Das Smartphone - Marc Meller - E-Book
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Das Smartphone E-Book

Marc Meller

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Beschreibung

Die Studentin Janine kauft ein gebrauchtes Smartphone in einem Handyshop. Kurz danach wird der Inhaber des Ladens ermordet. Die Polizei beschlagnahmt Janines Handy; sie wird verdächtigt, mit dem Mord zu tun zu haben. Dann taucht ein Mann auf, der dem Mordopfer zum Verwechseln ähnlich sieht: der Zwillingsbruder. Er behauptet, dass es bei der Tat eine Verwechslung gab und er das Opfer hätte sein sollen. Jetzt sei auch sie in Gefahr, und die Polizei könne ihr nicht helfen. Janine ist verzweifelt. In was für eine Geschichte ist sie da hineingeraten? Was hat es mit dem Smartphone auf sich? Und wem kann sie wirklich trauen?...

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Seitenzahl: 422

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumFRANKFURT AM MAINKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19KAPITEL 20KAPITEL 21KAPITEL 22KAPITEL 23KAPITEL 24KAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30KAPITEL 31KAPITEL 32KAPITEL 33KAPITEL 34KAPITEL 35KAPITEL 36KAPITEL 37KAPITEL 38KAPITEL 39KAPITEL 40KAPITEL 41KAPITEL 42Novo Sancti PetriKAPITEL 43EPILOGNACHWORT & DANKSAGUNG

Über dieses Buch

Die Studentin Janine kauft ein gebrauchtes Smartphone in einem Handyshop. Kurz danach wird der Inhaber des Ladens ermordet. Die Polizei beschlagnahmt Janines Handy; sie wird verdächtigt, mit dem Mord zu tun zu haben. Dann taucht ein Mann auf, der dem Mordopfer zum Verwechseln ähnlich sieht: der Zwillingsbruder. Er behauptet, dass es bei der Tat eine Verwechslung gab und er das Opfer hätte sein sollen. Jetzt sei auch sie in Gefahr, und die Polizei könne ihr nicht helfen. Janine ist verzweifelt. In was für eine Geschichte ist sie da hineingeraten? Was hat es mit dem Smartphone auf sich? Und wem kann sie wirklich trauen? …

ÜBER DEN AUTOR

Marc Meller ist das Pseudonym eines erfolgreichen Autors von Film- und Fernsehdrehbüchern, Kriminalromanen und Thrillern. Eigentlich ist Marc ein guter Schläfer – wenn er nicht gerade an seinem nächsten Buch arbeitet und die Nacht zum Tag werden lässt. Er lebt, schreibt und schläft in Köln.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR, Papenhuder Str. 49, 22087 Hamburg

Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Einband-/Umschlagmotiv: © FinePic®, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5622-8

luebbe.de

lesejury.de

Frankfurt am Main

Der Bladnoch Vinaya stand auf dem Schreibtisch, und das kalte Licht der Monitore schimmerte durch die klare braune Flüssigkeit hindurch. Erst vor zwei Tagen hatte Philip die Flasche entkorkt, und nun war sie schon zur Hälfte geleert. Oder noch halb voll, je nachdem wie man es betrachtete. Auf seiner ersten Schottlandreise vor vier Jahren war er auf die kleine Destillerie gestoßen, die sich in den Lowlands, nahe der Grenze zu England, befand. Der Single Malt nach Mitternacht gehörte mittlerweile zu seinen Ritualen, um in den Schlaf zu finden. Der Hausarzt hatte ihm gesagt, dass das bläuliche Licht des Monitors die Melatoninproduktion im Gehirn hemme und er deshalb vor dem Zubettgehen eher ein Buch lesen sollte anstatt Fernsehen zu gucken oder am Computer zu arbeiten. Die einzigen Bücher, die er studierte, waren jedoch Fachliteratur, und die wühlte ihn eher auf, als dass sie ihn ermüdete.

Philip nippte an dem Glas, genoss das Brennen des Alkohols auf der Zunge und schaute auf den Monitor. Er wartete auf eine Antwort. Warum meldete sich sein anonymer Chatpartner nicht mehr? Philip hielt das Glas gegen das Licht der Stehlampe. Die intensive bräunliche Färbung des Whiskeys rührte von den Fässern her, in denen er gereift war. In der Destillerie hatte man ihm erzählt, dass in Schottland ausgediente Bourbonfässer aus den USA benutzt wurden, weil in den Staaten ausschließlich neue Eichenfässer zur Reifung verwendet werden durften. Die nur einmal benutzten Fässer wurden dann nach Schottland verkauft. Dort freuten sich die Destillerien, weil das Holz sich bereits vollgesaugt hatte mit Aromen, die dann von ihrem Destillat über viele Jahre hinweg aufgenommen wurden. Die Wahl der Fässer und die Lagerung waren entscheidend für die Qualität eines jeden Single Malt. Philip roch an dem Glas. Der Bladnoch war nicht so rauchig wie manch andere Sorte, nicht zu vergleichen etwa mit einem Smokehead, bei dem es passieren konnte, dass der Rauchmelder Alarm auslöste, wenn man die Flasche öffnete. Ein geflügelter Witz unter Whiskeykennern.

Sollte er sich noch einmal nachschenken?

In dem Moment erloschen die Monitore vor ihm, die Stehlampe, alles. Nur das Licht einer Straßenlaterne fiel in Streifen durch die Jalousien herein. Philip tastete nach seinem neben der Tastatur liegenden Smartphone und tippte auf den Homebutton, wodurch das Display aufleuchtete und den Raum erhellte. Er aktivierte die Taschenlampenfunktion des Handys und leuchtete den Weg zur Wohnungstür aus, öffnete sie und betätigte den Schalter im Treppenhaus. Das Licht ging an. Der Stromausfall betraf also nur seine Wohnung, nicht das ganze Haus.

Philip trat wieder in die Wohnung, begab sich zum Sicherungskasten, öffnete ihn und sah, dass sich alle Schalter in Position Eins befanden. Keine Sicherung war herausgeflogen. Er seufzte. Das bedeutete, er würde in den Keller gehen müssen. Mindestens eine der Hauptsicherungen war durchgebrannt. Aber warum? So etwas passierte normalerweise nur, wenn ein Verbraucher, der viel Strom zog, einen Kurzschluss hatte oder vielleicht bei einem Blitzeinschlag. Ob der Durchlauferhitzer defekt war? Aber Philip hatte gar kein Warmwasser aufgedreht, sondern am Schreibtisch gesessen.

Spekulationen erschienen müßig, es führte kein Weg daran vorbei, in den Keller zu gehen. Philip folgte dem Lichtkegel seines Smartphones auf dem kurzen Weg zu dem kleinen Stauraum, wo er den Werkzeugkasten aufbewahrte. Er nahm vorsichtshalber noch ein Paar Gummihandschuhe mit und eine Zange, falls der Verschluss der Sicherung klemmte. Hoffentlich gab es im Keller Ersatzsicherungen. Normalerweise lagen aber welche in dem Verteilerschrank bei den Stromzählern. Philip steckte die Handschuhe in die Hosentasche und vergewisserte sich, dass er den Wohnungsschlüssel dabeihatte.

Er zog die Tür hinter sich zu. Im Treppenhaus konnte er seine Handylampe ausmachen, dort funktionierte das Licht. Hinter den meisten Türen der Nachbarn herrschte Stille, nur bei den Brinkmanns lief der Fernseher wie immer so laut, dass es bis ins Treppenhaus schallte. Sie schliefen regelmäßig vor der Glotze ein und erfreuten die Nachbarn dann mit dem Sound von Trash-TV. Philip kam im Erdgeschoss an und wollte die Tür zum Keller aufschließen, aber sie war gar nicht zugesperrt, obwohl ein Schild darauf hinwies, dass dies immer der Fall sein sollte. Es hatte schon genug Einbrüche gegeben, auch wenn die wenigsten Mieter irgendwelche Wertsachen im Keller aufbewahrten.

