem Wasser in den Katakomben wie Donnergrollen wider.

»Sie umstellen das Zisternenhaus?«

»Alles, was eine Klinge tragen kann, ist dort versammelt«, bestätigte Farrím. »Die Wache in ihrer gesamten Stärke!«

»Was ist mit Peridur? Ist er auch mit ihnen?«

»Nein! Er ist bei Prinz Markían. Der Prinz hat ihn zu sich gerufen! Khon! Hör mir zu: Ich konnte ein wenig Zeit herausschlagen, um mit dir alleine zu reden, bevor sie dich festnehmen. Ich soll dich zur Vernunft bringen! Du musst mit mir sprechen! Wenn du dich weigerst – wenn du kämpfst, kommst du hier nicht lebend heraus!« Farrím richtete die Arbalest ungeduldig auf das Bündel in Khons Armen. »Was hat’s nun damit auf sich? Was kann da drin sein, das dieses ganze Elend rechtfertigen könnte? Rede endlich!«

Aber Khon konnte nicht reden. Er schwieg, und in seinem Schweigen begriff er, dass er in eine ausweglose Lage gedrängt worden war. Während er hier stand, ballten sich über ihnen mehr und mehr Männer zusammen. Zu viele, als dass selbst er gegen sie hätte bestehen können, damit hatte Farrím wohl recht.

Farrím, der ihn anstarrte, ungeduldig, wütend … flehend.

Farrím, der ihm im Weg stand.

Und bei alledem spürte Khon den schwarzen Willen dieses unheiligen Dings in dem Bündel, der sich ihm durch Binden und Laken, durch Bannsiegel und Brakteaten aufzuzwingen versuchte. Sekhems Fluch schien in seinen Armen zu pochen und vor Zorn zu glühen, zugleich sengend kalt und bitter, wie von einem toten Essenfeuer beseelt …

Nein!

Es gab keinen anderen Weg. Khons behandschuhte Hand tastete nach dem Heft des Schwerts an seiner Hüfte.

Ich darf nicht scheitern!

Khons Schicksal war klar und unabänderlich. Er musste Sekhems Fluch fortschaffen. Er musste seinen heiligen Eid wahren und die Waffe des Herrn von Ombos vor den Teufeln von Amkash schützen. Das Überleben der Menschheit hing doch davon ab!

Es tut mir leid, Farrím …

Jetzt brachen die Männer oben ins Zisternenhaus. Befehle und Schwertergeklirr schallten drohend zu ihnen herab.

Khon zog seinen Stahl.

»Nein!«, schrie Farrím. »Tu das nicht!«

Der greise Ritter schrie noch mehr, aber Khon hörte ihm nicht mehr zu.

… Du würdest es nicht verstehen.

Das Blut an seiner Klinge war halb gefroren, dunkel und in ledrigen Schlieren. Khon schaute auf den Stahl hinab, schaute auf den eingravierten Knoten unter der Fehlschärfe – und dort in sein Gesicht.

Und plötzlich, binnen eines einzigen Herzschlags, spielte sich alles vor ihm ab, mit grausamer Langsamkeit und in vollkommener Stille.

Er sah es … sah es alles, wie er es einst gesehen hatte: Die Straße im Norden. Die Höhle in den Bergen und das bleiche Grasland. Sein gestaltloser Meister, der Lügner, der vorgab, ihn von dem schwarzen Verhängnis in seinen Venen zu befreien und ihm im Gegenzug Sekhems Fluch aufzwang und ihm den heiligen Eid der Wächter abrang …

… sein Versprechen.

Bruder.

Und dann durchfuhr ihn erneut der Zorn von Sekhems Fluch. Schwarz und rasend wie im Wahn flackerte er auf und blitzte noch so viel mächtiger als zuvor durch Khons Körper. Er zerschlug sämtliche Erinnerungen und sämtlichen Widerstreit, durchdrang alles an Willen und Widerständen, bis es sich seinen Weg dorthin bahnte, in die verborgensten Tiefen von Khons Wesen, wo sich ihm nun jene abscheuliche Schwärze offenbarte, die er bis zu dieser Stunde lange aus sich vertrieben geglaubt hatte, und die doch all die Zeit noch da gewesen war, in totengleicher Starre in ihm eingekerkert …

… und zwang Khon so zur letzten klaren Einsicht: Es gab keinen Ausweg mehr. Selbst wenn ihm die Flucht gelänge, er konnte Sekhems Fluch nicht weiter bei sich tragen. Noch konnte er die alles zerstören wollende, hasserfüllte Schwärze in seinem Inneren im Zaum halten, aber er spürte, dass ihm dies nicht mehr lange gelingen würde. Etwas war geschehen, und Sekhems Fluch war noch machtvoller, als er es vor drei Jahren gewesen war, als er ihn hier unten in den Katakomben der Obhut des steinernen Líhenors überlassen hatte. Trüge er ihn noch länger, würde sein machtvoller Wille ihn endgültig überwältigen, und dann …

… eine Vernichtung wäre gewiss, die so schrecklich wäre, dass er die Waffe Sekhems ebenso gut den Häschern von Amkash selbst überlassen konnte.

Khon stieß seinen Stahl in die Scheide zurück.

Ja, es gab keinen Ausweg mehr. Nicht für ihn. Sekhems Fluch brauchte einen neuen Träger. Jemand Zuverlässigen, doch Unverbrauchten. Jemand Harmlosen …

Khon sah auf. Sein Blick fiel auf Farrím.

Verzeih mir, dachte er zuletzt, als er auf ihn zuging.

In Farríms Augen standen Tränen.

Verzeih, was ich dir antun muss.

