Das Tal der goldenen Flüsse - Patricia Mennen - E-Book

Das Tal der goldenen Flüsse E-Book

Patricia Mennen

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Beschreibung

Eine Reise voller Gefahren. Eine schicksalhafte Begegnung. Eine Liebe, die alles übersteht.

England 1860. In dem Archäologen Rhys Franklin hat die abenteuerlustige Amber den Mann ihres Lebens gefunden. Doch ihr Eheglück wird von der Nachricht getrübt, dass Amber keine Kinder bekommen kann. Als es Rhys trotz großer Widerstände gelingt, eine Expedition an den Amazonas zu organisieren, erwacht auch in Amber Fernweh – und neuer Lebensmut. Schon auf der Schiffsreise nach Brasilien begegnen sie Tiago de Andrade, dem reichen Besitzer einer Kautschukplantage, der die schöne Indianerin Jandeira als seine Sklavin hält. Amber ist fest entschlossen, Jandeira zu helfen, und gerät bald schon gefährlich zwischen die Fronten …

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 Buch

In dem amerikanischen Archäologen Rhys Franklin hat die abenteuerlustige Amber den Mann ihres Lebens gefunden und ist mit ihm aus dem fernen Assam in ihre Heimat England zurückgekehrt. Doch ihr junges Eheglück wird von der Nachricht getrübt, dass Amber keine Kinder bekommen kann. Als es Rhys trotz großer Widerstände gelingt, eine Expedition an den Amazonas zu organisieren, erwacht auch in Amber Fernweh – und neuer Lebensmut. Schon auf der Schiffsreise nach Brasilien begegnen sie dem undurchsichtigen portugiesischen Geschäftsmann Tiago de Andrade und seiner schüchternen Tochter Miou, mit der sich Amber sofort anfreundet. De Andrade lädt sie ein, die Regenzeit auf seiner Kautschukplantage am Amazonas zu verbringen. Eines Tages findet Amber dort am Fluss einen schwerverletzten Indianer namens Cauré, in dessen Nähe sich ein zahmer Tukan aufhält. Sie pflegt den verschlossenen jungen Mann gesund, gewinnt sein Vertrauen und erfährt, dass Tiago de Andrade Caurés Geliebte, die atemberaubend schöne Jandeira, als Sklavin hält. Amber ist fest entschlossen, Cauré und Jandeira zu helfen, und gerät bald schon gefährlich zwischen die Fronten …

Autorin

Patricia Mennens große Leidenschaft ist das Kennenlernen von Menschen ursprünglicher Kulturen. Wann immer es geht, macht sie sich auf und versucht, einen authentischen Einblick in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Ihre Eindrücke und Erlebnisse verarbeitet sie in ihren Büchern. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern abwechselnd in der Nähe des Bodensees und in der Provence.

Von Patricia Mennen außerdem bei Blanvalet lieferbar:

Der Ruf der Kalahari · Sehnsucht nach Owitambe · Zauber der Savanne · Im Land der sieben Schwestern

Patricia Mennen

Das Tal der goldenen Flüsse

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. 1. Auflage

Deutsche Originalausgabe Oktober 2015

bei Blanvalet, einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2015 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Dr. Rainer Schöttle

AF ∙ Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15934-4V003

www.blanvalet.de

Für Anna-Fee

Prolog

Rio Toototobi, Amazonien

Sobald sich die Lichtstrahlen der aufgehenden Sonne durch das dichte Urwaldgrün tasteten, zogen sich die Xapiripé zum Schlafen zurück. An dünnen Fäden, fein wie Spinnweben, kletterten die Waldgeister zurück in ihre Zwischenwelt. Cauré sah ihnen fasziniert hinterher. Die kräftigen Farben ihrer bunt bemalten, zierlichen Körper flirrten im ersten Morgenlicht unter dem braungrünen Blätterdach der Urwaldriesen. Noch einmal bewunderte der junge Hapuweteri ihre kunstvoll gefertigten Armreifen, die mit winzigen Ara- und Papageienfedern verziert waren, dann lösten sie sich in den Lichtreflexen auf.

»Du gehörst zu denen, die die Geister in ihrer Welt besuchen können«, meinte Takawe, der Schamane. Zufrieden wischte er sich mit der Hand den schwärzlichen Rotz des Yakoana-Pulvers aus dem Gesicht. »Doch das ist nur der Beginn. Vor dir liegt noch ein weiter Weg, bis du ein großer Schamane bist. Viel schwerer ist es, die Xapiripé in der Hierwelt zu finden. Lerne ihnen zuzuhören. Erzähl mir, was du gerade gesehen hast.«

Cauré spürte immer noch die Nachwirkungen der Droge, die ihm Takawe mit dem Blasrohr durch die Nasenöffnung gejagt hatte. Er befand sich in einem merkwürdigen Zustand äußerster Wahrnehmungsfähigkeit. Nie zuvor war ihm die Natur gegenwärtiger erschienen. Das ohrenbetäubende Geschrei einer zankenden Brüllaffengruppe hoch über ihm im Geäst war ihm genauso nah wie das Rascheln der Ameisen neben sich auf dem Boden. Er konnte direkt über sich das Zischeln der Boa Constrictor hören, die sich oberhalb seines Kopfes einen Ast entlangschlängelte, genauso wie das geschäftige Treiben der Termiten im Inneren des Baumes, an dem er lehnte. Selbst das Rascheln eines weit entfernten Pekaris im Unterholz konnte er vernehmen.

»Die Xapiripé sehen aus wie wir Menschen«, antwortete er schließlich dem alten Schamanen. »Nur schöner und irgendwie wunderbar. Dabei sind sie so winzig wie Staubkörner und hell wie das Licht.« Cauré fühlte, wie eine Welle von Begeisterung sich in ihm auftürmte. »Nach und nach kamen so viele zu mir. Ich sah die Geister der Tukane mit ihren großen Ohrsteckern in leuchtend roten Lendenschurzen. Die Kolibrimenschen umflogen mich in einem wilden Tanz, während die Geister der Frösche Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken trugen. Ich sah Nabelschweingeister und Fledermausmenschen, während die Xapiripé der Wasserfälle meinen Geist erfrischten. Meine Seele fing an zu strahlen und erfüllte mich mit höchstem Glück.«

»Die Xapiripé mögen klein sein, aber die Kraft, die in einigen von ihnen wohnt, ist mächtiger als das stärkste Gewitter, fürchterlicher als die schlimmste Krankheit und gefährlicher als der Tod«, warnte Takawe seinen jungen Schüler. »Das Yakoana-Pulver hat die Geister für dich zum Tanzen gebracht. Doch sie haben dir bislang nicht gezeigt, wer dein utupé, dein Doppelgänger, ist.« Cauré senkte beschämt die Augen. Wieder einmal war ihm die Erkenntnis versagt geblieben. War er etwa doch verflucht? Sein Ziehvater versuchte ihn zu trösten: »Es gibt eine Möglichkeit, deinen Doppelgänger zu finden«, sagte er leise. »Geh zu den hutu pata. Dort wirst du die Antwort finden.«

Cauré schauderte. Der Shapori verlangte viel von ihm. Er sollte nicht nur die Grenzen zur Geisterwelt überschreiten, sondern sich weit in ihr Gebiet vorwagen. Die Gefahr, sich in ihrer wirren Welt zu verlieren, war sehr groß. Doch ihm blieb keine Wahl. Solange sein zweites Ich sich vor ihm versteckte, war er kein richtiger Mann. Seine Brüder würden ihn niemals akzeptieren. Ohne Doppelgänger war er verdammt. Jeder Mensch in seinem Stamm besaß einen utupé. Er verlieh den Menschen Kraft und leitete sie durch schwierige Entscheidungen. Wer seinen utupé nicht fand, dessen Leben war verflucht. Für gewöhnlich erschien der Doppelgänger bereits in Kindertagen. Er zeigte sich in der Gestalt von Vögeln, Säugetieren, Insekten, in den Geistern von Bäumen und Wasserfällen oder gar in wildem Honig und auch in Steinen. Cauré hatte bislang noch keinen Ruf vernommen, obwohl er die Geister deutlicher sah als manch einer der Shapori.

»Mach die Furcht nicht zu deinem Freund, mein Sohn«, riet ihm Takawe und erhob sich schwerfällig von seinem Platz. Wie es Sitte war, vermied der Schamane es, ihn bei seinem Spitznamen zu nennen. Cauré bedeutete »kleiner Falke mit den scharfen Augen«. Bei den Hapuweteri war die Anrede mit Eigennamen mit einem Tabu belegt. Man nannte einen Namen nur, wenn der Betreffende nicht anwesend war. »Mach dich auf den Weg zu dem Plateau hoch über den Baumwipfeln. Dort oben mögen dir die Xapiripé das Lied deiner Bestimmung singen oder dich in ihr Reich aufnehmen.«

Ohne sich nochmals nach ihm umzudrehen, machte sich Takawe auf den Weg zurück in den Shabono. Cauré wusste, dass der Schamane damit ein Urteil gefällt hatte. Sollte er dieses Mal wieder scheitern, durfte er nicht mehr ins Dorf zurückkehren. Ohne utupé bedeutete er eine Gefahr für die Gemeinschaft. Er versuchte den letzten Rest seiner Benommenheit abzuschütteln, dann griff er nach Köcher und Bogen und sprang leichtfüßig auf die Beine. Auch er sah sich nicht um, als er sich durch das Dickicht der Lianen und Luftwurzeln einen neuen Weg bahnte. Sein Ziel war die Hochebene des Tafelberges, der sich eine gute Tagesreise von seinem Dorf entfernt wie der Panzer einer riesigen Schildkröte aus dem grünen Teppich der Urwaldbäume erhob.