Er öffnete die Tür, schaltete das Kellerlicht an und ging die Treppe nach unten. Sie war so schmal, dass man nur mit sehr viel Geschick etwas Größeres im Keller einlagern konnte. Der Altbau hatte den Krieg beinahe unbeschadet überstanden. Die roten Backsteinwände hier unten waren brüchig und modrig, der weiße Metallschrank mit dem Stromverteiler wirkte dagegen fast wie neu. Philip ging hin, öffnete den Schrank. Auf den ersten Blick war nichts zu erkennen, alle Leistungsschutzschalter befanden sich in der richtigen Position, darunter waren die drei Fassungen für die Schmelzsicherungen. Philip benutzte erneut seine Handylampe. Durch das Fenster der Schraubdeckel konnte er sehen, dass eine Schmelzsicherung durchgebrannt war. Und, was für ein Glück, es lagen Ersatzsicherungen aus Keramik auf dem Boden des Schranks. Da vernahm er ein leises Geräusch neben sich und schaute in den Backsteinkorridor, wo die einzelnen Parzellen der Mieter durch Holzgatter voneinander getrennt waren. Nur eine einzige Glühlampe hing an einem Kabel von der Decke. Die Wände schluckten viel Licht.

»Hallo? Ist jemand da?«

Keine Antwort. Vielleicht war es eine Ratte gewesen. Mist. Mit so einem Viech im Keller zu sein, war kein schöner Gedanke, aber Philip wusste, dass Ratten Angst vor Menschen hatten und sich fernhielten.

Philip streifte sich die Gummihandschuhe über. Der Verschluss der Sicherung ließ sich ohne Zuhilfenahme der Zange drehen, bis der Deckel gelöst war und er die Keramiksicherung herausziehen konnte. Er steckte sie in die Hosentasche und nahm eine der Ersatzsicherungen aus dem Metallschrank.

Da hörte er wieder ein Geräusch neben sich. Philip schaute nach rechts.

Diesmal war es keine Ratte.

Er fuhr erschrocken zusammen.

Ein schwarzgekleideter Mann mit Skimaske über dem Gesicht und einem Nachtsichtgerät vor dem einen Auge war aus einem Winkel des Kellers hervorgetreten. Im selben Moment ging das Licht aus. Nur noch die Lampe von Philips Handy leuchtete, und er konnte erkennen, dass der Mann ebenfalls Handschuhe trug und eine geschlossene Gummijacke anhatte.

Der Kerl schlug ihm die Lichtquelle aus der Hand, das Handy fiel auf den Boden. Nun war es stockdunkel. Philip spürte, wie sich im gleichen Moment von hinten ein Arm um seinen Hals legte und seinen Kopf wie in einem Schraubstock einklemmte. Der Ellbogen des Angreifers drückte gegen den Kehlkopf, während der andere Mann seine rechte Hand packte und den Gummihandschuh mit einem Ruck entfernte.

Philip sah nur noch schwarz vor Augen, so dunkel war es ab diesem Moment, aber er ahnte, was die Männer vorhatten. Nein, er wusste es sogar. Sie hatten ihm den Handschuh ausgezogen. Die Fassung der Sicherung war offen, der Deckel fehlte, die Keramiksicherung ebenfalls. Der Kontakt im Inneren der Fassung stand unter Strom.

Philip konnte sich kaum bewegen, geschweige denn Widerstand leisten, so fest hatte der zweite Angreifer die Arme um seinen Hals gelegt, und der Mann drückte auch noch mit der Hand gegen seinen Hinterkopf. Philip bekam keinen Ton heraus. Er versuchte, sich zu wehren, irgendwie seinen Arm zurückzuziehen. Es ging um Leben und Tod, das war klar. Ein Lichtblitz war das Letzte, was er bewusst wahrnahm. Im selben Moment schoss ein unglaublicher Schmerz durch seinen Körper. Seine Muskeln verkrampften bis zur Bewegungsunfähigkeit, und es leuchtete in der Dunkelheit.

Bis es vollkommen schwarz wurde.

KAPITEL 1

»Sie haben da ein A 34 für einhundertsechzig Euro im Schaufenster.« Paula zeigte in die Richtung. »Darf ich das mal sehen?«

Der Handyshop hatte von außen ganz ordentlich gewirkt, aber jetzt gewann Paula den Eindruck, dass der Verkäufer, der zugleich der Besitzer zu sein schien, ein Chaot war. Er hieß Eric Naumann, so stand es zumindest auf dem Schild am Eingang. Er war schlank, wirkte aber nicht sportlich und hatte einen für Ingenieure typischen Kurzhaarschnitt. Sein Hemd war falsch zugeknöpft, und Paula überlegte, ob sie ihn darauf hinweisen sollte. Gemächlich bewegte er sich hinter dem Tresen hervor, auf dem allerhand elektronische Komponenten verstreut lagen, als würde man hier Handys aus Einzelteilen zusammenbauen. Innerlich stellte Paula sich schon darauf ein, eher woanders nach einem gebrauchten neuen Smartphone zu suchen. Eric, wenn er denn so hieß, schlurfte in Richtung Schaufenster, ohne die Füße zu heben. Sein Trockenrasierer hatte offensichtlich einen Wackelkontakt, kleine Haarbüschel sahen wie Flecken im Gesicht aus. Auf die weißen Socken in den Sandalen war das Logo des 1. FC Köln gestickt.

Er schloss die Vitrine des Schaufensters auf, holte das Smartphone heraus, das sie meinte, und kam zum Tresen zurück. Paula sah ihn fragend an, während er beharrlich schwieg. Kommunikation gehörte offensichtlich nicht zu seinen Kernkompetenzen.

»Können Sie mir irgendwas dazu sagen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ein A 34 halt, 5G-tauglich 128 GB Speicher, was gibt es noch zu sagen? Android Betriebssystem, nicht iOS. Wollen Sie es haben oder nicht?«

Paula musste grinsen. Einen so schlechten Verkäufer hatte sie lange nicht mehr erlebt. War sie hier am richtigen Ort? Eine letzte Chance gab sie ihm noch. »Wie alt ist das denn?«

»Ich glaube, ein Jahr oder so.«

»Sie glauben?«

»Müsst ich nachsehen. Ist das wichtig?«

»Nun ja, für einen Akku spielt das Alter eine Rolle, oder?«

»Den Akku hab ich erneuert und auch sonst alles gecheckt, die alten Daten sind gelöscht, keine Viren oder so was drauf.« Seine Stimmlage änderte sich, er klang fast ein wenig beleidigt. »Wenn ich was verkaufe, sind die Geräte absolut in Ordnung.«

Ihr Blick fiel auf die elektronischen Bauteile, die auf dem Tresen verstreut lagen und seine Garantieerklärung unterstrichen. Paula glaubte ihm.

»Kann ich mein altes Handy bei Ihnen in Zahlung geben?« Sie holte ihre schwarze Umhängetasche, die sie beim Radfahren immer auf den Rücken drehte, nach vorne und nahm ihr Smartphone heraus.

»Wie alt?«, fragte er.

»Ist das wichtig?«, erwiderte sie mit einem Grinsen.

Er zeigte keine Reaktion. Humortechnisch lagen sie ebenso wenig auf derselben Wellenlänge wie in puncto Modegeschmack.

»Drei Jahre«, sagte sie. »Ich hab’s vor zweien gekauft.«

Er nahm es in die Hand und suchte nach Gebrauchsspuren, das Display war einwandfrei. Ohne sie anzusehen, machte er ein Angebot: »Vierzig Euro kann ich dafür geben.«

»Und wie viel kostet es, wenn Sie die Daten von meinem alten Handy auf das neue übertragen?«

»Das kostet dann nichts.«

Paula überlegte. Eigentlich suchte sie nicht nur ein Smartphone, sondern auch eine Anlaufstelle, wenn mal was nicht funktionierte. So unordentlich der Laden auch aussah, so kompetent wirkte Eric, sobald es um sein Fachgebiet ging.

»Deal«, sagte sie.

