Das Science Fiction Jahr 2019 -  - E-Book

Das Science Fiction Jahr 2019 E-Book

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Beschreibung

Auf posthumanistischen Wegen – der Rundgang durch die Science Fiction 2019 "Das Science Fiction Jahr" ist ein Kompendium, das seit 1986 in ununterbrochener Folge erscheint – erst im Heyne Verlag unter der Schirmherrschaft von Wolfgang Jeschke, dann unter Federführer Sascha Mamczak, und seit 2015 im Golkonda Verlag, ab 2020 bei Hirnkost. Das Science Fiction Jahr 2019 blickt auf das zurück, was die Science Fiction in Buch, Film, Spiel und Allgemeinen im letzten Jahr zu bieten hatte. Ein spezieller Fokus wird in dieser Ausgabe auf der Frage "Was ist eigentlich posthumane Science Fiction?" liegen. In Essays, Interviews, aber auch in unseren Rückblicken wird den Leser*innen das Thema immer wieder begegnen. Buchrezensionen, eine Bibliographie der in Deutschland erschienenen SF, eine Übersicht der vergebenen Genre-Preise sowie ein Nekrolog runden das Jahrbuch ab. Mit Beiträgen von Lars Schmeink, Judith Vogt, Karlheinz Steinmüller, Wolfgang Neuhaus, Mirko Strauch u. v. m.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Herausgegeben von Melanie Wylutzki und Hardy Kettlitz

Impressum

Das Science Fiction Jahr 2019

Originalausgabe

© 2020 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin

[email protected]

www.hirnkost.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Februar 2020

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung: [email protected]

Privatkunden und Mailorder: https://shop.hirnkost.de/

Die Rechte an den einzelnen Texten liegen bei den Autor*innen und Übersetzer*innen.

Redaktion: Wolfgang Neuhaus, Hardy Kettlitz, Melanie Wylutzki

Lektorat: Melanie Wylutzki

Korrektur: Anne-Marie Wachs, Robert Schekulin, Christian Winkelmann

Umschlaggestaltung: s.BENeš [http://benswerk.wordpress.com]

Titelfotos: www.nasa.gov

Layout & Satz: Hardy Kettlitz

Druck: Werbeproduktion Bucher, Berlin

ISBN:

PRINT: 978-3-947380-68-8

EPUB: 978-3-947380-69-5

PDF: 978-3-947380-70-1

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

Aktuelle Infos auch unter: www.facebook.com/ScienceFictionJahr

Das Science Fiction Jahr kann man auch abonnieren:

https://shop.hirnkost.de/produkt/das-science-fiction-jahr-abonnement/

Inhalt

Impressum

Inhalt

Editorial

Christopher Ecker: Die Literaten haben das Genre verlassen

Hans Frey: James Tiptree Jr.: Science Fiction zwischen Entfremdung, Liebe und Tod

Lars Schmeink: Biopunk: Genetik und die SF

Erik Simon: Alles schon dagewesen? Fast alles.

Dierk Spreen: Cyborg-Fiction

Fritz Heidorn: Erdaufgang

Erik Simon: Das Steinmüller-Universum

Joachim Paul: Perry Rhodan und Posthumanismus

Dominik Irtenkauf: Post- und Transhumanismus in der SF-Literatur

REVIEW | BUCH

REVIEW | SACHBUCH

Karlheinz Steinmüller: Fermis Paradox

Udo Klotz: Von knackig kurz bis episch lang: deutschsprachige Science-Fiction-Romane 2018

Simon Weinert: »Wirf einen Blick ins Otherland«

Hartmut Kasper: Daniel Düsentrieb

Thorsten Hanisch: Nackt unter Mutanten – Paolo Eleuteri Serpieris DRUUNA

REVIEW | SERIEN

Lutz Göllner: Was ist neu gestartet? Was wurde eingestellt oder beendet? Wo sollte man ganz schnell den Aus-Knopf drücken?

Ralph Sander: Ist das noch Trek oder kann das weg?

Sabrina Mittermeier und Mareike Spychala: »It’s a work in progress, but so is life«

REVIEW | FILM

Thorsten Hanisch: Filmrückblick 2018

Georg Seeßlen: Die letzte Grenze: Der Mensch nach dem Tod des Menschen

Mirko Stauch und Axel Weiß: Science Fiction und Podcasts: eine Momentaufnahme

REVIEW | GAME

Johannes Hahn: Das Jahr der Flicken, Wegekarten und der Dauerbeschallung

Lena Richter und Judith Vogt: Perfekte Körper, unperfekte Welten

Wolfgang Neuhaus: Drei Ebenen der posthumanen Science Fiction

Uwe Neuhold: Wann kommt der neue Mensch?

FACT | PREISE

Erik Simon: Russische SF-Preise 2018

FACT | TODESFÄLLE

FACT | BIBLIOGRAPHIE

FACT | AUTOREN UND MITARBEITER

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

es ist eine besondere Ausgabe des SCIENCE FICTION JAHR, die wir Ihnen 2019 präsentieren, denn der Weg dorthin war etwas steiniger als sonst. Zwischenzeitlich hatten wir bereits alle Hoffnungen verloren, diese langjährige Tradition am Leben erhalten zu können.

2019 war aus diversen Gründen ein schwieriges Jahr für die hiesige Verlagslandschaft, vor allem für kleine und unabhängige Verlage und Buchhandlungen. So auch für den Golkonda Verlag, dem es letztlich nicht mehr möglich war, das nun vor Ihnen liegende Buch zu veröffentlichen.

Umso glücklicher und stolzer sind wir, dass wir trotz aller Hürden im Hirnkost Verlag ein neues Zuhause für DASSCIENCE FICTION JAHR finden konnten und dass die lange Tradition, die 1986 von Wolfgang Jeschke (1936–2015) ins Leben gerufen wurde, weiter gepflegt werden kann. Für uns sind es große Fußstapfen, in die wir nun treten, denn der ehemalige Herausgeber der Science-Fiction-Reihe bei Heyne hat durch seine verlegerischen Tätigkeiten und durch seine eigenen Texte die SF-Landschaft hierzulande geprägt wie kein anderer. DAS SCIENCE FICTION JAHR ist über die letzten 34 Jahre hinweg regelrecht zu einer Institution geworden, auch dank Sascha Mamczak und Sebastian Pirling, die Wolfgang Jeschke in den 2000er-Jahren bei der Herausgabe des Almanachs unterstützten, Hannes Riffel, Programmleiter von FISCHER Tor, der das Prestigeprojekt 2015 im Golkonda Verlag aufnahm, als der Heyne Verlag es einzustellen drohte, sowie Michael Görden, der in den 1970ern und 1980ern die Science Fiction bei Bastei und eine Zeit lang das Programm des Golkonda Verlags verantwortete und zuletzt das Jahrbuch herausgab. An dieser Stelle möchten wir die Gelegenheit nutzen, uns für die gute Zusammenarbeit zu bedanken.

Auch wenn sich die Bedingungen, unter denen DAS SCIENCE FICTION JAHR in den letzten fünf Jahren erschienen ist, häufiger geändert haben, als wir alle hofften, versuchen wir im Erscheinen so konstant wie möglich zu bleiben. Auch die 34. Ausgabe unseres Jahrbuchs soll allem voran einen Überblick über die relevanten SF-Themen in Buch, Film, TV-Serien, Games und Podcasts geben.

Neben Rückschauen auf die einzelnen Medien bilden die Buchrezensionen auf knappen hundert Seiten einen guten Durchschnitt der in deutscher Sprache erschienenen SF ab. Abgerundet wird der Abschnitt rund ums Buch mit einem Abriss über deutschsprachige SF-Romane, den Udo Klotz verfasst hat, sowie einem Rückblick auf das Jahr aus der Perspektive des Fachbuchhändlers Simon Weinert aus der Otherland Buchhandlung in Berlin.

Inhaltlich legen wir den Fokus in diesem Jahr auf das Thema »Posthumanismus in der SF« – eine kleine Neuerung gegenüber den letzten Ausgaben, die wir gern auch in Zukunft weiterführen möchten. Warum »Posthumanismus«? Unserem Gefühl nach ist die Optimierung – sei es die eines Systems oder die eigene – in unserem Alltag wie in der Fiktion allgegenwärtig. Doch seine Vor- und Nachteile sowie die Folgen werden selten beleuchtet, obwohl die Reflexion dessen dringend nötig ist. In den Beiträgen unserer Autor*innen geht es nicht nur um posthumanistische Züge im PERRY RHODAN-Universum, die aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Entwicklungen in Richtung Posthumanismus oder die Vorteile des Cyborg-Daseins, sondern auch um den Umgang mit Behinderungen in der SF-Literatur oder die Frage, was nach dem Menschsein kommt, um nur einige der Themen zu erwähnen.

Zum Abschluss dieser Ausgabe warten wir wieder mit der Übersicht der relevanten Genre-Preise, einem Nekrolog im Gedenken an verstorbene Science-Fiction-Größen aus Fandom, Verlagen und Autorenreihen sowie einer Bibliographie der Publikationen in deutschsprachigen Verlagen, zusammengestellt von Christian Pree, auf.

Bei der redaktionellen Zusammenstellung des Bandes haben wir wie in den letzten drei Jahren viel Unterstützung von Wolfgang Neuhaus bekommen: Neben eigenen Essays und Rezensionen, die er verfasst hat, half er uns dabei, die Beiträge der Mitwirkenden zu sichten, und übernahm einen Großteil der Kommunikation für uns, wofür wir uns herzlich bei ihm bedanken wollen.

Ein solches Buch unter erschwerten Bedingungen auf die Beine zu stellen, wäre aber grundsätzlich nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung und das große Vertrauen all unserer Journalist*innen und Autor*innen, die unsere kleine Achterbahnfahrt mitverfolgen mussten und uns trotzdem die Stange gehalten haben. Jedem Einzelnen von ihnen gebührt unser Dank! Besonders hervorheben möchten wir an dieser Stelle Dierk Spreen, der die Verbindung zu Klaus Farin und dem Hirnkost Verlag geschaffen hat. Nicht zuletzt ist es Klaus Farin – Verleger, Spezialist für Jugendkulturen und Science-Fiction-Fan im Herzen – zu verdanken, dass wir diese 34. Ausgabe von DAS SCIENCE FICTION JAHR nun in den Händen halten können. Ebenso wie all denjenigen unter unseren Leser*innen, die uns bei unserer Crowdfunding-Kampagne unterstützt haben – ohne Sie könnte diese Tradition nicht fortgesetzt werden! Danke schön!