 

Als die Soldaten des Kaiserpalastes in jener Nacht schließlich die Katakomben stürmten, sollten sie Khon, der fortan nun nur noch ›Kaisermörder‹, genannt wurde, nicht mehr vorfinden. Farrím, der geschlagen in einer Ecke kauerte, Blut auf der Rüstung und ein dunkles Bündel an sich gedrückt, berichtete, Khon habe ihn überwältigt und sei über Valyans Aquädukt geflohen.

Auf Peridurs Befehl hin wurde die Verfolgung aufgenommen, doch von dem abtrünnigen Ritter fehlte jede Spur. Man hielt Khon für tot, doch seinen Leichnam konnte man nicht zurückbringen; für Nachforschungen war der Bergpass oberhalb des Aquädukts in jener verschneiten und verstürmten Nacht zu gefährlich.

Im Morgengrauen des nächsten Tages fehlte jedoch auch von Farrím jede Spur. Ohne dass Peridur oder die Mächte von Amkash es in jenen Stunden wussten, entfernte er sich bereits von Líohim, Ruderschlag für Ruderschlag, Meile für Meile, Sekhems Fluch in seiner Obhut.

Und obgleich die Nachricht vom Tode des alten Großkaisers Valentyn alsbald im ganzen Heiligen Einigen Reich verkündet wurde und mit den grauen Reitern bis nach Errion und Bailín gelangte, sollte niemand erfahren, was sich in Wahrheit dahinter verbarg, und welches Grauen nun seinen Lauf nehmen würde …

 

1: TRÄUME & ERINNERUNGEN

 

FIONN

 

Ich erinnere mich: In jenen Tagen geschah in Bailín nie etwas Außergewöhnliches. Es war genau wie all die anderen unzähligen kleinen Dörfer, die man damals überall an der errischen Küste verstreut fand. Auf den Karten der Magister hätte man sie leicht mit versehentlich gefallenen Tintentropfen verwechseln können, so unscheinbar und unbedeutend waren sie.

In seiner Vergangenheit hatte Bailín es durch den Leinenhandel mit Santísmer zu einem gewissen Wohlstand gebracht und wurde deshalb ein paar Mal in den Chroniken des Sandsteinhafens erwähnt, doch im Jahre 1877 n. L. lag selbst dies bereits geraume Zeit zurück.

Das Leben in diesem Teil der Welt verlief wahrlich ruhig und beschaulich. Bis zu jenem verhängnisvollen fünfundzwanzigsten Juli …

 

 

AN DIESEM MORGEN erwachte Fionn Barahér mit dem fahlen Nachgeschmack eines fernen Traums. Er schnappte nach Luft, blinzelte. Seine Finger hatten sich in sein Bettlaken verkrampft. Über ihm war die vertraute hölzerne Balkendecke. Er lag in seinem Bett.

Wie kann das sein … ich war doch …

Im Traum hatte ihn bittere Kälte umgeben, darin der Geruch von heißem Blut auf gefrorenem Stahl und das Gewicht eines konturlosen Schattens, der schwer wie die Furcht auf seine Brust drückte.

Er grub seine Finger tiefer in das Laken.

Ich bin wach.

Und doch machte ihm der Schatten noch immer das Atmen schwer.

Was zum-

Fionn schaute an sich herab und ein kurzer, aber heftiger Schreck ließ ihn hellwach und kerzengerade aufsetzen.

Der Schatten gab ein nicht weniger erschrockenes Maunzen von sich und machte einen uneleganten Satz vom Bett auf das Fenstersims. Von dort blickte er Fionn mit großen Augen und erhobenem Schweif an.

Ach, du bist es nur …

Erleichtert atmete Fionn auf. Murris Knickschwanz maunzte und widmete sich wieder seiner Fellpflege. Der alte Kater hatte das letzte bisschen Schläfrigkeit aus Fionn vertrieben. Durch den schmalen Spalt der angelehnten Läden hinter ihm drang tintenblaue Dämmerung in die kleine Kammer.

Fionn rieb sich die Augen, warf die Decke zurück und schlurfte ans Fenster. Er musste Murris Knickschwanz beiseiteschieben, um die Läden zu öffnen. Der alte Kater bekundete seinen Unmut mit einem müden Fauchen, bevor er im schwarzen Dickicht unter dem Fenster verschwand.

Die Straße vor dem Fenster war dunkel und menschenleer, die Luft kühl und mit dem leisen Rauschen des Ozeans versetzt. Die grauen Granithäuser von Bailín zeichneten sich als schwarze Silhouetten vor einem klaren dunkelvioletten Himmel ab, an dem die letzten Sterne der Nacht schwach funkelten. Die Efeubüsche und Kirschhecken raschelten im Wind.

Fionn fröstelte. Er war völlig verschwitzt, fühlte sich seltsam müde und erschöpft. Irgendwie war ihm sogar ein wenig übel. Der frische Morgenwind tat gut. Er gähnte, streckte und kratzte sich – und dann holte ihn die Erkenntnis ein, dass er doch glatt verschlafen hatte!

Verdammt! Und das ausgerechnet heute!

Schlagartig stieß er sich vom Fenster ab.

Kellen wird bestimmt schon da sein!

Hastig schlüpfte Fionn in Hemd und Hose, schlang sich deren Träger über die Schultern und warf sich, schon halb zur Türe hinaus, noch seine Weste und die Umhängetasche über. Auf Zehenspitzen schlich er in die Backstube hinab. An der Tür zur Schlafkammer seiner Großmutter hielt er inne und lauschte. Von der anderen Seite war außer ihrem Schnarchen nichts zu hören.

Heute war Sonntag, und an Sonntagen pflegte die Großmutter für gewöhnlich lange zu schlafen. Fionn hatte sich trotzdem lieber vergewissern wollen.