Paula bezahlte die verbleibenden hundertzwanzig Euro mit Karte. Während sie auf den Beleg wartete, spielte sie an einem Knopf ihrer Bluse herum. »Sie haben Ihr Hemd falsch zugeknöpft.«

»Passiert schon mal.« Er schaute noch nicht mal nach, ob es stimmte, und machte auch keinerlei Anstalten, etwas daran zu ändern. Eric nahm beide Telefone mit in seine Werkstatt, um den Datentransfer durchzuführen. Netterweise bot er Paula einen Kaffee an, während sie wartete. Als er mit dem Pappbecher aus der angrenzenden kleinen Küche zurückkam, fiel ihr auf, dass er sich das Hemd doch noch richtig zugeknöpft hatte. Der Kaffee schmeckte scheußlich, Paula behielt es für sich.

»Warum kaufen Sie gebrauchte Handys?«, fragte er.

»Um Geld zu sparen?«

Das Argument klang einleuchtend.

»Studieren Sie?«, fragte er weiter.

Paula nickte. »Molekularbiologie. Hab gerade meinen Master gemacht und strebe nun noch eine Promotion an.«

»Oh Gott«, entfuhr es ihm, als ob sie gesagt hätte, dass sie Anhänger von Borussia Mönchengladbach sei, was für einen Kölner Fußballfan ein absolutes No-Go bedeutete.

»Was ist denn so schlimm daran?«

»Bio und Chemie waren meine Hate-Fächer in der Schule. Sinnloses Formelpauken und Auswendiglernen.«

Paula hielt dagegen. »Ich glaube, es gibt zwei Kategorien von Menschen. Diejenigen, die Chemie hassen, und die, die es lieben. Ich find die digitale Welt nicht so prickelnd.«

»So macht jeder halt, was er am besten kann. Hat mein Professor immer gesagt. Hauptsache man hat irgendein Talent.«

»Was haben Sie studiert?«

»Elektrotechnik. Aber nicht bis zum Schluss.«

Paula fragte nicht weiter und erinnerte sich, wie sie selbst früher mal an einem Punkt angekommen war, wo sie die Brocken beinahe hingeschmissen hätte. Zu Beginn des Studiums wollte sie nur irgendeinen Abschluss haben, und Biologie und Chemie waren ihre besten Fächer in der Schule gewesen. Aber das Thema Molekularbiologie hatte sie teils überfordert. Sie erinnerte sich noch genau an das Gespräch mit ihrem damaligen Professor. Er hatte sie aus dem Motivationstief herausgeholt, und danach war sie regelrecht vom Ehrgeiz gepackt worden. Die Wissenschaft wurde für sie zu einem Abenteuer, vergleichbar mit einer Achterbahnfahrt. Auf jedes Hochgefühl folgte zwar ein Tief, aus dem sie aber immer wieder herausfand, wenn sie sich nur anstrengte. Das Bedürfnis, die Grenzen ihres Wissens zu erweitern, hatte im letzten Jahr einen so großen Raum in ihrem Leben eingenommen, dass sogar ihre Beziehung daran zerbrochen war. Ihr Ex-Freund Lennard schien regelrecht eifersüchtig gewesen zu sein. Nicht wegen eines anderen Mannes, sondern weil Paula ihre Bestimmung im Leben gefunden hatte und seitdem mit so viel Herzblut ihre Ziele verfolgte.

Eric kam in dem Moment wieder aus seiner Werkstatt hervor, das neue Gebrauchte in Händen. Die Apps auf dem Display waren genauso wie auf dem vorherigen Smartphone angeordnet, sah Paula mit einem Blick.

»Jetzt müssen wir noch ein paar Sachen konfigurieren. Ihren Fingerabdruck, den Code zum Entsperren und so.«

Sie machten dies gemeinsam, wobei Paula darauf achtete, dass Eric die Ziffernreihenfolge zum Entsperren des Handys nicht zu Gesicht bekam. Schließlich beendeten sie die Konfiguration.

»Vielen Dank«, sagte Paula. »Jetzt fehlt nur noch die Rechnung.«

Er tippte ihren Namen und die Adresse ein. »Darf ich Ihre Kundendaten speichern?«

»Warum nicht?«

Dann zog er die Rechnung aus dem Drucker, und sie verabschiedeten sich voneinander. Zum Ende war Eric aufgetaut. Wenn sie Probleme in der digitalen Welt hätte, würde sie ab jetzt zu ihm kommen.

KAPITEL 2

Aus den Boxen dröhnte die Musik einer Mariachi-Band. Bar und Restaurant waren nur zur Hälfte gefüllt, für einen Dienstagabend ganz normal. Paula saß allein auf einem Barhocker an der Theke und wartete auf Sophie, die sich mal wieder verspätete. Was oft passierte, sogar wenn sie Dienst hatte und der Laden rappelvoll war. Die beiden arbeiteten für Rodrigo, einen waschechten Mexikaner, dem der Laden gehörte.

Da flog die Tür auf, und Sophie stiefelte mit dem für sie üblichen Temperament herein. Schon am Gang konnte Paula erkennen, dass ihre Freundin geladen war. Sie pfefferte die Handtasche auf einen Barhocker und verschwand ohne ein Wort der Begrüßung hinter die Theke, um sich als Erstes selbst einen Cocktail zu mixen. Der eigentliche Barmann hieß Luis, er stand am Zapfhahn und rief herüber. »Hey, Sophie. Schönen Abend dir.«

»Hi, Luis«, erwiderte sie missmutig.

Paula war neugierig. »Was ist passiert?«

»Schau mal in meine Handtasche, da ist ein Brief. Hallo auch, mein Schatz.«

Für Sophie war jeder ein Schatz, den sie mochte. Aber sie mochte nicht jeden, um ehrlich zu sein, sogar nur wenige. Es gab jedenfalls mehr Leute, die sie als Arschloch bezeichnete denn als Schatz. Paula warf ihr einen Luftkuss zu, dann suchte sie in Sophies Handtasche nach besagtem Brief und holte ihn heraus. Das Logo einer Versicherung, deren Namen Paula nicht kannte, prangte auf dem Umschlag.

»Willst du auch einen?«, fragte Sophie, die gerade einen Whiskey Sour zubereitete.

»Ja, gerne.«

Da kam Rodrigo mit drei Tellern aus der Küche und brachte sie an einen Vierertisch. Als er zurückkam, lächelte er wie gewohnt. »Bedienst du dich wieder selbst?«

»Kannst es mir ja vom Lohn abziehen«, erwiderte Sophie im sicheren Wissen, dass ihr Chef das nie tun würde.

»Alles gut.« Er verschwand wieder in der Küche.

Die meisten Männer auf diesem Planeten fanden Sophie sehr attraktiv. Sie hatte Klasse, eine gute Figur und zeigte ein nettes Lächeln, wenn sie denn lächelte. Sophie war der Grund, weshalb an manchen Abenden alle Barhocker von Männern besetzt waren. Aber kein Mann hatte eine Chance bei ihr, sie war erst vor Kurzem mit ihrer Freundin zusammengezogen.

Paula holte das Schreiben aus dem Kuvert und las, was da in förmlichem Amtsdeutsch geschrieben stand. Sophie kam mit zwei Whiskey Sour um die Theke herum und setzte sich neben sie auf einen Barhocker.

Sie stießen mit den Cocktails an.

Paula schaute wieder auf das Schreiben. Es war die ordentliche Kündigung ihrer Kfz-Versicherung zum Ablauf des Versicherungsjahres. »Hattest du einen Unfall in letzter Zeit?«

»Einen, das weißt du doch. Vor fast einem Jahr. Hätten die mir damals gekündigt, okay, das würde ich verstehen. Aber seitdem bin ich anständig gefahren.«

»Hast du einen GPS-Tracker am Auto?«

»Was?«, fragte sie entsetzt.

»Manche Versicherungen bieten einen Rabatt an, wenn man sein persönliches Fahrverhalten überprüfen lässt. Dazu macht man sich dann so einen GPS-Sender an den Wagen und liefert der Versicherung die Fahrdaten.«

»Ich bin doch nicht bescheuert«, sagte sie. »Dazu fahr ich viel zu oft viel zu schnell.«

Paula faltete den Brief wieder zusammen, steckte ihn ins Kuvert zurück.