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre.

Auf viele weitere Ausgaben und spannende Lesestoffe unter der Flagge des Hirnkost Verlags.

Melanie Wylutzki & Hardy Kettlitz

Christopher Ecker

Die Literaten haben das Genre verlassen

1

Literatur als Gegenwelt

(Auszug aus der Rede zur Verleihung des Friedrich-Hebbel-Preises 2015)

Es gibt keine realistische Literatur. Literatur ist eine Gegenwelt. Die Vorstellung, dass eine aus Sprache gestaltete Gegenwelt identisch mit der Welt sein könnte oder sollte, ist absurd. Es gibt keine Motive im Chaos der Welt. Erkennt man Motive, so ist es lediglich das eigene Ordnungssystem, das der Betrachter über die Welt stülpt. Welt hat keinen Sinn. Welt bekommt Sinn erst durch den Betrachter, der ihr durch das Betrachten Sinn verleiht. Literatur ist also stets das andere, das der Welt entgegensteht. Etwas, dem jemand Sinn verleiht, indem er nach festgelegten Regeln scheinbaren Sinn erzeugt. So herrscht nämlich in den meisten literarischen Texten eine befriedigende Ordnung vor, die abrundet, ästhetisch befriedigt, aber eine solche Ordnung ist mehr Spiel und Wunsch als eine Spiegelung der Wirklichkeit. Die eigentlich realistische Literatur ist die Literatur der Offenheit, eine an der Grenze verfasste Literatur, die dem brüllenden Chaos der Welt eine absichtlich geminderte Ordnung gegenüberstellt, also eine Literatur, die nicht in befriedigende Lösungen mündet, sondern die oft genauso rätselhaft bleibt wie die Welt, die zu spiegeln sie beabsichtigt. Hierbei erweist sich die Metapher – im Kleinen auf der Satzebene und im Großen auf der Handlungsebene – als brauchbares Mittel, Erkenntnisse zu erreichen, die man beim Betrachten der Welt in ihrem ziellosen Sein kaum erreichen kann und wohl kaum, indem man Literatur schreibt, die vorgibt, realistisch zu sein und dabei Mustern eines Literatureinverständnisses folgt, das, ich wiederhole mich, eine abgeschlossene Welt für sich darstellt. Letztlich ist jede Literatur phantastisch, aber nur derjenigen, die in ihrer Offenheit ehrlich phantastisch ist und sich bewusst dem sogenannten Realismus entgegenstellt, kann es bisweilen glücken, den Schleier zu lüften, der unser Dasein umgibt, den Vorhang, der verbirgt, worüber man nicht klar sprechen kann, weil dazu Sprache nicht ausreicht, da sie ein Bestandteil ebendieser Welt ist, über die sie sprechen will. Bilder dringen bisweilen in das andere vor, Metaphern und auch der offene Text, der letztlich nichts anderes ist als eine große Metapher. Es gibt keine Antworten in der Welt. Doch die vielerorts als »phantastisch« geschmähte Literatur versucht wenigstens zu antworten.

2

Interview mit mir selbst über Herrn Slipstream und seine Kollegen

CE: Herr Ecker, sind Sie ein Science-Fiction-Autor?

CE: Hätten Sie mir diese Frage in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts gestellt, hätte ich sie begeistert bejaht, doch heute muss ich mich empört zeigen, dass Sie die Frechheit besitzen, mir eine solche Frage überhaupt zu stellen.

CE: In Ihren Texten gibt es aber durchaus Motive, die man gemeinhin der Science Fiction zurechnet. Wäre es Ihnen lieber, wenn man Sie als phantastischen Autor sehen oder bezeichnen würde?

CE: Auch die Phantastik hat heutzutage keinen guten Ruf.

CE: Nehmen wir einen Umweg. Schreiben Sie postmoderne Literatur?

CE: Nein. Überhaupt nicht. Aber solche Fragen sollte man zuletzt dem Autor selbst stellen. Ich stehe auf Kriegsfuß mit dem Begriff »Postmoderne«, der mir zu nebulös scheint, um gewinnbringend auf Literatur angewendet zu werden. Letztlich geht es den Anhängern dieses hilflosen Epochenbegriffs darum, in literarischen Werken gewisse stilistische oder konzeptionelle Besonderheiten zu finden, Besonderheiten, die als postmodern gelten, um dann beweisen zu können, dass das behandelte Werk ein Werk der Postmoderne ist. Diese stilistischen oder konzeptionellen Besonderheiten sind aber m. E. (manus explicans, Hrsg.) so alt wie die Literatur selbst. Glücklicher wäre es daher, gleich mit diesen Besonderheiten zu arbeiten, etwa indem man die Metafiktionalisierung in einem Werk herausarbeitet und deren Funktion untersucht. Doch wenn mich nicht alles täuscht, wollten wir hier ein Gespräch über Slipstream führen.

CE: Sind Sie ein Slipstream-Autor?

CE: Um sinnvoll über den Begriff »Slipstream« zu reden, müssen wir erst ein wenig in der Geschichte der Science Fiction wühlen. Weshalb wurde in den 1940er- und 1950er-Jahren in den Vereinigten Staaten Science Fiction geschrieben? – Fast ausschließlich, um mit dem Geschriebenen Geld zu verdienen. Science Fiction war damals ein Unterhaltungsgenre, das sich in erster Linie an junge, männliche Leser richtete, an picklige Nerds, die hochroten Kopfes im Drugstore Zeitschriften erstanden, auf deren Titelbildern sich wohlgeformte Damen, die lediglich mit Metallbüstenhaltern und Kettenslips bekleidet sind, in den grün genoppten Tentakelfängen käferäugiger Monster aus dem Weltall winden. Die geschriebene Science Fiction richtete sich bis auf wenige Ausnahmen (Vance, Bradbury, Dick, Bester, Pohl) an ein Publikum, das finanziell geschröpft werden sollte, und wollte dieses daher nicht intellektuell überfordern, doch dann kamen die 1960er- und 1970er-Jahre mit der New Wave, einer revolutionären Strömung, die um das von Michael Moorcock herausgegebene britische Magazin New Worlds entstand, und die den eskapistischen Weltraumabenteuern für weltfremde Pubertierende abgründige Reisen in den Inner Space – also in die Psyche des Menschen – entgegensetzte, die weitaus rätselhafter ist als alles, was die Unterhaltungs-SF (Raumschiffe, Außerirdische, Zeitreisen) den Lesern bieten konnte.

CE: Was war geschehen?

CE: Die Literatur war in die Science Fiction eingebrochen. Autoren, die ernsthafte Schriftsteller waren und sich aus irgendwelchen Gründen dem Genre verbunden fühlten (Disch, Ballard, Aldiss, Sladek), schrieben literarische Texte, die auch Science Fiction waren, aber sozusagen nur »unter anderem«. Diese Autoren, die moderne Literatur kannten und lasen und schätzten, brachten ihre Erfahrungen in das Genre ein – gleich einem reisenden Handwerksburschen, der in der Fremde erlernte Fertigkeiten in die Heimat zurückbringt. Und erstaunlicherweise machten die Leser mit; dieselben Leser, die offenbar doch nicht so blöde waren, wie die Verleger geglaubt hatten. Formales Experiment, stilistischer und intellektueller Anspruch, thematische Ambition, gestalterischer Mut, psychologische Figurenzeichnung, systemkritische Aggressivität und eine Abwendung vom Inhalt, dem wohl wichtigsten Element der Science Fiction als reiner Unterhaltungsware, sind Kennzeichen der New Wave. Verblüffenderweise schrieben die New-Wave-Autoren oftmals Texte, die, wären sie andernorts erschienen als in einem SF-Magazin, niemand für Science Fiction gehalten hätte. Nebenbei bemerkt: Tom McCarthys 8½ Millionen hätte damals gut als Fortsetzungsroman in New Worlds erscheinen können. Die New-Wave-Autoren hatten im Genre ein Reservat gefunden, wo sie zwei Jahrzehnte gut leben und publizieren konnten, ehe die Science Fiction in den 1980er-Jahren wieder (jedenfalls größtenteils) zur reinen Unterhaltungsliteratur verkam bzw. verstarwarsierte. Bisweilen gab es neben oder als Fortläufer der New Wave noch echte Literatur in der Science Fiction (Wolfe, Tiptree Jr., Lafferty, Le Guin, Silverberg), doch heute muss man nach literarischer Science Fiction (Miéville, Chiang) lange suchen. Aber letztlich hat die New Wave dem Genre gutgetan, da sie vieles möglich machte, was vorher undenkbar schien: Thematisierung von Sexualität (Farmer, Delany), stilistisches Experiment (Ballard, Disch, Sladek), Bezugnahme auf Hochliteratur (Disch, Zelazny) oder – gänzlich neu in der Männerdomäne SF – die Berücksichtigung weiblicher Perspektiven (Le Guin, Tiptree jr., Butler). Doch allmählich wurden diese literarisierenden Genre-Veränderungen vom Mainstream vereinnahmt und zu Kommerzbrei zermahlen.

CE aufgeregt: Was ist passiert?

CE: Die Literaten haben das Genre verlassen, bzw. haben das Genre gar nicht mehr finden können, da es dort kein Reservat mehr für sie gab und gibt. Stattdessen hat das Genre die Literaten gefunden und so tauchen in der modernen Literatur allerorten Science-Fiction-Motive auf wie Präkognition (Pynchon: Die Enden der Parabel), Post-Doomsday-Szenarien (McCarthy: Die Straße, Mitchell: Der Wolkenatlas), Klonen (Ishiguro: Alles, was wir geben mussten) und Dystopien ohne Ende (von Old Orwell über Fahrenheit Bradbury zu Margaret Atwood). Natürlich ist das nicht ungewöhnlich. Literatur war immer schon phantastisch. Da treten Götter auf (Homer), da wird ins Totenreich (Gilgamesch) und durch die Hölle spaziert (Dante), Zauberer wirken (Shakespeare, Goethe) und mehr Geister treten auf, als das Jenseits hergibt (Dickens, James). Ich glaube, dass es sich bei der negativen Bewertung von Phantastik um ein typisch deutsches Problem handelt, das geschichtlich zu verankern ist. Ohne das so genannte Dritte Reich gäbe es hierzulande keine Probleme zwischen U- und E-Literatur; Termini, die in anderen Ländern nicht gebraucht werden. Wir Deutschen haben insgesamt ein Problem mit Phantastik und Science Fiction: Wer so etwas schreibt, kann keine ernstzunehmende Literatur fabrizieren, denkt und schreibt das ominöse »man« (Heidegger), aber letztlich wird mit ungeklärten Begriffen operiert. Was ist denn bitteschön »Science Fiction«? Was »Phantastik«? Was »Literatur«?

