Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker II - Freud, Sigmund - kostenlos E-Book

Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker II E-Book

Freud, Sigmund

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The Project Gutenberg EBook of Das Tabu und die Ambivalenz derGefühlsregungen, by Sigmund FreudThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.orgTitle: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen       Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden              und der Neurotiker IIAuthor: Sigmund FreudRelease Date: August 14, 2011 [EBook #37069]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ ***Produced by Jana Srna and the Online DistributedProofreading Team at http://www.pgdp.net

Anmerkungen zur Transkription:

Der Text stammt aus: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften I (1912). S. 213–227 und 301–333.

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Änderungen sind im Text so gekennzeichnet. Der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus. Eine Liste der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.

Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker.Von SIGM. FREUD. II. Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen.

1.

Tabu ist ein polynesisches Wort, dessen Übersetzung uns Schwierigkeiten bereitet, weil wir den damit bezeichneten Begriff nicht mehr besitzen. Den alten Römern war er noch geläufig; ihr sacer war dasselbe wie das Tabu der Polynesier. Auch das ἄγος der Griechen, das Kodausch der Hebräer muß das nämliche bedeutet haben, was die Polynesier durch ihr Tabu, viele Völker in Amerika, Afrika (Madagaskar), Nord- und Zentral-Asien durch analoge Bezeichnungen ausdrücken.

Die Tabubeschränkungen sind etwas anderes als die religiösen oder die moralischen Verbote. Sie werden nicht auf das Gebot eines Gottes zurückgeführt, sondern verbieten sich eigentlich von selbst; von den Moralverboten scheidet sie das Fehlen der Einreihung in ein System, welches ganz allgemein Enthaltungen für notwendig erklärt und diese Notwendigkeit auch begründet. Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen.

Wundt(1) nennt das Tabu den ältesten ungeschriebenen Gesetzeskodex der Menschheit. Es wird allgemein angenommen, daß das Tabu älter ist als die Götter und in die Zeiten vor jeder Religion zurückreicht.

Da wir einer unparteiischen Darstellung des Tabu bedürfen, um dieses der psychoanalytischen Betrachtung zu unterziehen, lasse ich nun einen Auszug aus dem Artikel »Taboo« der »Encyclopedia Britannica«(2) folgen, der den Anthropologen Northcote W. Thomas zum Verfasser hat.

»Streng genommen umfaßt tabu nur a) den heiligen (oder unreinen) Charakter von Personen oder Dingen, b) die Art der Beschränkung, welche sich aus diesem Charakter ergibt und c) die Heiligkeit (oder Unreinheit), welche aus der Verletzung dieses Verbotes hervorgeht. Das Gegenteil von tabu heißt in Polynesien ›noa‹, was ›gewöhnlich‹ oder ›gemein‹ bedeutet ...«

»In einem weiteren Sinne kann man verschiedene Arten von Tabu unterscheiden: 1. Ein natürliches oder direktes Tabu, welches das Ergebnis einer geheimnisvollen Kraft (Mana) ist, die an einer Person oder Sache haftet; 2. ein mitgeteiltes oder indirektes Tabu, das auch von jener Kraft ausgeht, aber entweder a) erworben ist, oder b) von einem Priester, Häuptling oder sonst wem übertragen; endlich 3. ein Tabu, das zwischen den beiden anderen die Mitte hält, wenn nämlich beide Faktoren in Betracht kommen, wie z. B. bei der Aneignung eines Weibes durch einen Mann. Der Name Tabu wird auch auf andere rituelle Beschränkungen angewendet, aber man sollte alles, was besser religiöses Verbot heißen könnte, nicht zum Tabu rechnen.«