»Suchst du dir halt eine andere Versicherung. Von der, bei der du bist, habe ich auch noch nie gehört.«

»Die waren preiswert. Und wenn ich jetzt eine neue Versicherung suche, muss ich angeben, dass ich gekündigt wurde. Und was dann?«

»Dann zahlst du einen höheren Beitrag.«

»Eben. Muss ich noch mehr Schichten einlegen als bisher.«

Sophie nahm Paula das Kuvert weg und ließ es in der Handtasche verschwinden. »Ich brauche eine günstige Versicherung. Natürlich könnte ich auch zu meiner Mutter rennen, aber den Gefallen tu ich ihr nicht.«

Paula wusste um das Verhältnis von Sophie zu ihren Eltern. Die Tochter hatte bereits ihre zweite Ausbildung abgebrochen und lebte seitdem hauptberuflich vom Kellnern. Ihr Vater war Arzt mit einer gut gehenden orthopädischen Praxis, die Mutter Hausfrau und Golfspielerin mit einem Handicap unter zehn. Beide hatten sich gewünscht, dass ihre einzige Tochter in die Fußstapfen des Vaters trat, aber an ein Medizinstudium war noch nicht einmal zu denken. Sophie hatte das Abitur geschmissen und besaß nur die Mittlere Reife, wobei für ihre Eltern die Betonung auf »nur« lag, denn die hatten das immer noch nicht verkraftet. Sophie war es egal, sie gierte nach Unabhängigkeit, und dafür arbeitete sie manchmal bis zu sieben Abende in der Woche.

Paula wechselte das Thema und zeigte ihrer Freundin das neue Smartphone. Sophie nahm es und tippte die Ziffern ein, um es zu entsperren. Es waren dieselben wie beim alten Handy. Die beiden hatten so viel Vertrauen zueinander, dass jeder den Code der anderen kannte.

Sophie nickte anerkennend. »Vielleicht sollte ich meine Spider-App auch mal entfernen. Wie viel hast du bezahlt?«

»Hundertzwanzig, weil er mir für mein altes Teil noch vierzig gegeben hat.«

»Wow.« Sophies Handy hatte seit Monaten ein gerissenes Display, eine sogenannte Spider-App, und sie leistete sich kein neues, weil sie wusste, dass nach Murphys Gesetz keine vierundzwanzig Stunden vergehen würden, bis das Display wieder einen Sprung hätte.

»Der Laden hatte einige gute Angebote im Schaufenster.«

In dem Moment vibrierte das neue Smartphone.

»Eine unbekannte Nummer«, sagte Sophie und reichte ihr das Telefon. »Bei so was gehe ich grundsätzlich nicht dran.«

Paula normalerweise auch nicht, aber die Neugier siegte, und sie nahm das Gespräch entgegen, ohne ihren Namen zu nennen. »Hallo?«

»Hi. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung«, drang es aus dem Hörer.

»Wer ist denn da?«

»Eric Naumann. Sie haben heute bei mir ein Smartphone gekauft, mit dem Sie jetzt wahrscheinlich telefonieren.«

»Ja, genau.«

Es folgte Stille am anderen Ende der Leitung. Die Mariachi-Musik war ziemlich laut.

»Hallo?«, sagte Paula ins Telefon.

»Ja«, ertönte es aus dem Handy. »Es gibt da was, worüber wir reden müssen.«

»Ist es wichtig? Ich sitze gerade in einer Bar.«

»In welcher Bar sind Sie denn?«

Paula dachte sich nur, dass ihn das nichts anginge. »Moment, ich gehe kurz raus.«

Sie erhob sich von ihrem Barhocker und marschierte nach draußen. Es regnete, und sie stellte sich unter einen der Schirme für Raucher.

»So, jetzt kann ich Sie besser verstehen. Was gibt es denn?«

»Wir sollten uns treffen. Wo sind Sie gerade?«

Paula stutzte. Diese Form der Anmache war ihr ein bisschen zu plump. »Äh, wollen Sie mir nicht zuerst mal sagen, worum es geht?«

»Ungern übers Handy.«

»Was soll das denn jetzt? Sie werden es mir schon am Telefon sagen müssen.«

»Können wir uns nicht treffen?«

»Nein«, sagte sie laut und dachte im selben Moment: Oje! Hatte sie sich nicht nur ein neues Smartphone, sondern auch noch einen Verehrer zugelegt?

»Was wollen Sie?«

»Ich habe mir Ihr altes Smartphone genauer angeschaut, das, das Sie dagelassen haben.«

»Ist es kaputt?«

»Nein. Ich habe nur ein paar Fragen.«

»Schießen Sie los.«

»Haben Sie Ihr Handy irgendwann mal gerootet?«

»Was gemacht?«

»Bei iOS nennt man das auch Jailbreak. Vielleicht haben Sie den Begriff mal gehört?«

»Nein. Weder noch. Was soll das sein?«

»Dass Sie es nicht wissen, hat meine Frage schon beantwortet.«

»Ich möchte trotzdem wissen, was das ist.«

»Rooten oder ein Jailbreak dient dazu, dass man sich den vollen Zugriff auf alle Android-Bestandteile verschafft. Ab Werk ist so ein Vollzugriff nicht möglich, was vor allem aus Sicherheitsgründen so ist. Durchs Rooten öffnen Sie eine Tür, durch die Sie ein paar Vorteile bekommen, sich aber auch ein gewisses Risiko einhandeln.«

»Und die Vorteile wären?«

»Wenn Sie manche Apps herunterladen wollen, die es nicht im App- oder Play-Store gibt, müssen Sie vorher rooten. Das kann man aber wieder rückgängig machen. Um Ihnen das zu erklären, möchte ich mich mit Ihnen treffen.«

»Gut. Aber nicht heute Abend. Wann machen Sie Ihren Laden auf?«

»Um neun Uhr.«

»Dann bin ich morgen früh um neun bei Ihnen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«

»Moment«, sagte er sofort. »Eine letzte Frage habe ich noch. Könnte es jemand in Ihrem Umfeld geben, der versucht, Sie auszuspionieren?«

Paula war verunsichert. »Was genau meinen Sie mit Ausspionieren?«

»Informationen über Sie sammeln. Bewegungsprofile. Kontakte ausspähen. Jemand, der mehr über Sie wissen möchte, als Sie von sich aus preisgeben würden. Der vielleicht Ihre Nähe sucht?«

»Im Moment fällt mir da nur einer ein und das sind Sie.«

Er kicherte. »Stimmt. Jetzt verstehe ich, weshalb Sie mich nicht treffen wollen. Haben Sie Erfahrung in dieser Hinsicht?«

»Welcher Hinsicht?«

»Wurden Sie schon mal ausspioniert oder gestalkt?«

»Nein.« Paula reagierte pampig. »Jetzt erklären Sie mir endlich, was dieses Gespräch soll.«

An diesem Morgen hatte sie noch ein gutes Gefühl gehabt und sich nichts dabei gedacht, Eric Naumann mit ihren Daten umgehen zu lassen. Jetzt bereute sie es.

»Ich habe auf Ihrem alten Handy eine Spyware entdeckt«, sagte er.

»Eine was?«

»Eine Software zum Ausspionieren der Daten auf Ihrem Smartphone. Und sie ist sehr gut versteckt gewesen.«

Paula war sprachlos. Blauer Dunst von einem Raucher neben ihr zog herüber, und sie nahm ungewollt einen tiefen Atemzug.

Er fragte weiter. »Ihnen fällt also auf Anhieb niemand ein?«

»Nein.«

»Gut, wir reden morgen ausführlicher darüber. Ich kann Ihnen das nicht am Telefon erklären.«

Paula war aufgeschreckt. »Ist es möglich, dass die Spyware auch auf das neue Smartphone übertragen wurde?«

»Das überprüfe ich morgen. Oder heute noch, wenn Sie das wollen?«

Paula überlegte kurz. »Besteht denn die Gefahr, dass jemand mein Konto abräumt oder mir den Insta-Account hackt?«

»Eher unwahrscheinlich. Die Spyware dient anderen Zwecken, es handelt sich nicht um einen Trojaner.«

Paula war ein wenig beruhigt. »Gut, dann bis morgen.«

»Neun Uhr«, sagte er und beendete das Telefonat.

