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Eine Zeit, die Gefahren birgt. Eine Liebe, die nicht sein soll. Und eine Reise, die ein schicksalhaftes Geheimnis ans Licht bringen wird …
Ende der Dreißigerjahre lernt die junge Henny auf einem Münchner Faschingsball den Feuerwehrmann Emil kennen. Die beiden verlieben sich Hals über Kopf, heiraten und bekommen wenig später eine Tochter. Doch ihr Glück währt nicht lang. Bereits kurz nach der Geburt kommt es zwischen Henny und Emil zu einem schrecklichen Zerwürfnis. Verzweifelt und tief verletzt vom Misstrauen ihres Ehemanns, beschließt Henny, mit der kleinen Ella nach Afrika zu reisen – das Land, in dem ihre verstorbenen Eltern lebten. Sie ahnt nicht, dass diese Reise ein lang verborgenes Geheimnis ans Licht bringen soll, das ihr Schicksal und das ihrer Tochter für immer verändern wird ...
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Seitenzahl: 737
Buch
München, 1937: Auf einem ausgelassenen Faschingsball lernt die Krankenschwester Henriette Gruber – genannt Henny – den jungen Bezirkshauptmann der Feuerschutzpolizei Emil Thorbecke kennen. Fröhlich und lebenslustig, schafft sie es, den ernsten Emil aus der Reserve zu locken. Die beiden verlieben sich und heiraten bereits wenige Monate später. Doch kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes kommt es zwischen Henny und Emil zu einem schrecklichen Zerwürfnis. Emil war immer schon sehr eifersüchtig, doch nun wirft er Henny vor, dass die kleine Ella nicht sein Kind sein kann, und trennt sich von ihr. Verzweifelt und tief verletzt, beschließt Henny, mit ihrer Tochter nach Afrika zu reisen – das Land, in dem ihre verstorbenen Eltern lebten und in dem sie selbst zur Welt kam. Obwohl sie sich, am Nyassasee angekommen, plötzlich an viele Ereignisse aus ihrer Kindheit erinnert, gibt ihr die Vergangenheit ihrer Eltern Rätsel auf. Auch das Tagebuch der Mutter, das Hennys Tante ihr vor ihrer Abreise überreicht hat, hilft nicht weiter, denn entscheidende Seiten wurden herausgerissen. Bald schon ist Henny einem Geheimnis auf der Spur, das ihr Schicksal und das ihrer Tochter für immer verändern soll.
Autorin
Patricia Mennen wurde in Augsburg geboren und wuchs in der kleinen mittelalterlichen Stadt Riedlingen an der Donau auf. In Würzburg und München studierte sie Germanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften. Ihre ständigen Begleiter sind ein Stift und ein Notizbuch, denn überall findet sie Ideen und Inspirationen. Patricia Mennen reist leidenschaftlich gern und hat bereits zahlreiche Romane, Kindersachbücher und Ratgeber veröffentlicht. Bei Blanvalet sind von ihr fünf exotische Sagas erschienen. Gemeinsam mit ihrer Familie lebt sie abwechselnd in der Nähe des Bodensees und in der Provence.
Von Patricia Mennen außerdem bei Blanvalet lieferbar:
Der Ruf der Kalahari · Sehnsucht nach Owitambe · Zauber der Savanne · Im Land der sieben Schwestern · Das Tal der goldenen Flüsse
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Patricia Mennen
Ellas Geheimnis
Roman
Für Willem und alles, was wir miteinander teilen durften
»So stand sie unerschütterlich, Herrin über Leben und Tod– in der Wonne ihrer großen Kräfte schon entrückt– und wartete auf die Sonne.«
(Helene Böhlau: Halbtier)
Ein dunkles Wolkenband schob sich über den sonnenbeschienenen Horizont. Düster und schwer senkte es sich auf die Wasserfläche des Nyassasees und verschmolz mit dessen Glitzern zu flüssigem Blei. Sie sah, wie auf sanften Wellenspitzen sich silbernes Licht spiegelte. Tanzende Reflexionen vor einer unwirklichen Kulisse. Die magische Stimmung weckte lang verschüttete Erinnerungen. Während das Automobil vor dem halb verfallenen Missionshaus langsam ausrollte, legte sich plötzliche Schwermut auf ihr Herz. War es wirklich notwendig, sich den Schatten der Vergangenheit zu stellen?