»Die Ziele des Tabu sind mannigfacher Art: Direkte Tabu bezwecken a) den Schutz bedeutsamer Personen, wie Häuptlinge, Priester, und Gegenstände u. dgl. gegen mögliche Schädigung; b) die Sicherung der Schwachen – Frauen, Kinder und gewöhnlicher Menschen im allgemeinen – gegen das mächtige Mana (die magische Kraft) der Priester und Häuptlinge; c) den Schutz gegen Gefahren, die mit der Berührung von Leichen, mit dem Genuß gewisser Speisen usw. verbunden sind; d) die Versicherung gegen die Störung wichtiger Lebensakte, wie Geburt, Männerweihe, Heirat, sexuelle Tätigkeiten; e) den Schutz menschlicher Wesen gegen die Macht oder den Zorn von Göttern und Dämonen(3); f) die Behütung Ungeborener und kleiner Kinder gegen die mannigfachen Gefahren, die ihnen infolge ihrer besonderen sympathetischen Abhängigkeit von ihren Eltern drohen, wenn diese z. B. gewisse Dinge tun oder Speisen zu sich nehmen, deren Genuß den Kindern besondere Eigenschaften übertragen könnte. Eine andere Verwendung des Tabu ist die zum Schutz des Eigentums einer Person, seiner Werkzeuge, seines Feldes usw. gegen Diebe.«

»Die Strafe für die Übertretung eines Tabu wird wohl ursprünglich einer inneren, automatisch wirkenden Einrichtung überlassen. Das verletzte Tabu rächt sich selbst. Wenn Vorstellungen von Göttern und Dämonen hinzukommen, mit denen das Tabu in Beziehung tritt, so wird von der Macht der Gottheit eine automatische Bestrafung erwartet. In anderen Fällen, wahrscheinlich infolge einer weiteren Entwicklung des Begriffes, übernimmt die Gesellschaft die Bestrafung des Verwegenen, dessen Vorgehen seine Genossen in Gefahr gebracht hat. So knüpfen auch die ersten Strafsysteme der Menschheit an das Tabu an.«

»Wer ein Tabu übertreten hat, der ist dadurch selbst tabu geworden. Gewisse Gefahren, die aus der Verletzung eines Tabu entstehen, können durch Bußhandlungen und Reinigungszeremonien beschworen werden.«

»Als die Quelle des Tabu wird eine eigentümliche Zauberkraft angesehen, die an Personen und Geistern haftet, und von ihnen aus durch unbelebte Gegenstände hindurch übertragen werden kann. Personen oder Dinge, die tabu sind, können mit elektrisch geladenen Gegenständen verglichen werden; sie sind der Sitz einer furchtbaren Kraft, welche sich durch Berührung mitteilt und mit unheilvollen Wirkungen entbunden wird, wenn der Organismus, der die Entladung hervorruft, zu schwach ist, ihr zu widerstehen. Der Erfolg einer Verletzung des Tabu hängt also nicht nur von der Intensität der magischen Kraft ab, die an dem Tabu-Objekt haftet, sondern auch von der Stärke des Mana, die sich dieser Kraft bei dem Frevler entgegensetzt. So sind z. B. Könige und Priester Inhaber einer großartigen Kraft, und es wäre Tod für ihre Untertanen, in unmittelbare Berührung mit ihnen zu treten, aber ein Minister oder eine andere Person von mehr als gewöhnlichem Mana kann ungefährdet mit ihnen verkehren, und diese Mittelspersonen können wiederum ihren Untergebenen die Annäherung gestatten, ohne sie in Gefahr zu bringen. Auch mitgeteilte Tabu hängen in ihrer Bedeutung von dem Mana der Person ab, von der sie ausgehen; wenn ein König oder Priester ein Tabu auferlegt, ist es wirksamer, als wenn es von einem gewöhnlichen Menschen käme.«

Die Übertragbarkeit eines Tabu ist wohl jener Charakter, der dazu Veranlassung gegeben hat, seine Beseitigung durch Sühnezeremonien zu versuchen.

»Es gibt permanente und zeitweilige Tabu. Priester und Häuptlinge sind das erstere, ebenso Tote, und alles, was zu ihnen gehört hat. Zeitweilige Tabu schließen sich an gewisse Zustände an, so an die Menstruation und das Kindbett, an den Stand des Kriegers vor und nach der Expedition, an die Tätigkeiten des Fischens und Jagens u. dergl. Ein allgemeines Tabu kann auch wie das kirchliche Interdikt über einen großen Bezirk verhängt werden und dann jahrelang anhalten.«