Dieser Berg war ein heiliger Ort. In grauer Vorzeit hatte dort einmal ein mächtiges Volk gelebt. Es hatte Bauwerke aus Stein errichtet und breite, steinerne Wege durch den Urwald gebaut. Die Alten in Caurés Stamm erzählten, dass ihr Kazike den Zorn der Xapiripé auf sich gezogen hatte, weil er den Geistern befohlen hatte, sich ihm unterzuordnen. Die Folge war ein fürchterlicher Krieg zwischen den Xapiripé und den Menschen gewesen, der dem ganzen Volk den Untergang gebracht hatte. Nichts war von ihrem mächtigen Reich übrig geblieben, nur die wenigen steinernen Überreste auf dem lebensfeindlichen Plateau. Und noch immer hing die Macht der Zerstörung wie ein drohender Gewittersturm über jenem Ort. Nur wenige wagten sich dorthin, denn man musste den Geistern zuhören können und ihnen die richtigen Fragen stellen, wollte man wieder in die Welt der Lebenden zurückkehren.

Je näher Cauré diesem unheilvollen Kraftort kam, desto unruhiger wurde er. Es gelang ihm nur schwer, seine aufsteigende Angst zu bezwingen. Es war weniger die Angst vor den Launen der Xapiripé, die ihn umtrieb, als die Furcht davor, dass er keinen Doppelgänger finden könnte. Lag wirklich ein Fluch auf ihm? Er war schon immer anders als seine Altersgenossen gewesen, ein Sonderling, weil er lieber allein für sich blieb, als die Gesellschaft der Dorfgemeinschaft zu suchen. Beobachten und Nachdenken lagen ihm mehr als übereilte, scheinbar mutige Entscheidungen. Er war kein Feigling, konnte hervorragend Spuren lesen und war sicher im Umgang mit Blasrohr und Pfeil und Bogen. Doch sein Bruder Nakitao spottete über ihn, weil er sich weigerte, auf die Jagd zu gehen. Er verstand einfach seinen Zwiespalt nicht. Solange er nicht wusste, wer sein Doppelgänger war, durfte Cauré keine Tiere töten. Einen utupé zu töten bedeutete nämlich, das Unglück auf sich zu ziehen. Hatte er diese Schuld etwa längst auf sich geladen?

Cauré fröstelte, als er vor der aufragenden Felswand stand, obwohl die Schwüle schon seit Tagen unerträglich war. Dann machte er sich an den Aufstieg.

Das erste Stück kam er gut voran. Lianen und Luftwurzeln, die über die Felsen wuchsen, erleichterten ihm das Klettern. Nach einigen Stunden erreichte er die Baumgrenze. Mit einem Mal verließ er das gewohnte, dämmrige Licht der von Grüntönen bestimmten Dschungelwelt. Cauré hielt den Atem an. Ohne den Schutz der Bäume fühlte er sich einsam und verlassen. Die Leere des Himmels und seine unendliche Weite machten ihm Angst. Er hatte den Dschungel noch nie von oben gesehen. Wie ein grüner Ozean erstreckte er sich bis zum Horizont. Nur hin und wieder wurde das Grün von den milchig braunen Windungen des Rio Toototobi unterbrochen. Die gewaltigen Baumriesen, deren Stämme oft so dick waren, dass zehn Männer sie kaum umfassen konnten, wirkten von Caurés Standort aus wie Inseln in einem grünen Meer aus Froschgrün, Lianengrün, Schlammgrün, aus dem grauen Grün der Nachtmotten und dem Gelbgrün der Kochbananen – sein Volk kannte so viele Namen für die Farbe Grün, die seine Welt bedeutete. Doch hier oben war alles anders.

Der Himmel über ihm war so blau wie das Gefieder eines azurblauen Aras. Nur am äußersten Horizont ballten sich gewaltige grauschwarze Gewitterwolken zusammen als Vorboten der nun bald einsetzenden Regenzeit.

Cauré war sich bewusst, dass er die Grenze zum Reich der Xapiripé nun überschritten hatte. Doch das war nicht genug. Er musste ihr Land betreten und sich ihren Launen stellen. Der schwierigste Weg stand ihm noch bevor. Grau und abweisend türmten sich die nackten Felswände vor ihm auf. Nur wenige Büsche und dürre kleine Bäume wuchsen aus den Felsspalten, in denen sie von Wind und Regen mit Nährstoffen versorgt wurden. Caurés Hände und Füße suchten in den schroffen, spitzen Felswänden nach Halt. Stück für Stück zog er sich weiter nach oben. Das bröckelige Gestein machte das Klettern zu einem wagemutigen Unterfangen. Immer wieder stieß er auf tiefe Felsspalten, die ihn zwangen, nach einem anderen Weg zu suchen. Der Urwald lag bald weit unter ihm. Dann endlich erreichte er den letzten Absatz. Nun trennten ihn nur noch wenige Meter von dem Klippenrand, dann würde er die Hochebene erreicht haben.

Plötzlich hörte er ein dumpfes Grollen. Bevor er die Richtung ausmachen konnte, geriet das Geröll über und unter ihm in Bewegung. Unter seinen Füßen brach mit einem Schlag ein ganzes Felsstück weg. Polternd krachte es in die Tiefe und zerschellte. Cauré krallte seine Fingerspitzen in eine Felsspalte und hing plötzlich mit seinem ganzen Gewicht daran. Dann spürte er, wie auch dieses Gestein unter seinen Fingern zu bröckeln begann, dann gab der Fels erst unter der linken, dann auch unter der anderen Hand nach. Während er fiel, suchte er verzweifelt nach irgendeinem Halt. Schließlich gelang es ihm, mit beiden Händen die Wurzeln eines krüppeligen Bäumchens zu fassen, das aus einer Felsspalte herauswuchs. Nun hing er, frei baumelnd, über dem Abgrund, während sich um ihn herum immer mehr große und kleine Gesteinsbrocken lösten und an ihm vorbei in die Tiefe donnerten.

Es ist vorbei!, dachte Cauré mit erstaunlicher Klarheit. Die Xapiripé haben mich besiegt! Er wartete darauf, dass ihn ein Felsbrocken traf und endgültig in die Tiefe riss. Wie durch ein Wunder blieb er jedoch unversehrt. Als die Felslawine endlich ins Stoppen geraten war und einer unheimlichen Stille Platz machte, hing er immer noch an dem dürren Baum, der bereits beunruhigend knirschte. Mit verzweifelter Anstrengung suchten Caurés Füße nach einem Vorsprung in der Felswand. Vergeblich. Das Bäumchen wuchs über einem Felsvorsprung, der ein ganzes Stück über die Felswand hinausragte. Nicht mehr lange, und das Holz des Baumes würde brechen, wenn nicht die Kraft seiner Arme ihn schon vorher verließ.

Das Ende seiner Kräfte kam schneller als gedacht. Die Schwerkraft zog ihn wie ein Stein in die Tiefe. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte er nochmals, mit den Füßen Halt zu finden. Dann waren seine Kraftreserven erschöpft. Die Xapiripé haben gesiegt, dachte Cauré voller Trauer, als der gellende Schrei eines Adlers die Stille des Berges zerriss.

1. Teil

Nichts in der Geschichte des Lebens ist beständigerals der Wandel.

Charles Darwin

1860 – 1861

Yorkshire und London, England

Rio Toototobi, nördliches Amazonasbecken

1

Liverpool, August 1860

»Die Porphyrus! Das muss sie sein! Gleich wird sie in den Hafen einlaufen!« Der fünfjährige Francis kletterte auf einen der Poller am Hafenpier, um eine bessere Aussicht zu haben.

»Komm sofort da runter. Du könntest ins Wasser stürzen«, schimpfte Maeve und versuchte ihren Sohn von dem Eisenstück, an dem für gewöhnlich die großen Schiffe vertäut wurden, herunterzuziehen. Francis ließ es schmollend geschehen.

Amber verstand die Aufregung ihres jüngeren Halbbruders nur zu gut. Sie konnte es selbst kaum erwarten, dass das Schiff endlich in den Hafen einlief. Fast achtzehn Monate hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Obwohl ihr verkümmertes Bein schmerzte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Mit der Hand beschirmte sie ihre Augen und versuchte zu erkennen, ob es sich bei dem sich nähernden Dampfschiff tatsächlich um die Porphyrus handelte. Bislang war nur schwarzer Rauch zu erkennen, der wie eine Fahne den hellgrauen Himmel über Liverpool durchzog. Viel zu langsam näherte sich das Schiff auf dem Fluss Mersey der Anlegestelle. Endlich drehte es bei und begann mit den Anlegemanövern.

Ambers Blick wanderte rastlos über die Reling hoch über der Wasserfläche, doch keine der dort oben stehenden Personen kam ihr bekannt vor. Unterdessen wurde der Landungssteg ausgefahren, und die ersten Passagiere gingen von Bord.

Was, wenn Rhys gar nicht an Bord ist?Vielleicht ist ihm ja doch noch etwas dazwischengekommen? Sie schalt sich für ihre negativen Gedanken. In seinem letzten Brief, den sie vor knapp zwei Monaten erhalten hatte, hatte er ihr eindeutig seine Ankunft für den zweiten August angekündigt. Sie spürte, wie sie zunehmend nervöser wurde, als der Passagierstrom nach einiger Zeit nachließ und Rhys immer noch nicht auftauchte. Womöglich kehrt er gar nicht mehr zurück, wenn die Untersuchungen in Boston nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht haben, grübelte sie. Achtzehn Monate waren eine lange Zeit für ein Paar, das sich gleich nach seiner Hochzeit getrennt hatte. Aufgeregt wippte sie auf und ab, bis Maeve ihr beruhigend ihre Hand auf die Schulter legte.