Verärgert schob sie die Zweifel beiseite. Sie hatte zu vieles verloren, um jetzt noch umzukehren. Entschlossen öffnete sie die Wagentür. Sobald ihr Fuß den roten Lehmboden berührte, ging eine Veränderung in ihr vor. Für einen Moment tauchte sie in die Vergangenheit ein und glaubte das Kreischen und Lachen tobender Kinder zu hören. Eine Illusion, denn weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Hier war schon lange niemand gewesen. Eine dichte Sandschicht überzog den Lehmboden wie ein Tischtuch, das Vergangenes verbarg.
Ihr Blick glitt vom stahlblauen Himmel zum bleigrauen See, dessen Oberfläche sich durch aufkommenden Wind zu kräuseln begann. Die düstere Stimmung eines heraufziehenden Gewitters verstärkte ihr Gefühl von Einsamkeit. Wie an Fäden geführt schritt sie auf das flache Holzhaus zu. Würziger Seetang vermischt mit dem intensiven Frangipaniduft weckte weitere diffuse Erinnerungen. Das sanfte Spiel des Windes wirbelte an einigen Stellen den feinen Sand vor ihr auf und zeichnete unregelmäßige Muster auf die jungfräuliche Fläche.
Es sind die Ahnen, die sich aus dem Jenseits melden, flüsterte ihr die Erinnerung zu. Der Gedanke brachte sie trotz der unerträglichen Hitze für einen Moment zum Frösteln. Sie hielt an und ließ das Haus auf sich wirken. In seiner Verlassenheit strahlte es Trostlosigkeit aus. Die Holzstufen, die auf die Veranda führten, waren teilweise eingefallen. Farbe blätterte in handtellergroßen Schichten von den einstmals weißen Balken. Die Eingangstür hing windschief in ihren Angeln. Stöhnend schlug sie immer wieder gegen den Türrahmen. Hilferufe aus der Vergangenheit. Die wenigen Fenster waren mit groben Holzlatten vernagelt. Aus der Ferne war das aufdringliche Rufen einer Kaptaube zu hören.
Work harder– work harder– work harder, krächzte es anklagend.
Was mache ich nur hier?
Die Unsicherheit wuchs mit jedem Atemzug. Sie hatte die Warnung der Einheimischen noch im Ohr. Dieser Ort war seit langer Zeit tabu. Selbst die Weißen mieden ihn.
Als sollten ihre Ängste bestätigt werden, begann sich am eben noch so strahlend blauen Himmel ein unheimliches Szenario zu entwickeln. Das Wolkenband über dem See hatte sich zu dunklen, unheilverkündenden Ungetümen zusammengeballt, die drohend in Richtung Ufer marschierten. Der Wind frischte weiter auf und ließ die eben noch glitzernde Seeoberfläche aufbegehren, indem sie ein Meer voller Schaumkronen schuf. Eine Böe erfasste einen Fensterladen und schlug ihn mit einem quietschenden Poltern gegen die losen Angeln.
Geh zurück! Noch ist es nicht zu spät!
