Das Spiegelhaus - Carole Johnstone - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Spiegelhaus E-Book

Carole Johnstone

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Am Rand von Edinburgh steht ein imposantes Anwesen, das »Spiegelhaus«, wie es von seinen Bewohnern einst genannt wurde. Dies war das Zuhause der Zwillingsschwestern Cat und El. Hier gab es für die Mädchen einen besonderen Ort: Jede Nacht stiegen sie die steinerne Treppe hinab, öffneten die schwere Holztür und betraten einen geheimen Raum, in dem ihre Phantasie Wirklichkeit wurde.

20 Jahre später kehrt eins dieser Mädchen - Cat - in das Haus ihrer Kindheit zurück. Denn ihre Zwillingsschwester El ist verschwunden. Was Cat nicht weiß: Els Verschwinden ist kein Zufall, sondern Teil eines Plans, an dessen Ende Cat erkennen soll, was damals, vor so vielen Jahren, wirklich im Spiegelhaus geschah ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 556

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitatPROLOGTEIL EINSKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18TEIL ZWEIKAPITEL 19KAPITEL 20KAPITEL 21KAPITEL 22KAPITEL 23KAPITEL 24KAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30KAPITEL 31KAPITEL 32KAPITEL 33KAPITEL 34EPILOGDank

Über dieses Buch

Ein vielschichtiger, bis ins kleinste Detail ausgefeilter psychologischer Spannungsroman über die Kraft der Fantasie und den Preis der Freiheit In der Westeryk Road Nummer 36, am Rand von Edinburgh, steht ein imposantes Anwesen, mit vielen verwinkelten Gängen, mit dunkelroten Wänden und versteckten Zimmern. Dies war das Zuhause der Zwillingsschwestern Cat und El, die es liebevoll »Spiegelhaus« nannten. Hier gab es für die Mädchen einen besonderen Ort: Jede Nacht stiegen sie die Treppe hinab, öffneten die schwere Holztür und betraten einen geheimen Raum, in dem sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen konnten. 20 Jahre später kehrt Cat in das Haus ihrer Kindheit zurück. Denn ihre Zwillingsschwester El ist verschwunden. Was Cat nicht weiß: Els Verschwinden ist kein Zufall, sondern Teil eines Plans, der enthüllen soll, was damals wirklich im Spiegelhaus geschah …

Über die Autorin

Carole Johnstone ist eine preisgekrönte schottische Autorin von Kurzgeschichten. Das Spiegelhaus ist ihr Debüt-Roman. Sie lebt in Argyll & Bute an der Westküste Schottlands. Weitere Informationen finden Sie auf www.carolejohnstone.com

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe:

»Mirrorland«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2021 by Carole Johnstone & HarperCollins Publishers

Published by arrangement with Janklow & Nesbit UK

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Heike Rosbach, Nürnberg

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock.com: MelBrackstone | Slice Lemon | andreashofmann7777

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2058-8

eichborn.de

luebbe.de

lesejury.de

»Wenn man das Leid des wahren Lebens mit den Freuden des eingebildeten vergleicht, will man niemals mehr leben, nur noch für immer träumen.«

Alexandre Dumas, Der Graf von Monte Christo

»Man hat immer nur zwei Möglichkeiten. Entscheide dich zu leben oder entscheide dich zu sterben.«

Stephen King, Die Verurteilten

PROLOG

5. September 1998

Der Himmel leuchtete rosa. Was besser war als rot, wie El sagte, als wir wieder Angst bekamen. Grandpa hatte immer gesagt: Abendrot Gutwetterbot’, Morgenrot mit Regen droht – er war zur See gefahren. Der Wind blies kalt und wurde sogar noch kälter. Auf Els Gesicht glänzten immer noch Tränen, und ihre Finger zuckten. Ich konnte nicht aufhören zu zittern.

Wir hielten uns an den Händen und gingen immer der Nase nach, bis die hohen, überfüllten Mietshäuser zu einem einzigen, bedrohlich aufragenden dunklen Haus verschmolzen, in dem Kindermörder lauerten und uns beobachteten. Aber wir sahen niemanden. Hörten niemanden. Als wären wir wieder im Spiegelland. Sicher und doch voller Angst. Was sich änderte, war der Geruch der Förde, der stärker wurde und näher kam.

Der Hafen war ein Chaos aus Schmiere und Öl und Metall und Salz. Möwen erwachten und krähten wie Hähne. Wir blieben an einem Lagerhaus aus nacktem Holz stehen, das von der Nässe ganz dunkel war. Davor, an einer steil ins Wasser abfallenden Betonmauer, stand ein Kran, von dem eine rostige Kette mit Haken herabhing.

Flut. Nur jetzt konnte man die Segel setzen, um auf die hohe See hinauszufahren.

El hielt meine Hand ganz fest, als wir auf die runden, auf und nieder hüpfenden Bojen und die langen Pontons hinausblickten. Wir sahen Yachten, weiß und glatt, mit klappernden Metallmasten. Und draußen auf offener See außerhalb der Mündung einen Tanker am Horizont. Aber wir wollten keines dieser Boote. Ihretwegen waren wir nicht hier.

Ich durchsuchte meinen Rucksack, bis ich Mums Puderdöschen fand. Etwas davon verteilte ich auf Els Wangen.

»Deine Augen sind ganz rot«, flüsterte ich, und sie tat so, als täte ihr meine Berührung nicht weh.

»Du blutest noch«, flüsterte sie zurück, heiserer als ich, obwohl ich mehr geschrien hatte als sie.

»Was treibt ihr beiden Mädels denn hier um diese Zeit, he?«

Seine Taschenlampe blendete mich, aber als ich wieder sehen konnte, war er genauso, wie Mum gesagt hatte: ledrig und zahnlückig, mit einem weißen, buschigen Bart. Ein alter Seebär.

»Ich heiße Ellice«, sagte El. Ich spürte ihre scharfen Nägel an meinen Fingern, ihre Stimme war so ruhig wie das Hafenwasser. »Und das hier ist meine Zwillingsschwester Catriona.«

»So?«

Er kam ein wenig näher und schwankte dabei. Ich roch den Rum in seinem Atem. Mein Herz klopfte schneller, und ich straffte die Schultern. »Wir wollen auf ein Piratenschiff.«

Das Licht seiner Taschenlampe sprang in weißen Kreisen schwindelerregend auf und ab. Ich musste blinzeln, meine Augen begannen zu tränen. Und dann stieß er einen Fluch aus – einen, den Grandpa auch immer benutzt hatte, aber keinen seiner Lieblingsflüche – und wich von uns zurück, die Augen aufgerissen wie bei einer Maske der Grebo von der Elfenbeinküste in Grandpas Enzyklopädie.

»Bleibt genau hier stehen, okay? Geht nirgends hin. Verstanden?«

»Aber fährt denn bald ein Schiff?«, rief ihm El hinterher, als er im Schatten des Lagerhauses verschwand. Wir hörten, wie sich die Tür knarrend öffnete und dann wieder zuschlug. El wandte sich zu mir, gab einen erstickten Laut von sich und ließ mich los. »Oh nein! Dein Pulli. Wir haben vergessen, deinen Pulli auszuziehen!«

Ich hatte plötzlich mehr als nur Angst. Es war, als wäre ich ganz tief im Kalten und Schwarzen geschwommen, als hätte mich jemand herausgezogen, und ich wüsste nicht mehr, wie man atmet. Ich ließ meinen Rucksack fallen, zog meinen Mantel aus, und obwohl mir alles wehtat, obwohl Els Finger mich zwickten und kratzten, zog ich mir den Pulli über den Kopf und ließ ihn auf den Betonboden fallen, als krabbelten Spinnen darin herum. Da roch ich es, säuerlich und warm.

»Was machen wir damit?«, fragte El, und ihre Stimme war nicht mehr leise oder ruhig. »Der kommt doch zurück. Er kommt zurück!«

Sie rannte um das Lagerhaus herum und griff nach einem zerbrochenen, verrosteten Vertäuring auf dem Boden. Mit Seemannsknoten machten wir die Ärmel des Pullis daran fest, unsere Hände waren eiskalt, unsere Zähne klapperten. Dann rannten wir zurück zum kabbeligen Wasser außerhalb des Hafens und warfen den Ring so weit ins Meer, wie wir konnten. Es klatschte laut. Als wir zum betonierten Teil des Hafens zurückkamen, waren wir außer Atem und versuchten so sehr, nicht zu weinen, dass es klang, als erstickten wir.

Plötzlich drehte sich der Wind und drückte uns von der Kante der schrägen Betonmauer fort. Ich glaubte, wieder das Blut riechen zu können: säuerlich und dunkel. Aber das salzige Meer war stärker, genau wie der Griff von Els Hand.

»Ein weiser Seemann verlässt den Hafen niemals an einem Freitag«, flüsterte ich.

Langsam tat mir El mit ihren Fingern weh. »Heute ist Samstag, du dumme Kuh«, sagte sie.

