Das Skalpell des Engels - Claudio Coletta - E-Book

Das Skalpell des Engels E-Book

Claudio Coletta

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Beschreibung

Lorenzo Baroldi ist leitender Arzt in einem Krankenhaus in Rom. Nachdem ein junger Nigerianer auf seiner Station mit seltsamen, vorerst unerklärlichen Symptomen plötzlich stirbt und Baroldi von zwei ähnlichen Fällen aus anderen Kliniken Kenntnis bekommt, beschließt er, der Ursache der beunruhigenden Todesfälle auf den Grund zu gehen. Zur selben Zeit gibt der Tod eines Unbekannten, der mitten in der Stadt an einem Baukran erhängt aufgefunden wird, Rätsel auf. Baroldi vermutet eine Verbindung zu den unter mysteriösen Umständen verstorbenen jungen Migranten und bittet seinen langjährigen Freund Nario Domenicucci, einen erfahrenen Kommissar aus Genua, um Unterstützung. Immer tiefer geraten die beiden in eine komplizierte Spurensuche, die vom Asylzentrum in Rom bis in die Schweiz und deren berühmte Pharmaindustrie führt. Claudio Coletta beleuchtet in seinem klassisch komponierten Roman noir nicht nur die Rolle von Pharmakonzernen in der medizinischen Forschung auf spannende Weise, sondern verhandelt auch damit verbundene moralisch-ethische Fragen.

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Lorenzo Baroldi ist leitender Arzt in einem Krankenhaus in Rom. Nachdem ein junger Nigerianer auf seiner Station mit seltsamen, vorerst unerklärlichen Symptomen plötzlich stirbt und Baroldi von zwei ähnlichen Fällen aus anderen Kliniken Kenntnis bekommt, beschliesst er, der Ursache der beunruhigenden Todesfälle auf den Grund zu gehen.

Zur selben Zeit gibt der Tod eines Unbekannten, der mitten in der Stadt an einem Baukran erhängt aufgefunden wird, Rätsel auf. Baroldi vermutet eine Verbindung zu den unter mysteriösen Umständen verstorbenen jungen Migranten und bittet seinen langjährigen Freund Nario Domenicucci, einen erfahrenen Kommissar aus Genua, um Unterstützung. Immer tiefer geraten die beiden in eine komplizierte Spurensuche, die vom Asylzentrum in Rom bis in die Schweiz und deren berühmte Pharmaindustrie führt.

Claudio Coletta beleuchtet in seinem klassisch komponierten Roman noir nicht nur die Rolle von Pharmakonzernen in der medizinischen Forschung auf spannende Weise, sondern hinterfragt auch kritisch die damit verbundenen moralisch-ethischen Fragen.

Claudio Coletta, geboren 1952, ist Kardiologe und Dozent an der Universität La Sapienza in Rom. 2007 war er Mitglied der internationalen Jury des Filmfests Rom. 2011 veröffentlichte er seinen ersten Roman, Viale del Policlinico, für den er mit dem Premio Raffaele Crovi ausgezeichnet wurde. In der Folge publizierte er fünf weitere Romane und zwei Kurzgeschichten.

Claudio Coletta

Das Skalpell des Engels

Kriminalroman aus Italien

Aus dem Italienischenvon Marina Galli

Lenos Verlag

Die Übersetzerin

Marina Galli, geboren 1993, studierte Geschichte, Vergleichende Romanische Sprachwissenschaft und Italienisch in Zürich, Venedig und Lausanne mit Spezialisierung in literarischer Übersetzung am Centre de traduction littéraire. Sie übersetzt freiberuflich aus dem Italienischen und Französischen und lebt in Basel.

Die Übersetzerin und der Verlag danken der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung.

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale della Repubblica Italiana.

Die Publikation der Übersetzung erfolgt mit der freundlichen

Unterstützung des italienischen Aussenministeriums.

Titel der italienischen Originalausgabe:

Il taglio dell’angelo

Copyright © 2021 by Claudio Coletta – Fazi Editore, Rome

This edition is published by arrangement with Loredana Rotundo Literary Agency, Milan, Italy.

E-Book-Ausgabe 2024

Copyright © der deutschen Übersetzung

2024 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverfoto: khuntapol/Shutterstock

eISBN 978 3 03925 713 3

www.lenos.ch

Für Caterina. Für ihr Leben

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme

einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem

stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts

als des Schrecklichen Anfang …

Ein jeder Engel ist schrecklich.

Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien

Inhalt

Erster Teil: Der Gehängte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Zweiter Teil: Die Gerechtigkeit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Anmerkungen und Dank

Erster Teil

Der Gehängte

1

Es sei eine Frage von Wochen, vielleicht Tagen, antwortete der Onkologe trocken, den Kopf über das Rezept gebeugt, das er gerade ausstellte. Es sei an der Zeit, sich an eine spezialisierte Einrichtung zu wenden, fuhr er fort, eine einzelne Person könne keine angemessene Betreuung sicherstellen, es müsse eine Entscheidung getroffen werden. An diesem Punkt blickte er auf, um die Wirkung seiner Worte zu bemessen. Der alte Mann vor seinem Schreibtisch stand mit der Mütze in den Händen da und blieb stumm. Es wäre normal gewesen, eine Erklärung zu fordern, nachzufragen, das erwartete der Arzt von ihm, doch er tat nichts dergleichen, bedankte sich beim Mann im weissen Kittel und trat hinaus. Er musste keine Entscheidung treffen, alles war schon bis zum Schluss geregelt, und was danach kam, hatte keinerlei Bedeutung. Er hatte sich die Szene schon oft vorgestellt, das Durcheinander, all die Dinge, die schnell erledigt werden mussten, und er, wie er vergessen in einer Ecke dasass, eine Last. Um schneller heimzukommen, rief er ein Taxi, doch zu Hause war alles ruhig. Es sei ein guter Tag gewesen, versicherte ihm Concepción an der Tür, die Signora sei ohne Probleme etwas früher als üblich eingeschlafen. Er sah ein wenig fern, ass zur gewohnten Zeit zu Abend, machte den Abwasch und ging zum Rauchen auf den Balkon. Hin und wieder stand er auf und streckte bloss den Kopf ins Zimmer, um sie nicht zu wecken; der Umriss ihres Körpers unter der Decke und ihr kaum angedeuteter Atem genügten, um ihn zu beruhigen. Wie leicht es ihr gefallen wäre, nicht mehr weiterzuleben, wenn er sie nur ein klein wenig losgelassen hätte; es wäre gelogen, zu behaupten, er hätte nicht daran gedacht, er hatte versucht, in diesen Abgrund zu blicken, sich aber jedes Mal erschrocken zurückgezogen, unfähig, auch nur den Gedanken daran zu ertragen. Früher war es anders gewesen, sie konnten ganze Stunden beieinandersitzen und über alles Mögliche reden, er las ihr ein paar Seiten vor, erzählte den neuesten Nachbarschaftstratsch, Geschichten, die sie abzulenken oder ihr sogar ein Lächeln zu entlocken vermochten, alles, was half, die Abendstunden – die schlimmsten des Tages – totzuschlagen. Jetzt waren die klaren Momente so selten geworden, dass sie ein wahrer Segen waren. Das Morphin wirkte, hielt sie in einem Dämmerzustand und liess ihren Schlaf, frei von Schmerzen, wieder ruhig werden wie damals, als ihr Atem ihm im Bett Gesellschaft leistete. Er hatte schon immer wenig Schlaf gebraucht, weshalb Concepción am Abend nach Hause konnte. Ein paar Tage zuvor hatte sie ihm stolz und gerührt Fotos ihres jüngsten Sohnes an seiner Diplomfeier gezeigt, mit dem Talar und dem tief in die Stirn gezogenen quadratischen Hut. Er kam nicht umhin, an ihren eigenen Sohn zu denken, an dieses gleichgültige Gesicht auf Skype zehn Minuten die Woche, wenn er nichts Wichtigeres zu tun hatte. Er kehrte in das vom Baustellenlicht taghell erleuchtete Wohnzimmer zurück, liess schnaubend den Rollladen bis zur Hälfte herunter, ging in die Küche, füllte einen Topf mit Wasser, drehte die Kochplatte an und wartete mit halbgeschlossenen Augenlidern. Als die ersten Blasen aufstiegen, machte er die Herdplatte aus und nahm einen Beutel Kräutertee aus dem Schrank. Er sass mit der Tasse in den Händen da, als er unten auf der Strasse einen Motor aufheulen und ein Auto mit quietschenden Reifen davonfahren hörte. Ungewöhnlich, um vier Uhr morgens. Er kannte diese Stunden gut, die in der Schwebe zwischen dem vergangenen und dem anbrechenden Tag zu verharren schienen, wenn sich die Strassen in leere Korridore verwandelten und das Licht ungestört von den Strassenlaternen fiel, die wie unzählige Akrobaten an den Kabeln hingen. Die Zeit der Bäcker, der Hotelportiers und der Tankwarte. Er trat ans Fenster und trank ein paar Schlucke, dann stellte er die Tasse auf den Tisch und riss es weit auf, der Platz war menschenleer. Wie gut Roms Sommernächte dufteten, er konnte die verschiedenen Quartiere voneinander unterscheiden, das hatte ihm sein Vater beigebracht, als sie als Taxifahrer arbeiteten. Der Duft des Olympischen Dorfes bei Tagesanbruch, wenn der Wind vom Villa-Glori-Park herunterwehte und Stallgeruch in der Luft lag, oder der flüssige, süssliche Ligusterduft von San Giovanni, der seine Kindheit geprägt hatte, als die Felder noch hinter der Strasse begannen. Wenigstens das hatte die Metrobaustelle nicht ausradieren können. Er schloss das Fenster und widerstand der Versuchung zu rauchen. Seine Augen brannten vor Müdigkeit, er musste sich schlafen legen, doch das dumpfe Gefühl, dass etwas nicht stimmte, hielt ihn zurück. Er blickte um sich, in der Küche war alles in Ordnung, er machte das Licht aus und trat wieder ans Fenster. Der Wind hatte sich gelegt, der Atem der Nacht schien die Stille in regelmässigen Wellen zu durchziehen, als wäre die Welt ein einziges, riesiges Lebewesen. Da sah er es: In der Mitte des Platzes, am höchsten Kran der Baustelle, hing etwas Sackähnliches und schwankte hin und her. Seltsam, dachte er, es blieb nie Material hängen, die Tragseile wurden jeden Tag eingerollt und die Ösen abgenommen. Er betrachtete es eine Weile und beschloss schliesslich, den Feldstecher aus dem Arbeitszimmer zu holen. Scharf zu stellen war bei so wenig Licht nicht einfach, doch als das Bild klar wurde, spürte er, wie seine Beine auf einmal nachgaben, er musste sich am Fenstersims festhalten, um nicht zu stürzen. Eingezwängt in der Öse am Ende der Kette war der Kopf eines Mannes, der Rest des Körpers baumelte darunter in der Leere. Auf dem Weg ins Bad musste er sich an den Wänden abstützen; er klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen. Er musste die Polizei rufen, doch dann dachte er an alles, was folgen würde: die Fremden im Haus, der Lärm, die neugierigen Nachbarn. Er warf einen Blick ins Zimmer, seine Frau schlief friedlich, ihr Atem ging regelmässig. Bald würde die Sonne aufgehen, jemand würde ihn auf dem Weg zur Arbeit entdecken, sagte er sich. Nein, das konnte er nicht tun, das wäre feige. Er kehrte ins Zimmer zurück, nahm Hose und Hemd vom Stuhl, schlüpfte in seine Sandalen und ging, die Tür leise hinter sich zuziehend, hinaus. Um näher an den Kran heranzukommen, schritt er einmal um die ganze Baustelle und wartete, bis er genau darunter stand, bevor er hochsah. Erleichtert stellte er fest, dass der Anblick dieses armen Kerls aus der Nähe kein Grauen, sondern Mitleid in ihm auslöste, womöglich weil man ihm trotz seiner vom Tod deformierten Gesichtszüge ansah, dass er jung war. Dann passierte etwas Unvorhergesehenes, dachte er doch, es seien ihm nicht nur die Worte, sondern auch die Gründe zum Beten abhandengekommen. Sätze, die er als Kind tausendmal in der geheimnisvollen Sprache der Priester aufgesagt und längst vergessen geglaubt hatte, kamen ihm unverhofft wieder in den Sinn. Seit Jahrzehnten hatte er nicht mehr zu Gott gebetet, doch in diesem Moment schien es ihm das Richtige, das Einzige, was wirklich zählte. Als er fertig und endlich in Frieden war, setzte er sich auf eine Bank. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder nach Hause zu gehen und diesen armen Kerl allein zurückzulassen, doch es fehlte ihm die Kraft dazu, also blieb er da und wartete auf wer weiss was. Bis zwei blinkende blaue Lichter am Ende des Platzes auftauchten und er sich erhob, vom Gehweg auf die Strasse trat, in deren Mitte stehen blieb und, als der Wagen so nah war, dass der ihn nicht mehr übersehen konnte, die Arme ausbreitete.

