Das Steinzeit-Virus - Xavier Müller - E-Book

Das Steinzeit-Virus E-Book

Xavier Müller

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Beschreibung

Wie viel Tier steckt noch in uns?

Kruger-Nationalpark, Südafrika: Von einem mysteriösen Virus befallen, mutiert ein Elefant innerhalb weniger Tage zu einer prähistorischen Spezies mit vier Stoßzähnen. Wenig später sind auch Affen, Zebras und andere Arten von der Epidemie betroffen. Während die französische Paläontologin Anna Meunier nach den Ursachen sucht, greift das Virus auf den Menschen über. Innerhalb weniger Tage wird die Zeit um Millionen Jahre zurückgedreht: Homo sapiens wird Homo erectus. Panik bricht aus in New York, Paris, Genf und bald auf der ganzen Welt angesichts dieser mit Fell überzogenen, stummen und unberechenbaren Gestalten. Meunier und ihr Team versuchen verzweifelt, die Regression der Menschheit zu stoppen. Und sie müssen sich die Frage stellen: Sind das noch Menschen oder Bestien, die es zu bekämpfen gilt?

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Seitenzahl: 501

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Das Buch

Von der Forschungsgemeinschaft belächelt, sucht die Paläontologin Anna Meunier seit Jahren nach Beweisen für ihre Theorie der spontanen evolutionsbiologischen Rückbildung von einzelnen Exemplaren einer Art. Dann wird sie in den Kruger-Nationalpark gerufen: Die Parkhüter sind auf ein Elefantenkalb gestoßen, das vier Stoßzähne ausgebildet hat. Tier­ärztliche Untersuchungen ergeben, dass es von einem Virus befallen ist. Bei einer Fahrt durch den Park macht Anna die beunruhigende Entdeckung, dass das unbekannte Virus bereits andere Tiere und sogar Pflanzen infiziert hat, die sich Millionen Jahre zurückentwickeln. Wird es vor der Artgrenze zum Menschen haltmachen? Oder hat es den Sprung längst geschafft? Anna und einem internationalen Expertenteam gelingt es, den Ursprungsort der mysteriösen Krankheit einzugrenzen: ein Hochsicherheitslabor im süd­afrikanischen Outback. Doch sie kommen zu spät: Das Labor wurde überstürzt verlassen, und einer der Wachleute ist seitdem spurlos verschwunden …

Der Autor

Xavier Müller ist Physiker und arbeitet in Frankreich als Wissenschaftsjournalist. »Das Steinzeit-Virus« ist sein erster in Deutschland veröffentlichter Roman, der es in Frankreich auf die Bestsellerlisten schaffte und von Presse und Publikum gefeiert wurde.

Xavier Müller

Das SteinzeitVirus

Thriller

aus dem Französischen von Bernd Stratthaus

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe ERECTUS erschien erstmals 2018 bei XO Éditions, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 09/2021 

Copyright © 2018 by Xavier Müller

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Wlad74, nienora, Kseniya Ivashkevich)

Satz: Buch-Werk­statt GmbH, Bad Aib­ling

ISBN: 978-3-641-25786-6V001

www.heyne.de

Für Laurence

Die Natur entwickelt sich nicht zurück; sie erzeugt nicht mehr das, was sie einmal zerstört hat, sie kehrt nicht zu der Form zurück, die sie einmal zerbrochen hat. Bei der unendlichen Zahl von Kombinationen, die die Zukunft bereithält, werden wir nie zweimal dieselbe Menschheit sehen, auch nicht dieselbe Flora oder Fauna.

EDGAR QUINET, 1870

Prolog Provinz Mpumalanga, Südafrika, 13. Juni

Petrus-Jacobus Willems wollte gerade seinen letzten Rundgang beginnen, als der Alarm ausgelöst wurde und die Starre dieses Sommertags durchbrach, ein schriller Ton an der Grenze des Erträglichen. Die Hündin Chaka stieß ein Knurren aus, das sich allmählich zu einem Jaulen auswuchs. Ihre Wirbelsäule wurde von Krämpfen geschüttelt, doch erstaunlicherweise machte sie Anstalten, sich zurückzuziehen, statt sich wie sonst auf die Bedrohung zu stürzen. Der Wachmann musste einmal fest an ihrer Kette ziehen, um sie wieder zur Ordnung zu rufen.

Mit einem Blick schätzte er die Lage ab. Hinter den Scheiben im ersten Stockwerk blinkte wütend ein rötliches Licht. Höchste Alarmstufe, dachte er, immer noch starr vor Schreck. Es war das erste Mal seit seinem Arbeitsantritt vor sechs Monaten, dass sich hier etwas Derartiges ereignete, und allmählich wurde er unruhig. Bei einem Zwischenfall waren die Vorschriften eindeutig: das gesamte Gebiet abriegeln, nachdem das Personal evakuiert worden war, keinerlei Versuch unternehmen, das Innere des Gebäudes zu betreten, dann das äußere Gitter absperren und sich entfernen. Sonst nichts.

Die Eingangstür flog krachend auf. Drei Männer in Labor­kitteln tauchten auf, die Gesichter waren mit Schutzmasken verhüllt. Sie stürmten in Richtung des Parkplatzes hinter dem Laboratorium. Dann erschien eine Frau. Sie war in Tränen aufgelöst. Petrus-Jacobus näherte sich ihr, wobei er darauf achtete, ruhig zu bleiben, um sie nicht noch mehr aufzuregen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Schwer atmend, als bekäme sie keine Luft, schüttelte sie den Kopf. Als sich das Gittertor langsam öffnete, veranlasste das Geräusch sich verbiegenden Blechs Petrus-Jacobus dazu, sich kurz umzudrehen. In ihrer Eile waren zwei der drei Labor­mitarbeiter mit ihren Autos aneinandergeschrammt. Was für Vollidioten! Fassungslos über ihre Dummheit verdrehte er die Augen, bevor er sich wieder der weinenden Frau zuwandte, doch auch diese eilte bereits zu ihrem staubigen Ford.

Als sie losfuhr, bemerkte er, dass zwei weitere Autos unter den Bäumen standen. Eins davon war sein eigenes, ein Pick-up, den er zu einem Schleuderpreis und für einen »besonderen Gefallen« erstanden hatte. Chaka entfuhr ein kurzer Kläffer des Protests, sodass er ein weiteres Mal an ihrer Kette riss und die Hündin dann weiterzog.

Der Doc erschien auf der Schwelle zum Laboratorium. Seine Gesichtshaut wirkte wächsern, seine Augen waren gerötet und traten ihm aus den Höhlen. Petrus-Jacobus hatte mit ihm in sechs Monaten kaum fünfzig Worte gewechselt, doch der Typ sollte die Einrichtung eigentlich leiten, und an ihn sollte er sich im Notfall wenden.

»Was ist denn da los?«

»Schließen Sie einfach ab, und verschwinden Sie dann von hier.«

»Und was ist mit Andries? Soll ich auf den warten?«

Andries Joubert war der zweite Wachmann, der heute nach ihm Dienst schob, ein wortkarger Kerl, nach dem man allerdings die Uhr stellen konnte.

»Ist nicht nötig. Er wird es schon kapieren, wenn er vor verschlossenem Tor steht. Oder ich rufe ihn an. Hauen Sie jetzt ab.«

»Und was ist mit dem Alarm? Lassen wir den einfach plärren?«

»Verdammte Scheiße … das ist ein automatisiertes System! Avanti!«

Der Mann machte auf dem Absatz kehrt und lief davon. Sobald er in seinem Angeber-Cabrio saß, fuhr er mit quietschenden Reifen an und wirbelte dabei eine Staubwolke auf, die den Wachmann und seine Hündin vollständig einhüllte.

Der Alarm heulte weiter ohrenbetäubend, aber der schrille Ton erschien ihm inzwischen weniger aggressiv. »Avanti!«, hatte der Doc ihn aufgefordert. Petrus-Jacobus konnte den Typen nicht leiden …

Die Panzertür des Gebäudes stand sperrangelweit offen. Sie war mit einem Code gesichert, den er niemals hatte knacken können. In sechs Monaten war das jetzt die erste Gelegenheit. Die einzige, dachte er. Er zögerte. Chaka schien sich inzwischen wieder eingekriegt zu haben. Was riskierte er schon? Das Laboratorium lag in einer Einöde, darauf hatten sie geachtet, und Andries traf erst in einer guten halben Stunde hier ein – falls sie ihn nicht vorher benachrichtigten. Eine derart günstige Gelegenheit würde sich nicht so schnell wieder bieten.

Nachdem er sich noch ein letztes Mal umgesehen hatte, beschloss der Wachmann hin­einzugehen. Chaka folgte ihm artig, doch er spürte ihren Widerwillen.

»Ganz sachte, meine Hübsche, wir drehen nur kurz eine Runde, dann hauen wir auch ab.«

Während er sich durch den weiß gekachelten Flur vorarbeitete, drangen die ersten Schreie an seine Ohren, unterbrochen von kurzen Stößen, als ob irgendwer versuchte, die Wände zum Einsturz zu bringen. Die Luft schien unter der Lautstärke des Alarms und des Gebrülls zu zittern. Petrus-Jacobus ­­­sagte sich, es wäre vielleicht besser umzukehren, doch andererseits hatte er sich jetzt darauf eingelassen und wusste, dass es hier Tiere gab. Er war sich diesbezüglich deshalb so sicher, weil er zufällig ein halbes Dutzend Lieferungen mitbekommen hatte. Am Ende hatten die Schreie auch ihr Gutes, denn so wusste er immerhin, in welche Richtung er gehen musste.