Aber ich wusste, dass auch El Angst hatte. Ich wusste, dass sie sich fragte, ob es wohl schon zu spät war, zurückzugehen. »Wird alles wieder gut, El?«

Wir schauten hinüber zur Förde, an dem kleinen Inselchen Inchkeith und dem weit draußen fahrenden Tanker vorbei. Wir zitterten und hielten uns immer noch an den Händen, standen nahe genug beinander, um den Herzschlag der jeweils anderen zu spüren, und der rote Himmel zog von der Nordsee aus herauf und breitete sich wie eine Wunde aus. El schaute mich nicht mehr an, bis wir sahen, wie das Rot über die Mole kroch.

Und dann lächelte sie. Dieses breite, schreckliche Lächeln, das so gar nicht zu passen schien. Sie hörte nicht damit auf, selbst als wir schon den ersten Motor hörten, und die erste Sirene. Oder als sich die Lagerhaustür erneut knarrend öffnete und wieder zuknallte.

Sie lächelte, lächelte, lächelte. »Wir werden einander nie verlassen. Sag es.«

Knirschende Schritte näherten sich. Wieder ein Fluch, diesmal lauter. Lichter, die uns blendeten, sodass wir die Förde nicht mehr erkennen konnten, sondern nur noch einander.

»Wir werden einander nie verlassen«, flüsterte ich.

Sie packte meine Hand jetzt noch fester, und ich schluckte, sah zu, wie ihr Lächeln schärfer und dunkler wurde und schließlich verschwand. »Niemals, solange wir leben.«

»Es wird alles gut«, sagte ein Mann, der nicht der alte Seebär war.

Und eine Frau mit freundlichem Blick und einem sanfteren Taschenlampenstrahl trat zwischen uns und hielt uns ihre freie Hand hin. »Von jetzt an wird alles wieder gut.«

*

Und das war der Tag, an dem unser zweites Leben begann.

TEIL EINS

KAPITEL 1

Ich war nicht da, als meine Schwester starb.

Ross rief mich an; er hinterließ fast ein Dutzend Nachrichten auf der Voicemail, bis ich sie endlich abhörte, eine verzweifelter als die andere. Und ich schäme mich zu sagen, dass ich vor allem auf seine Stimme hörte – vertraut und vergessen, kaum verändert – und nicht so sehr auf die Worte, die er sagte.

Ich schaue die Nachrichten im Terminal 4 des John-F.-Kennedy-Flughafens. Ich muss hier einen siebenstündigen Zwischenstopp überleben, der an meinem Verstand nagt. Dann muss ich meinen Laptop hochfahren und nachsehen. Ich sitze auf einem Hocker in einem lauten, viel zu hell erleuchteten Schnellrestaurant und rühre meinen Cheeseburger nicht an. Stattdessen scrolle ich durch den ersten der drei Berichte auf der Nachrichtenseite der BBC für Edinburgh, Fife & East. Ich sollte mich vermutlich auch dafür schämen, dass Ross wieder das Erste ist, was ich sehe. Sogar noch vor der riesigen schwarzen Schlagzeile: Große Sorgen um vermisste Frau aus Leith.

Unter dem ersten Foto steht Tag eins, 3. April, aber darauf ist es bereits dunkel. Ross geht eine niedrige Steinwand in der Nähe der Förde entlang. Die Kamera hat ihn zwischen zwei silbernen Laternenpfählen erwischt, die zwei kreisrunde Lichtpfützen werfen. Obwohl sein Gesicht abgewandt ist, kann man seine Aufregung unmissverständlich erkennen: Er hat die Schultern hochgezogen, die Hände zu Fäusten geballt. Der Fotograf hat die hellen Lichter eines zurückkehrenden blau- und orangefarbenen Rettungsbootes eingefangen, und Ross’ Gesicht ist ihm und der eingefrorenen Wucht einer Welle zugewandt, die über den Pier bricht. Kurz nachdem sie vermisst gemeldet wurde, gab es ein Unwetter, das hatte er in mehr als einer seiner Nachrichten gesagt, als hätte mich die Unkenntnis dieses besonders schrecklichen Details davon abgehalten, ihm zu antworten.

Ich brauche beinahe zwei Gläser Merlot in einer dunklen, zurückgezogenen Bar, weit außer Hörweite des Schnellrestaurants, bis ich in der Lage bin, das erste Video abzuspielen. Tag zwei, 4. April. Und selbst dann, als Els Foto auf dem Bildschirm zu sehen ist – wie sie mit zurückgeworfenem Kopf lacht, ihre, wie sie es immer nannte, »Like a fuckin Virgin«-Pose, mit durchsichtiger Seidenbluse und einem silberblonden Bob –, zucke ich zusammen, drücke auf Pause und schließe die Augen. Fahre mir verlegen durch das viel zu lange, wirre Haar. Ich trinke den Wein aus, bestelle einen dritten, und der Kellner, der ihn bringt, starrt so intensiv und lange auf meinen Bildschirm, dass ich mich schon frage, ob er einen Schlaganfall hat. Bevor ich ihn überhaupt bemerke, natürlich. Es ist erstaunlich, was man alles vergisst; Tatsachen aus dem eigenen Leben, die früher einmal so normal waren wie Atmen. Er glaubt, ich würde mir ein Bild von mir selbst ansehen. Darunter die Worte: Ist Ellice MacAuley tot oder noch am Leben?

Ich nehme die Ohrhörer aus meinen Ohren. »Meine Zwillingsschwester.«

»Tut mir leid, Ma’am«, sagt er mit einem strahlenden Lächeln und klingt dabei, als hätte ihm noch nie in seinem Leben irgendetwas leidgetan. Das ewige Lächeln und Ma’am-Getue nervt mich, und ich werde wütend. Dass dies das Einzige ist, was ich an Amerika nicht vermissen werde, ermüdet mich noch mehr, macht mich noch saurer. Ich denke an meine Eigentumswohnung an der Pacific Avenue. An das durchgeknallte Leben auf der Promenade und am Muscle Beach. Die verrückten und durchtanzten Nächte in Kellerclubs, an deren Wänden der kondensierte Schweiß herunterrinnt. An die türkisfarbene Ruhe des Meeres. Des Meeres, das ich liebe.

Ich nehme noch einen großen Schluck Wein, stecke mir die Ohrhörer wieder in die Ohren und drücke auf Play. Das Foto von El wird von dem einer Reporterin abgelöst: jung und ernsthaft, vermutlich erst in ihren Zwanzigern. Der Wind peitscht ihr das Haar wild ums Gesicht.

»Am Morgen des dritten April segelte die in Leith wohnhafte Ellice MacAuley, einunddreißig, von diesem Yachtclub in Granton Harbour in der Förde von Forth los. Seither wurde sie weder gesehen, noch hat jemand von ihr gehört.«

Ich zucke zusammen, als die Kamera vom Yachtclub weg zoomt, um die Eisenbahnlinie und die Straßenbrücken in Queensferry im Westen aufzunehmen, um dann nach Osten zu den Ausläufern von Earlsferry und North Berwick zu schwenken. Dazwischen sieht man die graue Förde und die niedrigen, sanften Hügel von Kinghorn und Burntisland am gegenüberliegenden Ufer. Dann schwenkt die Kamera zurück zum Hafen, zu seinen hüpfenden Bojen und langen Pontons und den weißen Segelbooten mit den klappernden Masten. Eine Betonrampe, die sich steil ins Wasser senkt. Ein anderer Kran. Kein Lagerhaus.

Wie konnte ich nur übersehen, dass dies derselbe Hafen ist – ein Ort, über den ich seit Jahrzehnten nicht mehr nachgedacht habe, und doch gibt es ihn noch, beinahe unverändert. Ein Schauder lässt meinen Nacken verkrampfen. Eine Furcht, die ich lieber nicht weiter analysieren will, ebenso wenig wie alles andere, was mir durch den Kopf gegangen ist, seit die Voicemail-Nachrichten in meiner Inbox gelandet sind. Ich greife wieder nach meinem Wein, erleichtert, weil auf dem Bildschirm nicht mehr der Hafen zu sehen ist, sondern Archivbilder von Rettungsbooten und Hubschraubern.

»Als Ms MacAuley nicht in den Royal Forth Yacht Club zurückkehrte, wurde Alarm geschlagen, und es wurde weiterhin festgestellt, dass sie ihren Zielort in Anstruther nicht erreicht hatte. Die Küstenwache und die Seenotrettung RNLI sind an der Suche beteiligt, aber das anhaltende schlechte Wetter hat ihre Bemühungen deutlich behindert.«

Ein Mann: mit Hängebacken, fast kahl, ernst wie die Reporterin, aber mit einem Glitzern in den Augen, als täte er nur so. Er schaut mit vor der Brust verschränkten Armen in die Kamera. Unter seinem viel zu großen Bauch steht: James Paton, Königliche Küstenwache, Koordinator für Such- und Rettungsmissionen, Aberdeen. »Wir wissen, dass Ms MacAuley eine kompetente Seglerin ist …«

Wissen wir das?, denke ich.

»… angesichts der Windstärke, die am Morgen des dritten April in der Förde herrschte, nehmen wir an, dass sie bereits für nahezu sechs Stunden verschwunden war, als sie vermisst gemeldet wurde.« Er verstummt, und obwohl er nur von der Taille aus aufwärts gefilmt wird, sehe ich, wie er sich noch etwas breitbeiniger hinstellt, wie ein Revolverheld. Er schafft es gerade so eben, nicht mit den Achseln zu zucken. »In den letzten zweiundsiebzig Stunden betrug die Temperatur in der Förde nicht mehr als sieben Grad Celsius. Unter diesen Umständen kann ein Mensch nicht länger als drei Stunden im Wasser überleben.«

Arschloch, denke ich. Mit Els Stimme.