CE: Wir wollten eigentlich über Slipstream reden.

CE seufzt: Gut. Es gab nur eine ernsthafte Revolution in der Science Fiction und das war die New Wave, alle weiteren Revolutionen sind Revolutiönchen und haben eine weitaus geringere Bedeutung. Etwa der Cyberpunk, der viel zu sehr in der Hard-SF verhaftet war. Bruce Sterling schrieb 1985 unter dem Pseudonym Vincent Omniaveritas einen Text mit dem Titel The New Science Fiction, in dem er eine Art Manifest des Cyberpunk vorlegte. Kennzeichen der neuen Science Fiction sind für ihn »technologische Bildung und ein Interesse an echter moderner Wissenschaft«, »imaginative Konzentration«, »visionäre Eindringlichkeit«, »ein globaler Blickwinkel« und »eine fiktionale Technik, die die Fortschritte der New Wave als bereits gegeben ansieht und die ganze Palette literarischen Geschicks einsetzt, dabei jedoch den Vorrang des Inhalts vor dem Stil und der Bedeutung vor der Manieriertheit behauptet«. Bei dem letzten Kennzeichen Sterlings sehen wir, dass der Cyberpunk reines Genre bleiben will und muss: Kein Literat von Weltrang würde Inhalt von Stil trennen und von etwas derart Unheimlichem wie »Bedeutung« sprechen.

CE: Bleiben wir bei Sterling.

CE: Ein nicht sehr bedeutender Autor.

CE: Bleiben wir bei Sterling und seinem Begriff »Slipstream«.

CE: 1989 verwendet Sterling diesen Begriff offensiv in seinem gleichnamigen Aufsatz. Sterling nimmt darin Bezug auf ein 1988 erschienenes Interview mit Carter Scholz (mir leider unbekannt), in dem dieser ausführt, die Science Fiction habe die Chance verpasst, ernstzunehmende Literatur zu sein. Sterling knüpft an diesen guten Gedanken an, sieht die Science Fiction in der Krise, auch gut, konstatiert, dass die wirklich gute SF-Literatur meist außerhalb des Genres entsteht, richtig, und nennt diese Literatur, die zum Teil in, aber meist außerhalb der Science Fiction zu finden ist, Slipstream. Sterling sieht Slipstream (ich zitiere aus der Wikipedia, weil ich zu faul zum Selbst-Übersetzen bin) als »eine zeitgenössische Form des Schreibens, die sich dem Realitätskonsens entgegen stellt. Phantastisch, manchmal surreal, gelegentlich spekulativ, dabei aber nicht regelkonform. Sie will nicht den ›Sinn für das Wunderbare‹ anregen oder systematisch extrapolieren wie die klassische Science Fiction. Stattdessen bewirken diese Texte, dass man sich ganz fremd fühlt; so wie das Leben im Zwanzigsten Jahrhundert sich eben anfühlt, wenn man über eine gewisse Sensibilität verfügt.«

CE: Also ist Slipstream nicht Cyberpunk?

CE: Nein. Wenn man sich Sterlings Slipstream-Definition ansieht, kommt einem der Verdacht, dass er ganz schlicht und ergreifend von der Literatur an sich spricht. Das Seltsame war immer Bestandteil der Literatur. Und früher haben sich sensible Menschen auch fremd in der Welt gefühlt (Eichendorff, Hoffmann, Büchner). Doch bleiben wir, um Sterling einen Gefallen zu tun, im Zwanzigsten Jahrhundert. 1977 haben Thomas M. Disch und Charles Naylor eine Anthologie unter dem Titel Strangeness veröffentlicht, in der sich unter anderem Geschichten von Shirley Jackson, Brian Aldiss, Italo Calvino, Joan Aiken, Thomas M. Disch, Thomas Mann und John Sladek befinden. Nabokov oder Borges hätten auch gut in diesen Band gepasst. Disch und Naylor haben keineswegs versucht, ein Genre zu begründen, sondern wollten vielmehr zeigen, dass das Seltsame in allen Genres zu Hause ist, sofern in diesen Genres literarisch ernsthaft gearbeitet wird. Eine ähnliche Intention haben Ann und Jeff VanderMeer 2012 mit ihrer bahnbrechenden Anthologie The Weird verfolgt, die in keinem gut sortierten Bücherschrank fehlen sollte. Kurz: Ich halte den Begriff »Slipstream« für obsolet, weil das, was er zu propagieren vorgibt, für alle ernstzunehmende Literatur gilt. Und zwar auch schon länger als seit dem Zwanzigsten Jahrhundert. Wichtig an der ganzen Slipstream-Geschichte ist allein Sterlings Beobachtung, dass die wirklich gute Literatur kaum noch im Science-Fiction-Genre zu finden ist.

CE: Wie Sie bereits sagten: Die Literaten haben das Genre verlassen.

CE: Genau. Bruce Sterling hat seinem Text eine Liste der Autoren angehängt, die er persönlich dem Slipstream zurechnet …

CE lacht: Ja, da finden sich neben John Fowles und John Crowley auch Günter Grass und Max Frisch. Das wirkt, als hätte jemand in der Schülerzeitung eine Liste veröffentlicht: Was ich gerne lese.

CE: Kafka fehlt in Sterlings Liste.

CE: Ja, wieso eigentlich? Ein unschuldiger Mann wird verurteilt und man verhandelt seinen Prozess vor einem geheimen Gericht. Ein Mann will zum Schloss, doch dieses Vorhaben erweist sich als unmöglich. Ein Mann erwacht morgens als riesiger Käfer. Aber wie dem auch sei, das, was für Sterling Slipstream ist, erweist sich schlicht und ergreifend als ernsthafte Literatur. Vielleicht ist das, was er definiert, für ihn, der tief aus dem Genre kommt und eher der Hard-SF zuzurechnen ist als der literarischen Science Fiction, so besonders und erwähnenswert, weil er genau dorthin, also in die echte Literatur, will und nie hinkommt. Gibson ist da übrigens auch nie hingekommen. Macht ein betroffenes Gesicht: Aber wie kommen wir nun zu einem Abschluss?

CE: Indem wir sagen, dass Epochenbegriffe und Gruppenbegriffe notwendig zum Katalogisieren von Literatur sind. Zum Einordnen außerordentlich wichtig und unerlässlich, aber ansonsten Krücken …

CE: Ja, das wäre ein guter Abschluss. Letztlich gibt es nur eine einzige funktionierende Kategorisierung von Literatur: Zum einen Texte, die geschrieben werden, um damit Geld zu verdienen, und zum anderen Texte, die um des Schreibens der Texte willen aus innerer Notwendigkeit geschrieben werden, Texte, die man z. B. in der New Wave findet. Vor allem bei Disch und Ballard.

CE: Pointiert könnte man also sagen: Alle Literatur ist SF.

CE: Ja. Denn Literatur ist immer mythisch. Und Mythen sind Science Fiction. Freundlich, aber belehrend: Alle Mythen sind erzählerische Erklärungsversuche des Unverständlichen. Und: Alles Schreiben ist mythisch. Schreiben schafft Sinn in einer zweiten Wirklichkeit, die wirklicher scheint als die wirkliche Wirklichkeit, da die mythische Welt Sinn in Form von Motiven und abgerundeten Plotstrukturen liefert, einen Sinn, den man in der wirklichen Wirklichkeit vergebens sucht. Paradoxerweise wird die aus Sehnsucht geborene Neuschaffung im Moment des Entstehens zu einem Bestandteil der wirklichen Wirklichkeit, die somit mit einem Sinn erfüllt wird, der letztlich von außen kommt und nichts mit der Welt selbst zu tun hat: Der Künstler schafft in der Welt etwas Außerweltliches, das dennoch, sobald es rezipiert wird, zu einem Bestandteil der Welt wird, die sich dadurch mit Mythischem auflädt, sodass die Grenzen verwischen. Und die wirkliche Wirklichkeit ist daher längst eine Geschichte, ein Mythos.

CE: Das heißt aber in letzter Konsequenz, dass alles sinnlos ist, oder?

CE: Philosophisch gesehen kann die Welt gar nicht sinnlos sein. Die Welt ist nämlich nicht sinnlos oder sinnhaft, sondern einfach da. Sinnlos oder sinnhaft machen wir sie erst, das heißt, wir sprechen etwas gewisse Eigenschaften zu, die eigentlich nicht zu dem Ding, sondern zu unserer ureigenen Wahrnehmung des Dinges gehören. Und jetzt wird es paradox: Dass die Welt nur da ist, erscheint uns sinnlos. Und jetzt wird es paradoxer: Indem wir sie als sinnhaft begreifen, heben wir die scheinbare Sinnlosigkeit auf, indem wir diese in eine scheinbare Sinnhaftigkeit verwandeln. Und hierbei hilft die Kunst. Als Nichthandlung in der sogenannten wirklichen Welt könnte man die Kunst möglicherweise sehen, weil man als Künstler das Gefühl hat, weniger oder kaum zu leben, da man sich beim Kunstschaffen für einen großen Zeitraum in eine zweite Welt begibt, die man letztendlich durch Arbeit selbst schafft. Aber bei ernsthafter Kunst ist diese zweite Welt eine Welt, die Veränderungen in der so genannten wirklichen Welt hervorrufen oder vielleicht sogar diese deutlicher zeigen kann: Beim Rezipienten und natürlich beim Künstler selbst. Also ist das Schaffen von Kunst eine Handlung und ein Bestandteil des echten Lebens, eine Handlung, die nicht nur eine zweite Welt, eine Gegenwelt, schafft, sondern sich auch verändernd auf die erste auswirkt. Aus unerfindlichen Gründen plötzlich um Fassung bemüht: Wieso nun dieser Verdacht der Feigheit des Künstlers? Weil er das Gefühl hat, etwas zu verpassen? Weil er das Gefühl hat, nicht zu handeln? Aber er handelt doch und verändert sich und andere durch das Kunstschaffen und verleiht somit durch die Erzeugung einer zweiten Welt der ersten Sinn, einen projizierten Sinn allerdings, und das macht die Sache wieder schwierig. Ich glaube, das Wechselspiel zwischen Kunst und Wirklichkeit ist letztendlich das Thema jeder ernsthaften Kunst, die dadurch, dass sie dieses Wechselspiel reflektiert und in Bilder (Metaphern, Geschichten) übersetzt, zu erfolgreicheren Ergebnissen kommen kann als jede theoretische Herangehensweise.