2

Obwohl Tag und Monat in dicken Lettern auf seinem Bildschirm angezeigt wurden, warf Lorenzo Baroldi einen Blick auf den Alitalia-Kalender, den er unbeirrt auf seinem Schreibtisch stehen hatte, in der Hoffnung, die Ursache seiner vagen, von diesem Datum ausgelösten Beunruhigung zu ergründen. Doch nein, nichts, es war besser, zumindest bis zur digitalen Unterschrift konzentriert zu bleiben, wenn er den Bericht rechtzeitig abschliessen wollte. Seufzend speicherte er das Dokument ab, fügte es als Anhang der schon fertigen E-Mail an und drückte auf die Senden-Taste. Jetzt konnte er sich wieder Mittwoch, dem 18. Juni, zuwenden. Natürlich, das Rätsel war gelöst: Vor genau fünf Jahren war er zum Direktor Operativer Geschäftsbereich Medizin ernannt worden, doch es gab wahrlich wenig zu feiern. Damit wurde nichts anderes als das Ende eines Albtraums zelebriert; er selbst hätte sich nie auf die Stelle beworben, hätte es sein ehemaliger Professor nicht gewollt, und sowieso waren vier Wörter für die Beschreibung einer Funktion übertrieben – so viel zum Thema Vereinfachung. Da gefiel ihm die alte Bezeichnung – Chefarzt – tausendmal besser, aber sei’s drum. Er nahm den Hörer in die Hand und wählte die Nummer der Station. Eine ihm unbekannte Frauenstimme antwortete, und er fragte nach Doktor Savona, einem seiner jüngeren Mitarbeiter, der laut Monatsdienstplan Bereitschaft hatte.