Unten in der Backstube stopfte er die Umhängetasche schnell mit einigen Sachen fürs Frühstück voll, dann stahl er sich auch schon über den Hintereingang davon. Einmal aus dem Haus konnte ihn nichts mehr halten. So schnell er mit der hinderlich vollgepackten Tasche nur konnte, spurtete Fionn durch das allmählich erwachende Fischerdorf zu ihrem Treffpunkt unter dem Esskastanienbaum.

Wie erwartet war Kellen schon dort. Er rauchte seine Pfeife. Als er Fionn kommen sah, sprang er von seinem prallen Seesack auf. Mit leiser Stimme wollte er sogleich wissen, wo er denn so lange geblieben sei.

»Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr!«

»Ich weiß, ich weiß … Tut mir leid!« Sie umarmten sich und Fionn ergänzte: »Ich hab verschlafen.«

»Na, so siehst du auch aus.« Kellen befeuchtete seinen Daumen mit der Zunge, rieb Fionn den Sand aus den Augen und schob ihm das Haar aus der Stirn. »So. Besser.«

»Danke«, murmelte Fionn und hoffte, das sie umgebende Halbdunkel möge die Verlegenheitsröte verbergen, mit der er Kellen ansah.

Fionn war vierzehn Jahre alt, Kellen ein halbes Jahr älter und auch einen guten Kopf größer als er. Die harte Arbeit auf den Fischerbooten hatte seinen Oberkörper seit dem letzten Sommer breiter und sehniger werden lassen. Die kräftigen Schultern, die Arme und die Brust zeichneten sich selbst in den blauen Dämmerschatten deutlich unter dem Hemd ab.

Fionn selbst war eher schmächtig, hatte schmale Schultern und besaß, den vielen Mehlsäcken, die er in der Backstube schleppen musste zum Trotz, kaum nennenswerte Muskeln. Das Hemd aus ungefärbtem Leinen und die rostrote Weste, die mit der Zeit einen Großteil ihrer Knöpfe unwiederbringlich verloren hatte, hingen wie schlaffe Segel an ihm herab, genau wie die blaue, flickenübersäte Wollhose, die nur von den Trägern an Ort und Stelle gehalten wurde. Sein Haar, das er laut der Großmutter von seinem Großvater hatte, war dicht, schwarzbraun und unbezähmbar. Wieder fiel ihm eine Strähne in die Stirn.

Ein erster Strahl warmer Morgenröte brach sich durch das Wolkengrau.

Kellen klopfte seine Pfeife aus. »Also«, sagte er und schulterte den prallen Seesack mit beeindruckender Leichtigkeit. »Wollen wir?«

Fionn nickte.

Während nun immer mehr weiße Rauchkegel aus den gedrungenen Schornsteinen des kleinen Fischerdorfs in den aufklarenden Morgenhimmel stiegen, machten sie sich auf den Weg. Hinter dem alten Línhaus sprangen sie über die bucklige Dorfmauer, jagten dahinter den steilen Wiesenhang hinunter, am Stall von Bauer Melbri vorbei, und weiter über die Feldwege davon. Dabei lachten sie über ihre gelungene Flucht.

 

Die heiße Julisonne stieg rasch über die fernen blauen Gipfel der Menez Mintín in ihrem Rücken. Fionn und Kellen wanderten zwischen Feldern leise rauschender Gerste und blau blühenden Leins dahin, und die Hitze wanderte mit ihnen über das flache Küstenland. Nach etwa einer Meile verließen sie den Feldweg und marschierten querfeldein durch ein dichtes Waldstück. Bei einem klaren, kalten Bach machten sie kurz Halt, wuschen sich und füllten ihre Trinkschläuche. Schon jetzt rann Fionn der Schweiß in den Nacken.

Eine knappe halbe Stunde nach ihrem Aufbruch hatten sie ihr Ziel erreicht. Aus dem feuchten Wald traten sie heraus auf nackten lauwarmen Schieferstein, der eine halbmondförmige Bucht bildete.

Unter ihnen lehnte das verwahrloste Halbwrack des Segelboots müde auf den Stützpfählen im schattigen Sand, so wie sie es zurückgelassen hatten. Die mattgrauen, beinah senkrecht abfallenden Felswände der Bucht hielten die morgendlichen Sonnenstrahlen zurück. Nur die zersplitterte Mastspitze bekam einen Tupfer davon ab und erstrahlte hell wie verwitterter Marmor. Am Heck platschten die letzten Wellen der Nachtflut noch immer spielerisch gegen den Rumpf.

Eine Woche war es her, dass die beiden durch Zufall beim Schwimmen den auf Grund gelaufenen Einmaster hier entdeckt hatten. Er maß in etwa drei Mann in der Länge und einen in der Breite und hatte mit seinem geknickten Mast, dem zerfetzten Lateinersegel und dem von den Gezeiten unsanft in den grauen Sand gedrückten Bug einen geradezu mitleiderregenden Eindruck erweckt.

Noch am selben Abend hatten sie sich unter der Hand im Roten Weber umgehört, aber niemand schien von dem Boot zu wissen. Auf dem Heimweg, sie waren beide leicht angetrunken gewesen, hatte Kellen gemutmaßt, es sei wahrscheinlich von einem Sturm angespült worden. Im Frühling konnte der Ozean vor Errion durchaus grau und grob werden. Boote und kleinere Schiffe gerieten dabei oft in Seenot. Weil aber der letzte große Frühjahrssturm fast vier Monde zurücklag, schien es Fionn eher wahrscheinlich, dass das Boot als Beiboot zu einer der Handelsgaleonen gehört haben könnte, die auf ihrem Weg nach Santísmer vor der Küste von Bailín kreuzten. Einen rechten Reim darauf, warum es gerade hier gestrandet war, konnten sie sich aber so und so nicht machen.