»Du benimmst dich wie ein verliebter Backfisch, nicht wie eine verheiratete Frau«, tadelte sie die nur wenige Jahre jüngere Stieftochter. »Was soll Rhys nur von dir denken?«

Amber schnaubte. »Das kümmert mich im Moment wenig«, meinte sie ungehalten. »So wie es aussieht, befindet er sich gar nicht an Bord.«

»Vielleicht hat Rhys ja die Ankunft verschlafen«, bemerkte der kleine Francis mit schief gelegtem Kopf. »Das kann leicht geschehen, wenn man nicht aufpasst.« Wider Willen musste Amber schmunzeln. Für sein Alter war der Kleine reichlich altklug.

»Ich werde gleich nach dem Rechten sehen«, bot sich Ambers Bruder Camden schließlich an. Er war als Einziger in der Kutsche sitzen geblieben, die sie alle von Bingley hierhergebracht hatte. Mit einem eleganten Sprung schwang er sich aus dem offenen Duc und eilte mit langen, selbstsicheren Schritten auf den Landungssteg zu. Nach einer kurzen Unterhaltung mit dem zuständigen Offizier konnte Amber sehen, wie er an Bord verschwand.

»Rhys ist bestimmt seekrank geworden«, mutmaßte Maeve. »Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man den starken Seegang nicht verträgt. Erinnere dich nur an unsere Reise nach Ägypten vor einigen Jahren!«

»Rhys wird nicht seekrank«, widersprach Amber ungeduldig. »Du könntest ihn bei Sturm mit den Füßen nach oben am Mast aufhängen, und er würde immer noch seine Witze reißen.«

»Da kommen sie ja!«, rief Francis. Er machte sich von seiner Mutter los, packte Amber an der Hand und zog sie mit sich zum Landungssteg. Amber sträubte sich erst, doch ihr Halbbruder ließ nicht locker. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie Rhys entdeckte, der mit Camden und einigen Bediensteten oben an der Reling stand. Offensichtlich war er viel zu beschäftigt, um nach ihr Ausschau zu halten. Eine vornehm gekleidete Frau, die in einem Rollstuhl saß, nahm alle mit ihrem Kommandoton in Beschlag. Sie ließ gut ein halbes Dutzend Bediensteter nach ihrer Pfeife tanzen. Rhys und Camden gehörten ohne Zweifel auch dazu. Die Lady war es offensichtlich gewohnt, dass man ihren Anweisungen Folge leistete. Amber blinzelte verärgert gegen die Sonne. Warum zum Teufel ließ Rhys sich das von einer Wildfremden gefallen, wo er doch wissen musste, dass sie hier unten auf ihn wartete? Die Sonne verschwand für einen Augenblick hinter einer dünnen Wolke, sodass Amber die Person im Rollstuhl besser sehen konnte. Dann lachte sie auf.

»Das ist Olga Petrowna Kasakowna«, rief sie ebenso erleichtert wie amüsiert Maeve zu, die ihnen in gemessenem Tempo gefolgt war. »Kein Wunder, dass Rhys gegen sie keine Chance hat!«

Als hätte er ihre Worte gehört, drehte Rhys sich oben an der Reling in ihre Richtung und entdeckte Amber unten am Pier. Ein breites Grinsen erschien auf seinem oft so verschlossen wirkenden Gesicht. Trotz Olgas Protesten riss er sich los. Wenig später eilte er in großen Schritten über die Landungsbrücke auf den Pier. Entgegen allen Anstandsregeln konnte Amber nicht länger an sich halten. Sie setzte sich in Bewegung und eilte Rhys mit fliegenden Röcken entgegen. Mit jedem Schritt, den sie ihm näher kam, wurde ihr Herz leichter, und die Zweifel, die sie eben noch gehegt hatte, lösten sich in Wohlgefallen auf. Rhys fing sie mit ausgebreiteten Armen auf, hob sie empor und wirbelte sie einmal herum. Dann stellte er sie behutsam auf ihre Füße, zog sie zu sich heran, um aufmerksam ihr Gesicht zu studieren. Dabei sprach er kein Wort. Doch die Zärtlichkeit seiner bleigrauen Augen zeigte ihr all seine Liebe. Als er sie endlich voller Leidenschaft küsste, war ihr, als zöge ihr jemand den Boden unter den Füßen weg.

»Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe«, stieß er schließlich mit rauer Stimme aus. »Von nun an werde ich dich nie wieder von meiner Seite lassen.«

Amber löste sich behutsam aus seiner engen Umarmung und nahm sich nun ebenfalls Zeit, ihn ausgiebig zu betrachten. Die Falten um seine Mundwinkel waren noch etwas ausgeprägter geworden, und sein dichtes, dunkles Haar wies erste graue Strähnen auf. Dennoch erschien er ihr voller Tatendrang und viel gelöster als noch vor seiner Abreise. Sie hoffte sehr, dass es ihm endlich gelungen war, mit seiner Vergangenheit abzuschließen.

»Bist du mir noch immer böse, weil ich dich zu der Reise gedrängt habe?«, fragte sie etwas beklommen. »Vielleicht hätte ich dich doch begleiten sollen?«

Rhys schüttelte den Kopf. »Es war richtig so«, sagte er ernst. »Ich durfte dich da nicht mit hineinziehen.«

Bevor Amber weiter nachfragen konnte, machten Maeve und Francis auf sich aufmerksam, um Rhys ebenfalls zu begrüßen. Wenig später rauschte auch Olga Petrowna Kasakowna auf sie zu. Ihre Bediensteten und Camden hatten es mit großem Tamtam endlich geschafft, die temperamentvolle Russin in ihrem Rollstuhl heil von Bord zu schaffen. Wie immer genoss es ihre gemeinsame Freundin, im Mittelpunkt zu stehen.

»Wenn das mal keine außerordentlich angenehme Überraschung ist«, begrüßte sie Amber und Maeve mit ihrer rollenden Aussprache. Dabei wippte die Pfauenfeder ihres weit ausladenden Strohhuts wild auf und ab. »Ein schöneres Willkommen in England hätte ich mir nicht wünschen können! Das müssen wir feiern!« Sie winkte ihren Butler heran. »James, lass Champagner bringen«, befahl sie mit donnernder Stimme und brachte damit den armen Kerl in arge Bedrängnis.

»Wir haben im Augenblick keinen Champagner zur Verfügung, Mylady«, entschuldigte er sich mit zerknirschter Miene. »Aber wenn Ihr Euch einen Augenblick gedulden mögt, werde ich nochmals auf das Schiff zurückgehen und welchen besorgen.«

»Zu viel Umstand«, winkte die Kasakowna ungnädig ab, um sich sofort wieder Amber und Maeve zuzuwenden. »Wir holen das in London in aller Ausführlichkeit nach. Ihr müsst mich dort so schnell wie möglich besuchen kommen. Keine Widerrede!«

Maeve räusperte sich verlegen, während Amber tapfer versuchte, den Redeschwall der Russin zu unterbrechen.

»Liebste Olga, wir freuen uns sehr, dich zu sehen. Natürlich werden wir dich besuchen. Nichts lieber als das. Sobald Rhys sich wieder etwas eingelebt hat, werden wir ganz sicher eine Reise nach London in Erwäg…«

»Ja, ja, ja …«, unterbrach die Kasakowna ihre Ausflüchte, »Rhys hat mir während der Reise schon alles erzählt.« Sie musterte sie beide mit offensichtlichem Wohlgefallen. »Was seid ihr doch für ein schönes Paar«, stellte sie zufrieden fest. »Und wäre ich nicht gewesen, hättet ihr euch niemals kennengelernt!« Sie kicherte und fächelte sich mit ihrem Fächer etwas Luft zu. »Eure ewigen Wortgefechte und Streitigkeiten mussten ja in Liebe enden, nicht wahr?«

»Das hast du treffend bemerkt«, meinte Rhys schmunzelnd. Amber spürte, wie sie errötete. Der Beginn ihrer Bekanntschaft hatte tatsächlich unter keinem besonders guten Stern gestanden. Rhys und sie hatten sich fast ununterbrochen gestritten, bevor sie auf vielen Umwegen im fernen Assam ihre Liebe füreinander entdeckt hatten. Doch darüber wollte sie jetzt nicht sprechen. Sie zog es vor, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.

»Was ist dir zugestoßen, dass du in einem Rollstuhl sitzen musst?«, erkundigte sie sich besorgt. »Hattest du einen Unfall?«

»Ein tragisches Missgeschick«, schnaubte Olga dramatisch und hob zur Demonstration ihren schweren, braunen Brokatrock ein wenig an, sodass alle Umstehenden den dicken Verband um ihren Fuß sehen konnten. »Ich bin beim Tanztee an Bord unglücklich gestolpert und auf meinen ungeschickten Tanzpartner gefallen. Er hat mir dieses Malheur eingebrockt. Wer weiß, vielleicht werde ich für immer ein Krüppel sein.«

Amber registrierte, wie Rhys nur mit Mühe ein weiteres Schmunzeln verbergen konnte.