CE: Hier könnte man schön Ballard zitieren: »Die Fiktion ist bereits da. Die Aufgabe des Schriftstellers besteht darin, die Realität zu erfinden.« Tom McCarthy präzisiert diesen Gedanken: »Ballard sagt uns nicht, der Romanschreiber habe die Realität zu entdecken, intuitiv zu erfassen oder zu enthüllen: Er muss sie erfinden. Die Realität ist noch nicht da; sie ist etwas, das hervorzubringen oder zu produzieren ist; und in diesem Erzeugen liegt die Aufgabe, die Pflicht und der Einsatz des Schreibens.« Und diese Realität, könnte man hinzufügen, ist eine Gegenwelt, die mit der wirklichen Welt zwar gewisse Gemeinsamkeiten hat, dennoch von dieser grundverschieden ist und erstere vielleicht sogar erst erzeugt. Letztendlich macht Kunst mit der sogenannten Wahrheit, was uns der Altmeister Philip K. Dick in seinen flott runtergenudelten Romanen immer zeigen wollte: Er hat einen Hammer genommen und alle Gewissheiten zertrümmert.

CE: Wenn ich Sie richtig verstehe und glauben Sie mir, ich gebe mir die größte Mühe, dann kann man sich nichts mehr gewiss sein.

CE: Es wäre vernünftig, in dieser Hinsicht Vorsicht walten zu lassen. Das macht die literarische Arbeit natürlich nicht einfacher. Diese Zweifel an Gewissheiten und die sie begleitenden Gefühle tauchen in meinen Büchern immer mal wieder offen oder verborgen in dieser oder jener Verkleidung auf. Mit einer undeutbaren Handbewegung: Und diese hier niedergelegte Meinung zum Thema ist auch nicht meine endgültige, sondern meine heutige Meinung zum Thema, die sich morgen schon ändern oder in ihr Gegenteil verkehren kann …

CE: Also könnten Sie morgen einen Essay schreiben, in dem Sie das Phänomen Slipstream begeistert feiern und sich mit Romanen wie Die letzte Kränkung, Fahlmann oder vor allem Der Bahnhof von Plön als dessen paradigmatischen Vertreter rühmen?

CE: So etwas würde ich nie tun, kann aber nicht ausschließen, dass ich es irgendwann einmal täte, und vielleicht tue ich es gerade jetzt, in diesem schwirrenden Moment, wenn Ihre Aufmerksamkeit allmählich schwindet, da Sie auf die heimkehrenden Vögel warten.

3

Heimkehrende Vögel

Now, where would a story go to,

if there were no virtuous characters?

Alexander Smollett

Beinahe hatte die Situation völliger Feindseligkeit, der er sich plötzlich ausgesetzt fühlte, etwas Befreiendes, war es doch von nun an nicht mehr notwendig, sich Gedanken über, wie es im Handbuch hieß, »richtiges Verhalten« zu machen, denn in den Augen der anderen war jetzt alles, was er tat, falsch oder wurde als »falsches Verhalten« betrachtet. Ob er dies oder das sagte, dieses oder jenes tat, war letztlich einerlei und ungewollt befand er sich auf einmal in einem Zustand, der zwar in gewissem Sinne unfrei war, aber völliger Freiheit näher als alles kam, was er bisher erlebt hatte. Warum nicht noch einmal Die Schatzinsel lesen? Wieso täglich zur Arbeit gehen? Weshalb noch über irgendetwas nachdenken? Zürnt der schmerzhaft schief gewachsene Baum an der Steilküste dem Wind? Mit einem Ächzen ironischen Selbstmitleids setzte er sich im Bett auf und stopfte ihr nicht mehr benötigtes Kissen hinter seinen Rücken. Gleichmäßig ging der Atem, strömte ein, strömte aus, fast ohne sein Zutun strömte der Atem gleichmäßig ein und aus. Zu Beginn des zweiten Kapitels müsste er unbedingt den Konsul treffen, um noch einmal seinen Status als Beobachter abzuklären. Die darauf folgenden Kapitel, wusste er im Blitzen einer beglückend jähen Eingebung, würden alle im Dschungel spielen. Natürlich war seine Bevorratung mehr als naiv, das mitgeführte Trinkwasser rasch verbraucht, und so erreicht er im letzten Satz des ersten Bandes die Dschungelresidenz, genauer gesagt, die Ruinen einer Stadt, die der Dschungel sich einverleibt hat, und ehe der erste Band flirrend vor Durst über dem gleißend weißen Quader der Restseite endet, könnte es in etwa heißen: Es erschien ihm unwahrscheinlich, dass die Vorfahren der Eingeborenen die Stadt erbaut hatten, ebenso unwahrscheinlich, wie dass es ihm je wieder gelänge, zur Station zurückzufinden, und ihr Kissen im Rücken war eine viel zu weiche Verheißung und gleichmäßig ging sein Atem, strömte ein, strömte aus, fast ohne sein Zutun strömte der Atem gleichmäßig ein und aus. Gäbe es Gläser, Einweckgläser möglicherweise, die Sinn enthalten, aus dem Süden heimkehrende Vögel, oder falls ich eines dieser Gläser noch besäße und sie nicht allesamt beim Schreiben geöffnet hätte, seufzt: sie nicht in jenen Stunden verblendeter Hoffnung leichtfertig verbraucht hätte, eines zumindest würde ich jetzt öffnen.

Hans Frey

James Tiptree Jr.: Science Fiction zwischen Entfremdung, Liebe und Tod

James Tiptree Jr. war eine Kunstfigur, erfunden von der US-amerikanischen Psychologin, Malerin und Autorin Dr. Alice B. Sheldon (1915–1987). Unter diesem Pseudonym avancierte sie im gestandenen Alter von 53 Jahren zu einer der wichtigsten SF-Autorinnen des 20. Jahrhunderts, die nicht nur den Frauen in der SF zum Durchbruch verhalf, sondern auch neue Inhalte und ein hohes literarisches Niveau in das Genre einbrachte.

1. Leben

Bevor Alice Sheldon (geborene Bradley) zum SF-Literaturstar aufstieg, lag bereits ein bewegtes Leben hinter ihr. Sie wuchs als Einzelkind von wohlhabenden Eltern in Chicago auf. Schon mit sechs Jahren unternahm Familie Bradley eine Afrikaexpedition in den Kongo. Zwei weitere Reisen nach Afrika und Asien sollten im jugendlichen Alter folgen. Mit 18 heiratete sie in einem nicht wirklich ernst gemeinten Überraschungscoup Bill Davey. Es folgten einige wilde Jahre in Berkeley (Kalifornien), die mit dem Scheitern der sowieso brüchigen Ehe endeten.

Nachdem sie zu ihren Eltern in Chicago zurückgekehrt war, arbeitete sie vorübergehend als Kulturredakteurin, um dann spontan in das neugegründete Frauencorps der US-Army einzutreten. Sie nahm aktiv im Bereich »Bildaufklärung« am Zweiten Weltkrieg teil, war zeitweise im Pentagon tätig und kam im Armeeauftrag nach Europa und nach Deutschland. Hier lernte sie Huntington »Ting« Sheldon kennen und heiratete ihn. Diese Ehe hielt bis zu ihrem Lebensende.

Nach dem Abschied vom Militär gab es für das Ehepaar drei Jahre lang ein kurioses Zwischenspiel als Kükenzüchter auf einer Farm. Als beide das Angebot erhielten, für die neugegründete CIA zu arbeiten, kehrten sie dem Landleben recht willig den Rücken. Während »Ting« bis zu seiner Pensionierung für den Auslandsgeheimdienst in leitender Position tätig war, wandte sich Alice bereits nach drei Jahren vom dem als unbefriedigend empfundenen Job ab und stattdessen der Wissenschaft zu, promovierte, war jedoch auch damit nicht zufrieden.

1968 schickte sie einige ihrer Storys unter dem Pseudonym James Tiptree Jr. an bekannte SF-Magazine, die zu ihrer eigenen Überraschung die Erzählungen annahmen und veröffentlichten. Das war der Beginn einer steilen Schriftstellerkarriere, und der Erfolg hielt bis zum Schluss an. Übrigens: Acht Jahre lang konnte Alice Sheldon ihre Tiptree-Tarnung aufrechterhalten, welche man durchweg in der Szene und darüber hinaus für bare Münze nahm. Erst 1976 wurde ihre wahre Identität bekannt. Die Texte der Autorin erschienen aber weiterhin unter ihrem Decknamen Tiptree sowie in wenigen Fällen auch unter Racoona Sheldon.

Ihre spätere Lebensphase wurde von vielen Reisen geprägt, aber auch durch die Arbeit als erfolgreiche SF-Autorin und eine bereits früher begonnene, umfassende Briefkorrespondenz mit fast allen männlichen Größen der damaligen SF-Szene, v. a. aber auch mit den neuen SF-Autorinnen Ursula K. Le Guin und Joanna Russ.

Was sich bisher so glatt und rund angehört haben mag, war weder das eine noch das andere. Ein Leben lang hatte Alice Sheldon mit Depressionen, einer komplizierten Sexualität und einer Identitätssuche zu kämpfen, die ihre Vita unstet, unruhig und aufwühlend machten. Als sie merkte, dass es endgültig bergab ging (sie selbst spürte das Alter, und ihr Mann war faktisch erblindet und verfiel zunehmend), entschieden sich beide gegen ein quälendes Siechtum. Gemeinsam gingen sie 1987 in den Freitod.