Sie war tatsächlich kurz davor, wieder umzudrehen. Vielleicht war Ahnungslosigkeit doch ein besserer Verbündeter als endgültige Gewissheit? Entschlossen ballte sie die Hände zu Fäusten und legte die letzten Schritte bis zum Haus zurück. Mit einem großen Schritt stieg sie über die morschen Stufen hinweg und betrat die Veranda. Ihr Blick wanderte erneut über den stürmisch gewordenen See, als fände sie darin die Antworten auf ihre Fragen. Aus heiterem Himmel überfielen sie stechende Kopfschmerzen. Sie rieb sich mit zwei Fingern die Schläfen, um den pochenden Schmerz zu besänftigen. Dazu plagte sie die unerträgliche Schwüle. Sie schloss die Augen und wartete, bis der Schmerz etwas nachließ. In der Ferne hörte sie das vereinzelte Schlagen von Trommeln. Es war der Lockruf der Regentrommeln, der die Geister der Fruchtbarkeit gnädig stimmen sollte.
Bumm– badabumm– badabumm.
Aus anderen Dörfern im Umkreis erklangen ähnliche Rhythmen, die sich erst zart und leise, dann immer lauter werdend zu einer dynamischen Kakofonie vereinigten.
Bumm– badabumm– badabumm.
Das Dröhnen verstärkte ihren Schmerz, und das Spannungsgefühl in ihrem Kopf ließ sie an eine bald berstende Melone denken. Tausend bunte Sternchen tanzten vor ihren Augen und fügten sich plötzlich wie die Steinchen eines geschüttelten Kaleidoskops zu Wahnbildern zusammen. Sie sah hellrotes Blut, das sich rasch zu einer großen Lache ausdehnte, einen zum Schrei geöffneten Mund und ein rot und schwarz bemaltes Schreckwesen, das einen wilden Tanz aufführte, während es in der Hand ein blutverschmiertes Messer schwang.
Sie stieß einen Schrei aus und geriet ins Taumeln. Ihre Hände suchten nach einem Halt und fanden ihn schließlich an der Brüstung der Veranda. Doch so schnell sie die entsetzliche Vision überfallen hatte, so schnell war sie auch wieder vorüber. Sie bemühte sich, ihr Entsetzen abzuschütteln und neue Kraft zu schöpfen. Ihr Herz raste immer noch wie das eines gehetzten Hasen, und ihr Körper zitterte wie Espenlaub. Beinahe trotzig stellte sie sich endlich ihren Dämonen und lehnte sich gegen die widerstrebende Tür. Sie ließ sich nur mit Mühe einen Spalt weit öffnen, gerade weit genug, um sich in das Innere des Hauses zu zwängen.
Sie landete in einem viel zu kleinen Windfang, der sie mit Dunkelheit und Enge umfing. Staub und Spinnweben reizten die Schleimhäute, und sie musste husten. Es roch muffig. Ihre Hände ertasteten eine Schwingtür, die in den dahinter liegenden Raum führte. Kaum hatte sie ihn betreten, verstummte der Hall der Trommeln so plötzlich, wie er aufgetreten war. Gespenstische, energiegeladene Ruhe trat an die Stelle des Lärms und machte die Stimmung umso unheimlicher.
Langsam begannen sich ihre Augen an das Zwielicht zu gewöhnen. Sie erkannte eine Wohnküche. Die Bretter, die vor die einstigen Fenster genagelt worden waren, ließen genügend Licht hinein, um die Umgebung in schattenumwobenes Dämmerlicht zu hüllen. Umgestürzte Stühle vor der Küchentheke, ein einfacher Holztisch mit einer Vase, in der noch ein Bund vertrockneter Wildblumen steckte. Reste eines heruntergerissenen Vorhangs.
