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Das silberne Zeichen E-Book

Petra Schier

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Beschreibung

Falscher Glanz Die Reliquienhändlerin Marysa steht kurz vor der ersehnten Hochzeit. Doch ihre Unruhe ist groß – der Zukünftige kehrt nicht von seiner Reise zurück. Wie lange kann sie geheim halten, dass sie sich in anderen Umständen befindet? Auch endet bald die von der Zunft auferlegte Frist für ihre Neuvermählung, um weiterhin als Meisterin arbeiten zu dürfen. Als wäre das nicht Unglück genug, ist plötzlich Marysas guter Ruf in Gefahr: Das Silber, das ihr zur Fertigung von Pilgerzeichen übergeben wurde, entpuppt sich als versilbertes Messing. Marysa steht plötzlich als Betrügerin da. Ein spannender historischer Kriminalroman und ein farbiges Gemälde des mittelalterlichen Aachen.

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Petra Schier

Das silberne Zeichen

Historischer Roman

Informationen zum Buch

Falscher Glanz

Die Reliquienhändlerin Marysa steht kurz vor der ersehnten Hochzeit. Doch ihre Unruhe ist groß – der Zukünftige kehrt nicht von seiner Reise zurück. Wie lange kann sie geheim halten, dass sie sich in anderen Umständen befindet? Auch endet bald die von der Zunft auferlegte Frist für ihre Neuvermählung, um weiterhin als Meisterin arbeiten zu dürfen.

Als wäre das nicht Unglück genug, ist plötzlich Marysas guter Ruf in Gefahr: Das Silber, das ihr zur Fertigung von Pilgerzeichen übergeben wurde, entpuppt sich als versilbertes Messing. Marysa steht plötzlich als Betrügerin da.

Ein spannender historischer Kriminalroman und ein farbiges Gemälde des mittelalterlichen Aachen.

Informationen zur Autorin

Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet mittlerweile freiberuflich als Lektorin und Schriftstellerin.

Mehr Informationen zur Autorin unter www.petralit.de.

Weitere Veröffentlichungen:

(die historischen Romane um die Apothekerstochter Adelina)

Tod im Beginenhaus

Mord im Dirnenhaus

Verrat im Zunfthaus

Frevel im Beinhaus

(aus der Romanreihe um die Reliquienhändlerin Marysa)

Die Stadt der Heiligen

Der gläserne Schrein

(sowie)

Die Eifelgräfin

Es gibt nichts Verborgenes,

das nicht offenbar wird,

und nichts Geheimes,

das nicht bekannt wird

und an den Tag kommt.

(LUKAS 8, 17)

Frô Welt, ir sult dem wirte sagen,

daz ich im gar vergolten habe,

mîn grœste gülte ist abe geslagen,

daz er mich von dem briefe schabe.

(WALTHER VON DER VOGELWEIDE, NACH 1220)

Frau Welt, sagt es dem Wirt,

dass ich ihm alles bezahlt habe.

Meine große Schuld ist abgetragen,

er soll mich aus dem Schuldbuch streichen.

(Übersetzung aus: Stange, Manfred [Hg.],

Deutsche Lyrik des Mittelalters, Wiesbaden 2005)

PROLOG

Frankfurt,

26.Dezember Anno Domini 1413

Langsam ritt Christoph Schreinemaker durch das Judenviertel seiner Geburtsstadt. Sein Pferd ließ er sich selbst den Weg über den unebenen Grund suchen. Nachdem es am Vortag heftig geregnet hatte, waren die Schlammfurchen auf den Straßen über Nacht steinhart gefroren. Atemwölkchen standen Tier und Reiter vor dem Gesicht, Christoph zog sich seine Wollgugel fester um Kopf und Hals.

Vor einem schmalen, dreigeschossigen Haus hielt er an und stieg vom Rücken des Pferdes. Er betätigte den schmiedeeisernen Türklopfer und wartete. Eine freudige Erregung ergriff ihn, denn dies war die letzte Station auf der Reise nach Frankfurt. Wenn er seine Geschäfte mit dem Hausherrn abgeschlossen hatte, blieb ihm nur noch, ein paar Schriftstücke beim Stadtrat abzuholen und ein, zwei weitere selbst zu erstellen. Danach würde er sich gleich wieder auf den Weg nach Aachen machen, wo ein neues Leben an der Seite der Frau, die er liebte, auf ihn wartete.

Er wollte schon ein zweites Mal klopfen, doch die Tür öffnete sich bereits, und ein dürrer, weißhaariger Diener blickte ihm misstrauisch entgegen. «Ihr wünscht?»

Christoph schob die Gugel ein wenig zurück, damit der Mann sein Gesicht erkennen konnte, und setzte ein Lächeln auf. «Ich möchte mit Meister Lehel Rotstein sprechen. Ist er da?»

«Nein.» Der Diener wollte die Tür sogleich wieder schließen.

Im letzten Moment schob Christoph seinen Fuß dazwischen. «Verzeih, aber es ist sehr wichtig. Meister Rotstein und ich haben in der Vergangenheit Geschäfte miteinander gemacht. Würdest du ihm bitte ausrichten, dass der Sohn von Beatus Schreinemaker vor seiner Tür steht?»

Der Alte musterte ihn von oben bis unten. Offenbar glaubte er nicht, dass ein Mann in schlichter Handwerkerkleidung mit seinem Herrn bekannt sein könnte. «Kann ich nicht», brummte er abweisend. «Meister Rotstein ist nicht da.»

«Und wann wird er anzutreffen sein?»

Der Diener zuckte mit den Schultern. «Gar nicht. Er ist vor einem halben Jahr mit seiner Familie nach Nürnberg gezogen, wo zwei seiner Brüder leben. Nur sein ältester Sohn wohnt noch hier und führt die Geschäfte in Frankfurt weiter.» Plötzlich stockte der Alte und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen «Ihr sagtet, Ihr seid der Sohn von Beatus Schreinemaker, dem Tischler? Es heißt, Ihr seid vor vielen Jahren in den Konvent der Dominikaner eingetreten.»

«Nicht ich tat das, sondern mein Bruder Robert», erklärte Christoph.

In dem Alten arbeitete es, das war ihm deutlich anzusehen. Schließlich machte er einen Schritt zur Seite. «Tretet ein. Euer Vater war ein guter Freund von Meister Rotstein. Er wäre sicher erbost, wenn wir Euch nicht Gastfreundschaft gewährten. Mein Name ist Samuel.»

Dankbar folgte Christoph ihm in eine Stube, die mit vorzüglichem Mobiliar ausgestattet war und offenbar vom Küchenofen mitbeheizt wurde. Samuel rief nach einer Magd und gab ihr die Anweisung, kaltes Fleisch und Wein zu bringen. Dann wandte er sich wieder an seinen Gast. «Setzt Euch! Es tut mir leid, dass ich Euch nicht weiterhelfen kann. Denn auch Meister Rotsteins Sohn ist nicht hier. Er besucht derzeit seinen Vater und wird wohl nicht vor März zurück sein.»

«März!» Christoph schüttelte den Kopf. So lange konnte und wollte er nicht warten. «Kannst du mir sagen, wo genau Meister Rotstein in Nürnberg lebt?»

Samuel rieb sich das Kinn. «Das kann ich, Herr. Aber wollt Ihr wirklich zu dieser Jahreszeit eine so weite Reise antreten? Können Eure Geschäfte nicht bis zum Frühjahr warten?»

Christoph nahm sich ein Stück Geflügelfleisch und dachte nach, während er aß. Nürnberg war weit entfernt. Samuel hatte recht, im Winter würde die Reise dorthin lang und beschwerlich sein. Aber Lehel Rotstein verwaltete den größten Teil seines Vermögens und hielt überdies einige wichtige Schriftstücke unter Verschluss. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als nach Nürnberg zu reiten. Das würde seine Pläne nicht unbeträchtlich verzögern. Marysa erwartete ihn im Laufe des Januar zurück in Aachen.