»Werte Olga«, mischte er sich dann doch ein. »Um dem armen Mister Longley Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, musst du zugeben, dass es ihn weit schlimmer erwischt hat als dich. Er hat sich bei dem Sturz mehrere Rippen gebrochen, während dein Fuß nur verstaucht ist, wie Doktor Miller dir mehrfach versichert hat.«

»Das wird sich erst noch herausstellen«, meinte Olga beleidigt. »Der Schiffsarzt war ein Dilettant, während du dagegen ein Ignorant bist, geschätzter Rhys. Ich werde in London den Rat einiger Koryphäen einholen müssen, um wieder zu genesen.«

»Das ist zweifelsohne eine sehr gute Idee. Am besten, Ihr wendet Euch gleich an den Hofarzt der Königin«, mischte sich Camden nun mäßigend in die Unterhaltung ein. Er musste bemerkt haben, dass Rhys bereits zu einer weiteren spöttischen Bemerkung ansetzte. »Was haltet Ihr im Gegenzug davon, werte Madame Kasakowna, uns nach Eurer Genesung in Highgrove Manor aufzusuchen?«

»Das ist eine wundervolle Idee, lieber Master Callahan«, sagte Olga mit einem huldvollen Lächeln in Camdens Richtung. »Falls ich dazu überhaupt jemals in der Lage sein werde …« Sie seufzte und warf Rhys einen ungnädigen Blick zu. »Auch wenn andere an meinem Leid offensichtlich weniger Anteil nehmen.«

»Dann werdet Ihr sicherlich auch Verständnis dafür haben, dass wir uns langsam auf den Heimweg machen müssen«, meinte Camden charmant. »Der Weg nach Bingley ist weit.«

»Geht in Gottes Namen. Auch ich habe schon viel zu viel Zeit hier mit Euch vertrödelt.«

Highgrove Manor, Bingley, West Yorkshire

Als die Kutsche mit den Heimkehrenden sich endlich der Auffahrt von Highgrove Manor näherte, war es bereits dunkel. Das stattliche Anwesen strahlte schon von Weitem wegen seiner großzügigen Gasbeleuchtung Wärme und Behaglichkeit aus. Sein Besitzer, Sir Reginald Callahan, liebte helle Räume. Das herrschaftliche Haus mit seinen grauen Steinmauern und dem schiefergedeckten dunklen Dach lag inmitten eines weitläufigen Parks, der eine herrliche Aussicht auf das umliegende Hügelland bot. Nur wenige hundert Yards hinter den großen Bäumen, die den Herrschaftssitz umgaben, verbarg sich die Spinnerei Callahan & Sons und dahinter die Siedlung der Arbeiter. Das Wohnhaus selbst bestand aus einem weiträumigen, zweistöckigen Mittelbau, an den sich zwei kleinere Seitenflügel anschlossen. Die breite Kiesauffahrt führte in einem großen Bogen vor den Eingangsbereich. Ein halbrunder Säulenportikus beschirmte die hohe zweiflügelige Eingangstür.

Kaum war der Duc mit seinem Doppelgespann zum Stehen gekommen, öffnete sich schon die Tür. Sir Reginald, Ambers und Camdens Vater, trat, feierlich in Frack und schwarze Hose gekleidet, hinaus. Dicht hinter ihm folgte die versammelte Dienerschaft. Es gelang ihm kaum, die Freude über das Wiedersehen zu verbergen.

»Du hast uns allen gefehlt.« Eine Hand um die Schulter seines Schwiegersohns, die andere um Amber gelegt, geleitete er sie ins Haus. »Du verzeihst mir hoffentlich meine Befürchtungen, dass du überhaupt nicht mehr zurückkehren könntest?« Reginald konnte sich die etwas provozierende Bemerkung nicht verkneifen. Weder seine Tochter noch sein Schwiegersohn hatten ihm jemals verraten, was Rhys in seiner Heimat Nordamerika getan hatte. Seines Wissens hatte er dort nicht einmal mehr eine Familie.

Rhys räusperte sich. »Es war nicht mein Plan, werter Schwiegervater, so lange fortzubleiben. Leider gab es Umstände, die eine frühere Heimkehr nicht möglich machten. Immerhin kann ich dir versichern, dass alles besser gelaufen ist, als ich zu hoffen wagte.«

»Dann lass uns alles nach dem Dinner bei einem guten Glas Whisky besprechen«, schlug Sir Reginald aufgeräumt vor. Er brannte darauf, endlich Näheres zu erfahren. Doch seine Tochter Amber hatte anderes vor.

»Rhys hat eine lange, beschwerliche Reise hinter sich, lieber Vater«, mischte sie sich zu seinem Bedauern ein. »Du wirst verstehen, wenn wir uns heute Abend früh zurückziehen wollen. Lass uns morgen darüber reden.«

»Aber das Dinner …«, wandte Reginald enttäuscht ein. »Missis Evans hat sich damit so viel Mühe gegeben.«

»Sie wird es schon verschmerzen.« Amber ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. »Ich werde sie persönlich bitten, uns eine Kleinigkeit auf unser Zimmer zu bringen. Ihr müsst euch leider noch ein wenig gedulden. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag.« Sie küsste ihn auf die Wange und zog Rhys mit sich zu dem Seitenflügel, den sie bewohnten.

»Wie ihr meint«, brummte Reginald verstimmt. »Dann sehen wir uns also morgen zum Frühstück.«

Auch Camden machte Anstalten zu gehen.

»Ich werde ebenfalls nach Hause gehen«, meinte er mit einem entschuldigenden Lächeln. »Beatrice ist derzeit nicht gerne alleine. Die Schwangerschaft setzt ihr ziemlich zu.« Dafür hatte Reginald schon mehr Verständnis. Die Frau seines Sohnes war nach fast fünf Jahren Ehe nun endlich zum ersten Mal schwanger geworden.

»Immerhin ergehst du dich zumindest nicht in Ausflüchte wie deine Schwester«, brummte er und verabschiedete seinen Sohn. Nun blieben nur noch Maeve und er übrig. »Ich habe nun auch keinen großen Appetit mehr. Was hältst du davon, wenn wir Missis Evans ebenfalls nur um eine Kleinigkeit bitten und es uns im Salon bequem machen?«

Maeve war sofort einverstanden. Auch sie schien müde, und ihr gemeinsamer Sohn Francis, Reginalds jüngster Sohn, war auf der Fahrt ohnehin eingeschlafen und wurde von seinem Kindermädchen gerade ins Bett gebracht.

Im Salon ließ sich Reginald seufzend auf einem Ledersessel vor dem Kaminfeuer nieder. Maeve nahm ihm gegenüber Platz, während der Butler einige Sandwiches und etwas Wein servierte. Reginald nahm ein Sandwich und sah es lustlos an. Als Familienoberhaupt fiel es ihm schwer, sich damit abzufinden, dass nicht mehr alles nach seiner Pfeife tanzte. Jeder ging hier allmählich seiner eigenen Wege, und er konnte kräftemäßig nicht mehr so mithalten, wie er es gern gewollt hätte. Seine angegriffene Gesundheit hatte ihn kürzlich dazu gezwungen, sich weitgehend aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen. Mittlerweile hatte sein Sohn Camden die Geschicke der Spinnerei Callahan & Sons in die Hand genommen. Ihm blieb nur noch seine Tätigkeit als Abgeordneter im Unterhaus, die ihn allerdings nicht ausreichend beanspruchte – wie er fand. Es war ihm ein grundlegendes Anliegen, über alles informiert zu sein, was in seinem Umfeld geschah. Maeve schien seine Gedanken zu erraten.

»Nun sieh doch nicht so griesgrämig drein«, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. »Rhys und Amber haben sich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sie werden einiges zu bereden haben und brauchen erst einmal etwas Zeit füreinander.«

»Das verstehe ich ja«, brummte Reginald widerwillig und strich sich dabei fahrig über seinen rötlich grauen Backenbart. »Trotzdem wird man sich als Vater ja wohl so seine Gedanken machen dürfen. Es macht mich unruhig, wenn ich nicht weiß, was mein Schwiegersohn so treibt. Amber hat mit ihrem ersten Gatten schon genügend Schreckliches erleben müssen. Ich möchte ihr einfach eine weitere Enttäuschung ersparen. Schon deshalb muss ich wissen, was Rhys in Amerika gemacht hat. Wieso hat er seine Frau nicht auf diese Reise mitgenommen?«

»Amber weiß, was sie tut«, wandte Maeve, wie schon so oft, ein. »Sie war damit einverstanden, dass er alleine auf Reisen ging. Die Hauptsache ist doch, dass sie nun wieder beisammen sind.«

»Rhys mag ja ein feiner Kerl sein«, gab Reginald mürrisch zu, »aber dennoch ist er Amerikaner. Ich bezweifle einfach, dass er das Format hat, meiner Amber ein angemessenes Leben zu ermöglichen. Bevor er nach Boston aufgebrochen ist, war er nahezu mittellos. Ich hoffe nur, dass sich diese Umstände durch seine Reise endlich geändert haben.«

»Ich fürchte leider, dass genau dies nicht eingetreten ist«, sagte Maeve leise. »Camden hat mir anvertraut, dass Rhys eine Passage dritter Klasse gebucht hatte. Das hätte er wohl kaum, wenn er zu Geld gekommen wäre.«

»Warum hat er sich dann nicht an mich gewandt? Ich hätte ihm sofort die notwendigen Mittel für eine anständige Überfahrt anweisen lassen! Er ist immerhin mein Schwiegersohn und gehört damit zur Familie.«

»Rhys ist viel zu stolz dafür. Er würde niemals Geld von dir oder Amber annehmen. Ich glaube sogar, dass es ihm schwerfallen wird, hier mit uns auf Dauer unter einem Dach zu leben. Er ist es gewohnt, unabhängig zu sein.«

»Jetzt hat er eine Frau, um die er sich kümmern muss. Da muss er schon mal Kompromisse machen«, brummte Reginald ungnädig. »Vor allem, wenn es um meine einzige Tochter geht. Ich werde gleich morgen mit ihm ein ernstes Wörtchen reden. Ich muss wissen, wie sich die beiden ihre Zukunft vorstellen!«

»Bedräng ihn nicht zu sehr«, riet ihm Maeve. »Er kann, wie du weißt, überaus empfindlich reagieren. Außerdem ist Amber durch das Vermögen, das Ashton ihr hinterlassen hat, eine unabhängige Frau.«

»Das ist doch kein Leben für einen Mann, wenn er vom Geld und Ansehen seiner Frau leben muss«, rümpfte Reginald verächtlich die Nase. Maeve sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. Peinlich berührt wich er ihrem Blick aus. Er wusste genau, was sie gerade dachte. Schließlich hatte auch er, als er um sie geworben hatte, einen Hintergedanken gehabt. Maeves Familie besaß im Gegensatz zu den Callahans einen Adelstitel. Durch die Heirat mit ihr hatte sich seine gesellschaftliche Stellung merklich verbessert.