»Luigi, wie läuft’s bei euch unten, alles in Ordnung?«

»Ja, ich bin mit der Visite durch, alles ist ruhig. Heute Nachmittag kann ich voraussichtlich zwei Betten frei machen, aber ich könnte Unterstützung bei den Entlassungsbriefen gebrauchen. Um zwölf Uhr findet das Angehörigengespräch statt, und ich bin allein.«

»Gut, ich werde Alessandro bitten, zu dir hochzugehen, sobald er in der Ambulanz fertig ist. Ihr müsst ohne mich auskommen, ich habe einen Termin bei der Verwaltungsdirektion und weiss nicht, wann ich zurück bin. Wenn ihr es hinkriegt, drei Betten frei zu machen, schulde ich euch was. Vittori ruft mich jeden Morgen von der Notaufnahme an und betet mir die ganze Liste an Patienten herunter, die bei ihnen auf der Trage liegen, um mich zu erweichen. Apropos, gibt’s Neuigkeiten vom jungen Afrikaner?«

»Keine guten, Professor, der Nephrologe hat eine Blutgasanalyse verlangt, um zu entscheiden, ob eine Dialyse in die Wege geleitet werden kann. Die Nierenfunktion hat sich weiter verschlechtert, und zwar um einiges. Auch die Leberwerte sehen schlecht aus, man könnte fast meinen, etwas sei in ihm drin explodiert, und wir haben nicht den blassesten Schimmer, was es sein könnte. Heute Morgen war er unruhig und desorientiert.«

»Halt mich auf dem Laufenden, es wird eine Weile dauern bei der Verwaltung.«

Er schaute bei Luisa vorbei, die sofort aufhörte, ihre Nägel zu pflegen, und ihm vorwarf, seit einer Stunde nicht erreichbar zu sein. Sie kriege dann den Ärger der Leute ab, fügte sie hinzu. Niemand könne das besser abwehren als sie, gab er zurück und trat wieder aus dem Zimmer.

Es war der chaotischste Moment des Tages im Krankenhaus, wenn zwischen dem Ende der Stationsvisite und der Essensausgabe am Mittag alle anscheinend nichts Besseres zu tun hatten, als auf ihre Smartphones starrend herumzuschlendern, und dabei anderen bei der Arbeit im Weg standen. Lorenzo setzte zu einem regelrechten Slalom durch den Gang an, der die zentralen Trakte mit der neuen Notaufnahme verband, und atmete erleichtert auf, als er an die frische Luft kam. Hinter dem Tor pulsierte der hektische Ringstrassenverkehr auf den äusseren Fahrspuren, und eine Menschentraube wartete im Schutz des Haltestellenvordachs vor der schon sommerlichen Sonne gewohnt geduldig auf die Strassenbahn. Er grüsste im Vorbeigehen ein, zwei Kollegen, wechselte unterwegs ein paar Worte mit einer Krankenpflegerin, die erst kürzlich in die Geburtshilfe gewechselt war, und ging schnell um das Neurologiegebäude, wohl wissend, dass er sich bereits verspätet hatte.

In der Empfangshalle der Direktion blickte die jüngste der drei Sekretärinnen von ihrem Computer auf, nahm den Hörer in die Hand, murmelte ein paar Worte hinein und bat ihn ohne grosse Umschweife, Platz zu nehmen. Das Diensthandy in seiner Kitteltasche begann zu vibrieren, auf dem Display erschien der Name des stellvertretenden Stationsleiters Alessandro Bonini.

»Der Nigerianer macht uns zu schaffen, Lorenzo. Als wir ihn für die Dialyse vorbereiteten, wurde er unruhig, kurz danach hat er einen Herz- oder vielleicht Atemstillstand erlitten, was genau, wissen wir nicht. Er wurde vom Intensivmediziner auf der Stelle intubiert und bekommt jetzt auf dem Boden mitten im Krankensaal eine Herzdruckmassage. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie chaotisch es hier zugeht.«

»Muss ich rüberkommen?«, fragte Lorenzo.