Entschlossen leerte Christoph den Weinkrug und schob den Zinnteller von sich. «Sag mir, wo ich Meister Rotstein finden kann. Ich werde noch heute aufbrechen.»

1.KAPITEL

Aachen,

23.Februar Anno Domini 1414

Marysa zupfte die üppigen Falten ihres dunkelbraunen Surcots zurecht und wandte sich dann an ihre Mutter, die auf der Bettkante saß und sie aufmerksam musterte. «Gut so?», fragte Marysa und musste sich zwingen, mit ihrer Hand nicht über die sanfte Wölbung ihres Bauches zu streicheln. Sie drehte sich so, dass Jolánda sie von der Seite sehen konnte. Währenddessen schnürte sie ihre bestickte Leinenhaube enger, unter der sie ihre üppigen rotbraunen Locken aufgesteckt hatte. «Gottlob ist es ein kalter Winter. Niemand wird sich über dieses Kleid wundern.»

«Marysa…» In Jolándas Augen trat ein besorgter Ausdruck. «Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch der reichste Faltenwurf deinen gesegneten Zustand nicht mehr verbergen kann. Was willst du dann tun?»

Marysa kräuselte die Lippen und setzte sich neben ihre Mutter. «Das weiß ich nicht. Aber ich gehe davon aus, dass ich bis dahin verheiratet bin.»

«Liebes, er kommt nicht mehr zurück.» Das sanfte Drängen in Jolándas Stimme ließ Marysa die Stirn runzeln, doch sie antwortete nicht. «Es sind nun schon fast drei Monate!», fuhr ihre Mutter fort. «Er behauptete, im Januar zurück zu sein.» Jolánda ergriff die Hände ihrer Tochter. «Wie lange kann eine Reise nach Frankfurt wohl dauern?»

Kopfschüttelnd entzog Marysa ihr wieder die Hände und verschränkte sie im Schoß. «Es wird einen guten Grund für seine Verspätung geben.»

«O ja, ganz bestimmt.» Jolándas Stimme wurde unversehens scharf, und ihre grünen Katzenaugen, die sie ihrer Tochter ebenso vererbt hatte wie die ungebärdigen Locken und die grazile Gestalt, blitzten auf. «Er hat dich belogen. Er hat sich auf und davon gemacht, nachdem er sich mit dir vergnügt…»

«Nein!» Marysa wurde zornig. «Das hat er nicht getan. Er ist kein Lügner, Mutter.»

«Aber ein Betrüger», erwiderte Jolánda erregt. «Jahrelang hat er sich als jemand ausgegeben, der er nicht ist. Glaubst du, so etwas legt man einfach ab wie eine alte Heuke? Ich hätte es von Anfang an wissen und ihm den Hals umdrehen sollen, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte!»

«Mutter…»

«Nein, hör mir zu. Er hat uns alle an der Nase herumgeführt. Ich gebe zu, dass auch ich auf ihn hereingefallen bin. Er wirkte so aufrichtig, und ich dachte wirklich, dass er dich liebt. Aber nun… Átkozott!», fluchte sie in ihrer Muttersprache. «Ich kratze ihm die Augen aus, wenn ich ihn in die Finger kriege! Was hat er dir nur angetan!»

«Nichts, Mutter.»

«Du bist schwanger, Marysa!» Jolánda fasste ihre Tochter fest an den Schultern. «Das hat er dir angetan! Und dann hat er sich aus dem Staub gemacht, dieser Csaló. Wenn er…»

«Nein.» Marysa bemühte sich um Ruhe, doch ihre Stimme zitterte leicht vor unterdrückter Wut. «Dass ich schwanger bin, ist genauso meine Schuld. Ich habe meinen Gefühlen nachgegeben, das kannst du mir vorwerfen. Vielleicht habe ich in jenem Moment nicht an die möglichen Folgen gedacht, dennoch wusste ich genau, was ich tat.»

Jolánda stieß einen resignierten Laut aus und zog sie an sich. «Ich weiß, Marysa. Du bist zu sehr meine Tochter, als dass ich daran zweifeln könnte. Anscheinend ist es doch nicht gut, dass ich dir einen Teil meines Temperaments vererbt habe. Es verleitet uns zu unbesonnenem Handeln.» Plötzlich traten Tränen in Jolándas Augen. «Was soll jetzt werden, Kind? Du kannst nicht den Bastard eines Mannes austragen, der sich jahrelang als Ablasskrämer ausgegeben hat. Wenn das Kind ihm auch nur eine Winzigkeit ähnlich sieht – oh, ich darf gar nicht daran denken! Am besten wäre es, du würdest sofort heiraten. Doch welcher Mann würde dich schon nehmen mit dem Kind eines anderen unter dem Herzen? Marysa, du steckst in einer ausweglosen Situation. Die einzige Möglichkeit wäre…» Sie stockte und senkte den Blick.

«Nein, Mutter.» Marysa starrte sie entsetzt an. «Ich werde nicht zu einer Engelmacherin gehen.»

Jolánda schluchzte leise. «Das will ich ja auch gar nicht. Aber was, wenn es der einzige Ausweg ist? Isten őizz! Gott bewahre! Sieh den Tatsachen endlich ins Auge: Er hat dich sitzenlassen… oder es ist ihm etwas zugestoßen. Vielleicht tun wir ihm ja unrecht, und er ist tot. Das macht deine Lage jedoch auch nicht besser.»

Marysa wurde blass. «Er wird zurückkehren.» Sie stand auf und zupfte erneut an ihrem Kleid herum. «Er hat es mir versprochen.» Um ihre aufgewühlten Gefühle zu besänftigen, atmete sie mehrmals tief ein und aus. «Und nun lass uns gehen, Mutter. Bardolf wird schon ungeduldig warten. Ich bin wirklich froh, dass ihr mich zu dem Fastnachtsbankett der Schreinerzunft begleitet. Allein wäre ich mir ein bisschen verloren vorgekommen.»

«Heyn und Leynhard hätten dich als deine Gesellen begleiten können.»

«Heyns Schwester ist gestorben, wie du weißt. Deshalb besucht er seine Familie in Kornelimünster und bleibt bis nach der Beerdigung. Und Leynhard habe ich ebenfalls erlaubt, bis Sonntag seine Eltern zu besuchen. In der letzten Zeit hat er sehr hart gearbeitet, um den Schrein für das Marienstift zu vollenden. Er hat sich ein paar freie Tage redlich verdient.»

Ohne noch weiter auf etwaigen Protest ihrer Mutter zu hören, verließ Marysa ihre Schlafkammer und stieg die Stufen ins Erdgeschoss hinab. Sogleich kam Bardolf aus der Stube. Ihr Stiefvater war ein großer Mann mit dichtem blondem, an den Schläfen bereits leicht ergrautem Haar, der in der Zunftkleidung der Goldschmiede eine stattliche Figur machte. Er musterte sie besorgt, sagte jedoch nichts zu dem faltenreichen Kleid, sondern half ihr in den Mantel. Augenblicke später kam auch Jolánda herunter, warf ihm einen schmerzerfüllten Blick zu und schlüpfte schweigend in ihren warmen Überwurf.

***

Als Marysa sich spät am Abend unter ihre Decke kuschelte und ihre kalten Füße aneinanderrieb, ging es ihr elend. So selbstsicher, wie sie ihren Eltern und auch den anderen Zunftmitgliedern gegenüber aufgetreten war, fühlte sie sich in Wahrheit keineswegs. Der Abend war einem Spießrutenlauf gleichgekommen. Schon im Dezember hatte sie dem obersten Zunftgreven ihre Verlobung bekannt gegeben. Nun wurde sie natürlich immer wieder nach dem Verbleib ihres Bräutigams gefragt. Vor allem, seitdem bekannt geworden war, dass die kunstvollen Schnitzereien für die Schreine, die das Marienstift bei ihr in Auftrag gegeben hatte, von Christoph Schreinemaker stammten. Nicht nur der Greve, sondern jeder der Zunftmeister wollte unbedingt diesen Künstler kennenlernen. Langsam gingen ihr die Ausreden aus.