Wenn ich die Eindrücke meiner Leser richtig abzuschätzen weiß, so getraue ich mich jetzt der Behauptung, sie wüßten nach all diesen Mitteilungen über das Tabu erst recht nicht, was sie sich darunter vorzustellen haben, und wo sie es in ihrem Denken unterbringen können. Dies ist sicherlich die Folge der ungenügenden Information, die sie von mir erhalten haben, und des Wegfalls aller Erörterungen über die Beziehung des Tabu zum Aberglauben, zum Seelenglauben und zur Religion. Aber anderseits fürchte ich, eine eingehendere Schilderung dessen, was man über das Tabu weiß, hätte noch verwirrender gewirkt, und darf versichern, daß die Sachlage in Wirklichkeit recht undurchsichtig ist. Es handelt sich also um eine Reihe von Einschränkungen, denen sich diese primitiven Völker unterwerfen; dies und jenes ist verboten, sie wissen nicht warum, es fällt ihnen auch nicht ein, danach zu fragen, sondern sie unterwerfen sich ihnen wie selbstverständlich und sind überzeugt, daß eine Übertretung sich von selbst auf die härteste Weise strafen wird. Es liegen zuverlässige Berichte vor, daß die unwissentliche Übertretung eines solchen Verbotes sich tatsächlich automatisch gestraft hat. Der unschuldige Missetäter, der z. B. von einem ihm verbotenen Tier gegessen hat, wird tief deprimiert, erwartet seinen Tod und stirbt dann in allem Ernst. Die Verbote betreffen meist Genußfähigkeit, Bewegungs- und Verkehrsfreiheit; sie scheinen in manchen Fällen sinnreich, sollen offenbar Enthaltungen und Entsagungen bedeuten, in anderen Fällen sind sie ihrem Inhalt nach ganz unverständlich, betreffen wertlose Kleinigkeiten, scheinen ganz von der Art eines Zeremoniells zu sein. All diesen Verboten scheint etwas wie eine Theorie zugrunde zu liegen, als ob die Verbote notwendig wären, weil gewissen Personen und Dingen eine gefährliche Kraft zu eigen ist, die sich durch Berührung mit dem so geladenen Objekt überträgt, fast wie eine Ansteckung. Es wird auch die Quantität dieser gefährlichen Eigenschaft in Betracht gezogen. Der eine oder das eine hat mehr davon als der andere und die Gefahr richtet sich geradezu nach der Differenz der Ladungen. Das Sonderbarste daran ist wohl, daß, wer es zustande gebracht hat, ein solches Verbot zu übertreten, selbst den Charakter des Verbotenen gewonnen, gleichsam die ganze gefährliche Ladung auf sich genommen hat. Diese Kraft haftet nun an allen Personen, die etwas Besonderes sind, wie Könige, Priester, Neugeborene, an allen Ausnahmszuständen wie die körperlichen der Menstruation, der Pubertät, der Geburt, an allem Unheimlichen wie Krankheit und Tod, und was kraft der Ansteckungs- oder Ausbreitungsfähigkeit damit zusammenhängt.

»Tabu« heißt aber alles, sowohl die Personen als auch die Örtlichkeiten, Gegenstände und die vorübergehenden Zustände, welche Träger oder Quelle dieser geheimnisvollen Eigenschaft sind. Tabu heißt auch das Verbot, welches sich aus dieser Eigenschaft herleitet, und Tabu heißt endlich seinem Wortsinn nach etwas, was zugleich heilig, über das Gewöhnliche erhaben wie auch gefährlich, unrein, unheimlich umfaßt.

In diesem Wort und in dem System, das es bezeichnet, drückt sich ein Stück Seelenleben aus, dessen Verständnis uns wirklich nicht nahe gerückt erscheint. Vor allem sollte man meinen, daß man sich diesem Verständnis nicht nähern könne, ohne auf den für so tiefstehende Kulturen charakteristischen Glauben an Geister und Dämonen einzugehen.

Warum sollen wir überhaupt unser Interesse an das Rätsel des Tabu wenden? Ich meine, nicht nur, weil jedes psychologische Problem an sich des Versuches einer Lösung wert ist, sondern auch noch aus anderen Gründen. Es darf uns ahnen, daß das Tabu der Wilden Polynesiens doch nicht so weit von uns abliegt, wie wir zuerst glauben wollten, daß die Sitten- und Moralverbote, denen wir selbst gehorchen, in ihrem Wesen eine Verwandtschaft mit diesem primitiven Tabu haben könnten, und daß die Aufklärung des Tabu ein Licht auf den dunkeln Ursprung unseres eigenen »kategorischen Imperativs« zu werfen vermöchte.