Weil es aber in keinem Fall so aussah, als würde der Besitzer noch einmal zurückkehren, war Kellen auf die Idee gekommen, es zu reparieren und damit von hier fort und in die Welt hinaus zu segeln – ein Vorschlag, auf den Fionn sofort voll überschwänglicher Begeisterung eingegangen war.

Kellen hatte über das ganze Gesicht gestrahlt, ihn in die Arme geschlossen und ihren Entschluss mit einem unverzagten Kuss auf seine Wange besiegelt, der Fionn noch die ganze Nacht wachgehalten und ihn von allen Bedenken über die Gefahren abgelenkt hatte, die ein solches Unterfangen mit sich bringen konnte.

Schon am nächsten Morgen waren sie zurückgekehrt und hatten den Einmaster genauer in Augenschein genommen. Zwar hatten sie dabei feststellen müssen, dass es doch mehr daran zu tun gab, als sie zunächst angenommen hatten, doch fanden sie auch einen, wenn auch nur sehr unscheinbaren Hinweis auf die Herkunft des verunglückten Bootes: Am Bug nämlich war ein Wappen ins Holz gebrannt, das einen sich um einen Anker rankenden Weinstock zeigte. Zu wem oder wohin das gehörte, wusste keiner von beiden, also hatten sie ihm vorerst keine weitere Beachtung schenken wollen.

Sie hatten die zerborstenen und modrigen Planken herausgebrochen, abgeschnitten und zusammengefaltet, was man von dem Segeltuch noch gebrauchen konnte, sowie eine Liste der notwendigen Reparaturen erstellt. Das meiste würde sich recht einfach bewerkstelligen lassen, hatte Kellen erklärt, aber um die unzähligen Lecks im Rumpf abzudichten, bräuchten sie Pech und Kalfaterwerkzeug. Mit etwas Glück könnte Kellen das aus der Werkstatt der Fischer besorgen. So hatten sie die Arbeit vorerst ruhen lassen und sich vorgenommen, bis zum nächsten Mal alles Nötige zu beschaffen.

Eine Woche war seitdem vergangen, aber endlich hatten sie alles beisammen. Nun mussten sie nur noch das vormittägliche Niedrigwasser abwarten. Sie beschlossen, währenddessen erst einmal gemütlich zu frühstücken. Sie machten ein Feuerchen, setzten einen Wasserkessel auf, und Fionn holte aus seiner Umhängetasche ein Päckchen mit zwei Stücken Pflaumenkuchen hervor, den die Großmutter gestern gebacken hatte. Als wenig später die Sonne in die Bucht schien, schwebte der warme Duft frisch gekochten Kaffees in der windstillen Morgenluft. Fionn und Kellen saßen am Rand des Schiefers, ließen die Beine baumeln, schauten auf die See und ließen sich den weichen Kuchen schmecken.

Weit draußen waren die kleinen schwarzen Flecken der Fischerboote wie Insekten auf dem glitzernden Silberstreif des errischen Ozeans.

Jetzt, wo Kellen neben ihm saß, musste Fionn wieder an seinen seltsamen Traum denken.

Kellen, du warst nicht da, entsann er sich, als hätte es ihm jemand eingeflüstert. Ich war ganz alleine.

Fionn versuchte, sich an etwas anderes, Genaueres zu erinnern, außer an dieses Gefühl der Kälte und der Einsamkeit, aber die Empfindungen zerflossen wie dünner Nebel zwischen seinen Fingern, je mehr er versuchte, sie zu fassen. Alles, was ihm noch blieb, war das undeutliche Gefühl, der Traum hätte eine Ewigkeit angedauert und dass es etwas gab, was er auf keinen Fall vergessen durfte …

… Nur was? Was war es?

 

»He, Fionn, was is los? Warum schaust du so ernst?«

Vor lauter Grübeln hatte er gar nicht mitbekommen, dass Kellen aufgestanden war. Er hatte ihnen den fertig gekochten Kaffee eingeschenkt und dabei den kupfernen Wasserkessel vom Feuer genommen und ihn gegen einen schweren gusseisernen mit vier plumpen Beinchen und einem schwarzen Rand ausgetauscht. Jetzt stand er mit zwei dampfenden Bechern in den Händen über ihm.

»Ach, gar nichts«, antwortete Fionn und spürte zugleich, dass die entglittene Erinnerung niemals wiederkommen würde.

Kellen runzelte die Stirn. »Sicher?«

»Mhm.«

Wirklich überzeugt wirkte Kellen nicht. Er reichte Fionn die Becher, der sie neben sich abstellte, und ließ sich wieder auf den Schiefer fallen.

Fionn schnippte Kuchenkrümel aus seinem Schoß. Dann, ohne jede Vorwarnung, schlang Kellen seinen Arm eng um Fionns Hals und raufte ihm grob das Haar.

»He was soll das! Ich krieg keine Luft!«

»Du wirst mir jetzt sagen, warum du so nachdenklich schaust!«

»Lass mich los du –«

»Erst wenn du’s mir sagst!«

Fionn versuchte, sich aus dem Würgegriff zu befreien, aber gegen Kellens Kraft hatte er keine Chance. »Is ja gut! Is ja gut, ich sag’s ja schon!«

Kellen gab ihn frei, und Fionn fuhr ihn an, dass das überhaupt nicht komisch gewesen sei.

»Entschuldige«, sagte Kellen und verschränkte die Arme, »aber wenn ich dich nur frag, behältst du’s ja doch immer nur für dich. Also?«

Fionn richtete sich die zerzausten Haare, strich sich das Hemd glatt und murmelte: »Ich hab einfach nur schlecht geträumt, das is alles. Ehrlich. Wahrscheinlich liegt’s nur an dieser ständigen Hitze.«

Die Hitzewelle, die Errion seit Anfang Juli im Griff hatte, war schon lange unerträglich geworden. Alle Leute in Bailín beklagten sich darüber.