Im Januar hatte Christoph zurück sein wollen. Nachdem dieser Monat jedoch ohne eine Nachricht von ihm verstrichen war, quälten sie Tag um Tag immer mehr Zweifel. Sie sehnte sich nach ihm, hoffte bei jedem durchkommenden Reiter, jedem Klopfen an der Haustür, er sei endlich wieder da. In ihrem Herzen wusste sie, dass er sie nicht belogen hatte, wollte sie darauf vertrauen, dass er sein Versprechen hielt. Das Versprechen, das er ihr in jener Nacht gegeben hatte, in der er vermutlich auch das Kind gezeugt hatte. Die Erinnerung ließ sie angenehm erschauern. Doch die wohlige Empfindung wurde gleich wieder von Sorgen überlagert.

Hatte er es sich anders überlegt? War ihm klargeworden, dass ein Leben als Schreinbauer an ihrer Seite nicht das war, was er wollte? Oder war ihm der Plan, den er geschmiedet hatte, um sich dieses Leben zu ermöglichen, zu riskant erschienen? Letzteres könnte sie ihm nicht einmal verübeln. Christoph war jahrelang als Bruder Christophorus durch die Lande gezogen, hatte gefälschte Ablassbriefe verkauft und damit ahnungslosen Christenmenschen das Geld aus der Tasche gezogen. Dass sie ihm begegnet war, hatte seine Ursache im Tod ihres Bruders Aldo. Dieser war vor mehr als drei Jahren zu einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela aufgebrochen und hatte auf dem Weg ebenjenen zwielichtigen Ablasskrämer kennengelernt. Eine tiefe Freundschaft war zwischen den beiden Männern entstanden, nicht zuletzt, weil beide die Geheimnisse des jeweils anderen erkannt hatten. Aldo war dann auf dem Heimweg gestorben, hatte Christoph auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, sich um seine Stiefmutter und seine Schwester zu kümmern. Christoph hatte dieses Versprechen gehalten. Ganz gleich, was man über ihn sagen mochte, Christoph war ein ehrenhafter Mann. Deshalb war Marysa in ihrem tiefsten Inneren auch davon überzeugt, dass er zurückkehren würde. Vor zwei Jahren war er nach Aachen gekommen, hatte ihr und ihrer Familie von Aldos Tod berichtet und zu ihrer Überraschung – und ihrem Argwohn, wie sie zugeben musste – darauf bestanden, sich um sie zu kümmern, soweit es ihm möglich war.

Damals hatte sie selbstverständlich noch an seine Verkleidung als Dominikaner geglaubt, auch wenn ihr manches an ihm von Anfang an seltsam vorgekommen war. Er hatte ihr in einer schwierigen Zeit beigestanden, als ihr Gemahl, der Schreinbauer Reinold Markwardt, des Mordes an seinem Gesellen sowie des Handels mit gefälschten Reliquien bezichtigt wurde. Und erst recht hatte Christoph ihr geholfen, als Reinold ermordet und sie selbst ins Gefängnis gekommen war. Danach war er für anderthalb Jahre aus ihrem Leben verschwunden und erst im November des vergangenen Jahres plötzlich wiederaufgetaucht. Wohl hauptsächlich, weil er sich gute Geschäfte mit den Pilgern erhoffte, die Aachen im Vorfeld der Einweihung der neuen Chorhalle des Aachener Doms erwartete. Doch anstatt seine gefälschten Urkunden unters Volk zu bringen, hatte er ihr erneut beistehen müssen, denn ihr Stiefvater, Bardolf Goldschläger, wäre durch eine hinterhältige Intrige beinahe als Mörder verurteilt worden. Auch sie selbst war in böse Bedrängnis geraten; noch heute bekam sie eine Gänsehaut, wenn sie an jene Ereignisse dachte. Ob es vorherbestimmt war, dass sie sich ineinander verlieben sollten? Marysa wusste es nicht. Aber zumindest argwöhnte sie, nachdem sie inzwischen mehr über Christoph wusste, dass ihr Bruder Aldo derartige Hintergedanken verfolgt hatte, als er seinen Freund zu jenem verhängnisvollen Versprechen gedrängt hatte.

Marysa war sich nicht sicher, ob sie ihrem Bruder dafür dankbar sein oder ihn für seine Art, Schicksal zu spielen, verfluchen sollte. Sie hatte Aldo geliebt, vermisste ihn auch jetzt noch schmerzlich. Deshalb fiel es ihr schwer, einen Groll gegen ihn zu hegen.

Wo mochte Christoph nur stecken? Er war Anfang Dezember nach seiner Geburtsstadt Frankfurt aufgebrochen, um Urkunden oder andere Schriftstücke zu besorgen, die bewiesen, dass er nicht Bruder Christophorus, sondern Christoph Schreinemaker, der Sohn eines angesehenen Tischlers, war. Was die Angelegenheit so delikat – und auch gefährlich – machte, war die Tatsache, dass Christoph – oder besser Bruder Christophorus – nicht nur als falscher Mönch und Ablasskrämer gelebt, sondern sich zuweilen sogar als Inquisitor ausgegeben hatte. Zwar hatte er einen ausgeklügelten Plan entwickelt, der alles glaubhaft erklären sollte, aber Marysa schauderte bei dem Gedanken, dass schon der kleinste Fehler in diesem Gespinst die schlimmsten Folgen nach sich ziehen könnte. Dennoch hatte sie dem Vorhaben zugestimmt, das Christoph ermöglichen würde, sie zu heiraten und als Meister ihre Schreinwerkstatt zu übernehmen. Weil sie ihn liebte.

Kein geringerer Grund hätte sie jemals dazu verleiten können, sich auf ein derart gefährliches Vorhaben einzulassen. Die tiefen Gefühle für ihn waren fast unbemerkt – und ungewollt – in ihr gewachsen. Irgendwann hatten sie sich nicht mehr leugnen oder unterdrücken lassen. Und sie wusste, dass es ihm ebenso ergangen war.

Nun lag sie hier, allein in der kalten Dunkelheit ihrer Schlafkammer, und sehnte nichts mehr herbei als seine Arme, die sie fest umfingen, und seine Stimme, die ihr ins Ohr raunte, dass alles wieder gut werden würde.

***

Wo steckte er bloß? Auch am Morgen des folgenden Tages ließ ihr diese Frage keine Ruhe. Sie versuchte, sich mit geschäftlicher Korrespondenz abzulenken. Die Briefe an ihre neuen Geschäftspartner in Ungarn beanspruchten ihre ganze Aufmerksamkeit. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihre Sorgen sich immer wieder in den Vordergrund drängten.

War ihm vielleicht etwas zugestoßen? Warum hatte er keine Nachricht geschickt? Sie war sicher, dass er es getan hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Er hätte sie nicht mehr als zwei Monate lang im Ungewissen gelassen. So weit war Frankfurt nicht entfernt. Ein berittener Bote wäre selbst bei schlechtem Wetter und vereisten Straßen innerhalb weniger Tage nach Aachen gelangt.

Was also war geschehen, dass Christoph so lange fortblieb, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben? Bei Tage weigerte Marysa sich strikt, auch nur einen jener Zweifel zuzulassen, die sie des Nachts immer häufiger heimsuchten. Eisern hielt sie an ihrem Vertrauen fest, dass er sein Versprechen halten würde.

Entschlossen beugte sie sich wieder über das Schriftstück, das vor ihr auf dem Schreibpult lag. Im Haus war es heute ungewöhnlich still. Die Arbeit ruhte, weil ihre beiden Gesellen nicht da waren. Milo und Jaromir, die beiden jungen Knechte, waren mit dem Holzkarren unterwegs zum Markt, die Köchin Balbina werkelte zusammen mit der Magd Imela in der Küche. Das stille Mädchen machte sich gut am Herd, wie Marysa staunend festgestellt hatte. Bisher war Imela hauptsächlich der alten Fita im Haushalt zur Hand gegangen. Doch Fita war kurz nach Weihnachten an Lungenfieber gestorben. Seither zog es Imela mehr und mehr in Balbinas Reich. Zwar vernachlässigte sie ihre übrigen Pflichten nicht, doch Balbina hatte bereits mehrfach angedeutet, dass Imela ihr in der Küche eine äußerst brauchbare und verständige Hilfe sei. Deshalb überlegte Marysa, ob sie sich nicht nach einer weiteren Magd umsehen sollte.