Sie hielt das Smartphone noch in der Hand und schaute aufs Display. Gerade noch hatte sie sich über den Kauf gefreut und ihr Handy sofort liebgewonnen. Jetzt hatte es auf einmal etwas Bedrohliches an sich, wie ein Menetekel, ein Anzeichen drohenden Unheils.

Paula schaltete das Gerät aus. Dann wandte sie sich einer der Raucherinnen zu und fragte nach einer Zigarette. Paula bekam eine und Feuer dazu. Sie nahm ein paar tiefe Züge, als Sophie zu ihr herauskam.

»Du rauchst? Was ist los mit dir?«

Paula ging trotz des Regens ein paar Schritte von den anderen Rauchern weg und blieb vor einem überdachten Hauseingang stehen. Sophie, die ihr gefolgt war, sah sie fragend an.

»Der Verkäufer meines Smartphones hat angerufen. Er sagt, auf meinem alten Handy war eine Spyware installiert.«

»Dich hat jemand ausspioniert?«

Paula nickte. »Fällt dir spontan jemand ein, der so etwas tun könnte?«

Sophie nickte sofort. »Lennard.«

Paula sah es genauso. Ihr Ex-Freund käme als Einziger in ihrem Bekanntenkreis für so eine Aktion infrage. Während ihrer Beziehung war er andauernd eifersüchtig gewesen, auf alles und jeden. Irgendwann hatte es Paula gereicht, und sie hatte einen Schlussstrich gezogen. Damit wollte Lennard sich bis heute nicht abfinden … und jetzt das. So eine Spyware, das würde zu ihm passen. Seit ein paar Wochen rief er immer wieder aus fadenscheinigen Gründen bei ihr an, um den Kontakt aufrechtzuerhalten. Während eines dieser Telefonate hatte Sophie ihr einmal das Handy aus der Hand gerissen und ihm deutlich die Meinung gesagt.

Lennard konnte überhaupt nicht damit umgehen, wenn sein Ego verletzt wurde, was wahrscheinlich an seinem Elternhaus lag. Sein Vater hatte ein mittelständisches Unternehmen mit über hundert Mitarbeitern aus eigener Kraft aufgebaut, und seine Schwester war ebenfalls sehr erfolgreich in ihrem Beruf. Nur Lennard nicht. Er verstand mehr vom Geldausgeben als davon, es zu verdienen. Am Anfang ihrer Beziehung hatte Paula das Luxusleben als sehr angenehm empfunden. Sie waren oft essen gewesen, und er bezahlte jedes Mal. Auch die Urlaube bewegten sich in einer Preisklasse, die Paula sich nie hätte leisten können, und der Sex war ebenfalls gut. Aber irgendwann schlugen ihre Gefühle um. Je erfolgreicher sie im Studium wurde, desto mehr Probleme bekam sie in ihrer Beziehung, weil Lennard eifersüchtig reagierte. Eifersüchtig auf ihren Erfolg und darauf, dass sie ein klares Ziel vor Augen hatte. Ein Ziel, das wenig mit Geld zu tun hatte, und damit entzog sie sich ihm und seinen Vorstellungen vom Leben. Er wünschte sich eine Frau, die Kinder kriegen und zu Hause bleiben sollte. Sophie hatte das schon viel früher erkannt als Paula, aber nichts gesagt. Erst nach der Trennung hatte sie mit ihrer Meinung nicht länger hinter dem Berg gehalten.

Ein weiterer Grund, warum Lennard sich nicht mit der Trennung abfinden wollte, waren seine Eltern, die Paula schon als zukünftige Schwiegertochter gesehen hatten. Wenn der Sohn sonst nichts auf die Beine gestellt bekäme, sollte er zumindest eine annehmbare Frau haben. Zu seinem Vater hatte Paula immer ein gutes Verhältnis gehabt. Nun, der Tag, an dem sie die Beziehung beendet hatte, lag jetzt vier Monate zurück.

Sophie und Paula waren sich sofort einig, dass es Lennard zuzutrauen wäre, eine Spyware auf ihrem Smartphone zu installieren, um sie zu kontrollieren. Die Trennung war dann so plötzlich geschehen, dass er keine Möglichkeit gehabt hätte, die Software wieder zu entfernen.

»Was für’n Arsch!«, stellte Sophie fest.

Paula stimmte ihr mit einem Kopfnicken zu.

»Und was wirst du jetzt unternehmen?«

»Das überlege ich mir morgen«, sagte sie und drückte die Zigarette an der Hauswand aus. »Heute betrinke ich mich erst mal.«

Paula ging voran zurück in die Bar. Sophie hinterher.

KAPITEL 3

»Was zum Teufel ist das?«

Eric starrte vor sich auf den Monitor. Er hatte das gebrauchte Smartphone von Paula Krüger an seinen Rechner angeschlossen und alle Daten auf die eigene Festplatte gezogen.

Jetzt sah er sich im Käfig um, wo die handelsüblichen Apps verortet waren. Ein normaler Computer ließ sich bis auf die Hardwareebene zurücksetzen, was es ermöglichte, andere Betriebssysteme aufzuspielen. Bei einem Smartphone ging das nicht. Zurücksetzen auf Werkseinstellungen, wie man es machte, wenn man ein gebrauchtes Handy verkaufen wollte, bedeutete immer, dass ein Grundgerüst an Einstellungen auf dem Handy zurückblieb – Käfig oder auch Jail genannt –, wo Apps, Programme, Daten, Fotos und Videos gespeichert wurden. Eine Spyware, die nicht entdeckt werden wollte, musste außerhalb dieses Jails untergebracht werden, und dazu war ein Ausbruch, ein Jailbreak, nötig. Bei Android hieß der Vorgang Rooten. Diesen konnte jeder Nutzer manuell durchführen, was Eric Paula Krüger aber nicht zutraute, so wenig Ahnung wie sie von der Materie hatte. Es musste also durch einen Virus, einen Link oder noch eher durch einen Trigger geschehen sein, dass sich die Tür des Käfigs geöffnet hatte und die Spyware außerhalb des Jails platziert werden konnte.

Eric drehte die Musik etwas leiser. Ace of Spades war ein guter Song, um auf einer Party abzugehen, aber Lemmys erdig-raue Stimme war der Konzentration nicht unbedingt dienlich. Und darauf kam es jetzt an, denn der Hacker, der die Spyware programmiert hatte, verstand sein Handwerk.

»Wie hast du das gemacht, du Penner?«, schrie er. Die Frage konnte Eric sich nur selbst beantworten, schließlich befand er sich allein in seinem Laden.

Dachte er zumindest.

Das Zwiegespräch mit sich selbst hallte durch den Verkaufsraum bis ins Lager, wo sich auch eine kleine Küche befand. Von dort gab es einen Seiteneingang ins Treppenhaus. Über dem Laden wohnten noch drei weitere Parteien.

Die Tür lautlos zu öffnen hatte den Männern keine großen Schwierigkeiten bereitet. Die Alarmanlage war noch nicht eingeschaltet, aber es bestand das Risiko, dass sie einen Panikknopf besaß. Selbst die billigen Modelle aus dem Baumarkt hatten diese Funktion heutzutage, durch die man den Alarm per Knopfdruck auslösen konnte. Es musste also schnell gehen. Die beiden bewegten sich leise im Dunkeln, und wo kein Licht leuchtete, schauten sie durch ihre monokularen Nachtsichtgeräte. Das eine Auge sah normal, das andere nahm die Umgebung in Grünschwarz wahr.

»Verdammt, verdammt«, ertönte es wieder aus der Werkstatt. »Du Motherfucker. Hältst dich wohl für einen ganz Schlauen, wie?«

Ace of Spades blendete aus, und die ersten Glockenschläge von Hells Bells ertönten.