2

Amber und Rhys konnten es kaum erwarten, endlich allein zu sein. Viel zu lange dauerte es ihnen, bis Stetson, der Butler, aus der Küche etwas Pastete, Salat und Sandwiches serviert hatte. Als er sich dann auch noch umständlich daranmachte, die Flasche Rotwein zu öffnen, nahm Rhys sie ihm samt Öffner aus der Hand.

»Ihr könnt jetzt gehen, Stetson«, meinte er und komplimentierte den Butler höflich, aber bestimmt hinaus. »Wir brauchen Euch heute Abend nicht mehr.« Kaum hatte Stetson den Raum verlassen, stellte Rhys die Flasche ungeöffnet auf dem Tisch ab und zog Amber, die auf einem Stuhl Platz genommen hatte, zu sich hoch. Dieses Mal übte er keine Zurückhaltung, als er sie leidenschaftlich küsste. Amber wurde schwindlig bei seiner Berührung. Sie fühlte, wie ihre Knie nachgaben, als seine Hand in ihren Ausschnitt glitt und fest ihre Brust umfasste.

»Wir haben noch nicht einmal gegessen«, protestierte sie schwach.

Rhys hörte nicht auf sie. Mit geschickten Handgriffen löste er die Haken und Schnüre, die ihr Kleid zusammenhielten. Währenddessen liebkoste seine Zungenspitze ihr Ohrläppchen und wanderte weiter ihren Hals hinab. Sie stöhnte vor Erregung, als ihr wohlige Schauer über den Körper liefen. Ungeduldig befreite Rhys sie von ihrem Überkleid und den lästigen Unterröcken. Während sie den Verschluss der Krinoline öffnete, lockerte er ihr Korsett.

»Warum müsst ihr Frauen nur so viel Wäsche tragen?«, beschwerte er sich ungeduldig. Endlich hatte er es geschafft. Korsett, Unterhose und Unterkleid lagen achtlos auf dem Boden. Sein Atem ging stoßweise, als er bewundernd ihren nackten Körper betrachtete. Voller Vergnügen beobachtete sie, wie sich der Stoff seiner Hose weit vorwölbte. Mit einem geübten Griff umfasste sie sein Gemächt und sah ihn herausfordernd an.

»Mein Gott, wie hab ich das vermisst«, stöhnte er gepresst. Amber verlor keine Zeit und öffnete seine Hose. Er umfasste ihre Taille und hob sie in die Höhe, als wäre sie leicht wie eine Feder. Dann legte er sie aufs Bett. Einen kleinen Augenblick zögerte er. Doch als Amber herausfordernd die Beine spreizte, besann er sich nicht länger und kam ihrer Aufforderung nach. Er kam im selben Augenblick, als er in sie eindrang.

»Es tut mir leid«, hauchte er später in ihr Ohr und liebkoste dabei zärtlich ihre schneeweißen Brüste. »Ich habe so oft davon geträumt, wie ich dich stundenlang verwöhne – und jetzt das.« Amber lächelte glücklich und streichelte ihm über sein wirres, schwarzes Haar. »Wir haben noch die ganze Nacht«, flüsterte sie verheißungsvoll.

Mit dem Zwitschern der ersten Vögel wachte Amber bereits wieder auf. Sie waren beide erst in den frühen Morgenstunden eingeschlafen. Das Verlangen nach körperlicher Nähe hatte sie kaum schlafen lassen. Wieder und wieder hatten sie sich geliebt und dabei ihre Körper neu entdeckt. Rhys erstaunte sie jedes Mal aufs Neue mit seiner Fantasie. Er konnte einmal zärtlich, dann wieder wild und besitzergreifend sein. Dabei gab er ihr nie das Gefühl, die Unterlegene zu sein. Im Gegenteil. Er mochte es, wenn sie den Ton angab, und erriet ihre geheimsten Wünsche, ohne dass sie etwas zu sagen brauchte.

Versonnen betrachtete Amber ihren schlafenden Mann. Mit entspanntem Gesicht, auf dem ein leises Lächeln ruhte, schlief er neben ihr, als wäre er nie fort gewesen. Sie hatten noch keine Zeit gefunden, ausführlich über seine Reise zu reden. Amber fand es im Augenblick auch nicht wichtig. Sie genoss das Glück, endlich wieder mit Rhys zusammen zu sein.

Vorsichtig glitt sie aus ihrem Bett und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Da Rhys noch in ihrem Zimmer lag, verzichtete sie darauf, nach Jane zu klingeln, damit sie ihr beim Ankleiden half. Stattdessen öffnete sie das Fenster und betrachtete voller Glück den Park von Highgrove Manor. Es war ein wunderschöner Sommermorgen. In der Nacht hatte es etwas geregnet, sodass Blätter und Blumen in der aufgehenden Sonne wie bunte Glitzersteine leuchteten. Die Luft war klar und rein, und der Himmel strahlte bis auf ein paar harmlose Federwölkchen in kräftigem Azurblau. Aus den Stallungen hörte sie Geräusche. Es waren die Pferdeburschen, die mit dem Ausmisten der Pferdeboxen begannen. Einer von ihnen pfiff ein fröhliches Lied, woraufhin er von dem Stallmeister zusammengestaucht wurde.

Von ihrem Fenster aus sah Amber auf Camdens neues Anwesen hinüber. Ihr Bruder hatte sich unweit der Spinnerei ein eigenes Haus bauen lassen, das er nun mit seiner Frau Beatrice bewohnte, die endlich schwanger geworden war. Trotz des äußeren Anscheins von Zufriedenheit fragte sich Amber immer wieder, ob die beiden glücklich waren. Beatrice war eine ruhige, etwas spröde Frau, die ihren Bruder in vielerlei Hinsicht unterstützte. Sie interessierte sich sogar für seine Geschäfte und war ihm immer wieder ein guter Ratgeber. Außerdem war sie rücksichtsvoll genug, von Camden nie zu viel zu verlangen. Großzügig duldete sie, dass ihr Mann hin und wieder für einige Tage alleine nach London reiste, um Zeit mit seinen alten Freunden zu verbringen. Amber kam es manchmal so vor, dass sie ihn darin sogar unterstützte.

Ein Reiter lenkte sie von ihren Gedanken ab. Er kam aus Richtung Bingley und trabte auf eine Anhöhe zu, die von einer weit ausladenden Eiche bekrönt wurde. Dort verharrte er mit Blickrichtung auf Camdens Haus. Amber fragte sich, wer der Fremde sein mochte. Für gewöhnlich verirrten sich keine Durchreisenden auf ihr Land. Das Rascheln von Bettlaken lenkte sie von ihren Überlegungen ab. Rhys war gerade aufgewacht. Mit einem Lächeln wandte sie sich ihm zu.

»Bist du schon lange wach, Wirbelwind?« Amber spürte, wie ein wohliger Schauer über ihren Rücken huschte. »Wirbelwind«, so hatte Rhys sie schon lange nicht mehr genannt. Es klang so wunderbar vertraut nach dieser langen Zeit. Sein ausgestreckter Arm lockte sie zurück in ihr Bett. Amber überlegte nicht lange. Bereitwillig ließ sie sich von ihm zwischen die Laken ziehen.

Als sie später erschöpft, aber glücklich von seinen Liebkosungen in seinen Armen lag, fand sie es an der Zeit, mit ihm über die Zeit in Amerika zu reden.

»Hast du erreicht, was du wolltest?« Sie fürchtete seine Antwort, weil er zunächst einmal schwieg.

Rhys hatte aus seinem Vorleben lange ein Geheimnis gemacht. Nie würde sie den Tag vor ihrer Hochzeit in Bombay vergessen, wo zumindest für ihn alles auf der Kippe gestanden hatte. »Ich möchte, dass du mich nur heiratest, wenn du weißt, worauf du dich einlässt«, hatte er ihr verkündet. Sie hatte immer geahnt, dass es ein dunkles Geheimnis in seiner Vergangenheit gab, und war froh gewesen, dass er es endlich mit ihr teilen wollte. Doch als er ihr davon erzählte, war sie zutiefst schockiert.