»Nein, ich wollte dich bloss informieren. Sie machen auf der Intensivstation ein Bett für ihn bereit. Es war eigentlich klar, dass etwas nicht stimmte, findest du nicht auch?«

»Ja, das Fieber, die schlechten Blutwerte. War es ein Kammerflimmern?«

»Schwer zu sagen, kurz zuvor hat er die Kabel vom Monitor weggerissen, jetzt hat er bestimmt eine Asystolie«, an dieser Stelle machte Bonini eine Pause und sagte zu jemandem etwas Unverständliches, »… entschuldige, hoffen wir, dass sie ihn holen kommen, viel mehr können wir nicht tun.«

»Ich muss mich jetzt um diese ärgerliche Angelegenheit kümmern«, gab er schlechtgelaunt zurück, »halt mich wenn möglich auf dem Laufenden.«

Zwei Tage zuvor hatte Lorenzo Baroldi einen Brief von der Verwaltung bekommen, tadellos in der Form, etwas weniger im Inhalt. Sie möchten ihn darüber informieren, dass die Produktivitäts-, Effizienz- und Leistungsfähigkeitsparameter seines Geschäftsbereichs im zweiten Halbjahr 2013 unter dem vom Unternehmen festgelegten Median lagen und sich im Bereich des fünfzehnten Perzentils bewegten, was offensichtlich zur problematischen Zone des Diagramms gehörte. Zur Bestätigung hatten sie eine Excel-Tabelle mit Rohdaten beigefügt sowie eine weitere Übersicht voller komplizierter statistischer Kennzahlen, wie Bettenbelegung, durchschnittliche Aufenthaltsdauer, indexierte Kosten pro Krankenhaustag, gesamte und bereinigte Ausgaben für Arzneimittel, um nur einige zu nennen. Der Brief endete mit einem Schwall englischer Begriffe, wie Clinical Governance, Multisourcing, Benchmarking, und einer Aufforderung, einen Termin mit der Verwaltungsdirektion zu vereinbaren, um mögliche Lösungen zu besprechen. Lorenzo hatte die Parameter ungewohnt pingelig studiert und sogar neue Berechnungen mit einer Simulation der Patientensterberate am zweiten Aufenthaltstag angestellt – um genau zu sein: einer von fünf –, nur um herauszufinden, dass sein Geschäftsbereich mit diesem Glanzresultat wie von Zauberhand in die »gute« Zone des Diagramms rutschte, da die Mortalität nicht zu den berücksichtigten Parametern gehörte. Richtig, Sterben kostete nichts, und die Begräbnisse gingen zu Lasten der Familien.

Er wurde nicht vom Direktor, sondern von einem jungen, untersetzten Mann mit Krawatte und ausgeprägtem Mailänder Akzent empfangen, der sich als Chief Executive Officer der Firma vorstellte, die vom Krankenhaus mit der Qualitätskontrolle beauftragt worden war. Es drohte zu einer grotesken Angelegenheit zu werden, doch er hatte keine Wahl, nahm gegenüber dem nach Rasierwasser duftenden jungen Mann Platz und hatte sich mit der Pein bereits abgefunden. Sein Fünfjahresvertrag als Direktor lief demnächst aus, und die Verlängerung hing vom Urteil eines Betriebswirtschaftsabsolventen ab, von jemandem, der noch nie dem Blick eines angsterfüllten und um Hilfe bittenden Menschen begegnet war.

Eine Stunde später stieg er, erschöpft wie nach einem Marathon, die Treppe der Verwaltungsdirektion hinunter und dachte wehmütig an seine früheren Streifzüge durch den Caffarella-Park, Atmung und Schritte aufeinander abgestimmt, der Kopf gänzlich frei. Er überschlug die Zahlen: Seit fünf Jahren joggte er nicht mehr, und zwar nicht weil ihm nicht mehr danach war, sondern weil ihm die Zeit dazu fehlte. Er nahm die Fluchttreppe nach oben und ging direkt in sein Büro, wo er sich seufzend in den Sessel fallen liess, entschlossen, sich einen Moment der Ruhe zu gönnen, doch sein Kommen war wohl nicht unbemerkt geblieben: Es klopfte, und Alessandro Boninis breites Gesicht erschien in der Tür.