Die Männer sahen einander an und mussten spontan grinsen. Eine passendere Musik zu diesem Anlass hätte es kaum geben können. Der Ladenbesitzer machte es ihnen leicht, denn die Boxen dröhnten laut genug, um jegliches Knarren des Holzbodens zu überdecken. Sie schauten vorsichtig um die Ecke in das Ladenlokal. Die Straßenlaternen leuchteten grell ins Innere des Shops, und zwischen den Lichtern waren Personen zu erkennen. Allerdings auf der anderen Seite des Schaufensters.

Die Männer würden durch den Verkaufsraum gehen müssen, um in die Werkstatt zu gelangen. Der nächste Glockenschlag aus den Boxen läutete das legendäre Gitarrenriff ein.

Ein Pärchen stand auf der Straße vor dem Schaufenster; eng umschlungen küssten sie sich voller Leidenschaft. Unwahrscheinlich, dass sie viel von ihrer Umwelt wahrnahmen, aber die Männer konnten keine Zeugen gebrauchen. Das Risiko war zu groß, dass die beiden einen Blick durchs Schaufenster warfen.

»Fuck«, ertönte es wieder aus der Werkstatt. »Du bist vielleicht gut, aber ich bin besser! Ich fick dich.«

Das Pärchen vor dem Schaufenster machte keine Anstalten zu gehen. Der junge Kerl fummelte an seiner Partnerin herum, seine Hand wanderte unter ihren Rock.

»Mann, Junge. Nimm sie mit nach Hause, und vögle sie dort«, sagte der eine Eindringling leise.

Sein Kollege holte das Handy aus der Innentasche der Jacke, tippte eine kurze Nachricht, versendete sie: Tür neben Schaufenster. Pärchen muss weg.

Eine Sekunde später folgte die Antwort, ein Häkchen als Symbol für Okay.

Sie mussten nicht lange warten. Auf dem Bürgersteig vor der Eingangstür erschien ein weiterer Passant, quatschte das Pärchen an und hielt die Hand auf.

Sie hörten den Mann laut etwas sagen: »Verzieh dich, du Penner. Siehst du nicht, dass du störst?«

»Nur ein Euro. Oder zwei?«

»Du kriegst gleich ein oder zwei – auf die Fresse nämlich«, schrie der Mann, aber seine Partnerin beruhigte ihn.

»Komm, wir gehen zu mir.«

Das ließ sich der junge Mann nicht zweimal sagen, und die beiden gingen weg, während der Bettler vor der Eingangstür verharrte und die Straße im Auge behielt. Das Handy drinnen vibrierte wieder, auf dem Display erschien erneut das Symbol für Okay.

Das Problem war beseitigt. Die Männer schlichen leise in den Verkaufsraum, näherten sich dem Durchgang zur Werkstatt, wo Licht brannte. Das Nachtsichtgerät schaltete automatisch ab, sie sahen jetzt mit bloßem Auge genug. Der Besitzer des Ladens saß mit dem Rücken zu ihnen und starrte auf den Bildschirm.

Eric erschrak. Eine Spiegelung auf dem Monitor. Hinter ihm bewegte sich etwas. Er drehte sich um, sprang auf.

Der Mann, der vor ihm stand, hatte eine Skimaske über dem Kopf, ein Nachtsichtgerät vor dem einen Auge und trug schwarze Handschuhe. Er griff blitzschnell nach Erics rechter Hand und verdrehte sie. Der Schmerz im Arm war unerträglich, Eric musste nachgeben und der Bewegung seines Angreifers folgen. Sein Kopf knallte mit Wucht gegen die Tischplatte. Von dem Moment an sah er alles nur noch verschwommen, dann wurde es dunkel um ihn herum.

Eric lag bewusstlos auf dem Rücken. Quer über die Stirn hatte er eine große Platzwunde, Blut lief über sein Gesicht. Der Mann, der daran schuld war, stellte sich breitbeinig über den Wehrlosen, klappte das Nachtsichtgerät hoch. Es war hell genug.

»Wen willst du ficken, hä?« Die Handschuhe waren mit Quarzsand gefüllt, was die Wirkung verstärkte.

Erics Kehlkopf zerbrach unter der Wucht des ersten Schlages. Er rührte sich, zappelte, bekam keine Luft mehr, röchelte, der Körper wand sich am Boden, fing schließlich an zu zittern – das letzte Aufbäumen, wenn die Luftzufuhr abgeschnitten war – und er erstickte.

Noch ein Schlag ins Gesicht des Opfers, die Nase brach mehrfach, noch einer, das Jochbein. Noch mal und noch mal. Eine Blutlache breitete sich auf dem Boden unter dem Kopf aus. Das Zittern erstarb. Eric Naumann rührte sich nicht mehr. Er war tot. Der Schläger trat einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk. Es sah genauso aus wie geplant, als hätte der Täter eine irre Wut auf sein Opfer gehabt. Nichts dergleichen verspürte sein Mörder, er kannte Eric noch nicht einmal.

Zügig, ohne Anflug von Hektik, aber darauf bedacht, nicht in die Blutlache zu treten, lösten die Männer alle Kabel vom Computer, beförderten Rechner, Server und Router in eine mitgebrachte Sporttasche.

Da pingte das Handy, eine Nachricht, der eine Mann schaute aufs Display: Zielperson mit zwei Pizzen im Anmarsch.

Er steckte das Handy weg. »Er kommt zurück.«

Der Mörder blieb bei der Leiche in der Werkstatt, während der Mann mit dem Handy zurück ins Lager schlich. Zur Tür, durch die sie hineingekommen waren. Er legte sein Ohr an das Holz, hörte, wie im Treppenhaus die Haustür mit einem Quietschen aufging. Er vernahm leise Schritte. Dann Stille. Der Mann trat ein Stück zurück, damit die Tür aufschwingen konnte.

Nichts dergleichen geschah. Kein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben, niemand trat ein. Der Mann zählte leise bis zehn, bevor er das Ohr noch mal an die Tür legte. Nichts. Kein Geräusch, keine Schritte.

Er tippte wieder eine Nachricht ins Handy: Ist er wieder rausgekommen?

Die Antwort folgte prompt: Negativ.

Der Mann hatte einen Verdacht. Er legte seine Hand an die Klinke, drückte sie herunter und öffnete die Tür einen Spalt weit. In dem Moment ging im Flur das Licht aus. Er sah durch das Nachtsichtgerät. Da war niemand. Er sah zu Boden, und da lagen auf der Türschwelle zwei Pizzakartons.

Der Mann riss die Tür ganz auf und trat ins Treppenhaus. Sein Blick wanderte umher, bis er die offen stehende Tür zum Garten sah.

KAPITEL 4

Der Fahrtwind tat gut und pustete ihren Kopf durch. Vier Whiskey Sour und noch ein paar Bier hinterher waren zu viel gewesen. Paula ging davon aus, dass sie trotz Zähneputzen nach Alkohol roch, aber bis zum Nachmittag, wenn sie den Termin bei ihrem Professor hatte, würde das wieder weg sein. Und falls Eric Naumann sich an ihrem Geruch stören sollte, wäre ihr das ziemlich egal. Nur seinetwegen war sie so früh aufgestanden und hatte ihren Wecker deshalb verflucht. Aber die Neugier war zu groß, sie wollte unbedingt erfahren, wer sie ausspionierte.

Paula trat in die Pedale und bog in die kleine Einbahnstraße ein, wo sich das Geschäft befand. Gleich hinter der Kurve stoppte sie abrupt. Eine Polizistin in blauer Uniform und mit neongelber Warnweste breitete die Arme aus, versperrte den Weg. Im ersten Moment dachte Paula, sie hätte was falsch gemacht, aber dann sah sie hinter der Beamtin eine Menge Blaulichter flackern. Nicht nur Streifenwagen standen dort in der schmalen Straße, ebenso ein weißer Mercedes-Transporter und … Paula erblickte einen Leichenwagen sowie zwei Männer in Overalls, mit Masken vor dem Gesicht. Paula vermutete, dass es sich bei ihnen um die Spurensicherung handelte – kannte man ja zur Genüge aus dem Fernsehen.