Rhys war in Boston bereits einmal verheiratet gewesen und hatte einen kleinen Sohn gehabt. Doch diese Ehe hatte nie unter einem glücklichen Stern gestanden. Seine Frau und er hatten sich viel zu jung kennengelernt. Sibyl hatte ihm während eines Sommerfestes den Kopf verdreht und ihn verführt. Er hatte sich auf sie eingelassen, weil sie hübsch und lebenslustig war. Für ihn war es nie mehr als eine Affäre gewesen – und für Sibyl wohl auch nicht. Doch dann war sie schwanger geworden, und er hatte die Verantwortung übernommen und sie geheiratet. Bereits nach wenigen Wochen stellte sich heraus, dass sie nicht füreinander geschaffen waren. Sibyl war lebenslustig und wollte ausgehen, während Rhys gerade seinen Universitätsabschluss machte und promovierte. Aus Frust, dass er kaum Zeit für sie und den kleinen Billy gehabt hatte, hatte sie zu trinken begonnen. Wenn er abends nach Hause kam, war sie oft besoffen und machte ihm unwürdige Szenen, weil er sie vernachlässigt hatte. Seine Beschwichtigungsversuche endeten regelmäßig in Gewalt auf Seiten seiner Frau. Sibyl geriet außer sich, griff nach dem nächstbesten Schürhaken oder Wellholz und ging damit auf ihn los.

»Sie schaffte es, dass ich mit einem blauen Auge vor meine Studenten treten musste«, hatte Rhys ihr damals gestanden. Amber erinnerte sich, dass ihm vor Scham Tränen in den Augen gestanden hatten. »Ich wagte nicht, mich gegen ihre Brutalität zu wehren. Sie war doch schließlich eine Frau. Also stürzte ich mich immer mehr in meine Arbeit an der Universität und kam nur noch selten nach Hause. Wäre der kleine Billy nicht gewesen, ich hätte sie längst verlassen.« Mit brüchiger Stimme hatte er ihr von dem grässlichen Streit an ihrem letzten gemeinsamen Abend erzählt. »Sibyl hatte mir offen gestanden, dass sie es auch noch mit anderen trieb – und Billy möglicherweise nicht einmal mein Sohn sei. Ich fühlte mich so gedemütigt und verraten. Dieses Mal hatte sie den Bogen überspannt. Ich war fest entschlossen, sie endgültig zu verlassen, und sagte ihr das auch. Doch sie verhöhnte mich nur, beschimpfte mich als Schwächling und bewarf mich mit Gegenständen. Es war für uns beide eine entwürdigende Situation. Ich wurde so wütend, dass ich sie beinahe geschlagen hätte. Bevor es dazu kam, verließ ich das Haus. Ich stürmte in Richtung Hafen und Meer. Ich brauchte dringend frische Luft, um meiner Erregung wieder Herr zu werden. Danach ging ich in eine Hafenkneipe und bestellte mir eine Flasche Whisky. Dabei kam ich mit einem Matrosen ins Gespräch, der sich geduldig meine Probleme anhörte, während wir meine Flasche leerten. Es tat so gut, mit jemandem zu reden und dabei wenigstens für eine Weile Sibyl zu vergessen. Doch die Folgen waren grauenvoll. Ich war an diesem Abend so betrunken, dass ich mich bis heute nicht mehr an jene Nacht erinnere. Meine letzte Erinnerung ist diese Hafenkneipe. Am nächsten Morgen fand man mich jedoch bei den Überresten meines noch brennenden Hauses. Sibyl und Billy waren darin auf schreckliche Weise ums Leben gekommen.« Bei der Erinnerung an jene schreckliche Nacht hatten sich Rhys’ Augen vor Entsetzen geweitet. Seine Hände zu Fäusten geballt, hatte er Amber zitternd angestarrt. »Verstehst du, was das bedeutet? Es kann sein, dass ich ein Mörder bin! Man hat mich nur aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Ich kann einfach nicht verlangen, dass du mich heiratest!«

Seine Verzweiflung und seine Schuldgefühle waren in diesem Moment so greifbar gewesen, dass Amber zutiefst erschüttert gewesen war. Doch dann hatte sie seine Hände genommen und sich fest an ihn geschmiegt. In diesem Augenblick war sie ihm so nah gewesen wie niemals zuvor. Damals war es das erste Mal gewesen, dass er seinen Schutzschild aus Zynismus und Spott vor ihr hatte fallen lassen. Er war einfach er selbst gewesen. Von diesem Augenblick an hatte sie gewusst, dass sein Geständnis nichts an ihrer Beziehung zu ihm ändern würde.

»Du musst nach Boston reisen und herausfinden, was in dieser Nacht wirklich geschehen ist«, hatte sie ihm schließlich geraten. »Nur wenn du Gewissheit darüber hast, was geschehen ist, wirst du deine schrecklichen Schuldgefühle loswerden. Wir werden morgen heiraten und dann gemeinsam dorthin reisen.«

Rhys hatte sich von ihr losgemacht und ihr widersprochen. Doch sie hatte sich nicht unterkriegen lassen. Die ganze Nacht hatte sie auf ihn eingeredet. Er hatte sich ihren Argumenten schlussendlich nicht verschließen können, allerdings bestand er darauf, dass er allein nach Amerika reiste. Amber war nur bereit einzuwilligen, wenn sie trotzdem heirateten. Und so war es auch geschehen. Seit diesem Gespräch waren über zwei Jahre vergangen.

»Meine Unschuld ist nun endlich erwiesen, auch wenn es diese schreckliche Nacht nicht ungeschehen macht«, durchbrach Rhys endlich Ambers Erinnerungen. Sie stützte sich auf ihren Ellenbogen und sah ihn erwartungsvoll an. »Ich hatte nie einen Zweifel daran und bin glücklich, dass diese schwere Last endlich von dir genommen ist.« Rhys nickte und strich ihr gedankenverloren über den Rücken.

»Trotzdem hat es viel Kraft gekostet. Es war nicht leicht, mich dieser Verantwortung zu stellen. Am schlimmsten war es, meinen ehemaligen Freunden gegenüberzutreten. Ich traf sie zwangsläufig bei meinen Nachforschungen. In ihren Augen war ich ein zu Unrecht Freigesprochener, ein Mörder, der das Leben seiner Frau und seines Kindes auf dem Gewissen hatte. Keiner konnte verstehen, weshalb ich nochmals zurückgekehrt bin.«

»Die Menschen können grausam sein«, bestätigte Amber aus eigener, bitterer Erfahrung. »Was hast du getan, um sie vom Gegenteil zu überzeugen?«

»Ich habe einen Detektiv engagiert, einen fähigen Mann, der mich mein Erspartes gekostet hat. Aber es hat sich gelohnt. Ich habe ihn darauf angesetzt, alles herauszufinden, was sich in jener schrecklichen Brandnacht in Boston ereignet hat. Vor allem sollte er den Matrosen finden, mit dem ich damals gezecht hatte. Schon bald hatte er eine Liste mit allen Schiffen und ihren Heuerlisten, die in jener Nacht im Hafen von Boston geankert hatten und am nächsten Tag wieder ausgelaufen waren, denn das und das ungefähre Aussehen des Matrosen waren die einzigen Anhaltspunkte, die ich dem Detektiv liefern konnte. Daraufhin hat er sich an die Herkulesaufgabe gemacht, den Matrosen zu finden. Unsere Chancen waren nicht übermäßig groß. Der Matrose konnte längst auf einer anderen Linie angeheuert haben. Dann hätten wir ihn niemals gefunden. Doch wir hatten Glück. Nach beinahe einem Jahr fand er tatsächlich den Mann, der sich mit mir betrunken hatte. Er konnte sich noch genau an mich erinnern, weil ich ihm im Suff meine Taschenuhr geschenkt hatte. Dieser Matrose hat tatsächlich ausgesagt, mit mir bis in die frühen Morgenstunden beisammen gewesen zu sein. Nachdem die Kneipe am Abend dichtgemacht hatte, sind wir mit einer weiteren Flasche Whisky zu einer Scheune getorkelt, um sie dort zu leeren. Ich war so betrunken, dass ich kurz darauf eingeschlafen sein muss. Im Morgengrauen ging der Matrose zurück auf sein Schiff, während ich in meinem Rausch nach Hause wankte. Das bedeutete, dass ich bei Ausbruch des Brandes gar nicht am Brandort gewesen sein konnte. Ich war erst dazugekommen, als das Haus schon bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Dort hat man mich auch aufgegriffen.«

»Was ich nicht verstehe …«, überlegte Amber,«… wieso wurdest du dann überhaupt der Brandstiftung und des Mordes bezichtigt?«

Rhys lachte bitter auf. »Mein bester Freund Daniel hat damals ausgesagt, dass er mich in der Nacht auf unserer Veranda gesehen hat. Es muss kurz vor dem Brand gewesen sein.«

»Er hat eine Falschaussage gemacht?«, fragte Amber entsetzt.