Die Kamera schwenkt wieder zur Reporterin, die immer noch so tut, als wäre ihr die ruinierte Frisur ganz egal. »Jetzt, am Ende des zweiten Tages der Suche und unter verschlechterten Bedingungen«, sagt sie, »sinkt die Hoffnung auf eine sichere Rückkehr von Ellice MacAuley.«

Ein Bild von El und Ross irgendwo im Urlaub nimmt den gesamten Bildschirm ein. Sie sehen darauf gebräunt aus, mit weißen Zähnen; er hat den Arm um ihre Schultern gelegt, sie lehnt sich an ihn, hebt das Kinn und lacht. Ich kann mir schon vorstellen, warum die Berichterstattung so eifrig und intensiv ist. Sie sind wunderschön. Sie sehen einander an, als wären sie gleichzeitig ausgehungert und satt. Die Intimität des Bildes ist mir unangenehm; der Wein in meinem Magen fühlt sich plötzlich an wie Säure.

Ich nehme mein Handy zur Hand und öffne die Wetter-App. Ich habe Edinburgh nach Venice Beach darauf immer noch als zweiten Favoriten abgespeichert; ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, warum. Sechs Grad Celsius und starker Regen. Ich schaue aus dem Fenster in die Dunkelheit, auf die langen Reihen der weißen Startbahn-Lichter.

Es ist noch nicht einmal sechs Uhr morgens in Großbritannien, aber schon taucht ein neues Video auf: Tag drei, 5. April. Ich sehe es mir nicht an. Ich weiß sowieso, dass sich nichts geändert hat. Ich weiß, dass sie noch nicht gefunden wurde. Ich weiß, dass sie heute noch weniger als gestern erwarten, sie zu finden. Darunter sehe ich ein weiteres Bild mit einem Link, der weniger als zwei Stunden alt ist. Arzt-Ehemann der vermissten Frau aus Leith verliert die Hoffnung. Das Bild lässt meinen Atem stocken. Es tut weh, ihn so zu sehen. Es würde jedem wehtun, ihn so zu sehen. Ross kauert neben einer niedrigen Mauer, die Knie zum Kinn gezogen, die Hände im Nacken verschränkt, und drückt die Ellenbogen eng vor sich zusammen, wie einen Schutzschild. Ein Mann in einem langen Anorak steht neben ihm, sieht auf ihn herab und sagt offenbar etwas, aber Ross achtet nicht auf ihn. Stattdessen schaut er hinaus auf die Förde, mit offenem Mund und in tiefer Verzweiflung. Ich kann seine Trauer und sein Entsetzen beinahe hören.

Ich knalle den Laptop viel zu heftig zu, trinke meinen Wein aus, während die Leute mich anstarren. Meine Hand zittert, Tränen treten mir in die Augen. Die Stunden zwischen New York und Edinburgh stehen drohend vor mir und sind gleichzeitig nicht genug Zeit. Ich will nicht zurück. Ich würde alles – absolut alles – geben, um nie, niemals wieder zurückzumüssen.

Ich stehe auf, um in die nächste Bar zu gehen; ich ertrage es nicht, noch einmal mit dem Ma’am-Kellner reden zu müssen. Ich nehme meinen Laptop und meine Tasche und werfe einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tisch. Ich bin schon ziemlich unsicher auf den Beinen, als ich zwischen den Tischen hindurchgehe. Ich hätte wohl doch diesen Burger essen sollen. Aber das ist egal. Alles ist jetzt egal. Die Leute starren mich immer noch an, und ich frage mich, ob ich es wohl laut gesagt habe, bis ich merke, dass ich stattdessen den Kopf schüttele. Denn ich muss es glauben. Ich muss glauben, dass sich nichts geändert hat. Dass all diese Angst und das kalte Grauen in mir gar nichts bedeuten. Ich denke an Edinburgh, an Leith, an das graue Haus in der Westeryk Road, mit den Wänden aus flachen Steinen und den georgianischen Sprossenfenstern. Ich denke an Grandpas zahnlückiges Lächeln, und das nimmt mir die schlimmste Panik. Nane ae it amounts tae pun ae mince, hen.

Ich war nicht in Edinburgh, als meine Schwester starb. Ich war nicht auf dem Flughafen von Los Angeles oder auf dem JFK-Flughafen. Ich war noch nicht einmal auf dem schmiedeeisernen Balkon meiner kalifornischen Wohnung, um auf den Pazifik hinauszuschauen, Rotwein zu trinken und so zu tun, als wäre ich genau dort, wo ich immer hatte sein wollen.

Ich war nirgends, als meine Schwester starb.

Weil sie nicht tot ist.

KAPITEL 2

Ich stehe auf dem Bürgersteig, bis der Bus außer Sicht ist. Entweder ist die Wetter-App auf meinem Handy kaputt, oder das Wetter selbst: Es ist kalt und sonnig mit einem wolkenlosen Himmel. Der Wind, der von der Stadt aus hierher weht – Rauch und die Ausdünstungen von Doppeldecker-Bussen und Brauereien und Kohlenfeuern –, ist schwach und beißt. Ich kann das Meer riechen. Alles und doch nichts ist so wie immer. Die Häuser sind dieselben Häuser, die Straße ist dieselbe Straße, da ist der kleine Minimarkt genau an der Stelle, an der er immer war: Colquhoun’s von Westeryk. Ein plötzlicher kalter Windstoß hebt das Haar in meinem Nacken an und bringt wieder einen salzig-säuerlichen Schwall Meeresluft. Das Meer muss auch kalt sein. Ich versuche, nicht an den selbstgefälligen Revolverhelden aus den Nachrichten zu denken. Viel kälter als die Luft.

Ich schaue mir Westeryk Road 36 genau an. Das Metalltor ist noch dasselbe. Die eckig geschnittenen hohen Hecken mit den gelben Stellen, der Pfad, der den Rasen teilt. Ich muss nicht hochschauen, um zu wissen, dass die ehrwürdige Symmetrie der grauen Steinquader und die hohen, schmalen Sprossenfenster ebenfalls gleich geblieben sind. Die beiden Steinmauern an der Seite mit den weißen Schamott-Pfosten und roten Holztüren, die zu den Durchgängen am Haus führen.

Plötzlich halte ich inne und wirbele herum. Da ist niemand. Aber das Gefühl, dass da jemand war, ist so stark, dass ich einen Schritt nach vorn mache. Mein Herz pocht viel zu schnell. Ich schaue über die Straße zur Reihe roter Sandstein-Reihenhäuser, die El und ich immer die Lebkuchenhäuschen genannt haben. Die schmalen Häuschen mit den adretten weißen Türstürzen und den Blumenkästen voller Stiefmütterchen und Petunien, die so gar nicht zu dem hoch aufragenden grauen Haus passen, auf das sie schon immer schauen mussten. Dieses Gefühl, beobachtet – gemustert – zu werden, wird stärker; meine Nackenhärchen stellen sich auf. Hör auf.

Ich drehe mich um zu Nummer 36, öffne das Tor, gehe den Pfad entlang, steige die vier Steinstufen hinauf, und da ist der Fußabstreifer aus rotem Metall und die letzte rote Stufe, die riesige rote Haustür. Sie ist angelehnt. Ich fragte Mum einmal, warum wir es nicht das Rote Haus nannten, und sie blinzelte und warf mir diesen Dummes-Mädchen-Blick zu. Manchmal kann ich mich nur noch an diesen Blick erinnern, wenn ich an sie denke.

Es ist nun mal das Spiegelhaus. Genau wie du und Ellice. Genau wie Spiegelland.

Vielleicht besaßen El und ich früher eine ähnlich starre Symmetrie wie dieses Haus – oder nein, kein Vielleicht, ich weiß, dass es so war –, aber nichts kann für immer so bleiben, wie es ist. Ich drücke die Tür auf und trete in die Eingangshalle. Schwarz-weiße Kacheln. Dunkle Eichenvertäfelung und blutrote Wände. Als wollte mir das Haus als Erstes genau das Gegenteil beweisen. Ich schließe die Augen, und sofort höre ich, wie sich ein schwerer Riegel bewegt und an seinen Platz fällt. Etwas Schwarzes, das vorbeihuscht. Lauf. Aber als ich mich umsehe, ist die Tür noch offen, warmes Sonnenlicht dringt herein. Hör auf.

Ich drehe den Messingknauf der zweiten Tür und sehe kurz mein Spiegelbild mit den aufgerissenen Augen darin, bevor sich die Tür zum Korridor öffnet und den geschwungenen Schatten der Treppe zeigt. Der alte Teppich ist fort, an seiner Stelle glänzt hier Parkett. Die Sonne dringt durch das runde Oberlicht über der Tür, und plötzlich sehe ich mich selbst, wie ich im Schneidersitz in diesem Lichtstreifen sitze, in Grandpas Enzyklopädien lese und der Teppich an meiner Haut kratzt wie winzige Nadeln.