Erst jetzt realisierte sie, wo das Ganze stattfand, wo die Fahrzeuge parkten. Die Tür zu dem Handyshop stand offen, Polizisten gingen rein und raus.

»Was ist da passiert?«, fragte Paula entsetzt.

Die Polizistin schaute sie an. »Ich darf Ihnen leider keine Auskunft geben.« Sie war Anfang zwanzig, und ihr dunkler Pferdeschwanz schaute unter der Mütze hervor. »Sie werden es morgen bestimmt in der Zeitung lesen.«

Da es in der kleinen Straße kaum Geschäfte gab und sie überhaupt wenig frequentiert war, hatten sich nur wenige Schaulustige hinter den Absperrbändern eingefunden. Ein paar Anwohner standen an den Fenstern und verfolgten das Geschehen in ihrer Straße.

»Ist etwas mit dem Besitzer des Handyladens passiert?«, fragte Paula vorsichtig nach.

Die junge Beamtin überlegte, ob sie was sagen sollte, und antwortete mit einer Gegenfrage. »Kannten Sie ihn?«

Paula nickte. »Ja. Ich habe heute Morgen einen Termin bei ihm. Wegen des Handys, das ich hier gestern gekauft habe.«

Die Polizistin verstand. »Ach so, deshalb sind Sie hier?«

Paula nickte.

»Was ist denn mit Ihrem Handy?«, fragte die Polizistin weiter.

»Er hat gesagt, dass ich noch mal vorbeikommen soll. Weil irgendwas nicht stimmte.«

»Eine Reklamation also?«

Paula zögerte. Wie viel sollte sie erzählen? Sie hatte keine Erfahrung im Umgang mit der Polizei und wollte keine Lawine lostreten. Wenn sie nun von der Spyware anfing, was dann? Müsste sie dann auch Lennard erwähnen, und würde sie ihm damit schaden?

Die Polizistin wollte es genau wissen. »Er hat Sie herbestellt, habe ich das richtig verstanden?«

»Nein, nicht wirklich«, log sie. »Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich habe das Problem nicht so recht kapiert. Irgendwas mit dem Datentransfer von meinem alten Smartphone zu dem neuen. Der scheint wohl schiefgegangen zu sein. Können Sie mir nicht sagen, was los ist?«

»Leider nein. Ich nicht. Aber wenn Sie Ihren Namen und Ihre Nummer aufschreiben, leite ich Ihre Fragen an die Ermittler weiter, und die werden sich bei Ihnen melden. Haben Sie einen Personalausweis dabei?«

Paula nickte. Das schien die einfachste Lösung zu sein, um zu erfahren, was geschehen war.

Die Polizistin holte einen kleinen Block und einen Stift aus ihrer Brusttasche, und Paula kramte ihren Ausweis hervor, gab ihn der Frau. Sie schrieb sich die Daten auf.

»Könnte ich noch Ihre Handynummer haben?«

Paula diktierte sie ihr und erhielt den Ausweis zurück.

»Kannten Sie den Besitzer des Ladens schon länger?«

Paula schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben uns gestern zum ersten Mal gesehen.«

Die Polizistin bedankte sich für die Auskunft und ließ Block und Stift wieder in ihrer Brusttasche verschwinden.

Über deren Schulter hinweg sah Paula, wie ein geschlossener Zinksarg von zwei Leuten in dunklen Anzügen aus dem Handyladen getragen wurde und sie ihn in den Leichenwagen schoben.

Eric Naumann war der erste Mensch, den Paula kannte, der ganz offensichtlich einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war.

KAPITEL 5

Gabriela Moreno saß an ihrem Schreibtisch, umringt von drei Monitoren. Sie studierte die aktuellen Prognosen, die keine Begeisterungsstürme ihrerseits hervorriefen. Nicht, weil die Kurven schlecht aussähen, sondern weil der Wendepunkt sich abzeichnete. Es würde wieder bergab gehen. Den Grund dafür kannte sie. Ihr Headset drückte ein wenig hinter den Ohren, sie verschob es, was ein Rascheln verursachte.

»Was war das für ein Geräusch?«, fragte ihre Mutter auf Spanisch.

»Ich bin ans Mikrofon gestoßen«, antwortete Gabriela in der gleichen Sprache.

»Ans Mikrofon?«

»Ich telefoniere mit einem Kopfhörer. Dann muss ich nicht immer das Telefon ans Ohr halten.«

»So etwas gibt es?«, fragte Candela verwundert.

Gabriela wechselte das Thema. »Hast du gut geschlafen, Momia?«

Ihre Mutter lebte in Sevilla in einem Pflegeheim und hatte gerade ihr Frühstück eingenommen. Gabriela musste sich nicht auf das Gespräch konzentrieren, weil es nur aus den immer gleichen Worthülsen bestand. Ihre Mutter litt an schwerer fortschreitender Demenz. Sie selbst merkte fast nichts davon und führte ein beinahe stressfreies Leben, was vor allem ihrem gleichbleibenden Tagesablauf geschuldet war. Jede Veränderung sei ein Stressfaktor, hatte der Arzt Gabriela erklärt. Candela konnte sich an ihre Kommunion vor fast siebzig Jahren erinnern, glaubte aber, dass ihr Bruder noch lebte, der schon vor Jahren gestorben war. Sie sprach jeden Tag davon, ihn doch anzurufen, damit er mal zu Besuch käme, und vergaß es dann wieder. Eines von vielen Ritualen.

Ihre Tochter war ihre letzte Angehörige und es tat Gabriela leid, nicht für ihre Mutter da sein zu können, abgesehen von ein paar Besuchen im Jahr. Aber der Job ließ nicht mehr zu, und die Ärzte hatten ihr dringend abgeraten, Candela nach Deutschland zu holen, wo niemand spanisch sprach. So waren die allmorgendlichen Telefonate zu einem weiteren Ritual geworden.

Eine große Fensterfront trennte Gabrielas Büro von der Außenwelt. Die Sonne stand über der Skyline Frankfurts, es versprach ein schöner Tag zu werden. Gabriela gönnte ihren Augen eine Pause, nahm die Brille von der Nase und blickte an den Bildschirmen vorbei in die Ferne.

»Bekommst du immer noch jeden Morgen deinen Schinken?«, fragte sie ins Mikro.

Es kam keine Antwort. Ihre Mutter hatte es wieder vergessen, obwohl das Frühstück höchstens eine Stunde zurücklag. Die fortschreitende Demenz würde auch das Telefonat im Laufe des Tages wieder aus ihrem Gedächtnis löschen. So kam es, dass sie fast immer über dasselbe redeten. Jeden Tag. Dieses Gespräch war eines der wenigen Dinge, mit denen Gabriela ihrer Mutter noch etwas Gutes tun konnte, abgesehen davon, dass sie alle Kosten für das Heim übernahm. Zum Glück schaffte es die tückische Krankheit nicht, ihre Mutter vergessen zu lassen, dass sie eine Tochter hatte. Obwohl die Ärzte Gabriela gewarnt hatten, dass auch dieser Tag einmal kommen könnte.

Candela war überglücklich, dass ihre Tochter mit einem guten Mann verheiratet war und einer ordentlich bezahlten Arbeit in einem Büro nachging. Das eine stimmte, sie saß eine Etage unter dem Vorstandsvorsitzenden des Versicherungskonzerns, für den sie seit nunmehr zwanzig Jahren tätig war. In der Firma gab es klare Hierarchien, und eine war: Je höher man morgens mit dem Fahrstuhl zum Büro fuhr, desto mehr Konkurrenten hatte man hinter sich gelassen. Gabriela war die einzige Frau auf dieser Etage, und darauf konnte sie stolz sein. Vor allem, weil sie für keinen ihrer Vorgesetzten jemals die Beine breit gemacht hatte. Und die Quotenfrauen saßen in den Stockwerken unter ihr. Gabriela hatte es aus eigener Kraft geschafft, durch Intelligenz, Zielstrebigkeit und Fleiß. Sie verstand es auch, die Ellbogen so einzusetzen, wie Männer das taten. Moralisch einwandfreies Verhalten musste da schon mal hintanstehen. Für dieses Büro, in dem sie jetzt saß, war sie auch bereit gewesen, auf das zu verzichten, was von der Allgemeinheit als Lebensglück bezeichnet wurde: Familie, Freunde, Haus mit Garten. Umfragen hatten ergeben, dass der Traum vom Eigenheim immer noch auf Platz Eins der Wunschliste der Deutschen stand. Gabriela hatte mit derart spießigen Ansichten noch nie etwas anfangen können.