Ihr Blick wanderte weiter zu der Küchenecke, die nahtlos in ein Wohnzimmer überging. Ein ausladender, gemauerter Kamin mit einem umlaufenden Sims beherrschte den Raum. Verkohlte Holzreste in der Feuerstelle bezeugten, dass er einmal gebraucht worden war. Zwei zerschlissene Plüschsessel. Auf der Lehne des einen lag ein aufgeschlagener Katechismus, fast so, als wäre er dort für sie abgelegt worden. Eine dicke Staubschicht zog sich darüber, als wolle sie die Worte konservieren. Sie fühlte sich von dem Buch magisch angezogen und widerstand dennoch dem Drang, darin zu blättern. Stattdessen steuerte sie auf den Kamin zu. Je näher sie ihm kam, desto schlechter fühlte sie sich. Der Schmerz in ihrem Kopf schwoll erneut an. Dieses Mal waren es Stimmen, die sie zu hören glaubte. Sie hörte ein heiteres, offenes Frauenlachen, dessen Vertrautheit ihr schmerzhaft ins Herz schnitt. Dann das Brüllen eines wilden Tieres, das von einer herrischen Stimme zum Schweigen gebracht wurde. Einer Stimme, die von furchteinflößender Autorität war, aber auch ein Gefühl von Vertrautheit vermittelte.
Als der Schmerz und die Stimmen in ihrem Kopf endlich verstummten, öffnete sie wieder die Augen. Sie stand nun direkt vor dem Kaminsims und blickte auf einen verstaubten Bilderrahmen. Die Staubschicht war so dicht, dass sie nicht erkennen konnte, was sich dahinter verbarg. Mit klammen Fingern griff sie danach. Der Staub klebte hartnäckig an dem gesprungenen Glas. Nur durch festes Rubbeln ließ er sich entfernen. Schließlich erschienen zwei Menschen auf einer erstaunlich gut erhaltenen Fotografie. Ein hagerer, groß gewachsener Mann starrte sie aus stechend hellen Augen an. Neben ihm befand sich eine zierliche Frau, deren aufrechte, strenge Körperhaltung in krassem Widerspruch zu ihrem traurigen Gesicht stand. Das Paar hätte einander an den Händen gehalten, wäre da nicht der Riss gewesen, der die Fotografie in zwei Teile trennte.
Spreu und Weizen
1937 bis 1938
1899 bis 1901
Fasching in Schwabing
»Ist das aber auch eine Kälte!« Henny fischte nach dem Haremsdamen-Schleier, der sich von ihrem Kopf lösen wollte. Die eisigen Windstöße, die durch die Häuserschluchten Schwabings fegten, setzten alles daran, ihre kunstvolle Verkleidung noch vor ihrem Ziel zu ruinieren. »Wir hätten unser Geld lieber doch in ein Taxi investieren sollen.«
»Um dann auf unser wohlverdientes Gläschen Sekt verzichten zu müssen«, protestierte Frieda. »Der Fasching ist noch lang. Wer weiß, vielleicht gehen wir die nächsten Wochen ja noch einmal auf einen Ball.« Sie kicherte. In ihrem weißen Pierrot-Anzug mit der Halskrause aus gestärktem Gardinenstoff hatte ihre Freundin gut lachen.
Henny raffte entschlossen ihren hauchdünnen Schleier unter dem Kinn zusammen und hakte sich bei ihr unter. Die Vorfreude auf den Faschingsball überwog schließlich den Missmut über das scheußliche Wetter. Kein Grund, sich die Laune verderben zu lassen.
»Meinst du, der Poldi kreuzt heute Abend wirklich auf?« Frieda war um einen möglichst beiläufigen Tonfall bemüht.
Henny schmunzelte. Ihre Freundin war eine schlechte Schauspielerin. Sie vermochte kaum zu verbergen, wie wichtig ihr das Auftauchen des Oberarztes war. Sie zwickte sie freundschaftlich in den Arm. »Natürlich wird er kommen! Ich habe selbst gesehen, wie er sich heute besonders früh von Oberschwester Hildegard verabschiedet hat. Außerdem seid ihr doch so gut wie verabredet!«
Frieda seufzte hoffnungsfroh. Sie war schon seit einigen Monaten bis über beide Ohren in den jungen Oberarzt verliebt. Bislang hatte es nur sehnsuchtsvolle Blicke und versteckte Andeutungen zwischen den beiden gegeben, doch vor einigen Tagen hatte Doktor Peter Pollinger sie tatsächlich gefragt, ob sie auch zum Maskenball im Max Emanuel komme. Er selbst habe noch eine kleine Verabredung am frühen Abend, wolle aber später mit einem Freund dort vorbeischauen. Frieda hatte sich erst geziert. Sie war vom Typ her eher ernst und grüblerisch und hasste feuchtfröhliche Massenveranstaltungen. Hätte Henny ihr nicht energisch zugeredet, hätte sie die Gelegenheit, Poldi näher kennenzulernen, wahrscheinlich verstreichen lassen.