An den Wänden des Korridors hängen dicht an dicht die vertrauten Zierteller, klein und groß, mit gewellten und vergoldeten Rändern: Finken, Schwalben, Spatzen sitzen auf belaubten Zweigen, kahlen Zweigen, schneebedeckten Zweigen. Das hohe alte Telefontischchen aus Eichenholz und Grandpas Standuhr stehen exakt an derselben Stelle wie damals, zu beiden Seiten der Tür zum Wohnzimmer. Und auch wenn das unwahrscheinlich zu sein scheint – fast bizarr, zwanzig Jahre später –, stehen sie dort dennoch Wache. Der Geruch ist ganz genau derselbe, hat sich kein bisschen verändert: Es riecht nach Alter, nach altem Holz und alten Erinnerungen.

Meine Ungläubigkeit wird von einer Erleichterung gemildert, die ich nicht erwartet, und einer Beklommenheit, die ich erwartet hatte. Ich atme tief und lange ein, und etwas in mir lockert und befreit sich. Es fühlt sich immer noch ein wenig an wie Angst – es ist spröde und scharfkantig. Aber auch warm. Tief wie das Meer. Es hat Erwartungen. Ein viel zu großer Teil von mir freut sich, endlich wieder hier zu sein. Freut sich, dass alles unglaublicher- und unerklärlicherweise haargenau so ist wie früher.

Ich gehe in die Küche, als wäre es immer noch mein Zuhause, und da hockt Ross auf Händen und Füßen auf den blau-weißen Kacheln. Er schaut hoch. Blinzelt. Zuckt zusammen.

Und ich habe zu viel damit zu tun, an all die Dinge zu denken, die ich ihm nicht sagen kann, weshalb mir nichts anderes einfällt als: »Wie schmeichelhaft. Die meisten Leute begrüßen mich nur mit ›Hallo‹.«

»Cat.« Seine Stimme bricht, als hätte mein Name zwei Silben. Als er aufsteht, sehe ich, dass überall um uns herum auf den Fliesen Porzellanscherben liegen.

»Soll ich dir helfen?«

»Ich mache das später.« Er tritt über die Scherben und bleibt ein paar Zentimeter vor mir stehen. Sein Lächeln ist genauso angespannt, wie sich meins anfühlt. »Wie ist es in L.A.?«

»Heiß.«

Seine Knöchel sind ganz weiß. »Wie war die Reise?«

»Ganz okay. Lang.« Ich weiß nicht, warum ich nicht sprechen kann. Ich weiß nicht, warum wir uns diese lächerliche Unterhaltung antun. Ross sieht aus wie früher, aber anders, genau wie das Haus. Sein Gesicht ist blass, die Haut unter seinen Augen dunkler als auf den Bildern in den Nachrichten, nicht mehr violett, sondern schwarz. Seine Bartstoppeln sind dunkel, das Haar zerzaust, als wäre er zu oft mit den Händen hindurchgefahren. Insgesamt sieht er wohl älter aus, aber das hat ihm nicht geschadet. Nicht so, wie es ihm schadet, dass El verschwunden ist. Um die braunen, silbrig gesprenkelten Augen herum sind jetzt mehr Fältchen zu sehen; sein Gesicht ist schmaler. Ich frage mich, ob sein Lächeln wohl immer noch ein wenig schief ist, ob sein linker Eckzahn immer noch ein wenig über dem Schneidezahn steht. Ich schaue sofort weg.

»Es heißt, es sei immer am schwierigsten, zurückzukommen«, sagte er.

»Ja.«

Er räuspert sich. »Ich meine, von Westen nach Osten zu reisen.«

»Ich weiß«, sage ich. »Ich weiß, was du meinst.«

Sein T-Shirt ist zerknittert, er hat Gänsehaut auf den Armen. Er macht einen Schritt nach vorn. Bleibt stehen. Reibt sich mit den Handflächen das Gesicht.

»Gott, wie viele Jahre ist es jetzt her?«

»Zwölf?«, flüstere ich, als wüsste ich es nicht genau, und ich habe einen Kloß im Hals, und meine Augen brennen. Plötzlich ist das alles – El, er, dieses Haus – zu viel für mich. Ich bin müde und traurig und habe Angst, und vor allem bin ich so verdammt wütend – wütend, dass ich zurückkommen musste, wütend, dass überhaupt ein Teil von mir hier sein will. Es ist weniger als vierundzwanzig Stunden her, aber wenn ich jetzt an meine wunderschöne Wohnung an der Pacific Avenue denke, habe ich ein Bild auf Hochglanzpapier vor Augen, als wäre sie nur irgendein Ort, an dem ich vor langer Zeit einmal gewesen bin.

Vielleicht weiche ich seiner Umarmung deshalb nicht aus. Vielleicht lasse ich es deshalb zu, dass er die Arme um mich schlingt und mich so nah an sich heranzieht, dass ich das Kratzen seiner Bartstoppeln an meinem Hals fühlen kann, seinen warmen Atem an meiner Haut, das Vibrieren seiner Stimme – vertraut und vergessen. Und absolut unverändert.

»Gott sei Dank bist du zurückgekommen, Cat.«

*

Ich versuche, nicht hinzusehen, als wir die Treppe hinaufgehen, aber das ist praktisch unmöglich. Das Geländer aus Eichenholz, geschwungen und glatt an meiner Handfläche, das grüne und goldene Licht, das durch das Buntglasfenster auf das Fliesenmosaik der Stufen fällt. Die Dielen im ersten Stock knarren unter meinen Füßen, genau an den Stellen, an denen ich das auch erwarte, und ich bin schon auf dem Weg zu meinem Zimmer, als ich innehalte. Ross steht in der Tür gegenüber, mit meinem Koffer in der Hand und einem peinlich berührten Lächeln.

»Das da ist unser Zimmer«, sagt er.

»Entschuldige«, sage ich und gehe viel zu schnell weiter. »Natürlich ist es das.« Ich frage mich trotzdem, wie es jetzt wohl aussieht. Als El und ich es uns teilten, war der Bettüberwurf goldgelb, die Tapete eine Regenwald-Explosion aus Grün und Braun und Gold. Nachts schlossen wir immer die großen Holzläden vor dem Fenster und taten so, als wären wir viktorianische Forschungsreisende im Kakadu-Dschungel in Nordaustralien.

Ich folge Ross ins zweite Schlafzimmer. Das Gästezimmer. Die vertrauten, adretten Kiefernmöbel und ein hohes Fenster mit Blick in den Garten. In einer Ecke steht eine farbbespritzte Staffelei mit Mischpalette, zwei Leinwände lehnen an der Wand. Aufgewühltes Meer, grün und schaumig weiß, unter einem dunklen, stürmischen Himmel. El konnte zeichnen und malen, bevor sie lesen konnte.

»Ist das in Ordnung?«, fragt Ross.

Ich erkenne das kleine Schränkchen neben dem Kleiderschrank sofort und erschrecke mich beinahe; im selben Moment frage ich mich, ob wohl immer noch die Karnevalsschminke darin liegt, die orangefarbenen Perücken, die bunten Nylon-Anzüge und roten Nasen. Aber die Scharniere und Ritzen sind übermalt. Ich schaue mich erneut im Zimmer um. Die Tapete ist weiß, rot und rosa gestreift, und ich muss lächeln. Natürlich. Ich bin im Clown-Café.

»Cat?«, fragt Ross.

»Entschuldige. Ja. Das ist in Ordnung. Super.«

»Du findest es bestimmt merkwürdig, wieder hier zu sein, nehme ich an.«

Ich kann seinem Blick nicht standhalten. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem er mir erzählte, dass er das Haus gekauft habe. Ich saß damals draußen vor einer lauten und überfüllten Bar auf dem Lincoln Boulevard, hatte einen Kater, und mir war fürchterlich heiß. Ich hatte damals schon seit ein paar Jahren in Südkalifornien gelebt, mich aber immer noch nicht an den ewigen Sonnenschein gewöhnt. Das Erste, was ich damals fühlte, war eine Art Schock. Alles andere kam erst in mir hoch, als ich schon aufgelegt hatte und wieder allein war. Ich stellte mir vor, wie sie aneinandergekuschelt im Wohnzimmer vor dem Kamin mit seinen flaschengrünen Kacheln lagen, Champagner tranken und über die Zukunft sprachen. Es war zwar nicht das letzte Mal, dass er mich anrief, aber es war das letzte Mal, dass ich drangegangen war.

»Ich verstehe einfach nicht, wie es sein kann, dass immer noch alles da ist, nach all der Zeit. Ich meine, inzwischen müssen doch andere Leute hier gewohnt haben, seit …«

»Ein älteres Ehepaar hat hier ein paar Jahre gewohnt. Die MacDonalds«, sagt Ross. »Sie hatten mit dem Kauf offenbar auch den größten Teil der Original-Möbel erstanden und nicht viel verändert. Als wir es kauften, ersetzten wir die meisten fehlenden Teile.«

Ich sehe ihn an. »Ihr habt sie ersetzt?«

»Ja. Ich meine, sie haben die großen Stücke dagelassen: die Küchenschränke und den Tisch, den Herd, das Sofa. Die Möbel im Esszimmer. Aber fast alles andere ist neu. Na ja, nicht neu – du weißt schon, was ich meine.«

Sein Lächeln wirkt angestrengt und unglücklich, aber es liegt auch Zorn darin. »El hat mich gefühlt jedes Wochenende in Antiquitätengeschäfte oder auf Messen geschleppt.«

Ich zucke bei der Erwähnung ihres Namens zusammen – ich kann nichts dagegen tun –, und Ross sieht mich aufmerksam an, hält meinen Blick ein wenig zu lange.