Um ihr Personal würde sie sich ein andermal kümmern müssen. Die Handelsbeziehungen zu den ungarischen Augustinern gingen vor. Nachdenklich schob sie ein paar der schwarzen und grünen Rechensteine an ihrem Abakus, dem Rechenbrett, hin und her und überschlug die Kosten für eine weitere Lieferung Stoffreliquien. Das Jahr hatte vielversprechend begonnen. Im Januar, am 600.Todestag Karls des Großen, war die Chorhalle des Doms sehr feierlich von dem Weihbischof Heinrich von Sidon eingeweiht worden. Unzählige Pilger waren zu diesem Anlass nach Aachen gekommen. Nicht so viele wie bei der Heiltumsweisung anno 1412, aber dennoch genug, um die Geldbeutel der Reliquienhändler, Schreinbauer und des alten Ablasskrämers, der von Bonn herübergekommen war, reich zu füllen. Im kommenden Herbst dann würde König Sigismund nach Aachen kommen, um sich endlich krönen zu lassen und danach zu dem großen Kirchenkonzil nach Konstanz weiterzureisen. Auch dieses Ereignis versprach einen großen Strom von Pilgern und Schaulustigen. Da die kleinen Amulette und Reliquiare, die in Marysas Werkstatt gefertigt wurden, bei den Feierlichkeiten zur Einweihung der Chorhalle fast vollzählig verkauft worden waren, mussten Heyn und Leynhard baldmöglichst mit der Herstellung beginnen, damit das Lager bis zur Krönung wieder ordentlich aufgefüllt wäre.

Marysa streichelte über ihren Bauch. Im Herbst wäre ihr Kind schon auf der Welt. Und sie hätte, so Gott wollte, einen neuen Ehemann und zugleich einen fähigen Meister für ihre Werkstatt. Sie musste heiraten, nicht nur um des Kindes willen, sondern auch weil im Sommer die Zweijahresfrist zu Ende gehen würde, während deren sie als Meisterwitwe die Schreinwerkstatt allein weiterführen durfte.

Marysa Schreinemaker, dachte sie. Kein schlechter Name. Und gewiss würde die Ehe mit Christoph ganz anders verlaufen als jene mit Reinold. Dieser hatte sie nur wegen ihrer Mitgift und der Werkstatt geheiratet und ihr weder Zuneigung noch Achtung entgegengebracht. Er hatte ihre Hilfe oder Einmischung in die Belange der Werkstatt immer strikt abgelehnt, obwohl sie zu Lebzeiten ihres Vaters oft in dessen Kontor ausgeholfen und vieles gelernt hatte.

Nach Reinolds Tod hatte sie die alten Geschäftskontakte ihres Vaters wieder aufgefrischt, der der bekannteste Reliquienhändler Aachens gewesen war. Inzwischen hatte sie sich einen guten Ruf im Handel mit Heiltümern erworben, und sie wusste, dass Christoph ihr dieses Geschäft nicht wieder verbieten würde. Im Gegenteil, sie argwöhnte, dass ihm der Gedanke gefiel, anstelle seiner Ablassbriefe fortan Reliquien unters Volk zu bringen. Anfangs hatte Marysa sich strikt gegen den Vergleich gewehrt, doch inzwischen musste sie zugeben, dass beide Tätigkeiten einander nicht unbeträchtlich ähnelten. Zwar gab es unter ihren Handelswaren durchaus echte Heiltümer, doch die meisten Reliquien, die sie verkaufte, waren nicht einmal in die Nähe von irgendwelchen Heiligen oder Märtyrern gelangt. Marysa hatte keine Gewissensbisse, Fälschungen zu verkaufen, solange sie von hervorragender Qualität waren. Sie rechtfertigte ihr Tun damit, dass sie eben Zeugnisse des Glaubens verkaufte, denn die meisten Menschen brauchten etwas Greifbares, woran sie sich festhalten konnten.

Christoph wiederum hatte ihr gegenüber seinen Handel mit gefälschten Ablassbriefen mit ähnlichen Argumenten verteidigt. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass dies wohl auch einer der Gründe war, aus denen Aldo sich einst mit ihm angefreundet hatte. Und vermutlich hatte er auch deswegen Christoph nach Aachen geschickt.

Marysas Gedanken wurden unterbrochen, da jemand laut gegen die Haustür pochte. Sie hob den Kopf und vernahm die Schritte ihres Altknechts Grimold, Augenblicke später die aufgebrachte Stimme ihres Vetters Hartwig. Seufzend schob sie den Brief unter einige andere Papiere und wappnete sich innerlich für die vermutlich unerfreuliche Begegnung.

Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich umgehend. Hartwig kam mit wehendem Zunftmantel und grimmiger Miene in ihr kleines Kontor gerauscht und baute sich ehrfurchtgebietend vor ihrem Pult auf. «Es reicht mir jetzt, Cousine», wetterte er ohne einen Gruß los. «Welche Ausflüchte hast du diesmal vorzubringen? Verzögerung wegen schlechten Wetters, dass ich nicht lache! Ich habe mitbekommen, was du dem Greven gestern ins Ohr gesäuselt hast. Allmählich glaube ich, dass dieser Christoph Schreinemaker gar nicht existiert. Du willst dich nur um eine Ehe mit Gort herumdrücken, du hinterlistige Schlange!»

Bedächtig erhob sich Marysa, damit sie sich hinter ihrem Schreibpult weniger klein vorkam. «Zunächst einmal wünsche ich dir einen guten Morgen, Hartwig. Deine Kinderstube lässt sehr zu wünschen übrig. Und was fällt dir ein, mich der Lüge zu bezichtigen? Christoph Schreinemaker ist so lebendig wie du und ich. Dass seine Reise etwas länger als geplant ausfällt, ärgert mich sicherlich mehr als dich, doch bedeutet das noch lange nicht, dass deshalb unsere Verlobung nicht mehr besteht.»

«Verlobung, pah! Du hast ja nicht einmal etwas Schriftliches in der Hand! Da könnte ja ein jeder daherkommen und…»

«Christoph ist nicht ein jeder, Hartwig», unterbrach Marysa ihn mit schneidender Stimme, «sondern der Mann, dem ich mein Eheversprechen gegeben habe. Vor Zeugen, wie ich anfügen möchte, denn meine Eltern waren dabei.» Dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach, darüber wollte sie im Augenblick lieber nicht nachdenken. Sie wusste, dass sowohl ihre Mutter als auch Bardolf in jedem Fall hinter ihr stehen würden.

«Ich verlange, dass du Gort heiratest. Er ist ein guter Schreinergeselle und wird einen ausgezeichneten Meister abgeben.»

Marysa verschränkte die Arme vor dem Leib. «Dieses Thema hatten wir schon, Hartwig. Und wenn ich dich daran erinnern darf: Ich habe Gorts Antrag abgelehnt, und dabei bleibt es.»

«Himmelherrgott nochmal!», fluchte Hartwig. «Dann nimm wenigstens Leynhard. Ich weiß, dass er dir einen Antrag gemacht hat. Er ist jung und tüchtig. Ich gebe ja zu, dass er ein gefälligeres Äußeres hat als Gort.» Angewidert schüttelte er den Kopf. «Dass ihr Weiber aber auch nichts als solche Nebensächlichkeiten im Kopf habt! Soweit ich weiß, ist Leynhard dir sogar recht zugetan. Was willst du mehr?»

«Ich werde Leynhard nicht heiraten, sondern Christoph. Das vor ihm und Gott gegebene Versprechen kann ich nicht einfach rückgängig machen, Hartwig. Du weißt selbst, dass ein Eheversprechen genauso viel wiegt wie der Ehevertrag selbst.»