Alice und Huntington Sheldon, Januar 1946

2. Zum Werk

Nach meiner Zählung hat Tiptree 70 Storys bzw. längere Erzählungen respektive Novellen und zwei Romane geschrieben. Schon an der Quantität lässt sich erkennen, dass sein literarischer Schwerpunkt auf der Kurzform lag. Die beiden Romane Tiptrees sind indes ohne jede Frage lesenswert und stehen klar über dem Niveau der gängigen SF, überragend sind sie – im Gegensatz zu vielen seiner Storys – jedoch nicht.

Tiptree, der SF-Klassiker

Thematisch setzt Tiptree klare Präferenzen. Als entschiedener Traditionalist der SF widmet er sich zu einem Großteil klassischen SF-Themen wie z. B. Weltraumabenteuern mit Space Opera-Charakter (»Glück ist ein wärmend Raumschiff«), Zeitreisen (»Oh kehre, selige Zeit, mir zurück«), Gesellschaften von Aliens (»Paradiesmilch«), Alien-Invasionen (»Hilfe«) und sense of wonder-Geschichten (»Mother in A Sky with Diamonds«; auch im Deutschen mit englischem Titel).

Stets hebt er sie deutlich über den Level einschlägiger Pulp-Storys hinaus, indem er komplexe Inhalte und sprachlich-stilistische Brillanz hinzufügt. Immer wieder greift er auch humoristische Elemente auf, die unter anderem die Pulps persiflieren, aber nicht herabwürdigen. Obwohl man nicht selten auf düstere, dystopische Szenarien trifft (Gewalt und Todeserfahrung, Weltuntergänge – »Dr. Ains letzter Flug« –, Post Doomsday), scheut sich Tiptree ausdrücklich nicht, auch fortschrittsoptimistische Utopien zu schreiben (»Die Farbe von Neandertaleraugen«).

Im Rahmen der Tiptree’schen Weltraum-SF sind die sogenannten First-Contact-Geschichten besonders wichtig. Ausgehend von der berühmten Story von Murray Leinster – »First Contact«, dt. »Erstkontakt« (1945) – begründete sich ein SF-Subgenre, das sich mit einem ersten Zusammentreffen von Menschen und Außerirdischen befasst. Alice, die schon in frühester Jugend auf ihren Afrikareisen ähnliches erlebt hatte, war fasziniert von dem Thema, sodass sie als Tiptree häufig darauf zurückkam (z. B. »Kollision« in Sternengraben). Es gibt mindestens 20 Tiptree-Storys, die um den First Contact kreisen.

Tiptree, ein SF-Autor der natürlichen Evolution

Bei der Themenwahl fällt auf, dass Tiptree sich praktisch nie mit der mechanisch-elektronischen Welt der SF beschäftigt. Computer, Roboter, künstliche Intelligenzen u. ä. sind entweder bloße Kulisse oder kommen erst gar nicht vor. Tiptree schreibt »biologische« SF, in der die natürliche Evolution und das Leben an sich dominieren. Dazu gehören auch die Storys, in denen andere Formen der Fortpflanzung imaginiert werden (»Dein haploides Herz«), oder seine Auseinandersetzung mit der Klon-Thematik und der Kryonik.

Ebenso berührt der Autor das in der SF weitverbreitete Thema der Mutation im Sinne von paranormalen Fähigkeiten nur am Rande. Sporadisch tauchen Empathen und Telepathen auf, das war’s dann schon. Im gesamten Erzählwerk Tiptrees gibt es nur eine »echte« Mutantin, und zwar in der Story »Sie wartet auf alle Geborenen«. Weitere Ausnahme: Der Roman Die Mauern der Welt hoch. Hier haben Psi-Fähigkeiten einen zentralen Stellenwert.

Selbiges gilt für Maschinen. Sie bleiben – in welcher Form auch immer – reine Instrumente und entwickeln keine eigenständige Existenz. Dennoch zollt er ihnen einen gewissen Respekt, weil er bei ihrer Beschreibung (z. B. Raumschiffe) eine Akribie an den Tag legt, die ihn streckenweise zu einem der harten SF verschriebenen Autor macht. Dasselbe gilt übrigens oft auch für biologische Vorgänge und für bestimmte politisch-soziale Schilderungen.

Was die bei Tiptree eigentlich nicht existente Schnittstelle Mensch-Maschine betrifft, gibt es nur drei Ausnahmen. Das ist einmal das Robot-Schiff in »Schmerzweise«, das den menschlichen Protagonisten knechtet und missbraucht, und zum anderen – noch bemerkenswerter – die Story »Das eingeschaltete Mädchen«, in der der Autor einen von einem Konzern ausgebeuteten weiblichen Cyborg kreiert und damit das Subgenre des Cyberpunk vorwegnimmt. Schließlich gibt es in dem Roman Die Mauern der Welthoch einen Megacomputer, mit dem eine negative Superintelligenz bezwungen werden kann. Trotzdem bleibt es richtig, dass Tiptree in der überwiegenden Zahl seiner Texte der biologischen Ausrichtung treu geblieben ist.

Tiptree, derNew Wave-Autor

SF-Traditionalismus, hohe Qualität und Innovation sind für Tiptree keine Gegensätze. Der Antrieb, die SF zu erneuern und neues Terrain zu erschließen – ohne dabei ihre Wurzeln zu verleugnen –, ist bei ihm mit Händen zu greifen. In diesem Sinne ist Tiptree ein New Wave-Autor, ein Avantgardist, dessen Werke von Motiven leben (Entfremdung, Liebe, Sex, Tod), die es in dieser Form in der früheren SF nicht gegeben hat. Und er beweist, dass die New Wave wesentlich mehr ist als J. G. Ballard. Dass der Brite von seiner eigenen Erfindung überrollt werden würde, daran hat er wohl nie gedacht. Dazu bedurfte es wie in einer List der Vernunft unter anderem einer Frau, die dem »alten Macho« seine Grenzen aufzeigte.

Aus meiner Sicht lassen sich drei Bereiche ausmachen, in denen sich Tiptrees avantgardistischer und innovativer Impetus besonders ambitioniert offenbart.

1) Feminismus

An erster Stelle müssen die feministischen und genderorientierten Storys genannt werden, mit denen Tiptree eines seiner Grundanliegen fixiert (»Houston, Houston, bitte kommen!«). Natürlich schwingt das sogenannte Frauenthema in den meisten Geschichten Tiptrees immer irgendwo im Hintergrund mit, aber es gibt Erzählungen, die sich explizit damit befassen und das Patriarchat frontal angreifen (»Frauen, die man übersieht« oder »Die Screwfly Solution«). Das ist beabsichtigt, denn diese Erzählungen sollen innerhalb und außerhalb der Science Fiction eine politische Wirkung erzielen. Fragen über die Stellung und den Wert der Frau, zweifellos ein zentrales Feld gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung, mit den Mitteln der SF aufzugreifen und sie emanzipatorisch in Richtung Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu diskutieren, auch das ist im Genre zu dieser Zeit revolutionär. Dabei blieben die Sheldon und ihre Mitstreiterinnen nicht ohne Erfolg.

2) Vom unkonventionellen zum experimentellen Schreiben

Zwar bewegen sich die meisten Texte Tiptrees im traditionellen Erzählmodus (hier keineswegs negativ gemeint), doch auch diesem vermag er zuweilen überraschende, bis dahin so nicht gekannte Seiten abzugewinnen. Es kann surreal werden (»Der Mann, zu dem die Türen Hallo sagten« oder »Sie in einem trüben Spiegel«), mystisch-poetisch (»Coda«), magisch-realistisch (»Was die See bei Lirios anspülte«), parabelhaft (»Unser Dämon vor Ort«), grausam-schrecklich (»Von Fleisch und Moral«), tiefsinnig-philosophisch (»Mitten im Leben«) oder kryptisch-expressionistisch (»Amberjack«).

Hin und wieder schreibt Tiptree konsequent aus der Sicht eines Alien und beweist damit ein erstaunliches Einfühlungsvermögen (»Beam uns nach Hause« oder »Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod«). In »Herz Drei« gelingt ihm das Kunststück, pornografische Momente glaubwürdig mit Vorstellungen von sexueller Befreiung zu verbinden. Sein optionales Grundprinzip bringt ihn dazu, hier und da gleiche oder sich stark ähnelnde Themen erneut aufzugreifen und zu variieren, um deren Potenziale auszutesten. Die Palette reicht dann vom Desaster über die Ambivalenz bis hin zum Happy End. Die Abkehr von der Einlinigkeit beinhaltet ebenfalls ein innovatives Element. Manchmal aber verlässt er derartige Pfade, um etwas ganz Neues zu wagen. Daraus ergibt sich ein experimenteller Stil mit bizarrem Flair, wo er eine Metaebene der Symbole konstruieren kann, die den Leser in ganz eigentümlicher Weise fesselt (»Am letzten Nachmittag« oder »Haltet euch fern von mir, ich bin deren eine, die ermüden«).

3) Innovative Schübe

Noch einmal muss die außergewöhnliche Story »Das eingeschaltete Mädchen« als Beispiel für den Vorgriff auf das ab Beginn der 1980er ganz frische SF-Subgenre des Cyberpunk und des Posthumanismus genannt werden: Hier gelang Tiptree ein Geniestreich. Insgesamt meine ich, dass Tiptree durch die von ihm entwickelte Schreibtechnik der, wie ich sie nenne, entfremdetenNähe eine stilistische Qualität in die SF eingebracht hat, die es zwar vorher schon in der allgemeinen Belletristik gab (siehe z. B. Kafka), die aber nichtsdestotrotz wesentlich dazu beigetragen hat, die Science Fiction neben ihren vielen anderen Vorzügen auch als literarische Kunstform endgültig zu etablierten.

Ergebnis

Will man ein allgemeines Fazit seines literarischen Wirkens ziehen, dann hat James Tiptree Jr. alias Alice B. Sheldon drei große Lebensleistungen vorzuweisen.

1) Er hat den gesellschaftlichen Fortschritt befördert (Gleichstellung und Emanzipation der Frau).

2) Er hat wesentlich dazu beigetragen, die Science Fiction zur literarischen Qualität zu führen.

3) Er hat dem Genre Science Fiction inhaltliche Dimensionen eröffnet, die es zuvor nicht gegeben hat.