»Na schön«, seufzte Kellen. »Trotzdem würd ich gern mal wissen, wo du immer mit deinen Gedanken hängst.«

Er tippte Fionn gegen die Stirn, und Fionn musste schmunzeln, obwohl ihm eigentlich gar nicht danach zumute war. Er sagte nichts weiter und Kellen auch nicht.

Stumm schlürften sie ihren Kaffee.

Die Großmutter dürfte inzwischen auch aufgestanden sein, überlegte Fionn, als wollte er sich selbst auf andere Gedanken bringen.

Die Großmutter hatte Fionn aufgezogen und ihn alles gelehrt, was er über Brot und Mehl und überhaupt in der Backstube wissen musste. Kaffeekochen gehörte zwar nicht unbedingt dazu, aber die Großmutter hielt es für wichtig, dass er auch das konnte. Sie fand, ein richtiger Mann müsse wissen, wie man einen guten, starken Kaffee kocht.

Inzwischen dürfte ihr wohl auch aufgefallen sein, dass Fionn fehlte – nicht, dass sie das über die Maßen gekümmert hätte. Die Großmutter war es gewohnt, dass sich ihr Junge überall in der Gegend herumtrieb, wenn sie ihn nicht gerade für irgendwelche Schindereien in der Backstube brauchte. Wenn er dann heimkam, regte sie sich jedes Mal aufs Neue auf, schimpfte mit ihm, beschwerte sich über seine Faulheit und schickte ihn schließlich in seine Kammer.

Die Großmutter wird auch ohne mich zurechtkommen, hatte Fionn in der durchwachten Nacht gedacht, in der er und Kellen ihren Plan geschmiedet hatten. Er stand ihr ohnehin immer nur im Weg. Wahrscheinlich käme sie ohne ihn sogar besser zurecht.

Bei Kellens Vater hingegen sah das ganz anders aus. Wenn der Dorfmeister von Bailín Wind davon bekäme, was Fionn und sein Sohn vorhatten, würde er sie beide so fürchterlich bestrafen, dass sie danach sicherlich noch böser aussähen als das Halbwrack unter ihnen. Kellen verbrachte nach Ansicht seines Vaters zu viel Zeit mit Fionn und widmete sich zu wenig seiner Arbeit oder den leidigen Schwertkampflektionen, auf die der Vater als Krieger vom Blute der Celdennen so viel Wert legte.

Als ob man in Bailín jemals kämpfen müsste.

Aber gegen Kellens Vater war eben nichts auszurichten und deshalb konnte Fionn es kaum erwarten, bis ihr Einmaster endlich seetauglich wäre und sie ihr kleines Fischerdorf hinter sich ließen. Die Welt zu besegeln, mit Kellen an seiner Seite, klang verlockender als alles, was ein Leben in Bailín und der backstüblichen Langeweile, die damit einherging, je würde bieten können. Freunde oder dergleichen, die ihn hier hielten, hatte er ohnehin nicht. Er würde niemandem fehlen und ebenso würde es sich andersherum verhalten. Und was die Großmutter und Kellens Vater anging, so sollten sie sich doch gemeinsam aufregen, so viel und so heftig sie nur wollten – Fionn wusste genau, dass er nichts von alledem bereuen und nichts vermissen würde, allein schon deswegen, weil er Kellen an seiner Seite hätte. Mehr brauchte er nicht.

Fionn blickte auf seine Hand, mit der er sich auf dem Schiefer abstützte. Kellens und seine Fingerspitzen waren so nah beieinander. Es bräuchte nur eine kleine Bewegung …

Aber Fionns Finger wollten seinem Flehen nicht folgen. Sie klebten an dem warmen Schiefer fest, als hätte er in Harz gefasst.

Irgendwo schrie eine Möwe über das Branden des Ozeans hinweg, und Fionn wurde bewusst, dass Kellen ihn ansah.

»Was?«

»Was?« Kellen setzte ein verschlagenes Grinsen auf, das Fionn sofort erkennen ließ, dass ihm sein verstohlener Blick auf ihre Hände keineswegs entgangen war.

Er schluckte. Hieß das, er hatte auch die Röte unter dem Esskastanienbaum bemerkt? Sein Schmunzeln?

Bestimmt hat er das.

Kellens Augen leuchteten warm und blau wie die Sommersee und waren Fionn ebenso tief und unergründlich. Es ärgerte ihn, wie leicht Kellen ihn durchschauen konnte, und es ärgerte ihn, dass er es dennoch nicht ansprach. Wenn Fionn nicht so ein verdammter Feigling wäre, er würde es ja selbst tun. Das ärgerte ihn am meisten.

Wenn sie fort wären, nahm er sich vor, dann würde er es wagen. Bis dahin musste er sich damit begnügen, in Kellens tiefblauen Augen vergeblich nach einer Antwort zu suchen, auf eine Frage, die ungesagt blieb und die Fionn doch so sehr auf der Zunge brannte.

Er sah Kellen noch immer an.

Und Kellen sah einfach nur zurück.

Dann kroch beißender Schwefelgeruch von der Feuerstelle her zwischen sie und bereitete dem peinsamen Schweigen ein abruptes Ende.

»Das Pech!«

Kellen sprang auf und stürzte zu dem Kessel, riss ihn aus den Flammen und rührte die blubbernde schwarze Masse mit einem Zweig um. Fionn folgte ihm, und Kellen erklärte geschäftig, das Pech dürfe zum Kalfatern nicht kochen und schon gar nicht Feuer fangen, ansonsten wäre es nicht mehr zu gebrauchen.

Fionn nickte, hörte aber nur mit einem Ohr zu. Hatte Kellens Hand sich nicht gerade bewegen wollen, bevor ihnen der Pechgestank in die Nasen gekrochen war?