«So ein Unsinn!», brüllte Hartwig. An seiner Schläfe trat deutlich eine Ader hervor. «Wir zahlen diesem Kerl eine Wiedergutmachung, und fertig. So scharf scheint er nicht auf eine Ehe mit dir zu sein, sonst wäre er doch längst wieder hier. Wenn du Leynhard heiratest, kommt die Werkstatt wenigstens nicht in fremde Hände.»

Marysa blitzte ihn zornig an. «Daher weht also der Wind. Sag es doch gleich, anstatt dich hinter deiner angeblichen Sorge um mich zu verstecken! Du willst nicht, dass Christoph Schreinemaker der neue Meister meiner Werkstatt wird, weil das nämlich bedeuten würde, dass du jegliches noch so eingebildete Recht daran verlierst. Das kümmert mich einen feuchten Kehricht, Hartwig. Mein Vater hat nie gewollt, dass seine Werkstatt in deine Hände fällt. Er wäre mit meiner Wahl ganz sicher einverstanden gewesen.»

«Dein Vater ist schon lange tot, Marysa.» Hartwigs Stimme schwankte. «Und nur, weil dein sauberer Stiefvater sich im Stadtrat Liebkind gemacht hat und ihm deswegen die Munt über dich zugesprochen wurde, heißt das noch lange nicht, dass meine Rechte verwirkt sind. Ich bin immerhin dein nächster männlicher Verwandter. Und das Erbrecht…»

«Komm mir nicht mit dem Erbrecht», fauchte Marysa. «Das kannst du einklagen, sollte ich heute oder morgen überraschend dahinscheiden. Da die Wahrscheinlichkeit aber wohl sehr gering sein dürfte, lass mich gefälligst in Ruhe. Ich habe zu arbeiten, wie du siehst.» Sie deutete auf die Schriftstücke, die auf dem Pult verteilt lagen.

Hartwig schnaubte ungehalten. «Fast gönne ich diesem Kerl, dass er dich zum Weib bekommt. Es hat zwar lange gedauert, aber nun schlägt das ungarische Temperament deiner Sippe wohl doch durch. Ein bisschen Feuer unter den Röcken ist ja nicht schlecht, doch anscheinend hast du das lose Mundwerk deiner Mutter ebenfalls geerbt. Daran wird der Schreinemaker wahrlich seine Freude haben.»

«Auch das ist nicht dein Problem, Hartwig.» Nun setzte sich Marysa wieder, denn just in diesem Augenblick verspürte sie zum ersten Mal ein leichtes Flattern in ihrem Bauch, das nur von dem Kindchen stammen konnte. Ein ungeahntes Glücksgefühl überkam sie, und sie hatte große Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

Doch Hartwig hatte scharfe Augen. «Was ist mit dir, Cousine? Deine Wangen haben sich gerötet. Bist du etwa krank? Das fehlte uns gerade noch. Aber wahrscheinlich isst du nicht genug, wie? Ich hab ja schon immer gesagt, dass du viel zu dünn bist. Ein Mann will neben sich im Bett keinen spillerigen Knochenhaufen, sondern etwas zum Anfassen. Dabei hatte ich den Eindruck, dass du in den letzten Wochen endlich ein bisschen was auf die Rippen bekommen hast.»

«Ich bin nicht krank, Hartwig. Wenn mir auch deine Gegenwart zuweilen Kopfschmerz verursacht», entgegnete Marysa und bemühte sich um Fassung.

«Bist du sicher?», knurrte er.

Marysa nickte. «Ganz sicher. Und nun verrate mir, warum du überhaupt hier bist. Ich nehme nicht an, dass du den Weg hierher nur gemacht hast, um mir mit der ewig gleichen Leier in den Ohren zu liegen.»

«Unverschämtes Weib», grollte Hartwig. «Du solltest dankbar sein, dass man sich um dich kümmert.»

«Das kann ich, wie du weißt, sehr gut selbst.»

«Hmpf. Ich soll dir eine Einladung überbringen. Komm am Samstagabend nach der Vesper ins Zunfthaus. Dann wird die Wahl des neuen obersten Zunftgreven stattfinden.»

«Am Samstag? Ist das nicht ein bisschen kurzfristig?», wunderte Marysa sich.

Hartwig zuckte mit den Schultern. «Wozu noch lange warten? Zweimal musste die Wahl schon verschoben werden, zuletzt wegen der Einweihung der Chorhalle. Nun konnten wir uns endlich auf ein Datum einigen, also sieh zu, dass du anwesend bist.»

«Selbstverständlich werde ich da sein, obgleich ich als Meisterwitwe kein Stimmrecht habe. Wenn die Wahl zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden würde, könnte mein Gemahl sich beteiligen.»

«Darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Auf seine Stimme bin ich auch nicht angewiesen. Du weißt, dass ich die besten Aussichten auf das Amt habe.»

«Es sei dir gegönnt. Und jetzt lass mich bitte allein.»

«Wir sprechen uns noch.» Hartwig drehte sich um und marschierte hinaus.

Gerade als er die Werkstatt durchquert hatte, klopfte es erneut an der Haustür. Ehe Grimold reagieren konnte, hatte Hartwig bereits die Tür geöffnet und trat überrascht einen Schritt zur Seite, als er den Besucher erkannte. «Herr van Oenne, guten Morgen. Was führt Euch hierher?»

«Meister Schrenger, seid gegrüßt.» Der schwarzgewandete Domherr aus dem Marienstift trat mit einem knappen Nicken ein. «Ich habe etwas mit Frau Marysa… Ah, da seid Ihr ja!» Als er Marysa erblickte, die beim Klang seiner Stimme rasch aus dem Kontor geeilt war, glitt ein Lächeln über seine Lippen. «Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Frau Marysa, und hoffe, es geht Euch wohl?»

«Ausgezeichnet, Herr van Oenne. Kommt nur herein und setzt Euch. Kann ich Euch etwas anbieten, heißen Würzwein vielleicht?» Während sie den Domherrn in ihr Kontor geleitete, warf sie ihrem Vetter über die Schulter einen auffordernden Blick zu, woraufhin er mit einem verärgerten Schnauben das Haus verließ.

«Danke, Frau Marysa, das ist nicht nötig. Ich komme praktisch schnurstracks aus unserem Refektorium, durfte also Speis und Trank bis eben zur Genüge genießen.»

«Also gut, wie Ihr meint.» Marysa setzte sich ihm gegenüber und faltete die Hände auf dem Pult. «Dann sagt mir, was mir die Ehre Eures Besuchs verschafft.»

Rochus van Oenne lehnte sich bequem auf dem Besucherstuhl zurück. Er war ein Mann jenseits der fünfzig mit einnehmenden Gesichtszügen, dichtem grauem Haar und einem Kinnbart. In seiner Jugend hatte er gewiss mehr als ein weibliches Auge entzückt, und auch heute noch wusste er sich in der Gesellschaft von Frauen durchaus angenehm zu machen. Seine Erscheinung, gepaart mit ausgezeichneten Manieren, standen in deutlichem Gegensatz zur Wesensart jenes Mannes, dessen Posten er vor einigen Monaten übernommen hatte. Nachdem Johann Scheiffart, der Stellvertreter des Dechanten, im vergangenen November unter grausamen Umständen ums Leben gekommen war, war Rochus van Oenne auf seinen Platz aufgerückt.

Auch wenn Marysa nach anfänglichen Schwierigkeiten recht gut mit Scheiffart ausgekommen war, musste sie zugeben, dass die Geschäfte, die sie mit dem Marienstift tätigte, sich inzwischen wesentlich angenehmer gestalteten. Van Oenne war nicht so herrisch wie Scheiffart und vermittelte ihr immer den Eindruck väterlicher Fürsorge. Während Scheiffart zumeist übler oder zumindest gereizter Laune gewesen war, verbreitete van Oenne eine unerschütterliche Heiterkeit.