Bereits einer der oben genannten Punkte hätte schon ausgereicht, ihn als außerordentlichen Schriftsteller zu würdigen. Nimmt man alle drei zusammen, so kann man ohne Übertreibung Tiptree/Sheldon als Jahrhundertautor(in) der SF bezeichnen.

Lesehinweise

1) Im Wiener Septime Verlag ist eine Gesamtausgabe aller Werke von Tiptree/Sheldon in mehreren Einzelbänden erschienen. Wer die Originaltexte in neuer deutscher Übersetzung lesen möchte, sollte darauf zurückgreifen .

2) Hans Frey, James Tiptree Jr. – Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod, Berlin 2018. In diesem Buch gebe ich einen umfassenden Überblick über Leben und Werk des Autors. Abgerundet wird der Band durch eine deutsche Bibliografie von Joachim Körber.

Lars Schmeink

Biopunk: Genetik und die SF

Als Margaret Atwood bestimmte Trends in der naturwissenschaftlichen Forschung bemerkte, konnte sie als Autorin spekulativer Romane wohl nicht umhin, über die Konsequenzen dieser Trends nachzudenken. Denn die Forschung, etwa im Rahmen der Genetik, schien auf gefährliche Endpunkte hinauszulaufen, sollte man konsequent bestimmte Ideen bis zu ihrem logischen Ende weiterverfolgen. Von der Relevanz einer Intervention überzeugt, schrieb Atwood ein Buch (und später noch zwei weitere), das sich dem Problem nähern sollte – die MADDADDAM-Trilogie. In Oryx und Crake, dem 2003/2005 erschienenem ersten Teil, beschreibt sie das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Zentrales Motiv ist dabei das unendliche Potenzial der durch Gentechnologie möglich gewordenen Veränderungen des Lebens. Sie beschreibt in der Romanreihe eine Welt voller bösartiger Intentionen, unkalkulierter Risiken und unkontrollierbarer Wirkungen. In einem Interview hat Atwood zu dieser »Nach-mir-die-Sintflut«-Mentalität die Vermutung geäußert, dass wir »die große Genetik-Splice-Spielkiste gerade erst geöffnet haben. Die Menschen werden damit noch über Jahre spielen wollen« (zitiert aus Halliwell 260; alle Übersetzungen von Zitaten sind meine).

Das technologische Novum von Oryx und Crake steckt in der Stammzell-Forschung, mit der im Roman transgene Hybride erschaffen werden, Chimären mit der DNS verschiedener Tierarten, die durch Genmanipulation zusammengebastelt werden, wie in einem Baukasten. Die wichtigste dieser Arten ist das Organschwein (engl. pigoon), dem für medizinische Forschungen menschliche Gene eingesetzt wurden. In den Schweinen wachsen Organe heran, die später Menschen implantiert werden können; die Schweine sind also biologische Ersatzteillager im Falle menschlichen Organversagens. Ein Nebeneffekt der Forschung, die im Roman konsequent voranschreitet, ist die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten in den Gehirnen der Schweine, die immer schlauer werden und im dritten Band, Die Geschichte von Zeb (engl. Maddaddam, 2013/2014), sogar eine nicht-menschliche Gesellschaft ausbilden – die in Konflikt mit der menschlichen gerät. Was an dieser Spekulation aber besonders erschreckend erscheint, ist nicht etwa die Notwendigkeit, dass Menschen sich mit den Schweinen einigen müssen – mit ihnen kommunizieren und sie als sich ihrer selbst bewusste, handelnde Wesen anerkennen müssen. Nein, wirklich erschreckend ist, dass die dystopische Vision transgener Schweine in der Realität bereits erste Nachahmer gefunden hat.

In einer 2017er-Ausgabe von Cell, einer wissenschaftlichen Zeitschrift für experimentelle Biologie, haben die Wissenschaftler*innen erstmals »zentrale Schritte zur Entwicklung von Tierembryonen mit funktionierenden menschlichen Organen gemacht« (Kaplan), ganz so, wie Atwood es vorausgesagt hat. Dabei verstört vor allem, dass Atwood mit der Idee richtig lag, dass die Schweine potenziell verbesserte kognitive Fähigkeiten an den Tag legen und somit ein Bewusstsein entwickeln könnten. Und genau diese Entwicklung bestätigen auch die Forscher*innen, die eine Reihe verschiedener Chimären-Zellen entwickelten: »Einige entwickelten die Vorform von Neuronen – eine Angst der Bioethik, die mit Sorge der Erschaffung von Tieren mit menschlichem oder menschenähnlichem Bewusstsein entgegen sieht« (Kaplan). Natürlich versichern die Forscher*innen an dieser Stelle, dass das Experiment lediglich ein Forschungskonzept bestätigen und die Durchführbarkeit der Entwicklung möglicher Mensch-Tier-Chimären belegen sollte; dass strikte Protokolle für die Sicherheit und Einhaltung ethischer Grenzen sorgen; dass eine sich ihrer selbst bewusste Spezies noch Jahrzehnte in der Zukunft läge. Dennoch, die Implikationen dieser Forschung liegen nun einmal vor uns und können von jedem nachgelesen werden – in Form fiktionaler Szenarien wie dem von Atwood.

Dabei kann man Atwoods Trilogie wunderbar in den Kontext eines generellen kulturellen Phänomens einordnen – nicht nur in den eines literarischen Genres, sondern einer kulturellen Formation, die in vielen Aspekten unserer zeitgenössischen Kultur einen Ausdruck findet und einen ganz speziellen Diskurs aufruft und weiter vorantreibt: das Aufkommen biologischer Fragestellungen für die Gesellschaft im Allgemeinen und der Genetik im Speziellen. Die Repräsentation von Themen wie Klon-Technologie, genetische Manipulation, Virologie, Gewebe-Forschung, Nanotechnologie oder eben die Züchtung transgener Spezies findet sich immer häufiger in der Literatur, aber auch in Filmen, im Fernsehen, in Videospielen, in Kunstinstallationen und in journalistischen Reportagen, politischem Aktivismus, in der Werbung oder bereits in der marktwirtschaftlichen Verarbeitung. Seitdem das Humangenomprojekt sich aufgemacht hat, das »monumentale Unterfangen« anzugehen, »das menschliche Genom vollständig zu entschlüsseln und der Welt die gesamte Botschaft darzulegen, die in seinem chemischen Code versteckt ist« (Jaroff), ist die Biologie ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt. Seither fragen wir uns, zu welchen revolutionären Erkenntnissen uns die Genetik bringen kann, welche Veränderungen in unserem Verständnis des Menschen sie hervorbringt. Und diese Fragen stecken eben auch im Kopf der Kreativen weltweit und findet in der Popkultur ihren Ausdruck.

Im englischen Sprachraum wird diese kulturelle Formation, diese Beschäftigung mit der Biologie/Genetik, gerne unter dem Begriff des Biopunk gefasst und bezeichnet seit den 1980er-Jahren »ein Subgenre der Science Fiction, in dem die gesellschaftlichen Folgen der Biotechnologie und der Gentechnologie ergründet werden« (Prucher 16). Dank des Humangenomprojekts ist das Genre aber weit über seine ursprünglichen Grenzen hinausgewachsen und bei weitem nicht mehr nur auf ein paar Romane und Kurzgeschichten beschränkt. Biopunk ist vielmehr überall in unseren kulturellen Diskursen angekommen. Er ist zu einem wesentlichen Bestandteil unserer Diskussion um den Posthumanismus geworden, zu den Fragen, wie wir den Menschen definieren, wenn wir über die uns heute bekannten Grenzen hinausgehen. Die Philosophin Rosi Braidotti schreibt dazu, dass es so etwas wie ein »posthumanes Übereinkommen gibt, nach dem die zeitgenössische Wissenschaft und die Biotechnologie jede Faser und Struktur unseres Lebens berührt und damit nachhaltig und unwiederbringlich unser Verständnis davon verändert haben, was als grundlegender Rahmen des Menschlichen gilt« (40).

Biopunk ist also die gesellschaftlich-kulturelle Praxis, die sich dem Zusammentreffen von Biotechnologie und Gesellschaft widmet. Beispielsweise bei Paolo Bacigalupi, dessen Roman Biokrieg (2011; engl. The Windup Girl, 2009) von der Auseinandersetzung mit der ökologischen Katastrophe in Folge der Entwicklung neuer genetisch manipulierter Nahrungsmittel handelt. Im Roman entwickeln Firmen Krankheiten und Plagen mithilfe der Genetik, um diese als Waffen in »Kalorienkriegen« einzusetzen und so die Marktmacht über Soja, Weizen oder Reis zu erlangen. Der Roman zeigt aber auch die riskanten Folgen, wenn Menschen aus Neugier und Hybris invasive transgene Spezies erschaffen. So etwa die nach Alice im Wunderland benannten Grinsekatzen, die als Geburtstagsgeschenk für ein kleines Mädchen gedacht waren, schon bald aber zur dominanten Raubtierspezies wurden, die mit ihrer Umgebung verschmilzt und so ganze Singvögel-Populationen auszulöschen vermag. Oder wie in den Blockbuster-Filmen der RESIDENT EVIL-Reihe (von Paul W. S. Anderson, 2002–16), in denen die bösartige hyperkapitalistische Umbrella Corporation genetische Forschung an Viren und Bakterien zur Vermarktung vorantreibt und in ihren eigenen Mitarbeitern geeignete Versuchsobjekte sieht. Ein Unfall führt dazu, dass eine Vielzahl verschiedener Zombie-Varianten auf die Menschheit losgelassen wird und diese vollständig vom Planeten fegt.

Biopunk kann auch leise Töne spielen, etwa im Film Gattaca (von Andrew Niccol, 1997), der eine Welt zeigt, in der Eltern sich aus einem Katalog die besten Qualitäten für ihr Kind aussuchen und dieses durch den Genetiker ihrer Wahl zusammenstellen lassen können. Eine Zweiklassen-Gesellschaft entsteht, in der natürlich geborene Menschen, sogenannte Gotteskinder, aufgrund ihrer »Limitierungen« nicht mehr an entscheidenden Aspekten des Lebens teilnehmen dürfen. Die Gesellschaft klassifiziert sie als »invalid«. Schulen und Kindergärten verweigern die Aufnahme der Invaliden, viele Jobs bleiben ihnen verschlossen und auch die Partnerwahl ist durch die Suche nach genetischer Validität beschränkt.