Schleichend ergriff Nervosität von ihm Besitz, und er beschleunigte seinen Schritt. Die Gelegenheit war einfach zu günstig; nach dieser Aktion könnte er sich einen Luxusurlaub leisten oder ein neues Gewehr wie das von Gus, dem Kumpel, mit dem er immer auf die Jagd ging. Seltsamerweise flößte Chakas Folgsamkeit ihm die nötige Menge Mut ein, um weiterzugehen. Die Boerboel-Hündin würde ihm bis in die Hölle folgen … und solange sie bei ihm war, fürchtete er sich nicht vor allzu vielen Dingen.

Durch die Türen, die das Laborpersonal aufgrund der überstürzten Flucht einfach hatte offen stehen lassen, entströmte dem Raum, aus dem die Schreie drangen, ein strenger Geruch. Hier waren also die Tiere untergebracht. Ihm fielen das gelb-schwarze Symbol, das Gefahr anzeigte, das überaus wichtige Magnetschloss sowie ein ebenfalls geöffneter Durchgang zu einem zweiten Raum an der hinteren Wand und eine Metalltreppe auf. Die gut zwanzig Affen waren in ihre Käfige gesperrt: Kapuzineraffen, Gibbons, Paviane und drei Meerkatzen, die vor Angst halb verrückt waren. Außerdem ein Schimpanse; logischerweise waren Experimente mit dieser Spezies nicht gestattet, aber wen scherte schon das Gesetz?

Petrus-Jacobus musterte ihn mit geschultem Auge, dann trat er näher zu ihm. Die Entscheidung für das Tier fiel, weil es das einzige war, das nicht brüllte. Er hätte seine Ausrüstung aus dem Auto holen sollen, ein Netz oder einen Korb, doch er hatte schon genug Zeit verloren, und es kam nicht infrage, noch einmal hierher zurückzukehren. Er durchwühlte die Taschen seines Anzugs und zog ein paar Handschuhe hervor, die er stets bei sich trug. Das Leder war dick genug, um ihn vor etwaigen Bissen zu schützen.

Der Käfig war nur mit einem einfachen Vorhängeschloss gesichert. Vorsichtig öffnete er die Gittertür. Das Tier schaute ihn verächtlich an, dabei wirkte es ein wenig teilnahmslos. Offenbar stand es unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln. Er streckte die Hand in den Käfig und zog es sanft zu sich heran. Auf einmal schien der Schimpanse wieder zum Leben zu erwachen – er stieß ihn von sich und sprang nach draußen auf den gefliesten Boden. Als er jedoch die Hündin bemerkte, erstarrte er. Chaka knurrte dumpf, bevor sie in Angriffsposition ging.

»Ruhig, Chaka! Sitz!«

Doch die Boerboel-Hündin hörte nicht auf ihn, sondern blieb weiterhin vor dem Affen stehen, der begonnen hatte, heftig auf seinen Hinterbeinen hin und her zu schaukeln, wobei er eine Reihe von Schreien ausstieß.

Alles geschah nun innerhalb eines Wimpernschlags. Der Primat warf sich nach vorn, die Hündin jaulte auf, das Jaulen wurde zu einem wütenden Gebell, und alles war vorbei, bevor Petrus-Jacobus die Gelegenheit zum Eingreifen erhielt.

»Verdammt, er hat dich gebissen!«

Der Schimpanse flüchtete auf einen Metallschrank und begann dort hysterisch zu jammern. Erst dann fiel dem Wachmann auf, dass der Alarm verstummt war und auch die Affen in den Käfigen keinen Mucks mehr von sich gaben. Alle starrten in seine Richtung, als wären sie fasziniert von der Szene, die sich gerade vor ihnen abgespielt hatte.

Es wäre doch idiotisch, mit leeren Händen wieder abzuziehen, vor allem jetzt, da sich die Tiere wieder beruhigt hatten! Der Schimpanse würde auf seinem Schrank sitzen bleiben, solange man ihn nicht angriff. Außerdem ließ sich ein Kapuzineraffe ohnehin leichter weiterverkaufen.

Während er aus dem Augenwinkel auf den Schrank schielte, entschied Petrus-Jacobus sich für ein Männchen, an dem keine Spuren irgendeiner Misshandlung sichtbar waren. Er öffnete den Käfig und packte den Affen mit erhöhter Vorsicht, doch das Tierchen schmiegte sich an ihn und drückte sein Köpfchen in die Falten seiner Jacke.

»Nichts wie weg hier!«

Chaka ließ sich nicht zweimal bitten und winselte vor Ungeduld. Trotzdem nahm er sich die Zeit, die Tür hinter sich zuzuziehen, bis er das Klicken des Magnetschlosses hörte. Sollten sich doch die anderen um den Schimpansen kümmern, das ging ihn nichts mehr an.

Er lief Richtung Ausgang, der Hündin hinterher. In dem langen Gang hallte die Stille bedrohlich wider, und diese Abwesenheit jedes Geräuschs erschien ihm inzwischen schlimmer als der Lärm. All das nur für ein Kapuzineräffchen … Ohne diese teuflische Panik hätte er den hinteren Raum auch noch durchsuchen können. Vielleicht hätte er dort Reptilien entdeckt, die noch besser verkäuflich waren.

Als er nach draußen trat, löste sich die gesamte Anspannung mit einem Mal, sodass er anhalten und Atem schöpfen musste. Chaka schüttelte sich kräftig und kläffte, den Kopf Richtung Parkplatz gedreht. Sie schien es offenkundig eilig zu haben, von hier wegzukommen. Er würde ihre Wunde untersuchen müssen. Affenbisse konnten gefährlich werden, auch wenn nur ein geringes Risiko bestand, dass der Schimpanse sich im Labor mit Tollwut angesteckt hatte. Die Angst hatte ihn aggressiv gemacht, das war wahrscheinlich alles.

Nachdem er den Affen in den Korb gesetzt und Chaka auf der Ladefläche des Pick-ups verstaut hatte, ging Willems noch einmal seiner ursprünglichen Anweisung folgend zum Tor zurück, um es mit einem Schlüssel zu verriegeln, der unabhängig vom Code funktionierte. Laut dem Doc waren zwei Sicherheitsmaßnahmen besser als eine. Er ­­­fragte sich, war­um. In dem Labor schien es, abgesehen von Türen und Schlössern, nicht allzu viel zu geben. Mit ein wenig Glück würden sie nach diesem Tohuwabohu zwangsweise ein paar Tage frei bekommen, Zeit genug, um das Kapuzineräffchen wieder loszuwerden. Der Affe konnte mit der nächsten Lieferung abtransportiert werden. Und wer würde in all dem Durcheinander schon darauf kommen, ihn zu beschuldigen?

Aus dem Gebäudeinneren hörte er Lärm, wahrscheinlich war irgendein Stahlmöbel umgefallen. Vielleicht der Schrank? Durchdringend schrille Schreie ertönten und schreckten ein paar Vögel auf, die sich flügelschlagend in die Luft erhoben. Der Schimpanse hatte offenbar einen der Käfige geöffnet, um einen seiner Artgenossen zu befreien … Nicht sein Problem.

Petrus-Jacobus ließ den Motor an. Plötzlich hatte er es sehr eilig, nach Hause zu kommen. Er würde sich erst einmal ein kaltes Bier genehmigen und Chakas Wunde versorgen. Vielleicht auch umgekehrt.

IErste Symptome

1Pretoria, 10. Juli 21

Cathy Crabbe wollte gerade in ein verlängertes Wochenende aufbrechen, als sie ein Päckchen auf der Fußmatte entdeckte. Irgendwer musste es dort abgestellt haben, während sie ihre Siebensachen zusammengesammelt hatte. Sie seufzte genervt. Hätten sie die Lieferung nicht am Empfang behalten oder sie einem der anderen Wissenschaftler geben können? Seit einer Ewigkeit hatte sie kein Tageslicht mehr gesehen, und in dem Moment, in dem sie aufbrechen wollte, drückte man ihr in letzter Minute noch irgendeine Arbeit aufs Auge!

Als Verantwortliche für die Forschungsabteilung für Zoonosen – Infektionen, die zwischen Tier und Mensch übertragbar waren – war die Vierzigjährige als unermüdliche Arbeiterin bekannt. Ziemlich groß und eher sportlich, eilte ihr der wohlverdiente Ruf von Effizienz und Lebhaftigkeit voraus. Das war allen im Labor bekannt, und manche nutzten es aus, um ihr dringende Arbeitsaufträge zuzuschieben. Diesmal kam ein Einknicken ihrerseits allerdings nicht infrage, die Analyse konnte noch bis zu ihrer Rückkehr warten. Sie schnappte sich den Karton, stopfte ihn in den Kühlschrank, in dem jene Proben und Produkte aufbewahrt wurden, die sie nicht sofort bearbeitete, und schlug die Tür zu. Sie war stolz auf ihre Entschlossenheit. Sie hatte Urlaub. Morgen früh wäre sie zeitig am Flughafen und würde in Richtung der Drakensberge abheben, der spektakulären Bergkette an der Südostküste des Landes.

Vor Verlassen des Labors entschied sie sich dennoch, einen Umweg über die Abteilung mit den lebenden Tieren einzuschlagen, um sich von ihrem Laboranten zu verabschieden. Bei dieser Gelegenheit würde sie ihm gleich Bescheid geben. Mike Jones war ein Student von unschätzbarem Wert, der fast so hart arbeitete wie sie selbst und ihr trotz seines ungewöhnlichen Werdegangs sehr vielversprechend erschien. Im Lauf der Monate war er zu ihrem Faktotum geworden: Assistent, rechte Hand, Sekretär.

Die Paviane waren gerade gefüttert worden und empfingen sie mit einer Kreischsalve, die ihre Trommelfelle durchbohrte. Normalerweise achtete Cathy gar nicht darauf. Es war höchste Zeit für eine Luftveränderung und eine Ruhepause … An den Käfigtüren stand auf einem Schild jeweils der Erreger, der im Blutkreislauf jedes einzelnen Tieres zirkulierte. Aus Gewohnheit betrachtete sie eines der Weibchen.