»Ich will dich nicht stören, ich nehme an, es war eine Erfahrung, die man am liebsten schnell wieder vergessen will.«

»Ich bin fix und fertig, aber wenigstens habe ich diesem blasierten Typen die Stirn geboten. Wenn die meinen, mir so Angst einjagen und mich mit dem Auslaufen des Vertrags erpressen zu können, täuschen sie sich. Aufhören wäre eine grosse Erleichterung, glaub mir.«

Bonini lächelte, überzeugt, sein Chef würde scherzen. »Ich habe mit der Intensivstation gesprochen, es gibt keine guten Neuigkeiten vom Nigerianer. Er liegt im Koma, was nach allem, was passiert ist, noch nachvollziehbar ist. Das Problem ist die sehr schwere metabolische Azidose, deren Ursache momentan noch unklar ist. Auch die Leber- und Nierenwerte sind durch die Decke, solche hab ich nie zuvor gesehen. Sie bereiten die Dialyse vor, aber wenn ich richtig verstanden habe, wissen sie nicht, womit sie anfangen sollen.«

»Wir müssen herausfinden, was ihm vor der Aufnahme zugestossen ist. Die Hypothese eines Infekts ist wenig plausibel, es passt nicht zur klinischen Entwicklung. Offensichtlich ist uns etwas entgangen.«

Bonini blieb eine Weile still, als wäre er in Gedanken woanders. »Zudem ist seine Frau schwanger«, sagte er schliesslich, »sie hat schon einen richtigen Bauch. Wegen der weiten Kleider war es niemandem aufgefallen.«

»Das wusste ich nicht«, seufzte Baroldi und starrte auf einen unbestimmten Punkt auf seinem Schreibtisch.

»Gestern Vormittag sprachen die Pflegerinnen in der Küche darüber, anscheinend hat sie das Wartezimmer seit seinem Eintritt nicht verlassen, stellt aber keine Fragen. Zur Besuchszeit mussten sie sie überreden reinzugehen«, sagte Bonini, während er mit dem Stift spielte. »Was meinst du, wollen wir kurz im Schockraum vorbeischauen?«, schlug er schliesslich vor.

»Nach diesem Eliteunitypen bin ich zu jeglichem Opfer bereit, aber zuerst brauche ich einen Kaffee, um wieder in die Gänge zu kommen.«

Sie warteten darauf, in den Schockraum eintreten zu können. Die Anwesenheit der schwarzen Frau, die sie erkannt hatte und von ihrem Platz unaufhörlich anstarrte, brachte sie in Verlegenheit. Sie klingelten erneut, doch die Glastür blieb zu, also fasste Lorenzo Baroldi Mut und ging auf die junge Frau zu, um ihr zu erklären, was vor sich ging. Nach wenigen Worten sah er sich gezwungen, ins Englische zu wechseln, da ihr Blick verriet, dass sie nicht verstand, was man zu ihr sagte, obwohl sie scheinbar zustimmend nickte. Jetzt, da sie aufgestanden war, war ihr Bauch beinahe schon zu offensichtlich; und als die Tür endlich aufging, war er froh, sich der Situation entziehen zu können.

Eine Ansammlung von Menschen verdeckte die Sicht auf das Bett links hinten im Saal, das mobile Dialysegerät stand einsatzbereit, aber ausgeschaltet daneben, und die Krankenpflegerin schien die Entfernung der Schläuche vorzubereiten. Als die diensthabende junge Anästhesistin mit Schutzbrille und Maske zu den Neuankömmlingen aufblickte, trat die um das Bett versammelte Gruppe zur Seite und machte ihnen Platz. Giulio Piersanti, der älteste Intensivmediziner des Krankenhauses, koordinierte alles vom Kopfende des Bettes aus. Er und Baroldi kannten sich schon ewig und schätzten einander, trotz der deftigen Witze, die sie über die Fussballmannschaft des jeweils anderen rissen, doch diesmal nickten sie einander lediglich wortlos zu. Nachdem er einen Blick mit der Kollegin ausgetauscht hatte, ging Piersanti einmal um das Bett, streckte den Arm in Richtung Monitor aus, warf einen letzten Blick darauf und kippte den Schalter des Beatmungsgeräts auf OFF.