Biopunk findet sich aber nicht nur in Romanen und Filmen, sondern auch in der Arbeit von Performance- und Konzeptkünstlern wie beispielsweise Eduardo Kac, dessen grün-lumineszierendes Häschen Alba durch eine Kreuzung mit der DNS von Quallen von Genetikern in einem französischen Labor entwickelt wurde. Der politische wie auch gesellschaftliche Aufschrei und der Protest gegen die Erschaffung weiterer Frankenbunnies wurden von Kac zum Teil der Kunstperformance gemacht und ist auf seiner Website dokumentiert. Wie wir als Gesellschaft neue Technologien aufnehmen und uns mit ihren Konsequenzen auseinandersetzen, ist für Kac ein ebenso wichtiger Aspekt dieser Arbeit.

Und letztlich gehört zur kulturellen Praxis des Biopunk auch die Do-it-Yourself-Biologie einer Küchenbiologin wie Meredith Patterson und ihr »Biopunk Manifesto«, in dem sie als Sprachrohr einer kleinen Szene von anarchisch anmutenden Aktivist*innen einfordert, medizinische und biochemische Experimente nicht mehr nur den großen Pharmakonzernen und Regierungen dieser Welt zu überlassen. Dank der neuen CRISPR/CAS Technologie, die es, stark vereinfacht formuliert, erlaubt DNS zu »zerschneiden« und neu zusammenzusetzen, hat etwa der Biohacker Joshua Zayner im Oktober 2017 bei sich selbst ein Gen ersetzt, das den Aufbau von Muskulatur reguliert (vgl. CBC), um so seine Bizepsmuskulatur zu vergrößern. Ähnliche Selbstversuche der Genmanipulation hat auch Tristan Roberts genutzt, um in seinem Körper die Produktionen von Antikörpern gegen den HI-Virus anzukurbeln – wobei die Aktion vor allem als Performance zu sehen ist, um auf die stagnierende AIDS-Forschung aufmerksam zu machen (vgl. CBC). Dennoch, Biopunks sind in unserer Kultur auf dem Vormarsch, und die Gentechnologie ist wie die Kiste der Pandora einmal geöffnet nun wohl nicht mehr zu schließen.

Dabei hat Biopunk kein einheitliches Konzept, worauf Autorin Annalee Newitz bereits Anfang der 2000er verwiesen hat: »Die Biopunk Revolution muss erst noch in Regeln verpackt und durch jemanden legitimiert werden«, bislang sei sie eher »so schlecht definiert wie das Genom selbst«. Gerade in Hinblick auf die im Mainstream angekommenen Bücher, Filme und Spiele lässt sich jedoch feststellen, dass Biopunk viel vom artverwandten Cyberpunk übernommen hat – auch in Bezug auf dessen Bedeutung für eine Diskussion technologischer Konsequenzen. Wie der Cyberpunk sieht sich Biopunk selbst gerne als anti-kapitalistisch gegen Firmen und Regierungen orientiert und mit revolutionären Ambitionen, als eine dystopische Warnung gegen die unvorhergesehenen Konsequenzen technologischer Entwicklungen. Und genau damit adressiert das Genre (um zu spezifischen Kulturprodukten zurückzukehren) eine relevante Problematik unserer heutigen Zeit – denn die Mentalität hinter dem anarchistisch-individuellen Hacken steht den übermächtigen Interessen globaler Konzerne gegenüber. Das Thema reflektiert also den Stand heutiger Debatten nur zu gut, von der deutschen Lebensmittelindustrie und ihrem Kampf gegen Labels wie dem Nutri-Score über die Lobby-Erfolge beim Pestizid Glyphosat europaweit bis zur unmenschlichen Preisgestaltung bei Insulin in den USA. Die Veränderungen in Bezug auf unsere Umwelt aber auch auf unsere Gesundheit, die durch die Gier der Konzerne ausgelöst werden, beschäftigen uns in der SF ebenso sehr wie in gesellschaftlichen Debatten. Biopunk ist ein Ausdruck ebendieser Debatten.

Denn Biopunk bezieht sich immer wieder explizit auf eine kritisch posthumane Subjektivität. Er ist ein Mittel, um die Krise des Humanismus in den Blick zu nehmen, dessen Konzept eines »menschlichen Exzeptionalismus und Individualismus« infrage zu stellen, wie Donna Haraway argumentiert (1). Biopunk ist ein Gegenentwurf, der in der Fiktion ausprobiert, wie es ist, sich »in dem reichhaltigen Multispezies-Matsch zu suhlen« (Haraway 1), den das vielfältige Leben auf der Erde produziert. Das Genre ist eine Abkehr von transhumanistischen Phantasievorstellungen, sich von seinem Körper abwenden zu können und biologische Limitationen zu überschreiten. Im Gegenteil, Biopunk sieht das Leben als Verbund; den Menschen als Teil einer komplexen Struktur mit Verbindungen zu viralen, bakteriellen und anderem mikroskopischen Leben, in Relation zur Erde und zum Pflanzlichen, aber auch zu anderen Tieren, und schließlich zu Maschinen als Ausdruck von sich selbst organisierenden synthetischen Lebens (vgl. Braidotti 66). Im Biopunk ist der Mensch ein »ko-evolvierendes Leben, das sich Ökosysteme mit anderem Leben teilt, mit dessen Prozessen, genetischem Material« (Nayar 8) und dessen Subjektivität als Teil eines komplexen, sich verbessernden und mit anderen in Verbindung tretenden Lebens auf diesem Planeten.

Und weil Biopunk-Texte diese relationale und auf das gemeinsame Leben orientierte Perspektive einnehmen, fokussieren sie den Menschen oftmals auch als globale Kraft, die die Erde mit aller Macht zu verändern in der Lage ist. Dabei beziehen sich Biopunk-Texte auf das Konzept des Anthropozäns, eines neuen Zeitalters der Erde, geprägt durch den Menschen, das von Geologen genutzt wird, um die Effekte zu dokumentieren, die menschliche Aktivität auf unseren Planeten hat. Diese Effekte reichen vom Klimawandel bis zur Ansammlung von Frischwasser in Reservoiren, zur Verbreitung speziell domestizierter Tierarten auf den ganzen Globus: »Die Menschheit, unsere Spezies, ist so groß geworden und so aktiv, dass sie in ihren Handlungen den Naturgewalten entspricht und einen nachhaltigen Einfluss auf die Funktion der Systeme der Erde hat« (Steffen et al. 843). Biopunk nimmt diesen Diskurs kritisch auf und sieht den Einfluss von Kultur und Technologie als globales Event, das sich auch gegen den Menschen richten kann. In den Texten werden die Konsequenzen unseres Handelns auf die Natur neu bewertet und die ökologischen wie auch die sozialen Kosten unserer Ignoranz dezidiert aufgezählt.

In der MADDADDAM-Trilogie von Margaret Atwood etwa hat die menschliche Aktivität zu katastrophalen Veränderungen in der Umwelt geführt – Dürren, Überflutungen, Massensterben. Aber auch Bacigalupis Biokrieg berichtet von Klimawandel, steigenden Meeresspiegeln und dem Ende unserer Art zu leben. In beiden Fällen muss der Mensch sich den durch ihn ausgelösten Entwicklungen anpassen und ist gezwungen posthuman zu werden. Im Biopunk können wir also sowohl eine Warnung sehen, dass wir neue Denkweisen finden müssen, uns selbst zu verstehen, uns zu positionieren – nicht mehr als Spitze einer Hierarchie, sondern als ein Teil eines großen und komplexen Systems. Wir brauchen eine neue Art zu handeln und müssen unsere Beziehung zu unserem Planeten und dem sich darauf befindlichen Leben noch einmal überdenken. Biopunk ist ein Weg, genau das zu tun.

Bibliographie:

Braidotti, Rosi. The Posthuman. London: Polity, 2013.

CBC – Radio Canada. »Meet the Human Guinea Pig Who Hacked his own DNA.« Quirks & Quarks, 11 Nov, 2017, http://cbc.ca/radio/quirks/diy-dna-hacks-wounds-take-longer-to-heal-at-night-why-daydreams-are-good-quirks-bombs-and-more-1.4395576/meet-the-human-guinea-pig-who-hacked-his-own-dna-1.4395589.

Halliwell, Martin. »Awaiting the Perfect Storm.« Waltzing Again: New and Selected Conversations with Margaret Atwood. Hg. v. Earl G. Ingersoll. Princeton: Ontario Review, 2006. 253/64.

Haraway, Donna. »Tentacular Thinking: Anthropocene, Capitalocene, Chthulucene.« e-flux journal 75 (2016): 1–17. Web. 16 Feb, 2017. http://www.e-flux.com/journal/75/67125/tentacular-thinking-anthropocene-capitalocene-chthulucene/.

Jaroff, Leon. »The Gene Hunt.« Time. 20 Mar, 1989. Web. 10 Oct, 2013. http://content.time.com/time/magazine/article/0,9171,957263,00.html.

Kaplan, Sarah. »Scientists create a part-human, part-pig embryo — raising the possibility of interspecies organ transplants.« Washington Post. 26 Jan. 2017. Web. 07 Feb. 2017. https://www.washingtonpost.com/news/speaking-of-science/wp/2017/01/26/scientists-create-a-part-human-part-pig-embryo-raising-the-possibility-of-interspecies-organ-transplants/.

Nayar, Pramod K. Posthumanism. Cambridge: Polity, 2014.

Newitz, Annalee. »Genome Liberation.« Salon.com. 26 Jan 2002. Web. 15 Jan 2010. http://www.salon.com/2002/02/26/biopunk/.

Patterson, Meredith. »A Biopunk Manifesto.« 30 Jan 2010. Web. 08 Feb 2012. http://maradydd.livejournal.com/496085.html.

Prucher, Jeff, ed. Brave New Words: The Oxford Dictionary of Science Fiction. Oxford: Oxford UP, 2007. Print.

Steffen, Will, et al. »The Anthropocene: Conceptual and Historical Perspectives.« Philosophical Transactions: Mathematical, Physical and Engineering Sciences 369.1938 (2011): 842–67.

Erik Simon

Alles schon dagewesen? Fast alles.