»Du hast mich nie gefragt, warum«, sagt er. »Damals. Warum wir dieses Haus gekauft haben.«

Ich wende mich von ihm ab. Schaue zum Fenster und zur übermalten Tür im kleinen Schrank.

»Das Haus wurde versteigert. El hatte die Anzeige in der Zeitung gesehen.« Er lässt sich schwer aufs Bett fallen. »Ich fand es immer etwas ungesund, so in der Vergangenheit zu leben. Ich meine … du weißt, was ich meine …«

Und ich weiß es wirklich. Ich war hier glücklich. Meistens. Und ich war seither so unglücklich. Aber ich weiß trotzdem, dass es stimmt: Man kann nie zurück.

»Ich habe die Anzahlung geleistet und ihr geholfen, es zu kaufen.« Er zuckt die Achseln. »Du weißt ja, wie El war, wenn sie etwas wirklich wollte.«

Mein Gesicht wird ganz heiß, die Haut beginnt zu prickeln. Mir geht auf, dass er von ihr in der Vergangenheit redet. Ich frage mich, ob das daran liegt, dass er glaubt, sie sei tot, oder weil sie und ich keine gemeinsame Gegenwart mehr haben.

Er räuspert sich. Greift in seine Tasche. »Ich dachte, du brauchst die hier vielleicht, solange du hier bist. Damit du kommen und gehen kannst, wie du willst.« Er hält mir zwei Sicherheitsschlüssel hin. »Der hier ist für die Tür zur Eingangshalle, die ich aber meistens unverschlossen lasse, und das hier ist der Nachtriegel für die Haustür. Es gibt auch noch ein Bolzenschloss, aber dafür haben wir nur einen Schlüssel, daher verwende ich es nicht.«

Ich nehme die Schlüssel und verdränge die Erinnerung an schwarze Dunkelheit. Lauf.

»Danke.«

Er beugt sich nach vorn und schwingt sich auf die Füße, als hinge er an Fäden. Er beginnt, auf und ab zu gehen, fährt sich mit den Händen durchs Haar und packt es. »Gott, Cat, ich muss unbedingt irgendetwas unternehmen, aber ich weiß nicht was. Ich weiß nicht was!«

Er wirbelt auf einem Fuß herum und springt auf mich zu, die Augen weit aufgerissen, sodass ich die roten Äderchen darin sehen kann. »Sie glauben, dass sie tot ist. Sie schleichen ständig um den heißen Brei herum, sagen es, ohne es zu sagen, aber es liegt auf der Hand, was sie denken. Morgen wird sie seit vier Tagen vermisst. Und wie lange werden sie wohl nach ihr suchen, bevor all das Gemurmel von schlechtem Wetter und Zeit und mangelndem Personal zu ›Tut uns sehr leid, Doctor MacAuley, aber wir können wirklich nichts mehr tun‹ wird?« Er ringt die Hände. Sein T-Shirt hat dunkle Flecken unter den Achseln. »Ich meine, es ist doch nicht nur sie, die da verschwunden ist, es ist außerdem noch ein sechs Meter langes Boot mit einem sieben Meter langen Mast! Wie kann das einfach so verschwinden? Und sie war eine sehr gute Seglerin«, sagt er, ohne stehen zu bleiben.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das nicht zum ersten Mal zu jemandem gesagt hat.

»Sie wusste, dass ich es nicht mochte, wenn sie allein mit diesem verdammten Boot rausfuhr.«

Er lässt sich wieder aufs Bett fallen, die Fäden, an denen er hing, sind jetzt gekappt. »Ich habe ihr immer gesagt, dass so etwas passieren könnte.«

»Ich wusste gar nicht, dass sie segeln konnte«, sagte ich. »Geschweige denn, dass sie ein Boot besaß.«

Mit Liegeplatz im Granton Harbour. Ein Bild von uns drängt sich mir auf, wie wir auf dem Bugspriet der Satisfaction stehen – wir lachen, rufen, und der tropische Wind spielt mit unserem Haar – und ich spüre eine Mischung aus Sehnsucht und Zorn.

»Sie hat es vor ein paar Jahren online gekauft.« Wieder diese aufblitzende Wut. »Ein bindender Vertrag, die Anzahlung konnte nicht rückerstattet werden. Sie verdiente gutes Geld mit ihren Bildern, durch Kunstausstellungen, aber nicht genug. Also musste ich den Rest bezahlen. Und sie hatte mal wieder, was sie wollte. Bevor sie überhaupt wusste, wie man das verdammte Ding segelte. Gott, ich wünschte, ich hätte nie …« Er lässt die Handflächen am Gesicht hinuntergleiten, sodass seine Haut nach unten gezogen wird. »Es ist meine Schuld. Das alles.«

Ich setze mich neben ihn, obwohl ich das gar nicht will. Ich will ihm sagen, dass sie nicht tot ist, aber das kann ich nicht. Er ist noch nicht bereit, es zu hören. »Wie kann das deine Schuld sein?«

Er war nicht da gewesen: irgendeine kurzfristig angesetzte Konferenz zum Thema Psychopharmaka in London. Ein jährlicher Pflichttermin für alle praktizierenden klinischen Psychologen. »Die Effizienz psychoaktiver Therapien im Vergleich«, sagt er. Als wäre das wichtig. Als hätte ich auch nur eine Ahnung, was das ist. Er gibt sich selbst die Schuld, dass er nicht hier war, dass er sie nicht davon abgehalten hat, rauszufahren, obwohl wir beide wissen, dass er nichts daran hätte ändern können. Aber das ist nicht alles. Da ist noch etwas anderes, das spüre ich. Etwas, was er nicht sagt.

»Als ich zurückkam, wurde sie schon mindestens fünf Stunden lang vermisst, vielleicht schon länger, und dieses Unwetter kam wie aus dem Nichts.«

Ich denke an das eine Foto von Tag eins, auf dem er im Schatten zwischen den beiden runden Lichtkegeln stand.

»Gestern haben sie die Suche auf die Nordsee ausgeweitet. Alle Fischkutter und Tanker da draußen suchen ebenfalls nach ihr, aber …«

Er schüttelt den Kopf und steht wieder auf. »Ich weiß, dass sie bald aufhören zu suchen. Ich weiß es. Die Polizei kommt morgen früh vorbei. Niemand will mich mehr unten am Hafen haben, weil ich denen immer nur im Weg herumstehe.« Er schnaubt. »Der heulende Witwer.«

Er wirkt so wütend, so bitter und resigniert.

»Du musst doch völlig erschöpft sein. Warum legst du dich nicht hin und schläfst ein bisschen?«

Er protestiert sofort.

»Ich kann ohnehin nicht schlafen bis heute Abend«, sage ich. »Ich wecke dich, wenn etwas passiert, okay? Ich verspreche es.«

Seine Schultern sacken nach unten. Sein Lächeln ist so kläglich, dass ich den Blick abwenden muss. Stattdessen schaue ich nach draußen, wo sich die grünen Kronen der Obstbäume im Wind wiegen.

»Okay«, sagt er schließlich und greift nach meiner Hand, um sie zu drücken. »Danke.« An der Tür dreht er sich noch einmal kurz um, jetzt ähnelt das Lächeln schon eher seinem eigenen. »Ich habe gemeint, was ich gesagt habe, weißt du. Ich freue mich wirklich, dass du zurück bist.«

Ich wühle in meinem Koffer, bis ich eins der Minifläschchen mit Wodka finde, die ich auf dem Flug gekauft habe. Ich setze mich aufs Bett auf die warme Stelle, die Ross hinterlassen hat, und trinke es aus. Auf dem Nachttisch steht ein gerahmtes Foto von El und Ross, als sie noch sehr jung waren. Sie lächeln neben der Blumenuhr in den Princes Street Gardens. Er hat die Daumen ins Bündchen seiner Jeansshorts gehakt; sie hat ihre Hände auf seinen Bauch gelegt. War ich da schon fort? Hatten sie mich schon vergessen? Ich sehe Els breites, glückliches Lächeln und kenne die Antwort.

Ich wende mich ab und schaue mich stattdessen erneut im Zimmer um. Das Clown-Café war ganz allein Els Erfindung gewesen: ein detailliert ausgestatteter American Diner, mit rotweißen Wänden und pinkfarbenen Neon-Schriftzügen.

Ein alter Plattenspieler war die Jukebox, die Elvis-Songs aus den Fünfzigern spielte. Das Kiefernsideboard war unser Tisch; zwei hohe Hocker waren unsere Stühle. Das Bett war der lange Serviertresen und das Schränkchen das Klo.