Der Laborant wandte kaum den Kopf zu ihr um, sondern konzentrierte sich ganz auf seinen kleinen Schützling, einen Gibbon mit schwarzem Fell, der außerdem einen prächtigen, wie ein menschenähnlicher Bart wirkenden Kragen aus weißen Haaren zur Schau trug.

»Mike, ich geh dann mal. Mein Handy nehme ich nicht mit. Falls in den nächsten Tagen ein Notfall reinkommt, sag einfach Bob Bescheid, ihr kriegt das auch ohne mich hin, ja?«

»Und falls eine Epidemie ausbricht, was dann?«, scherzte er.

»Ist mir egal, die ist dann dein Problem. Egal, ob Ebola, eine Flutwelle oder der Nobelpreis, ich bin für niemanden zu sprechen! Ich bin wandern ohne Handy und ohne Netz, ein absoluter Traum!«

»Kein Problem, Cathy, wenn irgendwer es hier nötig hat, mal ein bisschen auszuspannen, dann bist du das … Aber bevor du abhaust, schau dir nur mal dieses gerissene kleine Kerlchen an!«

Er setzte den Gibbon wieder in seinen Käfig zurück, schloss die Tür, hielt ihm einen Stift hin und beobachtete ihn, wobei er sich bemühte, seine Rührung zu verbergen. Bevor er von den Tierschutzbehörden des Zolls aufgegriffen worden war, hatte der Affe bei einer Privatperson gelebt und sich aus dieser Zeit offenbar eine gewisse Geselligkeit bewahrt. Er hätte gar nicht hier zwischen den ganzen Versuchstieren sein dürfen … Mike behielt seine Meinung allerdings für sich. Es war besser, bei diesem Thema nicht zu sentimental zu werden. In seinem Beruf waren solche Empfindlichkeiten nicht gern gesehen, vor allem nicht, seit die radikalen Tierschützer nicht zögerten, Maulwürfe in die Versuchslabore einzuschleusen, und dort Videos drehten, die im Netz hohe Wellen schlugen.

Mit einer geschmeidigen, sichtbar eingeübten Geste hebelte der Affe den Riegel des Schlosses mit dem Stift auf und stieß dann die Käfigtür auf. Als er frei war, streckte er die Hand aus, um als Belohnung eine Banane entgegenzunehmen. Diese schälte er anschließend mit ernster Miene.

»Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich die beste Idee des Jahrhunderts ist, Mike. Was, wenn er abhaut?«

»Er soll doch ohnehin bald ausgemustert werden, oder?«

»Wahrscheinlich, aber das ist nicht der Punkt. Außerdem weißt du genau, was ich von dieser Art von Vernarrtheit in die Tiere denke.«

»Ich weiß, aber … Kanzi ist doch was Besonderes, oder?«

»Nicht wirklich.«

Mike ließ es dabei bewenden. Seine Chefin war bis zu einem bestimmten Punkt liebenswürdig, solange man nicht mit den Vorschriften Schabernack trieb. Er schloss die Tür wieder und bastelte mithilfe eines Schnürsenkels ein behelfsmäßiges Sicherheitsschloss.

»Okay. Apropos was Besonderes, du hast vorhin jemanden verpasst.«

Cathy war mit den Gedanken schon woanders und ­­­fragte nur der Form halber nach. »Ach ja, wen denn?«

»Den alten Dany Abiker. Er hätte dich gern gesehen.«

»Dany Abiker, den Tierarzt aus dem Kruger-Nationalpark?«

»Genau den.«

»Was wollte er denn?«

»Er hat Proben vorbeigebracht.«

»Scheiße! Dann hast du mir das Päckchen auf die Fußmatte gelegt?«

»Ja. Das hätte ich nicht tun sollen, ich weiß, aber um ehrlich zu sein, hatte ich vergessen, dass du wegfährst. Ein weiterer Beweis dafür, dass du zu viel arbeitest.«

»Na ja, am Ende ist es mir lieber, wenn es von dir kommt. Ist denn eines seiner Tiere krank?«

»Ja.«

»Hat er dir was Genaueres dar­über gesagt?«

»Nein.«

Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, allem zu entfliehen, und dem Pflichtbewusstsein der arbeitswütigen Forscherin entschied Cathy sich für einen Mittelweg, indem sie die Dringlichkeit der Proben überprüfte. Dany Abiker verrichtete im Wildlife Center des Kruger-Nationalparks eine bemerkenswerte Arbeit, und es kam nicht infrage, ihn hängen zu lassen, ohne wenigstens einen Blick auf die Proben geworfen zu haben.

»Okay, ich schaue mir das genauer an.«

»Tut mir leid, ich wollte dir nicht den Urlaub versauen …«

»Weiß ich doch, ich brauche dafür höchstens eine halbe Stunde.«

Mike sah sie wieder in Richtung ihres Labors davongehen und gratulierte sich einmal mehr zu seinem Glück, mit ihr arbeiten zu können. Seit seinen ersten Schritten als Forscher war sie diejenige, von der er am meisten gelernt hatte, und außerdem war er bereit, sich voll für sie reinzuknien. Sie gehörte nicht nur zu den effizientesten und begabtesten Forscherinnen ihrer Zeit, sondern stellte sich auch nicht an, wenn es darum ging, ihre Erfahrung weiterzugeben, was keine Selbstverständlichkeit darstellte … Ja, er hatte wirklich großes Glück, an ihrer Seite arbeiten zu dürfen.

In der Styroporbox hatte der alte Dany zwei Blutproben, eine handgeschriebene Nachricht und einen Umschlag geschickt.

Könnten Sie das bitte analysieren, Cathy? Das Blut stammt von einem schwerkranken Elefantenkalb, das von einer ziemlich beunruhigenden anatomischen Anomalie betroffen ist, wie Sie sehen werden.

Übrigens: Meine Tochter betreibt ein paar Kilometer von hier eine Pension. Dort ist immer Platz für Sie … falls Sie nach wie vor Lust auf einen Besuch in meiner Zufluchtsstätte für die Tiere verspüren!

In dem Umschlag steckten mehrere Fotos des erkrankten Tieres. Die Anomalie war auf den ersten Blick zu erkennen: Das Elefantenkalb besaß vier Stoßzähne. Unter dem üblichen Paar wuchs ein zweites, kürzeres Paar von der Unterlippe abwärts. Eine einfache genetische Fehlbildung, schloss Cathy, als die erste Verblüffung sich gelegt hatte. Die eitrigen Wunden, die seine Haut durchfurchten, beunruhigten sie schon eher. Im Geist ging sie die Krankheiten durch, die solche Hautschäden verursachen konnten. Ein hämorrhagisches Fieber aufgrund einer Virusinfektion? Diese Art von Erkrankung, die bei Tieren äußerst selten vorkam, verwandelte die Haut in ein Zellpüree. Bei den aggressivsten Formen wie Ebola oder Lassafieber starb das Tier innerhalb weniger Tage.

Sorgfältig bereitete sie eine der Blutproben vor und startete eine Hämokultur, während sie zugleich versuchte, ihre schlimme Vorahnung zu relativieren. Es war sinnlos, voreilige Schlüsse zu ziehen. Wenn das Elefantenkalb an einer Anomalie litt, konnte es sich auch um etwas anderes handeln, vielleicht irgendeine eher gutartige Komplikation … Jedenfalls war der Arzt erfahren genug, um eine Quarantäne zu verhängen, falls das nicht sowieso schon geschehen war.

Als sie die Prozedur auf den Weg gebracht hatte, ging sie wieder nach unten, um Mike zu erklären, wie es nun weiter­gehen werde.

»Ich habe eine Hämokultur mit Dany Abikers Blutproben angesetzt. Mach bitte eine Analyse wegen viraler DNA und Antikörpern, dann starte einen Test an einem Affen, und wir sehen uns nach meiner Rückkehr das Ergebnis an.«

Der junge Mann senkte ohne zu antworten den Kopf. Sein Seufzen ähnelte einem Schluchzen.

»Was ist? Stört dich irgendwas?«

»Es ist nur …«

Er warf einen kurzen Blick auf Kanzis Käfig und fuhr dann kaum hörbar fort: »Alle anderen stecken schon in Testreihen. Nur er ist noch übrig …«

»Verstehst du jetzt, war­um ich dich gewarnt habe? Wir können uns nicht den Luxus erlauben, an einem der Primaten zu hängen, nicht hier! Sie gut behandeln, darauf achten, dass wir ihnen den Großteil der Qualen ersparen, das schon, aber es gibt klare Grenzen, und die hast du bei diesem Gibbon überschritten, weil du ihn zu deinem persönlichen kleinen Schützling gemacht hast.«

Mike nickte und lächelte tapfer. Man hätte ihn für ein gescholtenes Kind halten können.

»Ich weiß … Kannst du mir sagen, woher der Erreger stammt?«

»Von einem kranken Elefanten.« Unvermittelt wurde sie sanfter, gerührt von seiner traurigen Miene. »Mach dir keine Sorgen, das dürfte erst einmal kein Problem sein. Ich glaube nicht …«

Erst einmal … Der Laborant wartete, bis seine Vorgesetzte fort war, bevor er das Gesicht verzog. Er hatte keine Möglichkeit, Kanzi das zu ersparen, außerdem hatte er sich gerade eine Standpauke eingehandelt. Verdammt! Hätte er doch nur den Mund gehalten!

Er seufzte, zuckte mit den Achseln und wandte sich dann betont lässig dem Käfig zu, um den Gibbon nicht zu beunruhigen.

»Mach dir keine Sorgen, Alter. Es stammt von einem Elefanten, und du hast die Chefin ja gehört! Keine Chance, dass du dir sein dickes Virus einfängst!«

Fünf Tage später kehrte Cathy Crabbe braun gebrannt und voll frischem Tatendrang von ihrer Reise zurück und musste unverzüglich sämtliche Illusionen aufgeben. Im Labor herrschte das übliche Chaos eines stressigen Tages, und Mike war nirgends aufzufinden. Sie ­­­fragte sich, ob er das absichtlich so eingerichtet hatte, um sie für ihre Klarstellung bezüglich der Versuchstiere zu bestrafen.