»Dazu hatte er einen guten Grund«, bestätigte Rhys. »Er und Sibyl hatten hinter meinem Rücken ein Verhältnis.«

»Mein Gott! Es muss fürchterlich für dich gewesen sein, das zu erfahren.«

Rhys zuckte mit den Schultern. »Im Gegenteil! Nun habe ich endlich eine Erklärung für alles. Jahrelang bin ich davon ausgegangen, dass mein bester Freund Daniel die Wahrheit gesagt hat. Dadurch wurden meine Schuldgefühle immer wieder bestätigt. Wenn ich in dieser Nacht tatsächlich noch einmal in unser Haus zurückgekehrt wäre, hätte es gut möglich sein können, dass ich ausgerastet wäre. Sibyl hatte mich betrogen und in mir Zweifel gesät, ob ich überhaupt Billys Vater sei. Außerdem war ich betrunken. Da wäre eine Kurzschlussreaktion nicht verwunderlich gewesen.«

»Aber weshalb hat Daniel das getan?«

»Das habe ich mich auch lange gefragt«, antwortete Rhys bitter. »Ich habe ihn schließlich mit meinen Erkenntnissen konfrontiert und zur Rede gestellt. Anfangs wollte er mich nicht einmal in sein Haus lassen. Er drohte mir sogar damit, den Sheriff zu holen. Doch ich ließ mich nicht abweisen. Nachdem ich ihn ordentlich in die Mangel genommen hatte, brach er unter der Last der Beweise heulend zusammen und gestand mir alles. Sibyl und er hatten sich an jenem Unglücksabend nochmals in meinem Haus getroffen. Dabei müssen die beiden ordentlich getrunken haben und danach ebenfalls in Streit geraten sein. Jedenfalls gab es ein Handgemenge, bei dem die Petroleumlampe umfiel und die Gardinen Feuer fingen. Anstatt das Feuer zu löschen, verließ Daniel wütend das Haus. Er nahm an, dass Sibyl den Brand leicht selbst hätte löschen können. Doch sie war dazu nicht mehr in der Lage. Daniel ist einfach weggegangen und hat den Brand billigend in Kauf genommen. Dieser Feigling hat nicht einmal versucht, Sibyls und Billys Leben zu retten. Er ist nach Hause gegangen und hat sich zu seiner Frau ins Bett gelegt, als wäre nichts gewesen. Wenn einer die beiden auf dem Gewissen hat, dann ist er es.«

»Mein Gott, das ist ja fürchterlich!« Amber fröstelte. »Hast du ihn der Polizei übergeben?«

»Nein, das habe ich nicht«, meinte Rhys erstaunlich gefasst. »Ich wollte ihn Ruth und seinen Kindern nicht endgültig wegnehmen. Daniel ist gestraft genug. Ich habe dafür gesorgt, dass der Prozess gegen mich nochmals aufgenommen wurde und ich einen ordentlichen Freispruch bekam. Damit kam Daniels Falschaussage auf den Tisch. Er bekam eine Anzeige und verlor daraufhin seinen Lehrstuhl an der Universität. Er wird nun kleinere Brötchen backen müssen. Damit hat er die gleichen Folgen zu tragen wie ich damals. Wie er mit seinem eigenen Gewissen klarkommt, muss er selbst wissen. Als ich ihn zum letzten Mal sah, war er nur noch ein Häufchen Elend. Ich sehe keinen Sinn darin, ihn dafür hinter Gitter zu bringen. Das macht weder Sibyl noch Billy wieder lebendig.«

Amber sah Rhys bewundernd an. »Das ist sehr edel von dir. Ich weiß nicht, ob ich diese Großzügigkeit besessen hätte.«

»Vergiss Daniel …«, meinte er und sah sie voller Liebe an. Seine grauen Augen bekamen einen intensiven Glanz. »Was jetzt zählt, ist die Tatsache, dass ich nun endlich frei bin! Frei für unsere gemeinsame Zukunft!«

Wie jeden Freitag studierte Camden nach dem Frühstück ausführlich den Economist. Die liberale Wochenzeitung berichtete erfreulich objektiv über alle relevanten Themen in Wirtschaft, Finanzen, Politik und Wissenschaft. Neuerdings gab es auch einen eigenen Bereich für Kultur.

Interessiert verfolgte Camden derzeit die Berichte über den stetig wachsenden Kautschukboom. Seit Charles Goodyear 1839 das Verfahren der Vulkanisierung entdeckt hatte, wurde Kautschuk in vielen industriellen Zweigen eingesetzt. Leider war die Gewinnung des flüssigen weißen Rohstoffes ziemlich mühselig. Die Kautschukbäume wuchsen nur an bestimmten Stellen in den weitläufigen und schwer erreichbaren Urwaldgebieten am Amazonas. Alle Versuche, sie in Plantagen zu pflanzen, waren bislang fehlgeschlagen. Aus diesem Grund mussten die Kautschuksammler jeden Tag weite Strecken zurücklegen, um das weiße Gold einzusammeln, noch dazu in einem mörderischen, feuchtheißen Klima voller Mücken und Krankheiten. Camden hatte gelesen, dass es gar nicht so leicht war, willige Arbeitskräfte zu finden. Dazu benötigte man robuste Männer, die bereit waren, sich den Widernissen zu stellen. Dennoch war er der festen Überzeugung, dass der Rohstoff eines Tages genauso wertvoll sein würde wie Gold.

Seit einiger Zeit spielte er mit dem Gedanken, selbst in eine Kautschukplantage zu investieren, als stiller Teilhaber. Er hatte diesbezüglich ein Angebot von einem portugiesischen Geschäftsmann erhalten, das er derzeit von seinen Gewährsmännern in London prüfen ließ. Ein gewisser Tiago de Andrade versprach ihm einen Anteil von stolzen vierzig Prozent am Gewinn, wenn er in seinem Unternehmen eine Einlage von zwanzigtausend Pfund machen würde. So wie es aussah, würde er das Geschäft in den nächsten Tagen tätigen.

Eigentlich hatte Camden das Geld nicht übrig. Sie hatten in der Spinnerei in neue Maschinen investieren müssen, was die Rücklagen seines Unternehmens fast vollständig aufgebraucht hatte. Er hatte einen Kredit aufnehmen müssen, um bei Andrade einsteigen zu können. Obwohl die Leitung der Spinnerei und seine Stellung als Ehemann und künftiger Familienvater aus Camden mittlerweile einen gesetzten Mann gemacht hatte, blieb ein Teil seines Wesens das eines Spielers. Die Aussicht auf sprudelnde Geldquellen und das damit verbundene Risiko, auch alles verlieren zu können, brachte sein Blut in Wallung. Die Frage war nur, ob er diesem Andrade trauen konnte.

Er legte die Zeitung beiseite, trank noch einen Schluck Tee und erhob sich. Es wurde Zeit, in der Spinnerei nach dem Rechten zu sehen. Sie erwarteten heute eine größere Menge Baumwolle, deren Qualität er noch überprüfen wollte. Beim Hinausgehen überlegte er, ob er kurz nach Beatrice sehen sollte. Doch mit einem Blick auf seine Taschenuhr entschied er sich dagegen. Er redete sich gerne ein, dass seine Frau noch schlief und ihre Ruhe dringend brauchte. Schließlich erwartete sie in den nächsten Tagen ihr erstes gemeinsames Kind. Der Gedanke, Vater zu werden, erfüllte Camden mit Stolz. Er freute sich auf das Kind und hoffte sehnlichst, dass es ein Junge würde. Mit einem Jungen hatte er seine Pflicht, für einen Stammhalter zu sorgen, erfüllt und war nicht länger verpflichtet, mit Beatrice Beischlaf auszuüben. Arme Beatrice, dachte Camden nicht zum ersten Mal. Sie ist so eine wundervolle Frau und hat einen Mann wie mich einfach nicht verdient.

Vor dem Stall wartete der neue Stallmeister James Crombie bereits mit dem gesattelten Pferd.

»Guten Morgen, Sir«, begrüßte ihn der junge Mann mit einem freundlichen Grinsen. Dabei entblößte er eine Reihe blendend weißer Zähne.

Camden grüßte ebenfalls, vermied es allerdings, James dabei direkt in die Augen zu sehen. Er fürchtete, mit seinem Blick verraten zu können, wie gut ihm der Mann gefiel.

Dass er selbst anders war als die meisten anderen Männer, war ihm schon lange klar. Sosehr er sich all die Jahre auch bemüht hatte – es gelang ihm nicht, mehr als Achtung und Respekt für Beatrice oder eine andere Frau zu empfinden. Dabei war er seiner Ehefrau ehrlich zugetan. Sie war klug, auf ihre Art schön und auch humorvoll, aber sobald er ihr körperlich nahekommen sollte, musste er sich dazu überwinden. Dafür schämte und verabscheute er sich. Nach ihrer Hochzeit hatte es Wochen gedauert, bis er zum ersten Mal in der Lage gewesen war, seine ehelichen Pflichten zu erfüllen. Im Grunde genommen hatte er seine Frau dabei sogar betrogen, denn nur wenn er an die einzige Nacht, die er bislang mit einem Mann verbracht hatte, dachte, regte sich sein Geschlecht und versetzte ihn in die Lage, rasch auszuführen, wozu er verpflichtet war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich eingeredet, dass seine Affäre mit Malcolm Bannister nur ein Ausrutscher gewesen war. Doch selbst nach so langer Zeit ließ die schmerzliche Sehnsucht nach seinem Freund, der seinetwegen nach Indien geflohen war, nicht nach.

Camden verdrängte seine Gedanken und nahm James die Zügel aus der Hand. Dabei streiften seine behandschuhten Finger aus Versehen James’ kräftige, knochige Hand. Die Berührung elektrisierte Camden, und er zuckte zurück. Für einen Moment, der sich unnötig in die Länge zog, trafen sich ihre Blicke. James’ irritierend blaue Augen hatten eine magnetische Wirkung auf ihn. Sein offener Blick machte ihn verlegen. Camden spürte, wie er errötete. Um seine Verlegenheit zu überspielen, erkundigte er sich nach Saladin, seinem wertvollsten Rennpferd. Das Tier wurde seit einigen Tagen immer wieder von Husten geplagt.