Wir werden also in besonders erwartungsvoller Spannung aufhorchen, wenn ein Forscher wie W. Wundt uns seine Auffassung des Tabu mitteilt, zumal da er verspricht, »zu den letzten Wurzeln der Tabuvorstellungen zurückzugehen«(4).

Vom Begriff des Tabu sagt Wundt, daß es »alle die Bräuche umfaßt, in denen sich die Scheu vor bestimmten mit den kultischen Vorstellungen zusammenhängenden Objekten oder vor den sich auf diese beziehenden Handlungen ausdrückt«(5).

Ein andermal: »Verstehen wir darunter (unter dem Tabu), wie es dem allgemeinsten Sinn des Wortes entspricht, jedes in Brauch und Sitte oder in ausdrücklich formulierten Gesetzen niedergelegte Verbot, einen Gegenstand zu berühren, zu eigenem Gebrauch in Anspruch zu nehmen oder gewisse verpönte Worte zu gebrauchen .....«, so gebe es überhaupt kein Volk und keine Kulturstufe, die der Schädigung durch das Tabu entgegen wäre.

Wundt führt dann aus, weshalb es ihm zweckmäßiger erscheint, die Natur des Tabu an den primitiven Verhältnissen der australischen Wilden als in der höheren Kultur der polynesischen Völker zu studieren. Bei den Australiern ordnet er die Tabuverbote in drei Klassen, je nachdem sie Tiere, Menschen oder andere Objekte betreffen. Das Tabu der Tiere, das wesentlich im Verbot des Tötens und Verzehrens besteht, bildet den Kern des Totemismus(6). Das Tabu der zweiten Art, das den Menschen zu seinem Objekt hat, ist wesentlich anderen Charakters. Es ist von vorneherein auf Bedingungen eingeschränkt, die für den Tabuierten eine ungewöhnliche Lebenslage herbeiführen. So sind Jünglinge tabu beim Fest der Männerweihe, Frauen während der Menstruation und unmittelbar nach der Geburt, neugeborene Kinder, Kranke und vor allem die Toten. Auf dem fortwährend gebrauchten Eigentum eines Menschen ruht ein dauerndes Tabu für jeden anderen: so auf seinen Kleidern, Werkzeugen und Waffen. Zum persönlichsten Eigentum gehört in Australien auch der neue Name, den ein Knabe bei seiner Männerweihe erhält, dieser ist tabu und muß geheim gehalten werden. Die Tabu der dritten Art, die auf Bäumen, Pflanzen, Häusern, Örtlichkeiten ruhen, sind veränderlicher, scheinen nur der Regel zu folgen, daß dem Tabu unterworfen wird, was aus irgend welcher Ursache Scheu erregt oder unheimlich ist.

Die Veränderungen, die das Tabu in der reicheren Kultur der Polynesier und der malaiischen Inselwelt erfährt, muß Wundt selbst für nicht sehr tiefgehend erklären. Die stärkere soziale Differenzierung dieser Völker macht sich darin geltend, daß Häuptlinge, Könige und Priester ein besonders wirksames Tabu ausüben und selbst dem stärksten Zwang des Tabu ausgesetzt werden.

Die eigentlichen Quellen des Tabu liegen aber tiefer als in den Interessen der privilegierten Stände; »sie entspringen da, wo die primitivsten und zugleich dauerndsten menschlichen Triebe ihren Ursprung nehmen, in der Furcht vor der Wirkung dämonischerMächte«(7). »Ursprünglich nichts anderes als die objektiv gewordene Furcht vor der in dem tabuierten Gegenstand verborgen gedachten dämonischen Macht, verbietet das Tabu, diese Macht zu reizen, und es gebietet, wo es wissentlich oder unwissentlich verletzt worden ist, die Rache des Dämons zu beseitigen«.

Allmählich wird dann das Tabu zu einer in sich selbst begründeten Macht, die sich vom Dämonismus losgelöst hat. Es wird zum Zwang der Sitte und des Herkommens und schließlich des Gesetzes. »Das Gebot aber, das unausgesprochen hinter den nach Ort und Zeit mannigfach wechselnden Tabuverboten steht, ist ursprünglich das eine