3

Lorenzo hatte schon unerwartet Patienten verloren, es wäre normal gewesen, sich daran zu gewöhnen, doch er wusste, dass ihn die Schuldgefühle tagelang plagen würden. Der Mann war ohne richtige Diagnose und in febrilem Zustand von der Notaufnahme gekommen, und niemand hatte seine Situation ernst genommen, am allerwenigsten er. Er hatte sich darauf beschränkt, ihn geistesabwesend zu untersuchen, den beiden Assistenzärzten zu zeigen, wie man eine Lunge auskultierte, und einen Blick auf die Blutwerte geworfen, die alle praktisch unverändert waren, doch von einer Behandlungsstrategie im eigentlichen Sinn keine Spur. Ein Breitbandantibiotikum, ein bisschen perorales Kortison, das man niemandem verwehrte, eine zweite Runde Untersuchungen, und das war’s. Als schösse man wahllos in den Nachthimmel, ohne zu wissen, woher die Bomben abgeworfen wurden, oder viel eher noch, als spielte man mit dem Sensenmann Poker und liesse ihn den Wetteinsatz bestimmen. Kaum vierundzwanzig Stunden später war die Erkrankung mit ihrer ganzen Kraft explodiert: Zuerst die schreckliche metabolische Dekompensation, dann der Atemstillstand, das Koma, und er war tot. Es wäre nicht einfach gewesen, ihn zu retten, gewiss, aber dennoch. Ein paar zielführende Fragen bei der Aufnahme, ein bisschen mehr Geduld, und er würde vielleicht noch leben. Er war mit seiner Frau auf einem Boot über die Strasse von Sizilien gekommen, sie wohnten in einem Empfangszentrum in Tor Bella Monaca, wie er von der Sozialarbeiterin des Krankenhauses am Telefon erfahren hatte, die mit Aischa, der Witwe, zum Zentrum zurückgegangen war. Es wohnten auch andere nigerianische Familien dort und die Frauen würden sich um Aischa kümmern, hatte sie ihm versichert und dann gefragt, ob eine Autopsie wirklich nötig sei, denn der Islam verbiete sie und die junge Frau wolle nicht, dass die körperliche Unversehrtheit ihres Ehemannes verletzt werde. Er bespreche es mit dem Chefarzt der Intensivstation, hatte er geantwortet, doch angesichts des Krankheitsbildes und des raschen Versterbens werde es nicht einfach sein, eine Ausnahmegenehmigung zu erhalten. Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er lange aufs Telefon, ohne an die zwei Dutzend Dokumente zu denken, die auf seine Unterschrift warteten. Schliesslich stand er auf, warf seinen Kittel über und trat hinaus.

Professor Adriano Papaleo sass in seinem Sessel versunken hinter einem riesigen Schreibtisch, der unter Bergen von Papierkram, Silbernippes, alten, eingerahmten Schwarzweissfotos, Briefbeschwerer und Brieföffner aus vergilbtem Elfenbein beinahe verschwand, Souvenirs aus seiner Zeit an der Universität Mogadischu. In einer Ecke stand eine halbleere Scotch-Flasche, aber kein Glas. Entgegen den Vorschriften rauchte der Mann seelenruhig einen gutgeschnittenen halben Toscano, es war sein Büro, und er machte darin, was er wollte, sollten sie doch ruhig versuchen, ihm was zu verbieten. Schon seit mindestens drei Jahren beklagte er sich, dass er nicht mehr konnte; lief man ihm über den Weg, musste man sich den Countdown der noch fehlenden Monate bis zur heissersehnten Pension anhören, obwohl alle wussten, dass er seine Papiere gefälscht hatte, um sie so lange wie möglich hinauszuzögern. Doch es spielte keine Rolle, Adriano Papaleo gefiel es, den Anschein zu erwecken, dass nicht er bleiben wollte, sondern dass ihn vielmehr eine heimtückische, ihm feindlich gesinnte Kraft dort festhielt. Es war ein offenes Geheimnis, dass er schon über siebzig war, und niemand wusste, wie er das Gesetz umgehen und weiterarbeiten konnte, schliesslich verriet sein langer, gepflegter niveaweisser Bart mit Nikotinstich um den Mund schon alles, ganz zu schweigen von seinen schneeweissen, langen und dichten Augenbrauen, denen es nicht geschadet hätte, gekämmt zu werden. Er grüsste den Kollegen mit einer geschäftigen Handbewegung und griff nach dem Hörer, um Giulio Piersanti Bescheid zu geben, der wenig später mit der Akte des nigerianischen Patienten eintrat.

Nach den üblichen Begrüssungsfloskeln kam Lorenzo Baroldi auf die eigentliche Angelegenheit zu sprechen. Der Mann war in febrilem Zustand und dermassen kraftlos in der Notaufnahme vorstellig geworden, dass er nicht mehr hatte aus dem Bett aufstehen können; die Symptome waren wenige Tage zuvor aufgetreten, doch diesbezüglich bestanden wegen der Sprachbarriere Zweifel. Die Diurese war reduziert, ein paar Werte verändert, nichts, was auf eine so unheilvolle Entwicklung hingedeutet hätte, und die Anamnese gab keinen noch so geringen Hinweis auf eine Vergiftung. Laut seiner Frau hatte der Mann immer in der Kantine des Empfangszentrums gegessen.