Der Laborant hatte allerdings eine Nachricht für sie hinterlassen; sie stammte vom Vorabend und klang eher beunruhigend.

Die Suche nach einem Virus oder Antikörpern hat nichts ergeben, aber wir haben ein Problem: Die kranken Zellen des Elefantenkalbs haben sich weiter vermehrt.

»Scheiße!«, fluchte sie.

Denn dies bedeutete, dass der Erreger in ihrer Datenbank nicht verzeichnet war, und das verhieß nichts Gutes. Schnell holte sie eine der Petrischalen und legte eine Probe unter das Mikroskop. Was sie dort sah, ließ sie vor Entsetzen erzittern. Einige der Zellen hatten sich zersetzt, und Teile ihrer Membranen trieben in der Nährlösung. Als wären sie von innen her­aus explodiert. Innerhalb weniger Tage …

Was für ein Erreger verfügte über solch eine Kraft? Von vornher­ein schloss die Virologin die Möglichkeit aus, dass es sich um ein Bakterium handelte, denn das hätte auf jeden Fall unter dem Mikroskop sichtbar sein müssen, allerdings wies die Probe keinerlei derartige Spuren auf. Also ein Virus? Nur ein einziger Typ von Viruserkrankungen war in der Lage, derartige Schäden zu verursachen – ein hämorrhagisches Fieber. Doch das war genau die Möglichkeit, die sie verworfen hatte, um wandern gehen zu können, eine noch unbekannte Form von Ebola … Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch, um die allmählich aufsteigende Panik niederzukämpfen. Nein. Es konnte sich nicht um eine neue Ebolavariante handeln, das war unmöglich. Irgendetwas musste ihr hier entgehen.

Als sie die Untersuchung fortsetzte, zwang Cathy sich zu einer genauen Betrachtung, aber sie konnte mit der Probe anstellen, was sie wollte, ohne an der Feststellung vorbeizukommen, dass alle Kriterien eines bösartigen Fiebers zutrafen. Sie erhöhte die Vergrößerung und platzierte eine intakte Muskelzelle im Zentrum des Sichtfeldes. Was sich daraufhin vor ihren Augen abspielte, war wirklich erstaunlich: Statt die Zelle explodieren zu lassen, schien der Erreger sie diesmal eher einer Transformation zu unterziehen. Sie verrückte die Probe um einen Millimeter, blinzelte kurz, aber umsonst. In weniger als zwei Minuten hatte die Zelle sich in die Länge gestreckt, sodass sie nun einem Rugbyball ähnelte, dessen Enden sich zu feinen Wucherungen verjüngten. Verrückt oder nicht, die Metamorphose hatte tatsächlich stattgefunden, der Erreger hatte soeben eine grundlegende Mutation herbeigeführt, und die Muskelzelle war … zu etwas anderem geworden! Zu etwas, was einer Nervenzelle zum Verwechseln ähnlich sah. Eine Muskelzelle verwandelt sich in ein Neuron!, dachte sie aufgeregt.

Drei Mal wiederholte sie den Test. Ergebnis: Ein Viertel der Zellen hatten sich in Neuronen verwandelt. Die anderen hatten eine andere Transformation durchgemacht, die nur mit weiteren Untersuchungen zu bestimmen wäre.

Die Forscherin richtete sich verwirrt wieder auf. Einen Moment lang ­­­fragte sie sich, ob die Proben vertauscht worden waren. Doch das war absurd. Mike war vielleicht verärgert, aber solch einen Streich hätte er ihr nicht gespielt, solange er seine Stelle behalten wollte. Sie stieß sich ab, rollte mit ihrem Schemel zum Wandtelefon und wählte seine Nummer. Es läutete ein paarmal, dann landete sie bei der Mailbox.

»Sie haben die Nummer von Mike Jones gewählt. Hinterlassen Sie mir eine Nachricht, ich rufe dann zurück.«

Da sie nicht genau wusste, wie sie das Problem ansprechen sollte, schwieg sie erst kurz. Es war sinnlos, sich aufzuregen, bevor sie eine Erklärung erhalten hatte.

»Hallo Mike, hier ist Cathy. Ich bin wieder zurück im Labor und habe mir gerade die Proben des Elefantenkalbs angesehen. Die Ergebnisse sind ziemlich verwirrend, und ich wollte sichergehen, dass es keine Probleme damit gegeben hat. Wohin bist du verschwunden, zum Teufel?«

Sie hatte noch nicht aufgelegt, als sich schon die Tür hinter ihr öffnete. Der Laborant hielt sein Handy in der Hand und warf ihr einen verärgerten Blick zu.

»Ich hatte am Empfang hinterlassen, dass sie mir Bescheid geben sollten, sobald du wieder da bist. Wir hatten eine Lieferung: Ratten, Hunde, Primaten.«

»Na, dann haben sie es eben vergessen, und ich dachte schon, ich bin in ein Irrenhaus geraten! Ich habe dir gerade eine Nachricht …«

Mike schnitt ihr mit finsterer Miene das Wort ab.

»Es ist was mit Kanzi passiert.«

»Die Injektion?«, ­­­fragte sie beunruhigt.

»Ja. Zwei Stunden nach deiner Abreise hat er Fieber bekommen, und in der Nacht ist er dann ins Koma gefallen. Danach …«

Er wand sich, es war ihm unangenehm. Was Cathy zunächst für miese Laune gehalten hatte, kam ihr jetzt eher wie Angst vermischt mit Ratlosigkeit vor.

»Danach was? Er ist doch nicht etwa gestorben? Nicht so schnell?«

»Sieh es dir einfach selbst an …«

Sie gingen in den Raum mit den Labortieren. Mike zeigte auf ein gedrungenes Tier mit ungewöhnlich kurzen Armen, das nervös in seinem Käfig auf und ab tigerte. Cathy schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ist das einer von den neuen? Du hättest ihn woanders unterbringen sollen. Wo ist Kanzi?«

»Direkt vor dir.«

»Machst du Witze?«

Sie hatte zu laut gesprochen; das Tier regte sich plötzlich sehr auf, gestikulierte wild in seinem zu engen Käfig her­um und stieß dabei mit wütend zurückgezogenen Lefzen ohrenbetäubende Schreie aus. Cathy trotzte dem Gekreisch und versuchte sich zu konzentrieren, obwohl sie den Eindruck hatte, dass der Boden unter ihren Füßen wankte. Neutral bleiben und einfach nur beobachten. Da fiel ihr auf, dass er einen dreißig Zentimeter langen Schwanz hatte. Keine Gibbonart sollte überhaupt einen besitzen … Für diese Abweichung musste es natürlich einen logischen Grund geben, eine Entzündung oder eine ungewöhnliche Veränderung der Epidermis – aber es handelte sich ganz offensichtlich um einen Schwanz. Um der erschreckenden Idee nicht nachzugeben, die sich in ihrem Kopf zu formen begann, suchte sie nach einer alternativen Hypothese, fand aber keine. Es blieb nur eine Mutation … Doch das war völlig unmöglich. Genauso unmöglich wie eine Muskelzelle, die sich in eine Nervenzelle verwandelte …

Langsam sickerte das Offensichtliche zu ihr durch. Irgendwie hatte der Erreger eine Metamorphose bewirkt, und der Gibbon hatte sich unter der Einwirkung des Virus verwandelt, nicht nur auf zellulärer Ebene, sondern gleich der gesamte Organismus.

Auf einmal ergaben die Fotos, die Dany Abiker ihr geschickt hatte, vollkommen Sinn. Die zwei überzähligen Stoßzähne waren kein Anzeichen einer genetischen Anomalie bei dem Kalb, sondern ein Symptom seiner Krankheit.

»Wie konnte dieser Fortsatz sich nur derart schnell bilden? Und war­um überhaupt so eine Transformation?«, entfuhr es ihr fasziniert.

»Wie es passiert ist, weiß ich nicht, aber Gibbons hatten früher einmal einen Schwanz …«

»Du täuschst dich bei der Art, Mike.«

»Ich rede von der Zeit vor dreißig Millionen Jahren.«

»Also … Du glaubst, es handelt sich um eine Art … Regression?«

Ohne eine weitere Antwort zuckte der junge Mann nur mit den Schultern. Er wirkte vollkommen überfordert.

»Hast du Bob davon erzählt?«

»Nein. Ich wollte lieber auf dich warten.«

»Gut gemacht. Hör zu, wir sollten uns jetzt nicht verrückt machen …«

Die Virologin war sich bewusst, dass sie nun zwar schnell handeln musste, aber nichts überstürzen durfte. Vor allem musste sie ihre Beobachtungen durch ihren Kollegen Bob Terrence gegenchecken lassen, und danach würde sie sich mit Jonathan Joss in Verbindung setzen, dem Leiter des nationalen Seucheninstituts in Johannesburg. Dieser Typ war eine wandelnde Enzyklopädie und in der Lage, Hunderte von Krankheitserregern zu identifizieren. Wenn derartige Symptome bereits irgendwo einmal beschrieben worden waren, hätte er wahrscheinlich davon gehört.

Während sie sich noch eine Strategie zurechtlegte, hatte sich die Aufregung des Affen zu einem ausgewachsenen Wutanfall entwickelt. Mit der Wucht eines Springbocks warf er sich gegen das Gitter. Plötzlich änderte er seine Taktik, ließ den Arm vorschnellen und erwischte Mike im Vorbeigehen. Der Laborant stieß einen Schrei aus und wich mit einem Satz zurück, während er sich das Ohr hielt. Cathy sah, dass er schwankte.