Im Gegensatz zu Frieda stellte Henny sich einen Kostümball einfach wunderbar vor. So eine festliche Faschingsveranstaltung war bestimmt eine willkommene Abwechslung zu dem tristen Klinikalltag. Sobald sie sich einig gewesen waren, hatte sie sich sofort voller Eifer in die Vorbereitungen für ihre Kostümierung gestürzt und war mit dem Resultat trotz der akuten Geldnot, die die beiden Schwesternschülerinnen ständig plagte, einigermaßen zufrieden. Im Grunde genommen war es ein kleines Wunder, was sie aus wenigen Stoffresten gezaubert hatte. Sie selbst trug eine selbst geschneiderte grüne Pluderhose aus Baumwollsamt. Dazu einen passenden, knappen Bolero, der ihren Bauch nur durch ein paar Gardinenfransen verbarg. Außerdem hatte sie eine kleine, runde Pappschachtel mit schillernder Kunstseide überzogen und daran einen Schleier aus Gaze befestigt.
Friedas Pierrot-Kostüm hatten sie aus ausgemusterten Batistdecken gefertigt, die sie bei der Auflösung von Shmuel Maybooms Stoffladen erstanden hatten. Frieda hatte Skrupel gehabt, den Stoff weit unter seinem Wert zu erstehen, doch Henny hatte ihre Bedenken beiseitegefegt, indem sie behauptete, dass Mayboom froh sein musste, überhaupt noch etwas Geld zu bekommen. Schließlich kaufte dieser Tage kaum noch jemand bei Juden ein.
Unterdessen hatten sie die traditionsreiche Brauereigaststätte fast erreicht. Aus dem Ballsaal des Max Emanuel in der Adalbertstraße tönte bereits das Orchester mit einem flotten Swing.
»Hör nur, das Lied ist von Erwin Hartung. ›Ich tanz mit Fräulein Dolly Swing‹«, sang Henny vergnügt. »Ach Gott, wie gerne wäre ich jetzt schon auf der Tanzfläche! Ich spüre den Rhythmus schon richtig in den Beinen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so verrückt aufs Tanzen bist«, zog ihre Freundin sie auf. »Ich erkenne dich ja kaum wieder.«
»Ach Frieda! Es ist doch nur, weil ich noch nie auf einem Faschingsball in München war. Bei uns auf dem Dorf, da gibt’s im Sommer gerade mal das Dorffest. Und wenn überhaupt jemand tanzt, dann ist es nur was Traditionelles. Nun komm schon, lass uns endlich hineingehen!« Sie zog Frieda ungeduldig mit zu dem Eingang, wo sie sich rasch ihre halben Masken überstülpten, die für den Einlass unentbehrlich waren.
Von überall her strömten nun Maskierte auf den Eingang zu. Einige kamen mit eigenen Automobilen oder in Taxis angefahren, doch die meisten waren wie sie zu Fuß. Der Türsteher prüfte kurz ihre Karten und ließ sie nach einer kurzen Wartezeit mit einem fröhlichen Zwinkern ein. An der Garderobe nahm ihnen eine Angestellte ihre Mäntel ab, die ein schwarz uniformierter SS-Mann für sie aufhängte.