»Er könnte was aus Afrika miteingeschleppt haben«, brummte Papaleo selbstgefällig. »Was ich dort alles gesehen habe.«

»Ich glaube nicht, er war schon neun Monate in Italien«, gab Baroldi zurück, »und er hatte die Versicherungskarte des Erstaufnahmezentrums auf Lampedusa bei sich. Man hatte ihn in bester Gesundheit aufgegriffen, trotz der Überfahrt und so weiter.«

»Werte Kollegen«, schaltete sich Giulio Piersanti ein, »was auch immer es war, es war stark genug, einen gesunden, jungen Mann innerhalb von zwei Tagen zugrunde zu richten. Ich habe noch nie dermassen hohe Laborwerte gesehen, als wäre die Leber zu Brei geworden, und den Nieren ist es nicht besser ergangen. Jedenfalls wird uns die Autopsie bald Antworten liefern.«

Lorenzo Baroldi ergriff mit abwesender Miene das Wort. »Apropos Autopsie, seine Frau hat gefragt, ob man aus religiösen Gründen davon absehen könne.«

»Wie bitte?«, polterte Papaleo. »Das kommt nicht in Frage, im Gegenteil, ich werde sie um kein Geld der Welt verpassen!« Der alte Chefarzt nickte, zufrieden mit seinem Spruch, und zündete den feuchten Zigarrenstumpen wieder an.

Ausnahmsweise lag die Entscheidung nicht bei ihm, dachte Lorenzo Baroldi erleichtert. Er hatte den gefassten Schmerz der Frau noch vor Augen, als sie von dem Tod erfahren hatte; wenigstens würde nicht er ihr noch mehr zufügen.

Das Gebäude der pathologischen Anatomie lag in einem schmucken Wäldchen auf dem Grund einer natürlichen Senke, die zur Böschung der Bahnstrecke nach Pisa hinaufführte. Etwas abgelegen vom Rest des Krankenhauses, war es von der Ringstrasse aus gut sichtbar, als wäre jemand so taktvoll gewesen, es vor den Patienten zu verbergen, damit der Anblick den Abertausenden Römern, die täglich morgens und abends daran vorbeifuhren, als mahnende Warnung vorbehalten blieb. Ein merkwürdiger Zufall hatte ausserdem gewollt, dass irgendwann ein zahlungspflichtiger Panorama-Parkplatz auf der Wiese oberhalb des Gebäudes geplant und diese in aller Eile zubetoniert worden war. Nur die allerwenigsten Patienten und Besucher erahnten die Funktion des inmitten von Linden und Ligustern gelegenen Jugendstilhauses, ebenso wenig die genaue Ladung der kleinen, elektrisch betriebenen Wagen, die zwischen den verschiedenen Gebäuden und der Histopathologie hin- und herfuhren.

Alessandro Bonini parkte wie alle anderen im Halteverbot vor dem Eingang. Nach dem Aussteigen stellte Lorenzo Baroldi erstaunt fest, dass er seit mindestens einem Jahr keinen Fuss mehr an diesen Ort gesetzt hatte. In Zeiten von Computer- und Magnetresonanztomographien war es zu einem seltenen und schwer erträglichen Ritual geworden, einer Obduktion beizuwohnen, fast so, als wäre es unangebracht, sich die Erkrankung aus nächster Nähe anzusehen, geschweige denn sie anzufassen, wenn man sie auch auf einem Bildschirm betrachten konnte. Wie alle anderen auch hatte er sich dieser Entwicklung gefügt. Er nahm die Treppe und ging hoch zum Sektionssaal, der mit seinen hellblauen Kacheln, dem grauen Marmorboden und den Anatomietischen aus Stahl unverändert war.

Die Autopsie war schon in vollem Gange, und der Sektionsassistent in weiter Gummischürze machte sich mit Messern und Scheren am Bauchinneren des Leichnams zu schaffen. Mehrere Organe waren bereits fein säuberlich und gereinigt auf dem Alutablett hergerichtet. Giulio Piersanti hob zur Begrüssung der Kollegen die Hand, Papaleo beschränkte sich auf ein Grunzen und verschob flink, wie eine von Sergio Leones Figuren, die erloschene halbe Zigarre mit der Zunge von einem Mundwinkel zum anderen.

Da trat eine zierliche junge Ärztin in den Saal, sie hatte die ebenmässigen Gesichtszüge einer Jungfrau von Bellini und feine blonde Haare, die von einem Bernsteinkamm zurückgehalten wurden. Ihre blauen Augen leuchteten beim Anblick der vielen Kollegen, die sie erwarteten, überrascht auf, doch sie blieb still, errötete lediglich leicht und steckte die Arme in die Gummischürze, die der Krankenpfleger in ihrem Rücken festzurrte. Lorenzo Baroldi kannte ihren Namen nicht, und ebenso wenig konnte er sich erinnern, ob er sie schon einmal gesehen hatte. Sie wirkte auf eine frische Art sympathisch und löste beinahe väterliche Gefühle in ihm aus, vielleicht weil sie ein wenig seiner Tochter ähnelte. Die Pathologin zog einen doppelten Handschuh über jede Hand, trat an den Tisch und begutachtete als Erstes die Leber, die ausgebreitet auf dem Tablett lag.