»Was macht Javier, geht es ihm gut?«, erkundigte sich ihre Mutter jetzt, und Gabriela fragte sich, wieso Candela sich ausgerechnet den Namen ihres nichtsnutzigen Ex-Mannes noch merken konnte. Das ärgerte sie irgendwie. Hatte Javier so einen guten Eindruck bei Mutter hinterlassen?

»Natürlich, Mama«, log Gabriela. »Er lässt dich schön grüßen und freut sich darauf, dich wiederzusehen.«

Javier war der absolute Fehlgriff in Gabrielas Leben gewesen und ein Grund dafür, warum ein Lebenspartner nicht mehr auf ihrer Agenda stand. Sie wusste nicht einmal, ob der Kerl noch lebte, schon gar nicht, wo und mit wem. Was sie ihrer Mutter natürlich nie sagen würde. Die Ärzte waren der Meinung, dass die Wahrheit einem Demenzpatienten nicht unbedingt guttat, es komme manches Mal eher auf den guten Zweck einer Lüge an. Das Wichtigste, so der Arzt, sei es, die schönen Dinge, an die sich ihre Mutter erinnerte, noch am Leben zu erhalten, auch wenn Javier und der Bruder nicht mehr existierten.

Candela freute sich wie jeden Morgen, dass es Gabriela so gut ging, und sie betonte noch mal, wie stolz sie auf ihre einzige Tochter sei.

Allmählich kam das Gespräch zum Erliegen, und sie schwiegen sich noch eine Zeit lang an, bis die Mutter sagte, dass es gleich Mittagessen gäbe. Bis dahin würde es zwar zwei Stunden dauern, wusste Gabriela, sagte dies aber nicht, und sie verabschiedeten sich. Bis zum nächsten Morgen.

Gabriela nahm das Headset vom Kopf, setzte die Lesebrille wieder auf und wandte sich ihrem mittleren Monitor zu. Da brummte ihr iPhone. Eine kurze Nachricht: Heli in zehn Minuten.

Gabriela antwortete mit einem Daumen hoch-Emoji und schaute auf die Uhr am Bildschirm. Eigentlich war der Abflug erst in dreißig Minuten geplant.

Gabriela stand auf, begab sich in den Waschraum auf der Etage und kontrollierte im Spiegel ihr Aussehen. Die langen braunen Haare fielen ihr bis auf die Schultern. Sie trug sie fast immer offen, nur nicht, wenn sie mit dem Helikopter flogen; dann band sie sie hinter dem Kopf zusammen. Ein letzter Blick in den Spiegel, ein Nachziehen des Lippenstifts und sie kehrte in ihr Büro zurück, löschte die Monitore, zog den roten Sommermantel an und hängte ihre Handtasche und die Laptoptasche über die Schultern.

Gabriela stieß die schwere Brandschutztür auf, der kalte Wind blies ihr ins Gesicht und ließ ihren Mantel flattern. Auf dem Dach des Bürogebäudes wehte gefühlt ein mittlerer Sturm.

Sie blieb stehen, schaute sich suchend um. Zu dem Landeplatz führte ein Weg aus Betonplatten über das ansonsten mit kleinen Kieseln bestreute Dach. Der Hubschrauber stand dort, die Türen waren geschlossen, kein Pilot in Sicht. Lediglich die Rotoren bewegten sich im Wind ein wenig auf und ab. Gabriela sah niemanden. Sie schaute auf die Uhr, die zehn Minuten waren verstrichen. Da sah sie einen der Personenschützer hinter dem Betonquader hervortreten, auf dem das Logo des Konzerns prangte. Er winkte ihr zu, dass sie zu ihm kommen sollte.

Meint er das ernst? Um zum Rand des Daches zu gelangen, würde sie den betonierten Weg verlassen müssen. Der Mann winkte energischer. Ja, er meint es ernst.

Gabriela machte vorsichtig den ersten Schritt, und ihre Absätze versanken in den Kieselchen, die eine Schicht auf dem Dach bildeten. Sie zog ihre Manolos aus. Mit den Pumps in der Hand schritt sie langsam auf den Personenschützer zu. Die kleinen Steinchen unter ihren Fußsohlen knirschten und zwickten. Die Strumpfhose würde das nicht mitmachen, und sie bekam jetzt schon kalte Füße, obwohl es Spätsommer war. Da erblickte sie ihn, Carl Ludwig Behringer, wie er am Rand des Dachs vor dem hüfthohen Geländer stand und aussah wie der Kapitän des Traumschiffs auf der Kommandobrücke. Die zwei Männer mit Kurzhaarfrisuren und muskulösen Körpern standen rechts und links von ihm. Ihre maßgeschneiderten Anzüge enthielten sogar mehrere Lagen Kevlar, wie Gabriela wusste. Sie hatte mal eines ihrer Jacketts in der Hand gehalten und sich gewundert, wie schwer es war. Nun, dafür aber kugelsicher. Wichtige Wirtschaftslenker gehörten allgemein zu den gefährdeten Personen des Landes.

Behringer starrte stumm vor sich in die Tiefe. Gabriela kam die Situation skurril vor, wieso trafen sie sich hier am Rand des Dachs? Bei gefühlt Windstärke sechs. Ihr Chef blickte beinahe regungslos vor sich auf die Stadt. Die Sonne spiegelte sich auf dem Wasser des Mains. Bei klarem Wetter wie heute konnte man bis zum Flughafen sehen, wo sich gerade ein Jet von der Startbahn in den blauen Himmel erhob. Behringer warf seinen Personenschützern einen Blick zu. Sie wandten sich ab und verschwanden hinter den Betonquadern. Außer Hörweite.

Jetzt schaute er zu Gabriela. Seine Augen wirkten bedrohlich. In so einer Stimmungslage hatte sie ihn bisher nur selten erlebt. Sie ahnte, warum er vor dem Abflug unter vier Augen mit ihr sprechen wollte.

»Haben Sie mir irgendetwas zu sagen?«, sprach er laut gegen den Wind an.

Gabriela wusste genau, worauf sich die Frage bezog. »Sie meinen bezüglich der Person, die …«

»Was ist letzte Nacht passiert?« Seine Stimme klang erzürnt.

»Ich weiß nur, was in den Online-Medien berichtet wird. Ein Überfall. Der Besitzer des Ladens kam dabei leider zu Tode.«

»Und was ist wirklich geschehen?«

»Das weiß kein Mensch, und so sollte es auch bleiben.«

Der Wind verwehte seine Frisur, aber das schien ihn nicht zu stören. Behringer fiel es schwer, die Fassung zu bewahren, das spürte Gabriela. Sie musste ihre Worte genau wählen.

Er schüttelte den Kopf. »Was haben Sie da nur angerichtet?«

»Sie wollten es so.«

»Weil ich davon ausgegangen bin, dass …« Er zögerte, musste sich erst beruhigen. »Dass Sie etwas mehr Feingefühl bei dieser Operation an den Tag legen.«

»Feingefühl?«, erwiderte Gabriela. »Man kann nicht duschen, ohne sich nass zu machen. Faktor X ist das Innovativste, was dieser Konzern je hervorgebracht hat, und diese Technologie würde sich zur Gelddruckmaschine entwickeln, weil wir die Ersten sind, die das machen. Es ist eine Schande, dass wir darauf verzichten wollen.«

»Wollen?«, schrie er sie an. »Von wollen kann keine Rede sein. Sie haben es vermasselt. Sie haben auf ganzer Linie versagt. Und jetzt das!«

Gabriela schluckte.