»Was macht denn so einer hier?«, bemerkte Frieda ungnädig. »Das hier ist ein Faschingsball und keine Parteiveranstaltung.«
Die Garderobiere reagierte schnippisch. »Der Gustl geht mir hier halt a weng zur Hand. Wenn S’ Eana dran stören, dann schaugn S’ halt weg. Gell, Schatzi?«
Ihr Freund zuckte nur mit den Achseln und kümmerte sich weiter nicht um sie.
»Ich mag die Uniformierten einfach nicht!«, maulte Frieda.
»Nun sei doch nicht immer so kritisch. Lass uns lieber nachsehen, ob der Poldi schon da ist.« Henny packte ihre Freundin kurzerhand am Ärmel und zog sie mit sich in Richtung Ballsaal.
Während sie sich durch das Getümmel drängten, hielt Frieda in alle Richtungen Ausschau nach ihrem Oberarzt. Die hat es wirklich ganz schön erwischt, dachte Henny kopfschüttelnd. Sie hoffte nur, der charmante Oberarzt würde es auch wert sein, dass Frieda sich so für ihn ins Zeug legte.
Mittlerweile hatten sie sich bis zum Eingang des Ballsaales vorgeschoben, wo auf einer kleinen Bühne das Orchester spielte. Überall hingen bunte Lampions und Luftschlangen. Für die Faschingsveranstaltung waren sämtliche Türen zu den unterschiedlichen Gasträumen geöffnet worden, sodass die Musik selbst im letzten Winkel noch zu hören war. Um Platz für die Tanzfläche zu schaffen, hatte man Tische und Stühle entlang den Wänden aufgestellt. Flotte Swing- und Jazz-Stücke erfüllten die Räume. Dass amerikanische Musik seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten eigentlich verpönt war, störte offensichtlich heute Abend niemanden. Ausgelassen bewegten sich die Kostümierten auf dem Parkett und genossen die Unbeschwertheit des Abends.
Henny konnte sich an der bunten Mischung unterschiedlicher Kostüme nicht sattsehen. Verwegen dreinblickende Cowboys parlierten mit Go-go-Girls, die unter knappen Röckchen ihre Beine präsentierten. Stolze Indianer, draufgängerische Piraten, vornehme arabische Scheichs, schnauzbartbewehrte Mexikaner turtelten mit verführerischen Zigeunerinnen, Kastagnetten klimpernden Spanierinnen, goldhaarigen Engeln und putzigen Chinesinnen. Der Fantasie waren an diesem Abend keine Grenzen gesetzt.
Henny staunte nur, wie bunt und aufregend das Leben sein konnte. Als junge Frau, die bislang nur das Landleben kennengelernt hatte, fühlte sie sich von der Vielfalt beinahe überfordert. Besonders, als sie merkte, dass so mancher anzügliche Blick auch an ihr haften blieb. Als ein paar angetrunkene Burschen ihr hinterherpfiffen, spürte sie, wie sie plötzlich rot und verlegen wurde. War sie mit ihrer Verkleidung etwa doch über ihr Ziel hinausgeschossen? Sie zupfte verlegen an den Gardinenfransen, die ihren nackten Bauch nur notdürftig bedeckten, und kam sich mit einem Mal nackt und in ihrem Aufzug völlig fehl am Platz vor. Fast panisch suchte sie Deckung hinter einer der Säulen.
»Was ist denn mit dir plötzlich los? Hat dich der Mut verlassen?« Frieda warf Henny einen amüsierten Blick zu.
»Die gucken alle so blöd«, gestand sie kleinlaut. »Du hättest mich warnen müssen. Mein Aufzug ist viel zu gewagt!«
»Quatsch!« Frieda lachte sie tatsächlich aus. »So denkt nur jemand, der auf dem Dorf aufgewachsen ist. Stell dich nicht so dämlich an. Du siehst umwerfend aus! Ich hol uns jetzt erst mal was zur Aufmunterung. Danach wirst du unter Garantie anders denken.« Ohne auf ihre Antwort zu warten, kämpfte sich ihre Freundin durch die Menge in Richtung Bar und ließ sie allein. Henny beneidete sie um ihren Mumm. Frieda hatte gut lachen, sie war schließlich in der Stadt aufgewachsen. Kurze Zeit später kehrte sie mit zwei Gläsern Sekt zurück.