»Alles in Ordnung?«

»Ja, er hat mich nur gezwickt, glaube ich. Blutet es?«

Die Wissenschaftlerin untersuchte die gerötete Haut, sah aber keinen Kratzer, sodass sie einen erleichterten Seufzer ausstieß. Es fehlte jetzt nur noch, dass Mike sich infizierte.

»Alles gut. Ich habe schon befürchtet, dass er dich verletzt hat. Allerdings scheint er dir etwas geklaut zu haben!«

Tatsächlich hatte der Gibbon seinen Angriff dazu genutzt, ihm einen Filzstift aus dem Laborkittel zu ziehen, an dem er jetzt, plötzlich wieder ganz ruhig, schnüffelte.

»Versuch ihm den wieder abzunehmen. Wenn er das Schloss aufbricht, kann er vielleicht Schaden anrichten, und in seinem Zustand …«

Sie verstummte, während sich ihr eine finstere Vorstellung aufdrängte: das Tier auf der Flucht durch die Gänge des Gebäudes, in den Adern einen Krankheitserreger, der in der Lage war, Organismen umzuprogrammieren. Und all das nur, weil Mike die blendende Idee gehabt hatte, ihm ein Kunststückchen beizubringen!

Mike schüttelte den Kopf, bevor er sich vorsichtig dem Käfig näherte.

»Kanzi, mein Alter … Alles ist gut. Willst du mir das Ding nicht zurückgeben?«

Der Affe ignorierte ihn. Aber statt sich wie üblich am Schloss zu schaffen zu machen, kaute er einfach nur auf dem Stift her­um, warf ihn dann in die Ecke und fing an, heftig vor und zurück zu schaukeln, als ertrüge er das Eingesperrtsein nicht. Nicht mehr. Man hätte meinen können, er sei in seinen wilden Zustand zurückgefallen. Seit er wieder aus dem Koma erwacht war, beachtete er Mike auch überhaupt nicht mehr, als hätte er ihn ganz einfach vergessen. Weder seine Stimme noch sein Geruch hatten dar­an irgendetwas geändert, und den jungen Mann machte das seltsam traurig. Woher kam dieser hartnäckige Eindruck, ihn verloren zu haben?

Er nutzte die Atempause und holte sich den Stift wieder, den er dann wie eine Trophäe vor der Nase seiner Chefin schwenkte. Cathy deutete mit besorgter Miene ein freud­loses Lächeln an.

»Gut. Wir haben ziemlich viel Arbeit vor uns. Mach ein paar weitere Zellkulturen mit dem Rest der Proben von Dany Abiker. Zuerst müssen wir sicherstellen, dass wir uns nicht täuschen. Es kommt nicht infrage, falsche Schlussfolgerungen zu ziehen. Kannst du dir den Abend freischaufeln?«

»Wenn es sein muss, sogar die Nacht.«

Gegen 23.30 Uhr verfasste Cathy Crabbe trotz ihrer Erschöpfung ihren Warnbericht. Gerade hatte sie die Ergebnisse der Untersuchung mit dem Elektronenmikroskop bekommen. Nicht alle Viren waren groß genug, um in diesen Mikroskopen sichtbar zu sein, aber dieses war es. Es war sogar monströs. Das Schwarz-Weiß-Bild zeigte eine Art Faden von zehn Mikrometern Länge – ungefähr ein Zwanzigstel des Durchmessers eines Haares. An einem Ende gabelte das Virus sich zu einem Dreizack. Mit seiner länglichen Form war es allerdings als ein Mitglied der Familie der Filoviridae zu erkennen, zu der auch Ebola und das Marburg-Virus zählten.

Bob hatte ihre Schlussfolgerungen bestätigt, und sie hatte sich außerdem noch mit Jonathan Joss unterhalten.

Die Virologin konnte dem Virus nun einen Namen geben. In der Welt der Biologie war es üblich, ihn nach dem Ort seiner Entdeckung zu benennen.

Als sie eine Stunde später fertig war, hängte sie das Bild des Dreizacks an ihre Mail an und informierte dann mit einem Mausklick alle Mitglieder des Netzwerks der Gesundheitsüberwachung, zu dem auch ihr eigenes Labor gehörte.

ERKLÄRUNG ZU EINER UNBEKANNTEN KRANKHEIT

Beobachtet an: Einem Elefantenkalb (Blutuntersuchung und fotografische Dokumentation) und einem Gibbon (infiziert mit dem Blut des Elefantenkalbs).

Art der Beobachtung: Körperliche Deformation. Auf den ersten Blick scheint das Tier sich evolutionär »zurückzuentwickeln« (Schlussfolgerung anhand der Untersuchung des Gibbons; bisher keine Möglichkeit der Bestätigung am Elefantenkalb). Siehe auch Beschreibung und angehängte Fotos.

Art der Übertragung: Blut.

Inkubationszeit: Wenige Stunden.

Überträger: Unbekannt.

Mögliche Ansteckungsgefahr für den Menschen: Test an Blutzellen durchgeführt, keine sichtbare Reaktion.

Ort der Beobachtung: Südafrika, Wildlife Center des Kruger-Nationalparks, und virologisches Labor in Pretoria.

Art des Erregers: Filovirus.

Name des Erregers: Als Name wird VIRUS KRUGER vorgeschlagen.

Stephen Gordon rieb sich lange die Augen. Er musste seine gesamte Konzentration aufbringen, um das Gerücht bestmöglich zu verarbeiten, das seit einigen Tagen durch die Flure der Weltgesundheitsorganisation in Genf geisterte. Es war von Mitarbeitern des südafrikanischen Gesundheitsministeriums in die Welt gesetzt worden. In einem Labor in Pretoria sollte ein Virus entdeckt worden sein, das zu Deformationen bei seinem tierischen Wirt führte. Laut der Autorin des Berichts erinnerten diese Deformationen an alte morphologische Merkmale, die vor Millionen von Jahren der infizierten Spezies zu eigen gewesen waren. Die gelinde gesagt kühne Schlussfolgerung lautete, dass der Krankheitserreger in der Lage sei, diese Merkmale wieder zum Vorschein zu bringen. Die fragliche Biologin, eine gewisse Cathy Crabbe, war zur Zielscheibe des Spotts geworden, und ihr »Kruger-Virus« hatte man in »Höhlenvirus« umgetauft.

Vorerst sah Stephen Gordon darin nur ein Ammenmärchen. Doch seine Stellung als Leiter der Seuchenabteilung verpflichtete ihn, keinerlei Risiko einzugehen. Er konnte dieses Problem genauso gut gleich aus dem Weg schaffen: Statt die Arbeit zu delegieren, wie es der Großteil seiner Kollegen in verantwortlicher Position tat, entschloss er sich, die Information an der Quelle zu überprüfen, indem er mit dieser Mrs. Crabbe telefonierte, die bereit war, allen Konventionen zu trotzen. Im Alter von achtundvierzig Jahren genoss der Engländer mit dem typisch britischen Humor einen Ruf absoluter Effizienz, der für seine Institution nicht in gleichem Maße galt. Als studierter Arzt, der sich auf dem Gebiet auskannte, drosch er niemals Phrasen (er gab vor, sie nicht zu verstehen) und scherte sich ausgesprochen wenig um die Vorteile, die seine Position mit sich brachte. So weit wie möglich vermied er Besprechungen, ackerte seine Akten durch, bis er ihre feinsten Details kannte, und gab sich niemals mit diplomatisch verfassten Berichten zufrieden. Doch wenn der Mann bei der WHO fehl am Platz zu sein schien, dann vor allem aufgrund seines Werdegangs. Fünfzehn Jahre lang war er im tropischen Afrika den Spuren dort auftretender Viren bis in die entlegensten Regionen des Regenwalds gefolgt. Während einer Mission im Kongo hatte er sich Malaria eingefangen, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte, während er von heftigem Fieber in einem gottverlassenen Nest festgehalten worden war. Er wusste, dass dieser Dreck, verschanzt in seiner Leber, ihm sein ganzes Leben lang zu schaffen machen würde und er ständig dem Risiko eines Rückfalls ausgesetzt wäre, der schwerwiegende Komplikationen mit sich bringen konnte. Selbst wenn er sich entschlossen hatte, dieses Damoklesschwert zu ignorieren, steckte die Krankheit in ihm und erinnerte ihn ununterbrochen an seine Berufung. Dann war da noch seine Tochter, gefangen in ihrem seltsamen Zustand. Sie war der eigentliche Grund für Stephen Gordon, immer weiterzukämpfen.

Durch seine Vergangenheit als Virenjäger war der Arzt zu einer Gewissheit gelangt: Der unsichtbare Kampf, den die Menschheit gegen die Mikroben führte, verlangte es, dass man sämtlichen Spuren folgte, selbst den unwahrscheinlichsten. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Ausrottung von Mikroorganismen, die sich in fortwährender Evolution befanden, extreme Umsicht erforderte. Die Gefahr konnte überall lauern, an jedem Ort dieses Planeten. Und damit eine Epidemie ausbrach, genügte es, dass eine einzelne Mikrobe einen einzigartigen Organismus befiel. Zu Anfang des Jahrhunderts wusste der Buschwildjäger irgendwo in Westafrika, der sich mit dem Blut eines Schimpansen infizierte, ja auch nicht, dass er damit ungefähr achtzig Jahre später für zwanzig Millionen Aids-Tote sorgen würde.

Der Bericht der südafrikanischen Virologin war zwei Tage zuvor auf seinem Schreibtisch gelandet, nachdem er zunächst durch alle erforderlichen bürokratischen Kanäle geflossen war, doch erst gestern Abend hatte er bei sich zu Hause die Akte gelesen. Etwas an der trockenen Darstellung dieses Berichts hatte ihn alarmiert, die beigefügten Untersuchungen und Überprüfungen der Ergebnisse ebenfalls. Darum hatte er seine Sekretärin gebeten, im Labor in Pretoria anzurufen, um einen Telefontermin auszumachen. Wie es seine Art war, kam er direkt zur Sache.