Ich fand Clowns nie so toll; damals waren wir fest davon überzeugt, dass sie zu einer Spezies gehörten, die nichts mit Menschen zu tun hatte. Ich hatte ebenso viel Mitleid mit ihnen wie ein gewisses Misstrauen ihnen gegenüber: Es schien mir, dass sie nur wenig Möglichkeiten in ihrem Leben hatten, nur jene, die man ihnen zubilligte, und schon im Alter von acht Jahren konnte ich das nachvollziehen. El fand natürlich, es sei der beste Job auf der ganzen Welt, mit einem Wanderzirkus zu reisen.

Aber die Zahnfee hatte Angst vor Clowns. Und wir hatten Angst vor der Zahnfee. Also versteckten wir uns im Clown-Café – unsere Haut juckte unter der Karnevalsschminke und den Plastiknasen, den Nylonperücken und Anzügen – und tranken Kaffee und aßen Doughnuts mit zwei Clownsveteranen namens Dicky Grock und Pogo. Dicky Grock war der Koch im Clown-Café: Er war stumm und hatte ein trauriges Gesicht. Früher hatte er als Jongleur gearbeitet, das Zirkuszelt aber gehasst. Und so war er früh in Rente gegangen. Und Pogo hatte zarte Knochen und große Zähne, der König des handfesten Scherzes, mit einer speziellen Neigung, sich von hinten mit einem Megafon anzuschleichen. Ich hatte ebenso viel Angst vor ihm wie vor der Zahnfee.

Aber das war es immer wert. Die Unbequemlichkeiten, die Angst, die flaue Unbehaglichkeit. Denn das Clown-Café gehörte uns. Es war wichtig. Es war das beste Versteck der Welt.

Ich schlucke. Ich habe seit Jahren nicht mehr ans Clown-Café gedacht. Ich habe seit Jahren nicht mehr an uns gedacht. Plötzlich muss ich unbedingt frische Luft atmen, also trete ich ans Fenster und zerre hart am Schieberahmen. Er rührt sich nicht, und ich schaue ihn mir an. Vielleicht ein Dutzend lange, krumme Nägel stecken im Fensterrahmen. Und es gibt keinen Grund, weswegen mir das Angst machen sollte, aber das tut es. Es jagt mir einen solchen Schrecken ein wie in jenem Bruchteil einer Sekunde in L.A., als ich glaubte, El könne tatsächlich tot sein. Oder jener Teil von mir, der froh ist, hier zu sein. An diesem Ort, an dem mein erstes Leben endete und niemals wieder beginnen sollte.

»Oh, El«, flüstere ich und lege die Hände an das kalte Glas. »Was zum Teufel hast du bloß getan?«

KAPITEL 3

Im Haus ist es gleichzeitig viel zu still und viel zu laut.

Ich stehe am oberen Treppenabsatz und atme tief durch. Der Teppich hier ist ebenfalls fort, aber die Glaslampe, die von der Stuckrosette an der Decke herabhängt, und das goldene Licht von der Westeryk Road, das durch die offene Badezimmertür hereinströmt, sind noch wie immer. Ich schaue mir alle geschlossenen Türen an – Schlafzimmer 1, 2, 4 und 5 – und erinnere mich an die Namen, die wir ihnen damals gaben: der Kakadu-Dschungel, gegenüber vom Clown-Café; der Prinzessinnenturm, der Maschinenraum gegenüber. Mein Herz erinnert sich ebenfalls daran, am Schlund des dunklen Flurs zwischen dem Clown-Café und dem Prinzessinenturm warnend schneller zu schlagen, aber ich achte nicht darauf, drehe mich um und gehe schnell zu dem Zimmer an seinem düsteren Ende. Schlafzimmer 3. Es muss auch einen Namen gehabt haben, aber ich erinnere mich nicht daran. Als ich vor der Tür stehe, deren mattschwarzes Blatt völlig verstaubt ist, merke ich, dass ich die Arme fest um den Oberkörper geschlungen habe, um die engen Flurwände nicht berühren zu müssen. Ich schüttele die Arme aus und atme erneut durch. Herrgott noch mal, mach schon. Aber als ich die Finger um die Klinke schließe, höre ich El in meinem Ohr kreischen: Geh da nicht rein! Da dürfen wir niemals rein!, und dann Mums Stimme – höher, schärfer, die wie immer jede Meinung und jeden Widerspruch ausschließt – Wenn ihr da jemals reingeht, reiß ich euch den Kopf ab, hört ihr?

Ich höre.

Ich lasse die Klinke los, gehe rückwärts, weil ich der Tür nicht den Rücken zuwenden möchte, bis ich wieder auf dem Treppenabsatz in warmem, goldenem Licht stehe. Ich zittere heftig und lange, ohne zu wissen, warum. Das Warum juckt mir unter der Haut; ich kann es fühlen, aber nicht so stark, dass ich es kratzen will.

Hör auf. Nur Geister. Das ist alles.

Ich schaffe es, wieder langsamer zu atmen. Gehe hinüber zu Schlafzimmer 5, stoße die Tür auf. Grandpa nannte es den Maschinenraum, weil das Zimmer das schlagende Herz, die Kraft des Hauses war. Das solide Doppelbett aus Eichenholz und der Schrank stehen noch da, auch der große hässliche Schreibtisch, an dem er immer arbeitete. Ich erinnere mich an das laute Rauschen des Radios; sogar noch mit seinen Hörgeräten war Grandpa so taub, dass das ganze Haus am Ende eines Samstagnachmittages jedes einzelne Fußballergebnis kannte. Aber das Radio ist nicht mehr da. Keine Berge von Schrauben und Bolzen und Sprungfedern, verstümmelten Maschinen und Motoren. Es riecht nicht mehr nach Öl und warmem Metall. Das Herz des Hauses, der Maschinenraum, hat vor langer Zeit aufgehört zu schlagen.

Der Prinzessinnenturm war Mums Schlafzimmer. Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle, sobald ich die Tür öffne und das kleine Einzelbett an der Wand sehe, das pinkfarbene Kissen und die Daunendecke, den weißen Schminktisch mit pinkfarbenen Rüschen und dem gepolsterten Hocker davor. Ich schaudere, denn trotz allem, was Ross gesagt hat, fühlt sich dies hier so wirklich an, so unverändert, als wäre es zwei Jahrzehnte lang in der Zeit erstarrt. Als hätte Mum eben das Zimmer verlassen. Sie ließ uns nur selten ein, erinnere ich mich, meist, um uns vorzulesen, und schon als Kind wunderte ich mich darüber, wie wenig diese pinkfarbenen Spitzenrüschen zu unserer strengen und entschieden unrüschigen Mutter passten. Und wie gut sie stattdessen zu einer Prinzessin gepasst hätten.

Sie stammte aus einer von Mums Lieblings-Gutenachtgeschichten: eine Feenprinzessin namens Iona, weil das »wunderschön« bedeutet, und sie war die schönste Prinzessin der Welt. Ich setze mich aufs Bett, schaue zum großen Fenster, das auf die Westeryk Road hinausgeht, und erinnere mich an die träge, beruhigende Wärme von Mums Handfläche auf meinem Haar. Eines schrecklichen Tages wurde die Feenprinzessin von einer bösen Hexe ihrer Mutter entrissen und entführt. Die Hexe schnitt ihr die Flügel ab und hielt sie in einem Turm gefangen, der so hoch war, dass niemand wusste, wo sie sich befand. Aber die Prinzessin war nie traurig oder hatte Angst. Denn sie wusste, dass sie eines Tages fliehen würde. Eines Tages würde ihr goldenes Haar so lang sein, dass sie es an ihren Bettpfosten binden und als Seil benutzen konnte, um daran nach unten zu klettern.

Aber wie soll sie ihr Haar danach wieder vom Bettpfosten losbinden?, fragte El einmal.

Und Mum hörte auf, unser Haar zu streicheln. Sie schneidet es einfach ab.

Im Haus gab es nie einen Fernseher. Und der einzige Radioapparat – Grandpas Transistorgerät – war heilig. In unserem Leben gab es nur die Geschichten. Mum hatte viele Regeln, aber dass wir lesen sollten, dass wir alles, was wir je im Leben brauchen würden, aus Büchern lernen konnten, diese Regel war absolut und völlig unerschütterlich. Einige Geschichten wie die vom Prinzessinnenturm waren merkwürdige Mischungen aus den Märchen in Tausendundeine Nacht oder jenen der Gebrüder Grimm; einige las sie vor. Darin ging es um die Fantasieländer Narnia oder Mittelerde, um die Schatzinsel oder Neverland; die meisten aber waren ganz und gar selbst ausgedachte Geschichten über Piraten und Prinzessinnen, Heldinnen und Ungeheuer. Alle waren erschreckend – aufregende, belehrende Geschichten für die Unwissenden, die Naiven, die Feigen und die Dummen.

Schneeweißchen ist still und sanft. Sie sitzt zu Hause und hilft bei der Hausarbeit oder liest ihrer Mutter vor. Rosenrot ist wild. Sie rennt gern herum und lacht und fängt Schmetterlinge. Ihr Atem kitzelt auf unserer Haut. Ihr müsst euch immer an den Händen halten. Ihre Finger schließen sich um unsere Haarsträhnen. Verlasst euch nie auf jemand anderen. Traut niemandem außer euch selbst. Sie riss und zwirbelte unsere Haare, bis uns die Tränen in die Augen traten. Ihr werdet immer nur einander haben.