Fünf Randbemerkungen zum Transhumanismus in der Science Fiction

Die Herausgeber von DAS SCIENCE FICTION JAHR fragten mich, wie es mit der Transhumanismus-SF in Osteuropa bestellt sei. Die Frage bezog vermutlich Ostmitteleuropa ein, aber da auf Russisch viel mehr SF und Phantastik erscheint als in den anderen betreffenden Sprachen, habe ich mich in Russland nach einem geeigneten Artikel umgeschaut – und keinen gefunden. Maria Galina (siehe Das Science Fiction Jahr 2018, siehe auch die russischen SF-Preise) kannte keinen, versprach, sich umzuhören und mir Funde mitzuteilen. Sie hat nichts mitgeteilt. Zwei andere mir bekannte Kritiker, die gemeinsam zahlreiche Übersichtsartikel zu verschiedenen SF-Themen verfasst haben, wollten sich der Sache annehmen – und passten nach einer Durchmusterung des Gebiets: Neuere russische SF zum TH gebe es nicht, überhaupt sei in Russland wenig SF über Zukunftsvisionen zu finden, abgesehen von den Pappkulissen der reichlich vorhandenen Space Operas. Und schließlich habe es ja nicht viel Sinn, wieder mit den Strugatzkis anzufangen.

1. Da hatten sie Recht, denn mit den Strugatzkis anfangen kann ich selber. Es geht dabei um den zuerst 1985–86 erschienenen Roman Die Wellen ersticken den Wind. Darin hat sich ein sehr kleiner Teil der Menschheit zu Übermenschen entwickelt und wirkt aus der Sicht der übrigen – die das zunächst nicht bemerkt hatten – allmächtig und nahezu gottgleich.

Was hat das mit TH zu tun? Der Begriff wird derzeit ja gemeinhin mit zwei Aspekten künftiger Technikentwicklung assoziiert: Künstliche Intelligenz erreicht die »Singularität«, einen Punkt, wo sie sich explosionsartig immer schneller entwickelt, die menschliche bei weitem übertrifft und auf die eine oder andere Weise die Weltherrschaft antritt, oder aber die Menschen »upgraden« sich selbst (genetisch oder kybernetisch oder beides) in einem Maße, dass sie sich jenseits unserer Vorstellung vom Menschsein befinden.

Der technische Aspekt ist bei den Strugatzkis, wiewohl vorhanden, nicht weiter wichtig; die phantastischen Fähigkeiten der Übermenschen sind es ebenso wenig wie deren wohlwollende, aber nicht sehr interessierte Einstellung den Altmenschen gegenüber. Vielmehr geht es um das Selbstverständnis einer Menschheit, die sich plötzlich in einer Sackgasse ihrer vermeintlich grenzenlosen Entwicklung sieht, denn die Verwandlung in Übermenschen steht aus biologischen Gründen nur sehr wenigen offen. Das in der SF seit langem tradierte Thema des Homo superior hat Fragen aufgeworfen, die uns beim TH wiederbegegnen (sollten). Nämliches lässt sich über andere altbekannte SF-Motive sagen.

2. Die bloß eskapistischen Machtphantasien, die von SF ja auch gern bedient werden, beiseitegelassen, handeln die meisten Übermenschengeschichten der SF davon, dass man’s als Übermensch auch nicht leicht hat (zumal in Gesellschaft der Holzköpfe): Sie sind aus der Sicht ebenjener Übermenschen geschrieben, zumindest aber gehört zumeist diesen die Sympathie der Autoren. Wer sich aber in der SF ernsthaft mit der Singularität und ihren Folgen befassen will, wird gut daran tun, den Blickpunkt der »Zurückbleibenden« einzunehmen: SF wird ja weder für Übermenschen noch für die KI geschrieben, ebenso wenig wie Geistergeschichten für Geister.

Für die meisten Möglichkeiten, wie sich das Verhältnis zwischen unsereins und einer übermächtigen Wesenheit gestalten könnte, hält die Science Fiction auch aus dieser Perspektive seit Langem Muster bereit, auch ganz ohne Singularität und netzbasierte KI. Dass Roboter oder Computer (auch die mit Elektronenröhren und vielen blinkenden Lämpchen) die Weltherrschaft an sich reißen und zu den Menschen hässlich sind, findet man in SF aller Güteklassen; auf die bloße Vernichtung der Menschheit sind sie eher in den billigeren Versionen aus, sonst auf mehr oder weniger subtile Unterwerfung. Im besten mir bekannten Buch zu diesem Thema, Pallas oder die Heimsuchung von Edward de Capoulet-Junac, sind es allerdings keine Roboter, sondern Außerirdische, die aus den Menschen gewissermaßen Haustiere in der Rolle von Hunden machen. Am anderen Ende des Spektrums liegen die Geschichten, in denen wohlmeinende Roboter (mitunter weil sie konsequent tun, wozu man sie programmiert hat) die Menschen um deren Sicherheit und Bequemlichkeit willen permanent bevormunden und sie beispielsweise keinen Handschlag mehr tun lassen wollen, wie es schon 1947 in Jack Williamsons Erzählung »Die Humanoiden« (»With Folded Hands«) vorgeführt wurde. Es mangelt auch nicht an SF, in der die Menschen weniger vordergründig von den intelligenten Maschinen kontrolliert und manipuliert werden, oft im Interesse einer möglichst hohen Effizienz des Gesamtsystems und weil die Menschen das irgendwann einmal so wollten. Das System muss dazu nicht einmal unbedingt über eine bewusste Intelligenz verfügen; ein frühes Beispiel ist E. M. Forsters »Die Maschine steht still« aus dem Jahre 1909.

3. Dass in allen erwähnten Fällen auf sehr direkte Weise Ängste vor (viel seltener Hoffnungen auf) Fremdbestimmung reflektiert werden, wie man sie ganz ohne SF auch bei Kafka finden kann, liegt auf der Hand. Viel ergiebiger dürften Geschichten sein, in denen die überlegene Intelligenz sich für die Menschen nicht oder nur beiläufig interessiert; in Bezug auf die Singularität (die übrigens, wenn überhaupt, kaum so eintreten dürfte, wie man sich das jetzt vorstellt, da überkomplexe Systeme nicht notwendigerweise Bewusstsein entwickeln) scheint mir der Fall auch viel wahrscheinlicher zu sein. Der Roman der Strugatzkis geht in diese Richtung, nur dass ihre Übermenschen von der restlichen, unverständigen Menschheit zwar entsetzlich gelangweilt, ihr aber im Grunde wohlgesinnt sind. Nachdem die Menschheit den Schock für ihr Selbstbewusstsein als vermeintliche Krone der Schöpfung verkraftet hat, kommt sie in Die Wellen ersticken den Wind zu einem Schluss, der sich salopp so formulieren lässt: Die machen ihr Ding, und wir machen unseres.

4. Einen ähnlichen Ansatz sieht man in Vernor Vinges Ein Feuer auf der Tiefe; darin ist die Galaxis in vier »Zonen des Denkens« unterteilt, in deren innerer überhaupt keine Intelligenz möglich ist und in der zweiten keine hoch entwickelte vernetzte KI, während nur in der vierten, äußeren alle biologischen und künstlichen Intelligenzen einer ganzen Zivilisation zu einer »Macht«, einer praktisch gottgleichen Wesenheit verschmelzen können. Nachdem Ein Feuer auf der Tiefe zu einem großen Teil in der dritten Zone spielt und der Prequel Eine Tiefe am Himmel in der zweiten (in der auch wir uns befinden), hatte ich gehofft, in einem dritten Teil mehr über die äußere Zone zu erfahren – über Menschen oder vergleichbare Intelligenzwesen, die dort in der Nachbarschaft von »Mächten« existieren, ohne in eine integriert worden zu sein – eine prekäre Existenz inmitten unverständlicher Wunder, mit denen umzugehen man trotzdem gelernt hat wie die Menschen mit den Hinterlassenschaften der (weit überlegenen) Aliens in Picknick am Wegesrand der Strugatzkis. Damit haben wir ein weiteres Muster für das Verhältnis zwischen Intelligenzen unterschiedlichen Grades identifiziert, das sich auf das Transhumanismus-Thema übertragen lässt, aber in diesem Zusammenhang noch wenig ausgelotet ist. Auch der anschaulichere Vergleich steht schon in jenem Roman: Die Menschen befinden sich dort in der Rolle von Tieren in Feld und Wald, die den Abfall einer Gruppe von Leuten nach einem Picknick vorfinden.

5. Zum Transhumanismus aus der Sicht von Menschen habe ich auf einen Kurzroman hinzuweisen, mit dem wir nun doch noch etwas östlichere Gefilde erreichen: Der Axolotl wird alt von dem sehr prominenten polnischen Autor Jacek Dukaj. (Dass dieses formidable Stück SF nicht ins Deutsche übersetzt ist, muss einen beim Zustand des hiesigen SF-Marktes nicht wundern. Es gibt aber eine englische Übersetzung als E-Book: The Old Axolotl: Hardware Dreams.) Es geht darin um den seltenen Fall eines Transhumanismus wider Willen: Auf den ersten paar Seiten löscht ein Teilchenstrom aus dem All alles Leben auf der Erde aus, nach spätestens einer Umdrehung des Planeten sind alle tot – bis auf etliche (schätzungsweise ein paar hundert) Computerfreaks in verschiedenen Weltgegenden, denen es gelingt, mit einer noch nie erprobten, riskanten Technik ihre Persönlichkeit in diverse mehr oder weniger geeignete Hardware zu übertragen, etwa in Roboter, die eigentlich als fernzusteuernde Spielgeräte gedacht waren. Neben seinem zentralen Thema – den Zweifeln des Protagonisten, ob er durch die Transformation nicht sein Menschsein verloren habe – bietet der Text ein Feuerwerk von Ideen; beiläufig werden von den Menschenmaschinen auch mehrere biologische Menschheiten wiedererschaffen, und der Axolotl gewinnt schließlich eine zeitliche Perspektive, die an Stapledons Last and First Men denken lässt – alles auf rund 150 Seiten. Das TH-Thema lässt also, soweit es nicht nur als Strömung und Fortsetzung des Cyberpunk aufgefasst wird, durchaus noch mehr nicht-triviale SF erwarten.

Dierk Spreen

Cyborg-Fiction

»Meint nicht im Grunde jedes Weekend dieses unreale und doch höchst wirkliche Land, in dem es ganz anders ist – und führt nicht sogar manches Weekend wirklich dahin?«

Hans Freyer, Die politische Insel (1936)