»Mrs. Crabbe, es ist schön, Sie sprechen zu können. Wir haben Ihren Bericht gelesen, und ich kann nicht verhehlen, dass er in unserer Institution einige Wellen geschlagen hat. Außerdem wüsste ich gern so viel wie möglich dar­über, bevor wir eine Warnung der Stufe 1 rausgeben. Für die grundlegenden Fakten habe ich die Akte, die Sie zusammengestellt haben. Was mich interessiert, sind Ihre Geschichte, Ihre Eindrücke, Ihre Intuition …«

Cathy Crabbe hätte am liebsten vor Erleichterung geweint. Diese schnörkellosen Äußerungen bedeuteten Balsam für ihre Seele. Seit sie den Bericht abgeschickt hatte, hatte sie kaum noch ein Auge zugetan. Drei Wochen hatte sie gekämpft, um sich Gehör zu verschaffen. Da ihr aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft nur Unglaube und Spott entgegengeschlagen waren, fürchtete sie sich vor einer Diskussion mit einem weiteren Beamten … Plötzlich erinnerte sie sich an ein Porträt, das sie über diesen Gordon in der Zeitschrift der WHO gelesen hatte, die dreimal im Jahr auf ihrem Schreibtisch landete. Ihm eilte der Ruf großer Zielstrebigkeit und eines ziemlich verwegenen Looks inmitten all seiner Anzug und Krawatten tragenden Kollegen voraus. Auf den Fotos zum Artikel posierte er in Hawaiihemd und verwaschener Jeans. Der seltene Fall war eingetreten, dass sie von den Bildern angesprochen wurde, denn er hatte ihr gefallen. Sie erinnerte sich an einen athletischen, langhaarigen Mann mit strahlendem Lächeln, das allerdings sanft genug war, um die Strenge seines Blicks abzumildern – kurzum, er hatte gewirkt wie ein Abenteurer oder ein Rockstar à la Iggy Pop.

Im Augenblick hätte Gordon aber auch hässlich wie die Nacht sein können, denn für die Virologin zählte nur eins: Sie wollte jemandem ihre Erkenntnisse mitteilen, ohne befürchten zu müssen, lächerlich gemacht oder angezweifelt zu werden. Das tat sie in ruhigem Ton sowie dadurch, dass sie sich zwang, kein Detail auszulassen, und während sie ihre Geschichte erzählte – über das Päckchen, ihre fünftägige Wandertour, die Tests, die sie durchgeführt hatte, ihren Besuch im Kruger-Nationalpark und den aktuellen Gesundheitszustand des Elefantenkalbs –, wurde ihr bewusst, dass sie tief im Inneren kein gutes Gefühl bei der Sache hatte. Sondern ein sehr schlechtes. Bis jetzt war sie zu beschäftigt damit gewesen, sich zu verteidigen oder zu arbeiten, und sie hatte kaum Zeit gefunden, in sich zu gehen und nachzudenken. Aufgrund der Freundlichkeit ihres Gesprächspartners ließ sie nun endlich her­aus, was ihr schon die ganze Zeit im Kopf her­umspukte.

»Ich fürchte, wir stehen an der Schwelle zu einer Katastrophe.«

»So schlimm?«

»Hoffentlich täusche ich mich …«

»Hören Sie, Mrs. Crabbe, ich kann Ihnen nichts versprechen, aber ich versichere Ihnen, dass Ihr Bericht hier nicht auf unbestimmte Zeit verschimmeln wird. Heute Nachmittag muss ich zu einer Konferenz, aber ich halte Sie schnellstmöglich auf dem Laufenden.«

Als er dann im großen, halbrunden Saal der WHO saß, in dem ein Vortrag im Rahmen der »Woche der neuen viralen Bedrohungen« gehalten wurde, konnte Stephen nicht aufhören, immer wieder über Cathy Crabbes Worte nachzudenken sowie über das Virus, das niemand unter den Anwesenden zu kennen schien. Er hatte zaghaft gehofft, dass irgendwer es erwähnen würde, doch die Warnung, die vom Labor in Pretoria ausgelöst worden war, hatte ganz offensichtlich nicht den erwarteten Effekt erzielt, wenn man von den Spötteleien auf den Gängen absah.

Am Ende der Konferenz signalisierte ein ersticktes Gitarrenriff, dass ihn jemand auf dem Handy anrief. Auf dem Display erschien der Name Nicolas Barenskis, des Direktors des Naturkundemuseums in Paris. Stephen hatte ihm nach Beendigung des Gesprächs mit Cathy Crabbe die Fotos des Elefantenkalbs geschickt.

Die beiden Männer hatten sich im Jahr 2004 in Paris kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt war Stephen gerade erst zum Leiter der Seuchenabteilung ernannt worden und hatte sich gleich mit der Vogelgrippe her­umschlagen müssen, die als eine der ernstesten Bedrohungen der letzten dreißig Jahre betrachtet worden war. Einige Forscher bei der WHO hatten die Hypothese aufgestellt, dass der Erreger vielleicht schon in der Vergangenheit grassiert habe. Stephen gehörte zu den Verfechtern dieser Theorie, woher auch sein Interesse für Paläontologie rührte.

Barenski hatte ihn damals in seinem prächtigen Büro im Haussmann-Stil empfangen. Vor der alten Holzvertäfelung hatten sich Regale bis zur Decke erhoben, randvoll mit Fossilien und Büchern. Mit seinem pomadisierten und streng gescheitelten Haar, seinem hageren Gesicht und den schmalen Lippen kultivierte der Paläontologe ein aristokratisches Erscheinungsbild und schien, ganz wie seine Fundstücke, aus einer anderen Epoche zu stammen. Trotz ihrer Unterschiede war der Funke zwischen ihnen sofort übergesprungen, und ihr Treffen hatte bei einer Flasche altem Scotch in einer Bar in Austerlitz geendet, wo sie sowohl eindrückliche Anekdoten als auch Visitenkarten austauschten.

Stephen vergaß seinen Ärger und nahm das Gespräch schwungvoll entgegen.

»Nicolas! Sie sind ja schneller als der Blitz, wie schön, von Ihnen zu hören! Also, was denken Sie über diesen Elefanten?«

»Was ich von ihm denke? Machen Sie Witze? Sie könnten mich genauso gut fragen, ob ich mich für den Yeti interessiere, wenn ich sein Foto als Beweis vorliegen hätte. Sind Sie sicher, dass es sich hier nicht um einen Scherz handelt?«

»Unmöglich, es ist keine Fälschung, das garantiere ich Ihnen. Die Virologin war vor vierzehn Tagen vor Ort in dem Nationalpark, in dem der Elefant gehalten wird. Das Tier hat wieder eine robuste Gesundheit entwickelt und seine Stoßzähne behalten.«

»Stephen, diese Fotos sind erschreckend. Bei der Art handelt es sich um ein Gomphotherium, ein Vorfahr unserer Elefanten …«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Eine Reihe von Merkmalen unterscheiden ihn von einem heutigen Elefanten. Nehmen Sie nur seine Stoßzähne, und ich rede jetzt gar nicht von ihrer Anzahl – Sie sind abwärts gebogen.«

»Und das genügt, um das Exemplar als Vorfahren der modernen Elefanten einzustufen?«

»Sie haben mich ganz richtig verstanden.«

»Das Elefantenkalb könnte also nicht an irgendeiner Deformation leiden?«

»Das wären dann jedenfalls gleich mehrere Deformationen, die zu allem Überfluss genau den mehrere Tausend Jahre alten Merkmalen entsprechen …«

Stephen schwieg; er brauchte Zeit, um zu verdauen, was er gerade gehört hatte. Cathy Crabbes schlimme Vorahnung begann allmählich auch ihn zu überkommen. Am anderen Ende der Leitung riss Barenski ihn aus seinen Grübeleien.

»Sind Sie noch dran?«

»Ja, Entschuldigung. Ich muss Ihnen gestehen, dass mich die Tatsache verstört, dass ein Virus in der Lage sein soll, ein Tier in eine Art älteren Verwandten seiner selbst zu verwandeln.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Sie haben doch gerade bestätigt, dass …«

»Ich habe Ihnen nur erklärt, welcher Spezies Ihr Elefantenkalb angehört, sonst nichts. Ich treffe damit keine Aussage dar­über, wodurch dieses Phänomen verursacht wurde.«

Barenskis Stimme klang auf einmal, als fühlte er sich unwohl. Stephen konnte es nicht recht einordnen.

Barenski fuhr ein wenig zögerlicher fort: »Aber im vorliegenden Fall kann ich nicht umhin, an die, sagen wir … sehr umstrittene Theorie Anna Meuniers zu denken.«

»Anna … wer?«

»Anna Meunier, eine Paläontologin, die mit unserem Museum in Verbindung steht und die vorgibt, dass Tiere an bestimmten Punkten ihrer Evolution manchmal in ein früheres Stadium zurückfallen und morphologische Merkmale aufweisen, die ihre Art eigentlich schon vor langer Zeit verloren hat. Es ist wohl unnötig, Ihnen zu erklären, dass diese junge Dame die gesamte wissenschaftliche Gemeinschaft gegen sich aufgebracht hat.«

»Sie inbegriffen?«

»Das würde ich so nicht sagen. Anna ist brillant, sie besitzt einen phänomenalen Arbeitseifer, aber auch ein paar weniger gute Charakterzüge: Sturheit, einen gewissen Hang zur Radikalität und eine Art, Schlüsse zu ziehen, die ich als überstürzt charakterisieren würde.«

»Ist ihre Theorie denn wirklich so absurd?«

»Ich möchte offen mit Ihnen sprechen, Stephen. In unserer Disziplin gibt es eine Regel, die stillschweigend akzeptiert wird – das Dollo’sche Gesetz. Im Kern besagt es, dass die Evolution sich nur in eine Richtung bewegt. Ein Pfeil, der auf die Zukunft gerichtet ist. Um Ihnen ein konkretes Beispiel zu geben: Schlangen werden nie mehr wieder die Beine entwickeln, die ihre Eidechsenvorfahren besaßen. Oder es müsste über Millionen von Jahren hinweg geschehen, um sich an eine neue Umgebung anzupassen … Die Vorstellung einer möglichen Regression der Arten wäre … wie soll ich es ausdrücken …«

»Es handelt sich hier also schlussendlich um eine Anomalie?«

»Möglich …«, erwiderte der Museumsdirektor ein wenig ratlos. »Aber es gibt die Fotos von diesem Elefantenkalb. Und tatsächlich bringt diese Tatsache das Bild ziemlich durcheinander.«

»Sie wollen wirklich keinerlei Risiko eingehen, Nicolas. Und wenn ich mich an diese Anna Meunier wenden würde?«

Daraufhin entstand ein kurzes Schweigen. Als Barenski es schließlich brach, klang er verärgert.