Ich stehe hastig auf und reibe mir über die Gänsehaut auf den Armen. Aber ich verlasse das Zimmer nicht. Ich trete an den weiß lackierten Schrank neben dem Fenster, in dem Mum früher unsere Bücher aufbewahrte, und öffne die Tür. Zwischen turmhohen Stapeln an Taschenbüchern starrt mir El mit ihren graublauen Augen entgegen, und ich taumele rückwärts gegen die Wand. Ihr Gesicht ist bleich, aschfahl. Um ihre Augen und um den Mund sind neue Falten entstanden, die so aussehen wie meine. Die Farbe ist dick und grob aufgetragen, wie mit einem Messer. Der Hintergrund ist ein großer Spiegel; eine Spiegelung in der Spiegelung in der Spiegelung, ihr dunkles, müdes Gesicht wird immer kleiner in der Unendlichkeit. So viele Els, dass man sie nicht mehr zählen kann.

Sie anzusehen war natürlich immer, als schaute ich in einen Spiegel. Zwillingsgeburten liegen bei uns in der Familie, sagte Mum, aber wir waren etwas anderes. Besonders, eine Seltenheit wie Höhlenschwalme oder der Kalifornische Kondor. Mehr als einhunderttausend andere Kinder müssen geboren werden, bevor eine Mutter so besondere Kinder bekommt, wie ihr es seid. Sie besaß ein Buch mit komplizierten Diagrammen, mit eingerollten Föten, die sich im Unterleib an den Händen hielten. Das Ei teilte sich erst mehr als eine Woche nach der Befruchtung, und das bedeutete, dass wir mehr als nur zwei Hälften eines Ganzen waren. Wir waren Spiegelzwillinge. Mum zog uns immer ganz genau gleich an: selbst gemachte Schürzenkleidchen und weiße, hochgeschlossene Blüschen; karierte Kleider, die uns bis weit über die Knie reichten. Sie setzte uns auf ihren pinkfarbenen Schemel, sah sich mit glänzenden Augen unsere Reflexion im Schminktischspiegel an und band unser langes blondes Haar zu Zöpfen.

Ein paar Tage später, dann wärt ihr zu jemand anderem verschmolzen, so wie Sand und Kalk zu Glas werden.

Die Vorstellung hatte mir Angst gemacht. Als wären wir nur knapp der Gefahr entgangen, ein Monster zu werden.

Ich starre Els Selbstporträt an. Sie ist wütend – sie kocht geradezu vor Zorn. Ich sehe den Hass in ihren Augen, sehe, wie sie die Lippen vor den zusammengebissenen Zähnen aufeinanderpresst. Aber unter all der Wut liegt Angst. Ich kenne sie immer noch gut genug, um das zu sehen. Ich frage mich, wer die Angst in sie hineingepflanzt hat. Und warum sie das Bedürfnis hatte, sie zu malen. Ich schaue auf meine Handgelenke und erinnere mich widerstrebend daran, wie sich ihre Fingernägel hineinkrallten. Tief genug, um rote Abdrücke zu hinterlassen, die später violett und gelb wurden.

Ich hasse dich. Geh weg. Ich will nur noch, dass du weg bist. Das Knurren in ihrer Stimme, der kalte Triumph in ihrem Blick. Dass ich nie mehr an dich denken muss.

Ich schließe die Schranktür, lehne mich dagegen, mein Herz pocht. Wie kann ich Ross sagen, dass sie nicht tot ist? Wie kann ich es erklären? Denn selbst damals, als sie mich so verletzte, wusste ich, dass das, was sie sagte, nicht wahr war; ich kannte sie gut genug, um den Schmerz unter all der Wut zu erkennen. Ich spürte ihn. Wir waren auf viel zu vielen Ebenen tatsächlich wie Sand und Kalk.

Als wir sechs Jahre alt waren, fiel El vom Alten Fred. Ich lag mit Grippe im Bett, im Kopf und in der Brust diese stickige Hitze und in Gedanken die Sorge, ob ich daran sterben könnte, aber ich spürte ihre Schreie dennoch, als kämen sie aus meiner eigenen Kehle. Ich spürte den Schrecken beim Sturz durch die Äste, den Schock beim Auftreffen auf den Boden, den schlimmen Schmerz, der vom Fußgelenk ins Knie aufstieg. Grandpa sagte, es sei nur eine Verstauchung, und innerhalb einer Woche war El wieder lebendiger als ich. Sie brachte mir Heiße Zitrone und Gänseblümchen aus dem Garten, sodass wir daraus Ketten flechten konnten, während ich, immer noch ein wenig schwindelig und fiebrig, im Bett lag. Als man ihr zum ersten Mal erlaubte, mich zu besuchen, erzählte ich ihr, wie sehr es wehgetan hatte, als sie vom Baum fiel, und ihre Augen wurden ganz rund und groß.

Mir ist schwindelig geworden, sagte sie. Meine Brust und mein Kopf waren voller Schwindel, und ich konnte nicht mehr atmen. Deshalb bin ich heruntergefallen.

Hinterher versuchte sie immer zu beweisen, was ich für bereits erwiesen hielt. Es war wie ein Spiel für sie: Es machte ihr überhaupt nichts aus, sich aus Bäumen oder die Treppe hinunterzustürzen, solange sie den Schmerz, die Angst, die Gefahr mit mir teilen konnte. Ihre Arme und Beine waren ständig mit Kratzern und blauen Flecken übersät. Egal, wie sehr ich auch bettelte, wie sehr sich mein Leben auch anzufühlen begann wie ein Minenfeld, durch das ich mit den Beinen von jemand anders gehen musste. Egal, wie erstarrt ich vor all den Höhen stand – dieser schwindelerregende Schrecken, wenn ich darauf wartete zu fallen. Der Schwindel ließ lediglich nach, wenn ich dieses Haus verließ. El lachte dann nur aus den Tiefen ihres Bauches und lange, und danach umarmte sie mich fest, bis auch das wehtat.

Am dritten April schlief ich bis zehn, weil ich lange aufgeblieben war, um einen überfälligen Artikel für ein Lifestyle-Magazin fertigzustellen: »Zehn Signale der Körpersprache, die beweisen, dass er dich betrügt«. Nach einem Frühstück, das nur aus Kaffee bestand, ging ich die Strandpromenade von Venice Beach entlang, schlenderte an den Buden, Touristen und Bob-Marley-Flaggen vorbei, an den Schauspielern, Wahrsagern und Künstlern. Als der Tag zu heiß wurde, setzte ich mich im Schatten von Palmen auf eine Bank und schaute dem Leben zu, das an mir vorbeizog, atmete es ein, als wäre ich ein Teil von ihm. Ich überlegte träge, in welchen Nachtclub ich später noch gehen würde, was ich anziehen würde, wessen Hände mich berühren würden.

Gegen fünf kehrte ich in meine Wohnung zurück, schlief eine Stunde, duschte, zog ein kleines Schwarzes und viel zu hohe Schuhe an. Ich stolperte über die Stufe zum Balkon hinunter und ließ beinahe meine offene Weinflasche fallen. Sie glitt nass und kalt zwischen meinen Fingern hindurch. So schnell hatte mein Herz den ganzen Tag nicht geschlagen. Ich setzte mich auf den Balkon, rieb mir den angestoßenen Zeh, trank meinen Wein und sah zu, wie die Sonne am Horizont unterging und den Pazifik blutrot färbte. Ich fühlte nichts. So wie an jedem anderen Tag. Und auch seither habe ich nichts gefühlt. Keinen Schrecken, keinen Schock, keine Qual. Kein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, keine fremde, bodenlose Angst. Nichts ist aus mir herausgerissen worden, nichts hat geendet. Alles ist ganz genau wie immer. El liegt nirgends mit Schmerzen in der Dunkelheit. Und sie ist nicht tot. Ich hätte es gespürt. Ich hätte es gewusst. Egal, wie sehr wir einander entfremdet sind. Ich würde es wissen.

*

Ich gehe in die Küche. Besser, ich bringe alles auf einmal hinter mich. Mums alter Küchenherd – der groß, hässlich und aus schwarzem Gusseisen ist – sieht aus, als wäre er noch in Gebrauch: Ein Kessel steht auf der Wärmeplatte, ein Haufen Asche liegt im Kohlenofen. Ich sehe die Locken in Mums Nacken, ihre abfallenden Schultern, sehe, wie sie rührt und den Kopf schüttelt, den festen Knoten der Schürze um ihre Taille, die schief getretenen Absätze ihrer Schuhe. Die Fenster beschlagen von oben nach unten, und der Garten dahinter verschwindet. Bleiche und Lavendel, scharfe schottische Brühe und die süßen Zitronenkuchen, die wir manchmal nach der Schule buken. Der große Holztisch mit seinen alten Kratzern, Dellen und Flecken nimmt immer noch den größten Teil des Raumes ein. Ich sehe Grandpa mit seinem glänzenden Schädel und den breiten Koteletten, der sein schlechtes Bein auf den Nachbarstuhl gelegt hat, wie er seine Herzmedikamente einwirft wie orangefarbene TicTacs, wie er mit seinen großen Fäusten auf die Tischplatte schlägt, ob er nun glücklich, wütend oder traurig ist.