 

Als Kellen das Pech für verstreichbar genug befand, nahmen sie den Topf, kletterten über den glitschigen Schiefer nach unten in die Bucht und machten sich mit Hobel, Hämmern, Kalfateisen und Pech, Pinsel und Flickzeug bewaffnet ans Werk. Kellen kroch im Bauch des Boots herum, schliff das spröde Holz ab und stopfte die Löcher und Schlitze im Rumpf mit Pech, Leinenresten und Werg. Fionn blieb über ihm auf der Kante des Decks, flickte das Segeltuch und reichte Kellen hin und wieder einen Pinsel, einen Hammer, einen Keil, oder was immer dieser gerade brauchte.

Er wusste es schon, bevor Kellen ihn danach fragte, tat aber jedes Mal so, als beobachtete er ihn nicht ständig. Es gefiel ihm, wie sich Kellens Hemd bei jedem Zug mit dem Hobel über den muskulösen Schultern spannte, wie sein Blick in Konzentration auf das Holz vor ihm geheftet war und wie ihm die Späne andächtig auf die baren Füße rieselten.

So fasziniert war Fionn von dem in seine Arbeit versunkenen Kellen, dass er kaum auf seine Nadel Acht gab. Es kam, wie es kommen musste: Er pikste sich in den Daumenballen und weil er nicht darauf geachtet hatte, konnte er das kurze Kreischen nicht rechtzeitig unterdrücken. Kellen schaute zu ihm auf und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er lachte, als Fionn ihm erklärte, er habe sich gestochen und neckte, er solle besser aufpassen.

»Mach ich doch«, sagte Fionn. Beschämt und auch ein bisschen vergrämt widmete er sich wieder seinem Segeltuch.

Stück für Stück schliffen, spachtelten und flickten sie sich die nächsten Stunden vom Bug zum Heck ihres Einmasters. Ehe sie sich’s versahen, war aus der Morgensonne eine gleißende weiße Münze aus purem Weiß geworden, die gnadenlos in die Halbmondbucht knallte. Die Jungen hatten sich ihrer durchgeschwitzten Hemden schon längst entledigt, aber weil es immer noch unerträglich heiß war, legten sie eine Pause ein und rannten zur Abkühlung in den Ozean. Sie schwammen, scherzten und tauchten einander unter und fingen einen großen schweren Taschenkrebs mit blauschwarz schimmerndem Panzer, den sie anschließend zum Mittagessen über der neu angefachten Feuerstelle grillten.

Der ledrige Panzer zischte, wenn sie ihn wendeten. Von dem Duft lief ihnen das Wasser im Mund zusammen. Sie schnitten einen halben Laib Brot in dicke Scheiben, rösteten und bestrichen sie mit der gesalzenen Butter, die sie zusammen mit den Apfelweinschläuchen in einer Nische im Schiefer vor der Hitze geschützt hatten. Die Butter zerrann auf dem warmen Brot. Als der Krebs ziegelrot und gar war, zogen sie sich in den Schatten der Bäume zurück, knackten die Schale mit der flachen Seite von Kellens Messer und aßen und tranken. Zuletzt schlürften sie das süßliche Fleisch aus den Zangen, leckten sich die Finger und lehnten sich satt und zufrieden zurück.

Mit dem Rauschen der Bäume über ihm, dem Branden des Wassers unter ihm und Kellen neben ihm, wurden Fionn bald die Augen schwer. Er ließ sich von den lauen Traumgezeiten forttragen. Als sie ihn irgendwann später sanft auf den warmen Schiefer zurückschwemmten, saß Kellen mit überkreuzten Beinen da, Fionn den Rücken zugekehrt, und summte eine Melodie, die sich bis in Fionns dösigen Schlaf geschlichen hatte. Hellblauer Pfeifenqualm zog verspielt um ihn.

Verträumt schaute Fionn durch die halb geöffneten Lider den unscharfen Schatten der Bäume zu, wie sie schwerelos im schwülen Mittagswind auf Kellens Rücken tanzten. Die ungesagten Worte ihres Sommers und so vieler anderer tanzten mit ihnen. Er fasste sich an die Wange, wo der Kuss, den Kellen ihm vor einer Woche nach dem Roten Weber aufgedrückt hatte, noch immer stumm glühte, und seufzte leise.

Kellens Summen verstummte. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und blickte über die Schulter zu Fionn zurück.

»Hab ich dich geweckt?«

»Mhm.«

»Ich hab dich nich stören wollen.«

Fionn stützte sich auf seinen linken Ellbogen und hielt sich die Rechte gegen das durchs Laub fallende blendende Licht an die Stirn.

»Wie lange …?«

»Nich lange. Nur tief. Und geschnarcht hast du auch. So laut, dass sogar die Möwen auf Abstand geblieben sind.«

Kellen lächelte sanft.

Fionn ließ seinen Arm sinken und kniff dafür die Augen zusammen. Der Gedanke an den seltsamen Traum der vergangenen Nacht kroch wie ein fremder Schatten in ihm hoch, doch noch ehe er Form oder Gestalt annehmen konnte, wurde er vom warmen Mittagswind und Kellens Nähe wieder verweht und verging wie der Pfeifenqualm.

Kellen hatte sich wieder umgedreht. Jetzt fiel Fionn auf, dass Kellen, wie er vornübergebeugt und summend dasaß, an etwas zu arbeiten schien. Er hörte das Kratzen eines Schnitzmessers, das leise Knarzen von abknickendem Holz.

Er setzte sich auf.

»Woran schnitzt du da?«

Was immer es war, Kellen verbarg es sofort in seiner Faust.

»Das erfährst du noch früh genug.«

Fionn bestand darauf, dass er es ihm zeigen sollte, aber Kellen blieb hartnäckig bei seiner Geheimniskrämerei.