»Wird Saladin für das Derby bereit sein?«, bemühte er sich um einen nüchternen Tonfall.

»Mit ihm ist alles in Ordnung, Sir«, beruhigte ihn James. »Seit drei Tagen hat er nicht mehr gehustet, und ich denke auch nicht, dass das wieder losgeht. Ich habe mir das Heu mal angesehen, das in den letzten Wochen in Eurem Stall verfüttert wurde. Einige Ballen waren staubig. Daraufhin hat Saladin wohl empfindlich reagiert.«

»Verdorbenes Heu in meinem Stall? Das ist ja unerhört! Ich hatte angeordnet, dass die Stallburschen jeden Ballen genau kontrollieren!« Camden rettete sich aus seiner Verlegenheit, indem er sich empört gab.

»Sir, es tut mir leid, wenn ich in der kurzen Zeit, die ich hier bin, noch nicht alles im Griff habe«, entschuldigte sich James sichtlich betreten. »Von nun an werde ich mich höchstpersönlich darum kümmern, dass nur bestes Futter in die Krippen kommt.«

»Davon gehe ich aus!« Camden tat es plötzlich leid, dass er so aufbrausend gewesen war. »Euch trifft natürlich keine Schuld, James. Ihr seid ja gerade erst eine Woche hier. Im Grunde genommen bin ich Euch zu Dank verpflichtet. Saladin hätte sterben können, wenn er mehr davon gefressen hätte.«

Er schenkte James ein aufmunterndes Lächeln, das dieser erfreut erwiderte. Noch einmal verharrten ihre Blicke ein wenig zu lang ineinander.

»Wollt Ihr Euch vielleicht selbst von der Unversehrtheit Eures Hengstes überzeugen?«, durchbrach James schließlich ihr Schweigen. Seine Stimme klang tief und warm. Für Camden hörte es sich wie eine Verlockung an. Was bildete er sich nur ein? Angewidert von seinen befremdlichen Gefühlen, lehnte er ab.

»Ich muss jetzt los! Schonen Sie Saladin heute noch ein wenig beim Training. Ich möchte nicht, dass er sich überanstrengt.« Damit schwang er sich auf sein Pferd und trabte eilig davon.

Den fremden Reiter, der ihn von einer Anhöhe unweit seines Anwesens beobachtete, bemerkte er nicht.

Am liebsten hätte Amber den ganzen Tag mit Rhys im Bett verbracht. Doch das ging natürlich nicht, denn ihr Vater und Maeve erwarteten sie beide dringend zum Frühstück. Als Amber an Rhys’ Arm den hellen, freundlichen Speisesaal betrat, schaute ihr Vater ihnen schon ungeduldig entgegen.

»In Amerika müssen die Nächte länger dauern als bei uns in England«, meinte Sir Reginald mit einem ironischen Unterton. »Es ist schon bald elf Uhr.«

»Tut mir leid, Vater«, meinte Amber steif, »aber Rhys war lange fort. Wir hatten uns einiges zu erzählen.«

Sir Reginald nickte gnädig und forderte sie auf, endlich Platz zu nehmen. Stetson schenkte ihnen sofort frischen Tee ein und schob den Wagen mit dem Frühstück zwischen sie. Während Amber sich etwas Rührei und Toast auflegen ließ, lud sich Rhys eigenhändig Berge von frisch gebratenen Würstchen, Speck, Ei und Bohnen auf seinen Teller, was der Butler, dessen Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, ihn zu bedienen, mit leisem Naserümpfen quittierte. Amber kicherte leise in sich hinein, und auch Maeve verzog amüsiert ihre Mundwinkel, als Rhys prompt zu essen begann, bevor die anderen bedient worden waren.

»Es ist offenkundig, dass du längere Zeit im wilden Amerika verbracht hast«, stellte Reginald indigniert fest. Rhys sah ihn erstaunt an.

»Wie meinst du das, lieber Schwiegervater?«

»Nun … Man sieht es an deinem gesunden Appetit.«

»Oh! Das Essen an Bord der Porphyrus war einfach grässlich, während diese Würstchen hier …«, er schob sich noch einen Bissen in den Mund, »… dagegen vorzüglich sind.« Ohne sich um Sir Reginalds Entrüstung zu kümmern, aß er mit großem Appetit weiter.

»Hast du Lust, mich nachher in die Spinnerei zu begleiten?«, erkundigte sich Sir Reginald, nachdem sie alle ihre Servietten beiseitegelegt hatten. »Ich muss Camden noch ein paar Unterlagen bringen. Bei dieser Gelegenheit könnte ich dir die neuen Maschinen zeigen. Mit ihnen produzieren wir bis zu dreißig Prozent mehr Garn. Das dürfte dich interessieren, nicht wahr?«

»Eigentlich wollten Amber und ich bei dem schönen Wetter ausreiten«, antwortete Rhys nicht sehr begeistert. Amber warf Rhys einen warnenden Blick zu, den er zum Glück richtig deutete. »Andererseits … freue ich mich natürlich sehr, dich zu begleiten und die … ähm … neuen Maschinen zu sehen.« Er nickte Amber betreten zu.

»Dann brechen wir am besten gleich auf«, meinte Sir Reginald aufgeräumt, schob seinen Teller beiseite und erhob sich.

Rhys folgte seinem Schwiegervater mit sichtlichem Widerwillen. Amber sah ihnen nachdenklich hinterher. Sie ahnte, dass ihr Vater die Gelegenheit nutzen würde, um Rhys über seine beruflichen Pläne auszufragen. Sie hoffte nur, dass die beiden Männer darüber nicht in Streit gerieten. Beide Männer konnten recht stur sein, wenn es um ihre Interessen ging. Sie seufzte und wandte sich dann Maeve zu, die sich augenzwinkernd nach ihrem Befinden erkundigte.

»Du siehst aus, als hättest du heute Nacht nur wenig geschlafen, meine Liebe.«

Amber lächelte und konnte dabei nicht verhindern, dass sich ein seliger Ausdruck auf ihr Gesicht stahl.

»Ich fühle mich wie neugeboren«, schwärmte sie in Erinnerung an die letzte Nacht. »Seit Rhys wieder an meiner Seite ist, fühle ich mich einfach himmlisch.«

»Das freut mich für euch! Auch Rhys macht mir ganz den Eindruck, dass er sehr glücklich darüber ist, wieder hier zu sein. Dann waren seine Geschäfte in Amerika also erfolgreich?«

Amber verhielt sich auch Maeve gegenüber zurückhaltend. »Das kann man wohl sagen. Besser hätten sie für ihn nicht laufen können.«

Maeve atmete hörbar erleichtert auf. »Das freut mich außerordentlich zu hören. Dann darf ich wohl annehmen, dass ihr in Zukunft euer Auskommen haben werdet? Wie du dir vorstellen kannst, macht sich dein Vater deswegen schon einige Sorgen.«

Amber warf ihrer Stiefmutter einen ungnädigen Blick zu. »Das bedeutet es allerdings nicht! Aber uns steht ohnehin genügend Geld zur Verfügung. Wie du weißt, war Ashtons Nachlass nicht unerheblich. Es besteht also kein Grund für irgendwelche Bedenken.«

»Verzeih! Ich wollte dich nicht verletzten«, versuchte Maeve sie zu beschwichtigen. »Es ist nur so, dass es zu gewissen Unstimmigkeiten kommen kann, wenn ein Mann wie Rhys keine ordentliche Aufgabe hat.«

Amber kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Derlei Gedanken hatte sie sich in den letzten Monaten oft genug gemacht. Rhys war ein stolzer Mann, der eine Aufgabe brauchte, die ihn erfüllte. Er war ein leidenschaftlicher Altertumsforscher und brauchte den Kitzel des Abenteuers, um glücklich zu sein. Doch noch hatte er ihr gegenüber keine Pläne geäußert. Sie hatten ihre gemeinsame Zeit schließlich mit wichtigeren Dingen verbracht.

»Es wird sich sicherlich etwas ergeben«, meinte sie deshalb ausweichend. Sie nahm sich jedoch vor, Rhys so bald wie möglich darauf anzusprechen.

»Dein Vater möchte Rhys eine leitende Stelle in der Spinnerei oder im Bergbau anbieten. Er könnte gemeinsam mit Camden arbeiten und sein Partner werden.«

Diese Ankündigung überraschte Amber nun doch. Wie zum Kuckuck kam ihr Vater denn auf diese absurde Idee?

»Glaubst du im Ernst, das würde gut gehen?«, äußerte sie offen ihre Bedenken. »Rhys ist kein Unternehmer. Er ist Wissenschaftler und Abenteurer. Ich glaube nicht, dass ihn Büroarbeit befriedigen könnte.«

»Manchmal muss man sich eben nach der Decke strecken«, gab Maeve spitz zurück. »Es gibt, finde ich, Schlimmeres, als hier auf Highgrove Manor zu leben.« Sie bedachte Amber mit einem beinahe flehenden Blick. »Reginald denkt daran, den Westflügel für euch erweitern zu lassen. Ich stelle es mir wunderbar vor, wenn wir alle hier zusammenwohnen könnten.«

Bei allen freundschaftlichen Gefühlen ihrer Stiefmutter gegenüber konnte Amber dafür nicht mehr als ein schiefes Lächeln erübrigen.

»Bitte verzeih, liebe Maeve. Ich möchte dich ganz gewiss nicht verletzen, aber der Gedanke, für immer unter den Argusaugen von Vater hier zu leben, behagt mir ganz und gar nicht.«