So lächelte er sie auch jetzt fröhlich an. «Meine Liebe», begann er, «ich möchte Euch noch einmal sagen, wie beeindruckt ich von den Fortschritten bin, die Eure Gesellen an dem Schrein für unsere Chorhalle machen. Die Schnitzereien sind köstlich! Schade nur, dass es mir bislang verwehrt war, den kunstfertigen Schnitzer, Euren zukünftigen Gemahl, höchstselbst kennenzulernen. Wisst Ihr inzwischen, wann Ihr ihn zurückerwarten dürft?»

Marysa senkte den Blick. «Es wird nicht mehr lange dauern, Herr van Oenne. Das Reisen ist um diese Jahreszeit nicht eben angenehm. Aber ich bin sicher, Christoph wird erfreut sein, wenn ich ihm bei seiner Rückkehr von Eurem Lob erzähle.»

«Ah, ich bestehe darauf, dass Ihr, sobald er hier ist, nach mir schicken lasst, damit ich es ihm selbst kundtun kann», sagte van Oenne. «Ich hoffe wirklich, er lässt Euch nicht mehr allzu lange warten – Wetter hin oder her. Eine junge hübsche Frau wie Ihr sollte alsbald als strahlende Braut vor die Kirchenpforte treten. Ich hoffe doch, dass ich das Vergnügen haben werde, Euch auch dazu persönlich gratulieren zu dürfen, wenn es so weit ist.»

Marysa errötete bei seinem schmeichelnden Tonfall. «Gewiss seid Ihr eingeladen, Herr van Oenne.»

«Schön, schön.» Er nickte ihr herzlich zu. «Und nun zum Geschäftlichen, meine Liebe. Ich habe Euch nämlich einen Vorschlag zu machen. Gerne hätte ich diesen sogleich mit Eurem zukünftigen Gemahl besprochen, denn er wird ja in Kürze der neue Meister Eurer Werkstatt sein, nicht wahr? Aber da ich Euch kenne und um Eure Tüchtigkeit in Geschäftsdingen weiß, nehme ich gerne zunächst mit Euch vorlieb. Es geht nämlich um eine Sache, die keinen Aufschub duldet.»

«Das klingt ja sehr spannend, Herr van Oenne», bemerkte Marysa. «Worum handelt es sich?»

Der Domherr richtete sich auf und setzte eine gewichtige Miene auf. «Wie Ihr wisst, erwartet Aachen im Herbst die Ehre von König Sigismunds Besuch. Nicht nur das, er wird sich hier nach altem Brauch seine Königskrone abholen. Das bedeutet große Feierlichkeiten, viele Besucher, Pilger und so fort.» Er hielt kurz inne und Marysa nickte. Daraufhin fuhr er fort: «Leider musste das Stiftskapitel den Auftrag an Euch über mehrere große Reliquienschränke vorläufig zurückstellen, wie Ihr wisst. Die Sabotage an der Chorhalle im vergangenen Herbst und die Beseitigung der Schäden, insbesondere die neuen Glasfenster, haben erhebliche Kosten verursacht, wie Ihr Euch denken könnt.»

Wieder nickte Marysa.

«Ja nun, und so kamen wir auf den Gedanken, zu den kommenden Feierlichkeiten etwas Neues zu versuchen, um unsere leeren Kassen wieder etwas zu füllen. Wir erwarten nicht nur viel Fußvolk und Schaulustige, sondern auch eine große Anzahl weltlicher und kirchlicher Würdenträger. Das gesamte Reich wird in diesen Tagen auf Aachen schauen, und nicht wenige Familien des Adels haben ihren Besuch bereits angekündigt. Und so, wie für die gewöhnlichen Pilger unsere Zinngießer Pilgerabzeichen in großen Massen herstellen und verkaufen, möchten wir, also das Marienstift, künftig ebenfalls Pilgerzeichen anbieten. Jedoch nicht solche aus Zinn, sondern aus weit edlerem Material, welches den hohen Herrschaften viel eher gefallen wird. Die Pilgerzeichen sollen aus Silber gefertigt werden, Frau Marysa.»

«Aus Silber?» Marysa runzelte überrascht die Stirn. «Damit dürften sie für den gemeinen Pilger ohnehin unerschwinglich sein. Doch was hat das nun mit meiner Werkstatt zu tun? Auf das Schlagen von Silber verstehe ich mich nicht. Und selbst mein Vater, der Goldschmied, dürfte nicht der richtige Ansprechpartner sein.»

«Gewiss nicht.» Der Domherr lachte. «Denn Abzeichen aus Gold wären dann doch ein wenig übertrieben, nicht wahr? Nein, es geht um Folgendes, Frau Marysa. Jene silbernen Zeichen sind natürlich viel zu wertvoll, um sie in Pilgermanier einfach an den Mantel zu nähen. Deshalb schwebt uns vor, sie in kleinen hölzernen Amuletten feilzubieten. Eure Gesellen fertigen ganz vorzügliche Reliquiare in Miniaturform. Jene, die Ihr während der Einweihung der Chorhalle verkauft habt, sind zwar einfach und schmucklos gewesen, doch nachdem ich die Kunstfertigkeit Eures zukünftigen Gatten bewundern durfte, bin ich überzeugt, dass in Eurer Werkstatt die passenden, würdigen Behältnisse gefertigt werden könnten.» Er legte den Kopf auf die Seite. «Nun, was sagt Ihr? Ist das ein Angebot, das Ihr in Betracht ziehen würdet? Es wäre eine gute Einnahmequelle für Euch wie für uns. Es dürfte Euch auch für die Verschiebung der anderen Aufträge zumindest teilweise entschädigen.»

«Ein außerordentliches Angebot, das Ihr mir da unterbreitet», antwortete Marysa vorsichtig. «Aber müsstet Ihr es nicht der Zunft vortragen, damit dort darüber entschieden wird, wer dafür in Frage kommt?»

Van Oenne kräuselte die Lippen. «Wenn ich dieses Angebot der Zunft abgebe, würdet ganz sicher nicht Ihr es sein, die den Auftrag erhält, Frau Marysa. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde Euer Vetter ihn sich einverleiben. Auch wenn ich sehr genau weiß, dass er am kommenden Samstag wahrscheinlich zum Vorsteher der Zunft gewählt werden wird, besitzt er nicht mein Wohlwollen. Ich weiß um die Ungeheuerlichkeiten, mit denen er vergangenes Jahr versucht hat, Euch den Auftrag über die Reliquienschränke abspenstig zu machen. Verzeiht mir, wenn ich in Eurer Gegenwart so wenig freundlich von Eurem Verwandten spreche, aber ich halte ihn für einen selbstgerechten Schwätzer. Er ist zwar kein schlechter Schreinbauer, sein Können wird jedoch von dem Eurer Gesellen und – ich muss es noch einmal wiederholen – dem Eures zukünftigen Gatten weit übertroffen.»

Marysa schluckte und bemühte sich standhaft, das Zucken um ihre Mundwinkel zu unterdrücken. Ja, eindeutig, sie mochte Rochus van Oenne. «Ich möchte Euch ungern widersprechen», sagte sie. «Also danke ich Euch stattdessen für das Vertrauen, das Ihr mir, oder besser meiner Werkstatt, entgegenbringt. Es wäre uns eine Ehre, die Reliquiare für Eure Silberzeichen anzufertigen.»

«Sehr schön, anderes hatte ich auch nicht von Euch erwartet», rief van Oenne erfreut und erhob sich. «Ich schicke in den nächsten Tagen einen unserer Schreiber, damit er Euch genaue Zahlen nennen und unsere Wünsche in Bezug auf die Amulette unterbreiten kann. Sobald Ihr Euch mit ihm geeinigt habt, wird der Vertrag aufgesetzt. Eines darf ich Euch schon jetzt versprechen – dieser Auftrag soll Euer Schaden nicht sein, Frau Marysa.»