»Es is noch nich fertig!«

Fionn wusste, er würde Kellen nicht umstimmen können, also ließ er sich mit einem Stöhnen wieder auf den warmen Schiefer zurücksinken.

»Kannst du wenigstens wieder summen, so wie eben?«

Zumindest dieser Bitte kam Kellen nach. So verblieben sie noch eine Weile im Schatten der Bäume. Kellen schnitzte, rauchte und summte fort, während Fionn dazu bereitwillig wieder die Augen zu sanken. Als Kellen seine Pfeife schließlich aufgeraucht hatte, beendeten sie ihre Rast und kletterten wieder nach unten in die Bucht.

 

Sie arbeiteten noch den ganzen Nachmittag. Als die ersten Wellen der einsetzenden Abendflut gegen den Rumpf rollten, hatte Kellen sich mit dem Pech bis ans Heck vorgearbeitet. Fionn hatte das Segeltuch fast fertig geflickt. Kellen legte den Hobel weg, wischte sich die rußigen Hände an einem Lappen ab, streckte den Rücken durch und fand, es sei an der Zeit, den Heimweg anzutreten.

Fionn nickte. Geredet hatten sie in den vergangenen Stunden kaum mehr miteinander. Fionn hatte nicht verstanden, warum Kellen so still geworden war und er wusste nicht, was ihm lieber war: dieses unsägliche Schweigen oder das Donnerwetter der Großmutter, das ihn zweifellos daheim erwartete. Er hätte noch den ganzen restlichen Tag hier verbringen können, schweigend, wenn’s sein musste. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, etwas zu sagen. Und so nickte er nur.

Kellen half ihm dabei, das Segeltuch zusammenzufalten. Fionn trat einen Schritt zurück, um es straffen zu können, und stieg dabei auf eine Planke, die Kellen noch nicht abgedichtet hatte. Als er seinen Fuß darauf setzte, ließ sie ein warnendes Knacksen vernehmen, aber noch bevor er sein Gewicht verlagern konnte, gab das spröde Holz krachend nach. Fionn entfuhr ein heller Schrei und abrupt sackte er um einen halben Zoll ab.

»Fionn!« Kellen warf das Segeltuch beiseite. »Geht’s dir gut? Hast du dir wehgetan?«

Fionn ruderte mit den Händen, um das Gleichgewicht zu halten. Sein linker Fuß steckte bis auf halber Höhe des Schienbeins in einem Loch mit splittrigem Rand. Kellen reichte ihm die Hand und vorsichtig half er ihm heraus. Wie durch ein Wunder hatte er sich nicht verletzt. Während Fionn sein Schienbein rieb, inspizierte Kellen den Schaden.

»He, Fionn!«, sagte er dann und klang auf einmal sehr aufgeregt. »Komm mal her! Schnell! Ich glaub, du hast da was gefunden! Da is ein Hohlraum unter den Planken! Ein doppelter Boden! Und da ist was drin, siehst du?«

Fionn folgte Kellens Winken und spähte über seine Schulter in das Loch. Tatsächlich: Was er im Moment seines jähen Einbrechens zwischen seinen Zehen für drahtiges Werg gehalten hatte, stellte sich auf den zweiten Blick als ein Leinentuch heraus, in dem, so vermutete Kellen, womöglich etwas eingewickelt war.

»In Santísmer hab ich mal in einem Wirtshaus gehört, wie Schmuggler ihre wertvollsten Waren in solchen Hohlräumen unter dem Deck vor dem Zoll und den Einfuhrsteuern verstecken«, erklärte er. »Gold, Schmuck, Felle oder Elfenbein, manchmal auch seltenen Wein oder Pfeifentabak aus Théros.«

Kellens Augen leuchteten bei dem Gedanken. Fionn jedoch war nicht ganz so von Freude erfasst.

Er sah sich um. »Glaubst du echt, das könnt mal ein Schmugglerboot gewesen sein?«

»Wär durchaus möglich«, gab Kellen zurück.

Fionns Blick blieb an dem Wappen am Bug hängen.

Ein Weinstock, der sich um einen Anker rankt …

»Aber wer sollte denn hier etwas schmuggeln wollen? Und was?«

»Das werden wir gleich rausfinden!«

»Was hast du vor?«

Anstatt zu antworten, machte Kellen sich kurzerhand an der geborstenen Planke zu schaffen, zerrte daran herum und lockerte sie.

Fionn wurde mulmig zumute. Die Bäume über ihnen rauschten im auffrischenden Wind, ihre Blätter flüsterten, tuschelten, und Fionn kam sich plötzlich seltsam beobachtet vor.

»Kellen … jetzt warte doch mal«, aber Kellen tat, als hörte er ihn nicht. Er griff in das Loch und versuchte, das Ding unter den Planken herauszuziehen.

»Verdammt! Es will nich!«

»Kellen …«

»Vielleicht, wenn ich es so –«

»Kellen!«

Jetzt horchte Kellen auf. »Was?«

Fionn schluckte: »Wenn das wirklich ein Schmugglerversteck is … und das hier wirklich ein Schmugglerboot … is das dann nich gefährlich? Ich mein, was, wenn doch noch einer kommt und danach sucht?«

Kellen verdrehte die Augen. »Fionn, jetzt hab dich nich so. Denk doch mal nach: Wenn sich einer die Mühe macht, etwas so sorgfältig zu verstecken, dann wartet er doch nicht so lange mit dem Zurückkommen, bis wir zufällig darauf gestoßen sind? Er wär sofort zurückgekommen. Wem auch immer das Boot mal gehört hat, er wird nicht zurückkommen!«

Dagegen konnte Fionn nichts einwenden.