Ich sehe Mum, wie sie sich vom Herd abwendet. Sie hat die Augen verengt, und die Haut außen herum sieht so zerknittert aus wie nasses und wieder getrocknetes Zeitungspapier. Suppe klatscht von ihrer Kelle auf den Boden, und sie hat die Stimme erhoben, damit Grandpa sie hören kann. Drei Mal am Tag wird in Edinburgh jemand erstochen. El und ich sind vielleicht acht, neun Jahre alt, mehr nicht, weil Mums Haar noch hell ist, beinahe so blond wie unseres, und wir sehen Grandpa mit aufgerissenen, erschreckten Augen an, bis er grinst und seine weißen Zähne zeigt. Armer Kerl, was?

Er kam aus dem East End von Glasgow, war aber schon seit seinem sechzehnten Geburtstag als Techniker auf den Fischkuttern der Nordsee unterwegs gewesen. Gran war an Krebs gestorben, als Mum noch ein Teenager war. Jedes Jahr an ihrem Todestag schloss Mum sich in ihrem Zimmer ein und kam erst am nächsten Tag wieder heraus. Aber nicht so Grandpa. Er war wild entschlossen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Er war wie eine Karikatur in einer von Mums Geschichten: Ein hartes Leben, das einen harten Mann hervorgebracht hatte, dessen Welt sich weder verändert noch vergrößert hatte, egal, auf wie vielen Schiffen er mitgefahren war oder wie viele Orte und Menschen er kennengelernt hatte. Aber er verbrachte auch ganze Sommer im Garten hinter dem Haus nur mit El und mir. Er picknickte dann mit uns, lachte und machte bei unseren endlosen Schatzsuchen mit; an Regentagen baute er drinnen die tollsten Deckenburgen und -schlösser. Wenn er zum Markt in Leith fuhr, saßen wir stundenlang am Küchentisch und warteten darauf, dass wir sein schief gepfiffenes Bluebell Polka oder Lily of Laguna hörten und seinen unverkennbaren Umriss durch die gläserne Flurtür humpeln sahen. Seine Canvas-Tasche war dann voller Medikamente und Süßigkeiten und baumelte von seinem Ellenbogen. Er war die Rettung für Mums wahllose Ängste und Vorahnungen. Er saß immer still da, abgesehen von den Händen, die sich ständig bewegten, und tat so, als hörte er ihrem leisen, drängenden Flüstern zu. Dabei verdrehte er die Augen, während sie sich aufplusterte.

Angst verleiht winzigen Dingen große Schatten, Schätzchen. Wirf sie einfach in den Scheiß-drauf-Eimer.

Hier lebten wir. El, Mum, Grandpa und ich. In diesem gemütlichen, hässlichen Raum. Ich lächle und schaue mir die schiefen beigefarbenen Holzschränke an. Den alten Boiler, dessen Rohr in einen versteckten Abzug führt, in den sich ständig Vögel verirrten. Ich hörte ihnen dann zu, wie sie kratzten und flatterten, und die Geräusche klangen so gedämpft, als wären sie unter Wasser.

Unter dem hängenden Gestell zum Wäschetrocknen steht ein neuer Kühl- und Gefrierschrank von Smeg in einem völlig unpassenden Saphirblau. Und hinter den riesigen georgianischen Fenstern mit ihren vielen kleinen Glasscheiben in Hartholz-Sprossen stehen die alten Apfelbäume. Der Wind bewegt ihre Zweige.

Ich drehe mich wieder um zur offenen Tür in den Flur und zur Standuhr, dem Telefontisch, all den Porzellantellerchen mit den Vogelmotiven darauf. Mein Magen fühlt sich ganz hohl an. Ich weiß, dass man leicht dazu verführt werden kann, etwas zu glauben, was nicht real ist. Besonders, wenn man es glauben will. Aber dieses Haus ist mehr als nur alte Erinnerungen. Es ist wie ein Museum, ein Mausoleum. Oder ein Katastrophenmoment, gut erhalten wie eine Leiche unter Ruß und Asche.

Musste El es deshalb kaufen? Wollte sie es mit all dem wieder füllen, was verloren war? Hatte sie die Versteigerungsmeldung in der Zeitung gesehen und mehr aus Neugier heraus eine Besichtigung vereinbart, ohne vorher zu wissen, dass es sein würde, als kehrte sie wieder in ihre Kindheit zurück? Es war sicher schwierig, nehme ich an, hierherzukommen und dann wieder fortzugehen, dem Sog dieses Hauses zu widerstehen. Obwohl ich eigentlich immer die Sentimentalere von uns beiden war. El beherrschte schon die Kunst, Dinge in den Scheiß-drauf-Eimer zu werfen, bevor wir in die Pubertät kamen.

Ich hole den Handbesen und die Schaufel, die Ross auf dem Boden hat liegen lassen, und fege alle Porzellanscherben auf, die ich finden kann. Ich durchquere die Küche zur Spülküche dahinter und bleibe abrupt vor dem Herd stehen. Ich starre auf die lange Fuge zwischen zwei Fliesen, die gerissen und ganz schwarz ist. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Plötzlich ist mir übel, und ich schaue hastig weg.

Eine Glocke klingelt – laut und plötzlich und ganz in der Nähe. Mein Herz setzt wieder einen Schlag aus und beginnt dann zu galoppieren. Ich drehe mich um, mein Magen zieht sich zusammen, Finger und Zehen prickeln, und mein Blick fällt sofort auf das hölzerne Glockenbrett an der Küchentür:

Esszi. Wohnzi. Speisekammer Badezi.

Schlafzimmer

1 2 3 4 5

Alle Kupfer- und Blechglocken hängen an einer Feder, an jedem Klöppel befindet sich ein sternförmiges Pendel. Und jeder Raum im Haus, mit Ausnahme der Küche, hat einen Klingelzug: einen Hebel aus Messing und Keramik, der mit den langen Kupferdrähten verbunden ist, die in der Wand versteckt sind, unter den Leisten und dem Putz. Immer, wenn einer der Hebel in Bewegung gesetzt wird, ziehen die Drähte an Zapfen und Kurbeln und leiten die Bewegung weiter durch Zimmer, Flure und Etagen, bis sie in der Küche ankommt, wo sie die Spiralfeder einer der Glocken erschüttert, sodass diese laut und lange klingelt. Ich erinnere mich daran, wie diese Pendel noch Minuten weiterschwangen, nachdem das Klingeln schon aufgehört hatte. Manchmal, wenn El oder ich raten wollten, welche Zimmerglocke die jeweils andere geläutet hatte, stellten wir uns in die Eingangshalle. Ein Telepathietest, der niemanden überzeugte, weil jede Glocke einen ganz speziellen Klang hatte. Das Spiel langweilte uns bald; nur Mum schien es zu lieben. Sie klatschte in die Hände oder schenkte uns eins ihrer seltenen begeisterten Lächeln, wenn wir richtig rieten.

Das Klingeln ertönt erneut, lauter, schriller, und ich zucke zusammen. Ich starre die Glocke unter Schlafzimmer 3 an, als mir etwas ins Ohr flüstert:

Ein Ungeheuer ist im Haus.

Ich schaudere und beiße mir auf die Zunge. Keine der Glocken bewegt sich, auch keins der Pendel. Aber ich brauche viel zu lange, bis ich begreife, dass das Klingeln von der Haustür kommt. Herrgott noch mal. Ich gehe zurück in den Flur und atme langsam und gleichmäßig. Das ist nur der Jetlag. Das ist alles. Die Glastür steht offen. Die große rote Tür ist zu. Ich gehe auf Zehenspitzen auf den Spion zu, aber als ich hindurchspähe, sehe ich nur den Weg, das Gartentor, die eckig geschnittenen hohen Hecken. Es ist niemand da.

Meine Zehen berühren etwas Glattes und Kühles. Einen Umschlag, der auf der Türmatte aus Sackleinen liegt. CATRIONA steht in schwarzen Blockbuchstaben darauf. Keine Briefmarke und kein Stempel. Ich zögere, ihn aufzunehmen, tue es aber natürlich. Meine Finger sind ganz ungeschickt, als sie den Umschlag aufreißen, und ziehen die Karte heraus. Es ist eine Beileidskarte: eine schmale Vase voller cremefarbener Lilien, die mit einer Schleife zusammengebunden sind. Eine geprägte goldene Kursivschrift: Ich denke an dich.

Ich gehe zurück in den Flur und schließe die Tür. Verriegele sie. Öffne die Karte.

GEH

KAPITEL 4

Detective Inspector Rafiq ist eine dieser Frauen, die man zwar irgendwie gern wäre, aber dann doch wieder froh ist, nicht zu sein. Sie ist schlank und klein, doch ihre Stimme ist laut und ungeduldig, und sie spricht mit einem Glasgower Akzent, der mühelos alles andere übertönt. Ihr Haar ist schwarz, ihre Kleider sind schwarz, ihr Händedruck ist überraschend warm.

»Bitte, Miss Morgan, setzen Sie sich doch«, ist das Erste, was sie zu mir sagt, als wäre das hier ihr Haus.