2.KAPITEL

Wieder und wieder strich er über das zerknitterte Schriftstück und las die Worte, die in schwarzer Tinte und in gleichmäßigen Lettern darauf geschrieben standen. Eine solch kunstfertige Handschrift lernte man nicht bei weltlichen Lehrmeistern, ja nicht einmal in den gemeinen Lateinschulen. Nein, der Schreiber hatte ganz sicher eine Klosterschule besucht. Und das hatte seinen Argwohn geweckt. Es war reiner Zufall gewesen, dass er dem Boten begegnet war, und ein noch größerer Zufall, dass dieser ihm beim gemeinsamen Mahl in einer Schenke in Kornelimünster von dem Brief erzählt hatte, den er der Schreinbauerwitwe Marysa Markwardt aushändigen sollte.

Glaubhaft hatte er dem Burschen daraufhin versichert, dass dieser sich den Weg nach Aachen hinein sparen konnte. Er selbst würde den Brief mitnehmen und ihn ihr überreichen, denn ihr Haus sei ohnehin sein Ziel.

Der Bursche war höchst erfreut und dankbar gewesen, denn so konnte er sich gleich wieder auf den Rückweg machen und hatte Zeit für einen kleinen Umweg zu seinem Liebchen.

Den Brief hatte er natürlich nicht überbracht. Einen solchen Dienst hatte Marysa Markwardt mitnichten verdient. Sollte sie doch glauben, ihr Bräutigam sei auf und davon oder – besser noch – es sei ihm etwas zugestoßen.

Sorgsam faltete er das Schriftstück wieder zusammen und schob es unter sein Wams. Auch wenn nichts an den Worten, die Christoph Schreinemaker an Marysa gerichtet hatte, irgendwie verdächtig schien, hatte er das Spiel der beiden längst durchschaut. Unsägliches hatten sie vor, da war er sich ganz sicher. Einen Betrug vor Gott wie vor den Menschen. Eine Untat, die er nicht würde dulden können – aus verschiedenen Gründen.

3.KAPITEL

«Hältst du das wirklich für eine gute Idee, Marysa?», fragte Bardolf Goldschläger seine Stieftochter beim gemeinsamen Abendessen einige Tage später. «In wenigen Monaten wird deine Werkstatt von der Zunft geschlossen, sollte Christoph sich nicht allmählich wieder in Aachen einfinden. Und ehrlich gesagt, hege ich so langsam Zweifel daran.»

«Er wird zurückkehren», wiederholte Marysa beinahe gebetsmühlenartig, wie sie es auch ihrer Mutter gegenüber immer wieder getan hatte. «Es dauert eben nur etwas länger. Vielleicht gab es Probleme mit den Schriftstücken, die er vom Frankfurter Rat haben will.»

«Und er hat keine Möglichkeit, dich darüber in Kenntnis zu setzen?» Bardolf schüttelte den Kopf. «Täglich reisen unzählige Boten durchs Land. Einem von ihnen hätte er längst Nachricht mitgeben können.»

«Vielleicht ist die Nachricht unterwegs verlorengegangen.»

Bardolf legte den Kopf auf die Seite, woraufhin Marysa seufzte. «Ich vertraue ihm, Bardolf. Ich weiß selbst nicht, warum. Du weißt, wie misstrauisch ich ihm gegenüber am Anfang war. Doch jetzt…» Unbewusst wanderte ihre linke Hand hinunter zu ihrem Bauch. Sogleich hob sie sie wieder und griff stattdessen nach einem Stück Brot. «Mir bleibt doch auch nichts anderes übrig, oder?»

Sorgenvoll runzelte Bardolf die Stirn. «Um den Antrag eines anderen Mannes anzunehmen, dürfte es inzwischen zu spät sein.» Er wechselte einen kurzen Blick mit Jolánda. «Wenn er nicht zurückkehrt, werden dir schwierige Zeiten bevorstehen, Marysa. Selbst wenn er morgen vor deiner Tür steht, dürftet ihr einiges Aufsehen erregen. Wenn ein Kind so kurz nach der Hochzeit geboren wird, gibt das den Leuten immer Anlass zu Getratsche. Doch sollte er nicht wiederkehren – und das müssen wir befürchten, ganz gleich, was auch der Grund sein mag–, wirst du als Mutter eines Bastards die Achtung verlieren, die die Menschen dir bisher entgegenbringen. Die Werkstatt wird auch verwirkt sein…»

«Das weiß ich alles!» Marysa funkelte ihn an. «Aber es lässt sich nun einmal nicht mehr ändern. Ich werde nicht zu einer dieser Frauen gehen, die mit irgendwelchen geheimen Mittelchen dafür sorgen, dass man ein Kind vor der Zeit verliert. Das kann ich nicht. Ich will es nicht, Bardolf. Es ist Christophs Kind!»

«Marysa, beruhige dich!» Jolánda ergriff die Hand ihrer Tochter. «Sollen die Dienstboten etwa alles mitbekommen?»

«Nein, selbstverständlich nicht.» Marysa zwang sich zur Ruhe und senkte ihre Stimme wieder. «Rochus van Oenne war mit den Musteramuletten sehr zufrieden. Das ist eine einmalige Gelegenheit für die Werkstatt. Ich musste diesen Auftrag einfach annehmen. Sie wollen bis Ostern dreißig Stück haben. Stellt euch das nur einmal vor! Sie bezahlen in Gold und guten Wechseln.»

«Hartwig wird dir den Hals umdrehen», folgerte Bardolf und verzog die Lippen. «Da er gestern einstimmig gewählt worden ist, dürfte er ohnehin zukünftig noch unausstehlicher sein. Und jetzt schnappst du ihm diesen lukrativen Auftrag vor der Nase weg. Marysa, auch das riecht nach Ärger, wenn du mich fragst. Van Oenne hätte den offiziellen Weg über die Zunft nehmen müssen.»

«Er wollte, dass ich diesen Auftrag erhalte», widersprach Marysa. «Ihm war klar, dass Hartwig das verhindern würde.»

«Tja, nun hast du den Auftrag», schloss Jolánda. «Aber auch ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll.» Sie hob die Schultern. «Lasst uns das Thema wechseln. Es führt zu nichts, wenn wir uns ständig im Kreis drehen. Das wird Christoph nicht schneller zurückbringen.» Sie nahm einen Schluck Wein und drehte den Becher dann zwischen den Fingern hin und her. «Weißt du schon, wann Heyn wiederkommen wird?»

Marysa hob die Schultern. «Ihn erwarte ich morgen oder übermorgen. Seine Schwester müsste inzwischen beerdigt worden sein. Derweil kümmert sich Leynhard allein um die Ausführung der Arbeiten. Ich bin sehr froh, zwei so treue Gesellen gefunden zu haben. Sie tun wirklich alles, um den Ruf der Werkstatt aufrechtzuerhalten.»

«Wie hat Leynhard es eigentlich aufgenommen, dass du seinen Antrag abgelehnt hast?», wollte Jolánda wissen. «Du hast gar nichts darüber gesagt. War er nicht sehr enttäuscht? Immerhin hat er sich Hoffnungen gemacht, selbst hier Meister werden zu können, nicht wahr?»

Marysa nickte, schüttelte dann aber den Kopf. «Leynhard ist ein guter Mann, Mutter. Wenn Christoph nicht gewesen wäre… Nun ja.» Sie zuckte wieder mit den Schultern. «Natürlich war er enttäuscht. Ich fürchte, er hegt tatsächlich eine stille Zuneigung zu mir.» Nun errötete Marysa vor Verlegenheit. «Aber er war mir nicht böse, glaube ich. Fast hatte ich sogar den Eindruck, er ist erleichtert. Die Leitung einer Werkstatt ist nicht leicht und bedeutet eine große Verantwortung. Und, nun ja, ich vermute, er weiß selbst, dass er sich mit dem Denken ab und an etwas schwertut.» Lächelnd nahm nun auch Marysa einen Schluck verdünnten Wein. «Er ist nicht dumm, beileibe nicht. Aber etwas…»

«Langsam», half Jolánda nach. «Ja, den Eindruck habe ich auch. Mag sein, er hat eingesehen, dass du ihm in vielen Dingen überlegen bist. So sanftmütig er sein mag – nicht jeder Mann verträgt es, mit einer klugen Frau zusammenzuleben.» Bedeutungsvoll blickte sie Bardolf von der Seite an.