»Das Boot gehört uns«, bekräftigte Kellen. »Dasselbe gilt für das, was da in dem Versteck ist. Und jetzt hilf mir mal! Wir müssen die Planke ganz rausbrechen!«

Fionn zögerte noch, aber ganz konnte auch er sich nicht der Neugier erwehren, die ihn zu packen versuchte. Gemeinsam schafften sie es und ein schlankes, überkreuz verschnürtes Bündel aus ausgeblichenem Leinen von etwas mehr als einem Meter Länge kam zum Vorschein.

Kellen hob es aus seinem Versteck, begutachtete, wog und wendete es und legte es neben der herausgebrochenen Bohle zwischen sich und Fionn, der sich jetzt ebenfalls hinkniete. Sie wechselten einen raschen Blick. Dann löste Kellen den Knoten, der die Verschnürung hielt, und schlug die erste Schicht Leinen zurück. Der Stoff war starr und roch nach feuchtem Moder und Fäulnis. Aufgeweichte Klumpen gelblich verkrusteten Salzes bröselten aus den Falten.

Kellen wickelte ihren Fund weiter aus. Mit jeder Schicht wurde das Leinen dunkler und steifer. Schließlich ließ es sich gar nicht mehr richtig auswickeln, sondern knirschte und sprang an den Falten auf.

Fionn fragte sich, wie lange der Inhalt des Bündels schon so verpackt gewesen sein musste, damit der Stoff so porös hatte werden können, als zwei Münzen klimpernd aus den Leinentüchern fielen. Er schnappte sie auf, bevor sie in die dunklen Ritzen des Bootsrumpfs davonrollen konnten. Die Münzen – wenn es denn wirklich welche waren – waren kleiner und dicker als gewöhnliche Deniere oder Sols, hatten abgerundete Kanten und eine Prägung, wie Fionn sie selbst bei den Celdennenmünzen bei den Steinen hinterm Hag noch nie gesehen hatte. Im Licht der Abenddämmerung schimmerte das zerkratzte Ocker glutrot.

»Sieht aus wie ein Ring … oder ein Knoten«, fand er.

Er hielt sie Kellen hin. Der bedachte sie nur mit einem kurzen Blick und sagte, womöglich verberge sich ja doch noch etwas Wertvolles in dem Bündel.

Fionn steckte die ockerfarbenen Münzen in die Tasche seiner Weste und Kellen bog, knickte und brach die verbleibenden Schichten steifen Leinens weg. Die letzte zerfiel schon fast von selbst unter seinen Fingern.

Doch als sich ihnen der Inhalt des so sorgsam verpackten und versteckten Bündels offenbarte, sackten ihre Erwartungen so ruckartig ab, wie Fionn eben.

»Ein Schwert«, stellte Kellen ernüchtert fest. »Ein schäbiges altes Schwert.«

Fionn sagte nichts, aber er teilte Kellens Enttäuschung.

Das traurige Ding, das da zwischen ihnen lag, sah verschlissen und ganz und gar vernachlässigt aus, so als wäre es selbst vor der Verwahrlosung schon sehr lange nicht mehr ordentlich gepflegt worden. Das kobaltblaue Leder des Hefts war rissig, dünn und abgewetzt, die altersdunkle Scheide bis aufs Holz zerkratzt und über die ganze Länge bis über die matte Parierstange mit fransigen Stoffbändern auf dieselbe überquere Art verbunden, wie es das Bündel gewesen war.

Kellen nahm es auf und musterte es argwöhnisch. »So ein Reinfall. Da wär mir ein guter Pfeifentabak lieber gewesen, das sag ich dir ganz ehrlich.«

Es stimmte schon, recht viel hermachen tat das Schwert wirklich nicht. Nicht für das Maß an Sorgfalt, das darauf verwendet worden war, es zu verbergen.

Das brachte Fionn ins Grübeln.

Kellen reichte es ihm weiter, damit er es ebenfalls begutachten konnte. Als seine Fingerspitzen jedoch das abgewetzte Leder des Hefts berührten, fuhr Fionn ein gleißender Schmerz durch die Finger; eine blitzartige Empfindung, sengend kalt und bitter zugleich.

Erschrocken ließ er das Schwert fallen und schüttelte seine Hand aus.

»Was ist? Was hast du?« Kellen sah ihn verwirrt an.

»Nichts, ich …«

Fionn starrte auf seine Finger. Was er eben gespürt hatte, konnte er Kellen genauso wenig erklären wie sich selbst. Der Schmerz war schon fort, doch er hatte etwas hinterlassen. Etwas … eine Eingebung, die vor der Schwärze seiner geschlossenen Lider flimmerte, unscharf, schemenhaft … und die noch im selben Herzschlag wieder verblasste.

»Nichts«, sagte Fionn noch einmal. Er griff nach dem Schwert, hob es auf. Diesmal geschah tatsächlich nichts.

Seltsam.

Fionn untersuchte das Schwert. Er stellte fest, dass die Stoffbänder an den drei Stellen, an denen sie sich kreuzten, durch mit Schlamm und Dreck verkrustete Siegel gehalten wurden. Ansonsten war da nichts weiter Auffälliges.

Und doch, je länger er das Schwert in der Hand hielt, umso deutlicher spürte Fionn, dass da noch etwas vorhanden war … etwas anderes, Seltsames, das sich dem Begreiflichen und Benennbaren auf eigenartige Weise entzog.

Es war wie der Widerhall einer fernen fremden Stimme, ja es war beinah wie …

Der Traum.

Der Traum der vergangenen Nacht. Er haftete dem Schwert an wie ein unsichtbarer schwerer Schatten.

Aber wie kann das …

»Was denkst du, Fionn?«

Kellens Stimme holte ihn zurück in die Gegenwart. Sein Freund sah ihn erwartungsvoll an. Wie lange hatte Fionn das Schwert in seiner Hand angestarrt?