»Stephen, noch einmal, Anna ist eine ungewöhnliche Person. Ich habe alles dafür getan, sie zu schützen, aber als ich bemerkt habe, dass sie einfach auf ihren Standpunkten beharrte, ohne sich um den Ruf des Museums zu kümmern, musste ich mich von ihr distanzieren. Seit zwei Jahren ist sie jetzt bei Ausgrabungen in Neuguinea. Die Zurückweisung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft zwingt sie dazu, praktisch allein zu arbeiten. Sie hat um sich eine Gruppe von treuen Anhängern versammelt, eher ungewöhnliche Studentinnen und Studenten, die von ihrer bilderstürmerischen Haltung beeindruckt sind. Ganz ehrlich, Stephen, ich bezweifle, dass Sie von ihr irgendeine verlässliche Antwort bekommen. Tun Sie mir den Gefallen, und vergessen Sie ihren Namen wieder. Ich hätte Ihnen gar nicht von ihr erzählen sollen.«

»In Ordnung, ich denke dar­über nach. Danke für die Hilfe. Ich habe jetzt den Eindruck, die Situation besser einschätzen zu können.«

»Schön, wenn ich Ihnen behilflich sein konnte. Halten Sie mich auf dem Laufenden, wie sich die Dinge entwickeln.«

»Selbstverständlich.«

Im Laufe ihres Gesprächs war er zu seinem Parkplatz gegangen. Es war ein wunderschöner Tag, was er erst jetzt bemerkte. Stephen beschleunigte den Schritt und ging zu seinem Auto, einem alten rot-beigen Mercedes. Der Sammler, der ihm das Gefährt verkaufte, hatte geschworen, der Wagen habe früher einmal Mick Jagger gehört. Die Geschichte gefiel ihm. Nicht so sehr die Vorstellung, dass der Sänger hinter dem Bakelitlenkrad gesessen hatte, sondern vielmehr das Ausmaß des Bewunderungseifers, das einen dazu brachte, an dergleichen zu glauben …

Während er am Ufer des Genfer Sees entlangfuhr, dachte Stephen über den Widerwillen nach, mit dem Barenski über seinen ehemaligen Schützling gesprochen hatte. Spontan neigte Stephen dazu, seinem Urteil zu vertrauen, doch irgendetwas störte ihn, und er ­­­fragte sich, ob der wackere Alte nicht gerade dabei war zu verknöchern, falls nicht die Verpflichtungen seines Amtes seine Begeisterungsfähigkeit gemindert hatten. Gordon konnte ein Lied davon singen, wie schwierig es war, gegen den Konformismus des eigenen Milieus anzukämpfen, vor allem, wenn man große Verantwortung trug …

Aus einer Laune her­aus stoppte er den Mercedes auf dem Seitenstreifen und tippte Anna Meuniers Namen bei Google ein. Es ergab mehrere Hundert Treffer. Was aus den ersten beiden Artikeln hervorging, war deutlich interessanter als das Porträt der verschrobenen Abweichlerin, das Barenski von ihr gezeichnet hatte. Anna Meunier war eine hochbegabte Paläontologin. Mit sechsunddreißig Jahren hatte sie bereits zehn Ausgrabungen hinter sich und war bei diesen auf vier neue Dinosaurierarten gestoßen, drei in Argentinien, eine in Turkmenistan. Ein Journalist, den sie spürbar für sich gewonnen hatte, beschrieb sie als unvergleichlich einfallsreich, eine Art Lara Croft der Paläontologie. Er behauptete, dass es der jungen Forscherin trotz ihrer Randständigkeit stets ohne Probleme gelang, einen Finanzier für ihre Expeditionen zu finden. Sein Porträt endete mit drei Adjektiven: »brillant, gewitzt, bodenständig.« In einem anderen populärwissenschaftlichen Artikel bemerkte der Redakteur, dass sich ihr Erfolg aus einer »explosiven Mischung von minutiöser Vorbereitung und Glück« speise. Das bewies etwa der Umstand, dass sie nie eine Forschungsreise antrat, ohne sich vorher mit den örtlichen geologischen Gegebenheiten vertraut zu machen, und unberührte Ausgrabungsstätten bevorzugte, bei denen es zwar keineswegs sicher war, dass sie etwas fand, die dafür im Erfolgsfall aber großes Renommee garantierten.

Stephen pfiff durch die Zähne. Merkwürdig. Keine dieser Informationen deckte sich mit dem Bild einer radikalen Spinnerin, das Nicolas ihm von ihr gezeichnet hatte. Ganz im Gegenteil erschien Anna Meunier als eine Person, die die Regeln ihrer Zunft perfekt verinnerlicht hatte und wusste, wie man sie zum eigenen Vorteil beugen musste. Sie wirkte zielstrebig.

Er klickte auf eins ihrer Fotos und war innerlich erschüttert, als er sie sah. Wie eine unwirkliche Erscheinung stand sie auf der staubigen Fläche eines Berghangs. Ihr Haar wurde gleich einer braunen Flamme vom Wind verweht. Sie hielt sich aufrecht, die Hände in die Hüften gestemmt, den Blick in die Ferne gerichtet. Ihre Augen waren von einem ungewöhnlichen Grün, und sie kniff sie vor dem Licht zusammen. Ihr erdverkrustetes T-Shirt ließ eine üppige Brust erahnen. Im Hintergrund bog sich ein Zelt im böigen Wind. Das Foto war in Argentinien aufgenommen worden, in der patagonischen Wüste. Diese Frau mit den Katzenaugen war von unerhörter Schönheit. Sie erinnerte ihn eher an die Heldin aus Twilight als an die Abenteurerin aus Tomb Raider. Er war zwar kein Fan der Serie, aber seine Tochter sah sie sich seit Monaten in Dauerschleife unermüdlich an.

Hier war sie also, die Querdenkerin, die behauptete, dass sich die Evolution umkehren könne … Eigentlich hatte er eine weniger junge Frau erwartet, auch eine weniger verführerische. Irgendeine robuste Person, die ihren Kolleginnen und Kollegen die Stirn bot und nur ihrem eigenen Instinkt gehorchte. Die Art von Mut, die er selbst vor Jahren hatte aufbringen müssen, als er sich ins Ebola-Gebiet mitten im tropischen Urwald vorgewagt hatte.

Er musste gar nicht mehr über sie wissen. Anna Meunier gefiel ihm schon jetzt.

Er suchte die Nummer seines Kollegen her­aus und rief ihn an.

»Lucas, ich brauche deine Hilfe … Was hältst du von einer kleinen Reise in die Sonne?«

Schlammbedeckt von Kopf bis Fuß, betrachtete Anna das vom Fels gefangene Fossil im Herzen einer Höhle. Ihr eigenes Herz schlug dabei so heftig, dass sie das Pulsieren in den schmerzenden Schläfen spürte. Dehydrierung, dachte sie. Ihre Thermosflasche hatte sie im Zelt gelassen. Zu weit. Es kam nicht infrage, den Zauber zu durchbrechen, der sie schwindlig machte. Um sie her­um waren die Studierenden verstummt und warteten nun auf ein Wort von ihr, doch sie brachte keins her­aus; ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Tier ähnelte einem Archäopteryx, jener ersten Flugsaurierart, die im 19. Jahrhundert katalogisiert worden war. Seine Flügel waren krallenbewehrt, und sein Körper endete in einem mit imposanten, pfauenartigen Federn geschmückten Schwanz. Die Zähne ragten in kleinen Wölbungen aus seinem Kiefer hervor, sie waren das deutlichste Anzeichen seiner Dinosaurier-Abstammung.

Im Schein der Fackeln leuchteten die Knochen wie Intarsien. Das Skelett war nicht nur vollständig, sondern jede einzelne Feder hatte auch einen Abdruck im Ton hinterlassen. Die Flügel waren gebeugt, als hätte sich das Tier unmittelbar vor seinem Tod hier niedergelassen.

Schließlich brach Joy, die Exzentrikerin der Gruppe, das Schweigen. Sie hatte offenbar den Eindruck, dass es jetzt genug mit dieser andächtigen Betrachtung war.

»Ich habe noch nie so coole Abdrücke gesehen!«

Anna mochte die junge Frau. Sie erinnerte sie dar­an, wie sie selbst früher gewesen war. Leuchtend blaue Locken verdeckten ihre Stirn, und ein Nasenpiercing verlieh ihr ein halb rockiges, halb tribales Aussehen, das ihren Kameraden gefiel. Diesmal wirkte ihre Bemerkung jedoch fehl am Platz.

»Ich glaube nicht, dass das Adjektiv ›cool‹ oft in der paläontologischen Fachliteratur vorkommt.«

»Und trotzdem hatten Sie recht. Zwei Jahre Forschung, und Sie haben das Fossil gefunden! Sich die Gesichter all der alten Säcke vorzustellen … ich freu mich jetzt schon drauf. Ich kann’s gar nicht glauben. Ist das wirklich möglich? Der Beweis, auf den Sie gehofft haben?«

»Abwarten, Joy, freu dich nicht zu früh, erst müssen wir es ausgraben und untersuchen …« Kurt, der Vernünftige der Gruppe, hatte das Wort ergriffen, sich vorgebeugt und damit fast riskiert, kopfüber in die Höhle zu stürzen.