Er lachte. «Schon gar nicht, wenn sie dein Temperament geerbt hat.» Seine Finger wischte er sich am Tischtuch ab und wandte sich an Marysa. «Dann wird Leynhard also trotz deiner Abfuhr in deinem Dienst bleiben?»

«O ja, ganz bestimmt. Natürlich habe ich ihm angeboten, sich einen anderen Meister zu suchen. Er meinte jedoch, woanders könne es ihm gewiss nicht bessergehen als hier.»

«Womit er nicht unrecht hat», befand Jolánda. «Bei den bedeutenden Aufträgen, die du immer wieder erhältst, vor allem durch das Marienstift, kann er sich ja immerhin einen ausgezeichneten Namen erarbeiten und damit dann möglicherweise die Tochter eines der anderen Meister für sich gewinnen.»

Marysa nickte. «So scheint er es auch zu sehen, und ich bin froh darüber. Er ist ein sehr fähiger Schreinbauer. Ohne ihn könnte ich die Werkstatt ganz sicher nicht über Wasser halten, solange Christoph fort ist.»

«Womit wir wieder beim Thema wären», sagte Bardolf trocken. Er sprach jedoch nicht weiter, da in diesem Moment Marysas junger Knecht Milo die Stube betrat.

«Verzeihung.» Er grinste in seiner typischen Straßenjungenmanier und fuhr sich mit den Fingern durch seinen braunen Haarschopf. «Ich wollt’ nur sagen, dass es angefangen hat zu schneien – und nicht zu knapp, Frau Marysa. Wenn Ihr heute noch nach Hause gehen wollt, sollten wir gleich aufbrechen.»

«Ach herrje!», rief Jolánda erschrocken. «Nein, mein Kind. Du musst unbedingt hierbleiben. Du wirst krank werden, wenn du jetzt durchs Schneetreiben läufst. Und das ist ganz sicher nicht gut für…» Bardolf stieß sie unsanft an, und sie verstummte erschrocken.

«Ach was, so schlimm wird es schon nicht sein.» Marysa trank den letzten Schluck Wein aus ihrem Becher und erhob sich. «Der Weg ist nicht weit, und ich möchte gern zu Hause sein, falls…» Auch sie sprach nicht weiter, ihre Eltern hatten sie auch so verstanden.

«Sieh dich vor, dass du nicht ausrutschst», mahnte Jolánda, während sie neben ihrer Tochter die Stube verließ und ihr in den Mantel half. «Milo, du musst sehr gut achtgeben auf deine Herrin, hast du verstanden?»

«Klar, mach ich ja immer.» Milo nickte fröhlich und zog sich seine graue Gugel über den Kopf. «Kommt, Frau Marysa, ich gehe Euch voraus, dann könnt Ihr in meinen Fußstapfen laufen.»

Marysa lachte. «Das ist nicht…» Sie blieb überrascht an der Tür stehen. «Oh! Tatsächlich, das ist nötig.» Nun doch etwas erschrocken, blickte sie auf das dichte Schneetreiben. Die weiße Pracht hatte sich bereits knöchelhoch über die Straße verteilt.

«Marysa, du solltest wirklich hierbleiben», protestierte Jolánda, als ihre Tochter trotz des Schneegestöbers ins Freie trat. «Es ist unvernünftig, durch dieses Wetter zu laufen!»

Marysa drehte sich noch einmal zu ihr um. «Ich weiß, Mutter. Aber was, wenn er heute eintrifft?»

«Um diese Zeit sind die Stadttore längst geschlossen», argumentierte ihre Mutter, doch dann seufzte sie. «Ich weiß. Das wird ihn vermutlich nicht abhalten. Also geh schon. Aber bitte sei…»

«Vorsichtig. Ja, Mutter. Mach dir keine Sorgen.» Marysa hob zum Abschied die Hand, dann marschierte sie dicht hinter Milo los. Er hielt die brennende Pechfackel so, dass Marysa erkennen konnte, wohin sie trat. Immer wieder zischte es leise, wenn Schnee mit dem Feuer in Berührung kam. In den Straßen Aachens war es stockfinster. Nur durch die Ritzen fest verschlossener Fensterläden drang etwas Licht. Dicke weiße Flocken stoben um Marysas Gesicht und legten sich auf ihre Kapuze und ihre Schultern.

«Geht es, Herrin?» Milo blickte sich prüfend nach ihr um. «Ganz schön übles Wetter, was?»

«Das kann man wohl sagen», erwiderte sie.

«Nicht gut zum Reisen.»

«Nein.»

Milo blieb kurz stehen und blickte sie an. «Ihr glaubt trotzdem, dass er heute kommen könnte. Oder morgen oder…»

«Das wird er, Milo.»

«Und Ihr wollt seine Ankunft nicht verpassen.»

Sie antwortete nicht, sondern gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er weitergehen sollte. Sie hatten den Markt bereits erreicht. Bis zum Büchel, wo ihr Haus stand, war es nun nicht mehr weit.

Schweigend stapfte Milo wieder voran, und Marysa fragte sich nicht zum ersten Mal, wie viel ihr junger Knecht wohl von jenen Ereignissen im vergangenen Herbst verstanden haben mochte. Sie argwöhnte, dass er zumindest ahnte, dass Christoph Schreinemaker und der Dominikaner Christophorus ein und dieselbe Person waren. Immerhin wusste er von den Schnitzereien, die Christoph heimlich für sie angefertigt hatte. Doch bisher hatte er nie ein Wort darüber verloren. Marysa war ihm dankbar dafür, zugleich aber besorgt. Milo trug sein Herz normalerweise auf der Zunge. Sie hoffte, dass er ein Geheimnis auch langfristig würde bewahren können – vor allem gegenüber seiner Familie und seinem besten Freund Jaromir. Nicht, dass Marysa ihrem übrigen Gesinde nicht traute – im Gegenteil! Es waren allesamt treue Seelen, doch je weniger Menschen von Christophs gefährlichem Plan wussten, desto besser.

«Da wären wir, Herrin.» Milo pochte heftig an die Haustür und trat dann einen Schritt beiseite, damit sie als Erste eintreten konnte.

Der alte Grimold ließ sie ein und nahm ihr eifrig den nassen Mantel ab. «Herrin, Ihr hättet bei diesem Wetter nicht draußen herumlaufen sollen», schalt er freundlich. «Eure wohledle Frau Mutter hätte gewiss ein Gästebett für Euch frei gehabt.»

«Das hätte sie.» Marysa ging durch die Werkstatt in Richtung Küche, denn dort war vermutlich auch jetzt noch gut geheizt. «Aber ich schlafe lieber in meinem eigenen Bett.» Beiläufig drehte sie sich zu dem alten Knecht um. «Ist etwas vorgefallen, seit ich zu meinen Eltern gegangen bin?»

Bedauernd schüttelte Grimold den Kopf. «Nein, Herrin, alles ruhig.»

«Gut. Ich werde kurz mit Balbina sprechen – ist sie noch wach?»

Grimold nickte.

«Und dann werde ich zu Bett gehen.» Entschlossen, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, betrat sie die Küche, in der die beleibte und rotwangige Köchin gerade dabei war, einen großen Topf mit Sand zu scheuern. «Guten Abend, Balbina», grüßte Marysa und trat an den großen gemauerten Herd, in dem noch ein Rest Glut die erhoffte Wärme verströmte. Dankbar hielt Marysa ihre Hände darüber.

«Herrin.» Balbina nickte ihr lediglich zu und schrubbte dabei unvermindert weiter.

«Wir müssen in den nächsten Tagen zum Markt», sagte Marysa. «Die Auswahl an Speisen wird während der Fastenzeit ein wenig eintönig, wenn wir uns nicht etwas überlegen.»