Joy ließ ihn nicht ausreden. »Untersuchen, wie ein Tier, das vor 150 Millionen Jahren gelebt haben soll, sich in einer Gesteinsschicht wiederfinden kann, die erst zehn Millionen Jahre alt ist? Na, da hast du ja ’ne Menge zu tun, Mr. Skeptismo!«

Anna hob die Hand, um den Streit zu beenden. Das strahlende Lächeln auf ihren Lippen ließ Kurts Herz kurz aussetzen. Er war in sie verliebt, seit er den ersten Blick auf sie geworfen hatte.

»Immer mit der Ruhe, ihr jungen Leute. Sagen wir mal, wir haben gerade ein neues Kapitel in der Geschichte der Paläontologie aufgeschlagen. Mit diesem komischen Vogel werden wir beweisen, dass der kleine Nachfahre der Theropoden noch vor zehn Millionen Jahren lebte und nicht während des großen Massenaussterbens an der Kreide-Paläogen-Grenze verschwunden ist. Wie, das ist eine andere Frage. Wir haben noch einen gewaltigen Berg Arbeit vor uns, aber für heute sind wir fertig. Unsere Entdeckung verdient, dass wir ein bisschen feiern. Wir sichern vor Einbruch der Nacht noch die Fundstelle ab und machen dann morgen weiter. Ich will euch alle beim Morgengrauen bereit zum Einsatz sehen …«

»Ich kann bestimmt kein Auge zutun!«, stöhnte Joy. »Können wir nicht einfach weitermachen?«

»Nein. Weitermachen kommt nicht infrage, wir sind alle total erschöpft, und dieses kleine Wunder braucht uns in Bestform. Außerdem wäre es doch das erste Mal, dass du nicht feiern willst, Joy.«

Während die kleine Gruppe sich daranmachte, die Erde wegzufegen und unter freudigem Murmeln die Fundstelle abzusperren, entfernte Anna sich ein paar Schritte. Sie fühlte sich glücklich und erschöpft, zu Tränen gerührt, zerbrechlich wie Glas. Ihre Studentin hatte recht: Sie war seit zwei Jahren hier, aber seit zehn Jahren kämpfte sie um jeden Zentimeter. Diese Entdeckung würde alles ändern.

Allem Anschein nach stammte das Fossil aus einer Zeit lange nach der großen Katastrophe, die sich vor etwa 66 Millionen Jahren ereignete, als der Planet Erde das Pech hatte, sich auf der Bahn eines Asteroiden mit fünfzehn Kilometern Durchmesser zu befinden, dessen Einschlag ein Massensterben in Gang setzte und den Übergang von der Kreidezeit zum Paläogen markierte. Die riesigen Auswirkungen dieser Naturkatastrophe waren für den modernen Menschen kaum vorstellbar: eine Explosion, die der Sprengkraft von zehn Milliarden Atombomben entsprach, imstande, einen Feuerball zu produzieren, der alles im Umkreis von 1500 Kilometern zu Asche verbrannte, gefolgt von einem Tsunami mit einer zwei Kilometer hohen Welle, die die Küsten überflutete und sämtliche Kontinente überschwemmte. Darauf folgte aufgrund des frei gesetzten Schwefels saurer Regen, der die überlebenden Tiere massenhaft tötete, unter ihnen auch die großen, schwerfälligen Dinosaurier. Achtzig Prozent der auf der Erde lebenden Spezies waren auf einen Schlag aus­gerottet worden. Alle außer den Vögeln. Es war eine der wichtigsten Erkenntnisse der Paläontologie des letzten Jahrzehnts gewesen: Die gegenwärtigen Vögel stammten von den Dinosauriern ab.

In Wahrheit hatte das ausgegrabene Skelett, außer dass es perfekt erhalten war, nichts wirklich Besonderes an sich. Joy hatte es sehr gut zusammengefasst. Was alles umstürzte und drohte, die kleine Welt der Paläontologie in ihren Grundfesten zu erschüttern, war die Tatsache, dass es sich hier um einen nur zehn Millionen Jahre alten Archäopteryx handelte. Eine verrückte Abweichung, die im Herzen des Gesteins eingeschlossen war.

Die Spur, die Anna nach Kaimana im Westen Neuguineas geführt hatte, war endlich an ihr Ziel gelangt. Zwei Jahre harte Arbeit, persönliche Opfer, zwei Jahre falsche Hoffnungen, Enttäuschungen und neue Aufbrüche. Mit ihrer Mannschaft hatten sie zwar auch andere Fossilien regressiver Arten ausgegraben – dafür hätte Anna die Hand ins Feuer gelegt –, aber es waren stets nur Fragmente gewesen, die keinen unwiderlegbaren Beweis liefern konnten. Hinweise wie die Kieselsteine des kleinen Däumlings hatten sie zu diesem gefiederten Dinosaurier geführt, der – gemäß einigen ihrer angesehenen Kollegen – viel zu jungen Datums war, um existiert haben zu können.

Das Gefühl des Erfolgs löste bei ihr Schwindel und eine leichte Übelkeit aus. Die anderen waren gerade mit dem Absperren fertig und machten sich eilig auf den Weg zurück zu den Zelten des Lagers, wobei sie ihr Ruhebedürfnis respektierten. Alle außer Joy, die schelmische Joy, die es nicht ertrug, sie abseits stehen zu sehen. Die Studentin rief ihr halb lachend, halb beunruhigt zu: »Wollen Sie nicht Yann von unserer Ent­deckung erzählen?«

»Das würde ich gern, aber er ist auf einem ozeanografischen Forschungsschiff vor der Küste von Neukaledonien unterwegs.«

»Können Sie ihn dort nicht erreichen?«

»Ich habe die ausdrückliche Anweisung erhalten, ihn arbeiten zu lassen.«

»Aber Ihre Entdeckung ist doch ein absoluter Knaller.«

»Na ja, mein Knaller muss wohl warten, bis er wieder zurück ist.«

Anna hatte nicht vor, ihr Herz auszuschütten, um diesen magischen Moment zu verderben. Unvermittelt schossen ihr Tränen in die Augen, und sie ­­­fragte sich, was mit ihr los war. Selbstmitleid war eigentlich nicht ihr Stil, und dieser Anflug von Schwäche warf sie aus der Bahn. Eigentlich hätte sie jubeln und ihr Glück in die Welt hin­ausschreien sollen, aber sie hatte auf gar nichts mehr Lust, fühlte sich wie erschlagen von ihrem Staunen und einer immensen Erschöpfung. Wenn ihre Mannschaft nicht gewesen wäre, hätte sie sich einfach in den Staub gelegt, direkt neben ihren prachtvollen Archäopteryx, und darauf gewartet, dass die Nacht sie beide einhüllte.

Yann, ich hätte das so gern mit dir geteilt!

Sie wusste nicht einmal mehr, wo sie heute standen. Nicht wirklich … Wie viele Wochen hatten sie in den letzten zwei Jahren miteinander verbracht? Ein Dutzend? Ihr letzter Aufenthalt war derart von Streit überlagert gewesen, dass allein der Gedanke dar­an Angst in ihr aufsteigen ließ.

Da Joy einfach nicht verschwand, entschied Anna sich los­zugehen, mit gesenktem Kopf, um ihre geröteten Augen zu verbergen.

»Wir treffen uns in einer Stunde. Um Abendgarderobe wird gebeten.«

»Kann ich mein Totenkopfshirt anziehen?«

»Natürlich. Ich habe gesagt, es wird darum ›gebeten‹.«

»Und du? Hot Pants?«

»So etwas in der Art. Irgendeinen sauberen Fetzen und ein Paar fast weiße Turnschuhe treibe ich schon noch auf.«

»Perfekt.«

Nachdem Anna geduscht hatte – ihr Team hatte ihr den Vortritt im Waschraum gelassen, weniger, um die Hierarchie zu respektieren, sondern vielmehr, weil alle ihren angegriffenen Gemütszustand bemerkt hatten –, saß sie in Gedanken versunken vor dem Computer. Ihr Blick streifte den Ring aus Meteoritengestein. Diesen Ring hatte Yann ihr am Anfang ihrer Beziehung geschenkt, um die ersten beiden gemeinsamen Monate zu feiern.

Sie erinnerte sich, wie überschwänglich sie sich an jenem Abend gefreut hatte, als sie ihn in seinem unvermeidlichen Holzfällerhemd vor dem Restaurant erblickt hatte, an die Wärme in ihrem Bauch und das Gefühl zu schweben, als machte die Liebe sie so leicht wie eine Feder. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie ihr Glück in die Welt hin­ausschreien mögen, sie hätte grundlos zu singen anfangen, lachen und sich Barenskis Forderungen beugen können – nichts hatte mehr eine Bedeutung außer diesem Jungen. Yann machte sie sanft und fügsam, unempfindlich für alles Graue und Griesgrämige, außerdem ließ er sie ihre Arbeit vernachlässigen … Sie machte sich über seinen unmöglichen Aufzug lustig, seine hässlichen Hemden und seine geflickten Jeans. Es war ihr egal, ob er genauso verrückt nach ihr war wie sie nach ihm oder es für eine ehrgeizige Wissenschaftlerin wirklich klug war, nach acht Wochen noch zu turteln und sich vorzustellen, ihr ganzes Leben mit ihm zu verbringen, denn sie liebte ihn und würde ihn immer lieben, bis zum letzten Atemzug. Er war der erste und der einzige Mann, der ihr jemals das Gefühl gegeben hatte, zugleich erfüllt und vollständig zu sein, frei und ganz furchtbar verzaubert.