»Ex und weg!« Sie zwinkerte ihr zu und trank ihr Glas in einem Zug leer. »Und jetzt du!«
Henny starrte ihr Glas an, als würde es gleich explodieren. Doch dann überwand sie sich und tat es ihrer Freundin nach. Die Wirkung des ungewohnten Alkohols setzte unverzüglich ein. Henny hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Sie hatte kaum ausgetrunken, als ihr auch schon etwas schwindelte. Immerhin fühlte sie sich bei Weitem nicht mehr so eingeschüchtert wie gerade eben noch.
»Du meinst also, ich kann mich so sehen lassen?« Sie kicherte und reckte mutig ihr Kinn in die Höhe. »Na, dann mal auf in den Kampf! Aber erst trinken wir noch einen. Diesmal übernehme ich die Zeche.«
Sie zog Frieda mit sich in Richtung Theke. Dabei mussten sie an zwei Indianern in Kriegsbemalung vorbei. Die verstellten ihnen prompt den Weg.
»Wohin so eilig mit euch beiden Hübschen?« Mit verschränkten Armen baute sich der Größere vor ihnen auf. Er war ein kräftiger, grobknochiger Bursche, dessen blondes, kurz geschorenes Haar in Widerspruch zu der roten Schuhwichse stand, die er sich als Kriegsbemalung ins Gesicht geschmiert hatte. Auf seinem Haupt trug er einen Kranz aus gerupften Gänsefedern. »Winnetou und sein Freund Adlernase bieten euch ihren Schutz an. Wie wär es mit zwei Gläsern Sekt?«
»Danke! Kein Bedarf!« Frieda rümpfte missbilligend die Nase und versuchte Henny an den beiden vorbeizubugsieren. Doch Henny, die noch etwas lockerer geworden war, fand die Aussicht auf eine Freirunde überaus verlockend. »Stell dich doch nicht so an«, raunte sie ihrer Freundin zu. »Wir stoßen nur kurz mit denen an, und dann verkrümeln wir uns wieder. Ein Gläschen Sekt verpflichtet noch lange zu nichts!«
»Schau dir die Typen doch an. Mir gefallen die nicht!«
»Ach Quatsch!« Henny ließ alle Vorsicht fallen und lächelte den beiden Männern aufmunternd zu. »Komm! Es ist Fasching. Zu zweit kann uns doch gar nichts geschehen.« Sie stieß Frieda kameradschaftlich in die Seite und sorgte dafür, dass sie ihr nicht entwischen konnte. »Einverstanden«, wandte sie sich wieder an die beiden Indianer, die bereitwillig zwei weitere Gläser Sekt für sie orderten.
Die beiden Rothäute stellten sich ihnen als Erwin und Adi vor. Sie arbeiteten als Drucker bei Gotteswinter in der Theatinerstraße und machten keinen Hehl daraus, dass sie zwei Bräute für den Abend suchten.
»Die sind doch viel zu alt für uns«, zischte Frieda empört in Hennys Ohr und wehrte angewidert Erwins Arm ab, der sich vertraulich um ihre Schultern zu legen versuchte.
»Nun stell dich doch nicht so an«, schmollte Henny, während sie unbekümmert Adi zuprostete. »Ein wenig Spaß hat noch niemand geschadet.«
»Da … da vorne ist Poldi!«, rief Frieda plötzlich aufgeregt. »Ich glaube, er hat sich als Napoleon verkleidet. Da muss ich hin!« Sie warf Henny noch einen kurzen, entschuldigenden Blick zu, dann verschwand sie in der Menge.
Erwin starrte ihr völlig perplex hinterher.
»Der Poldi ist ihr Freund«, erklärte Henny schlagfertig. »Da kann man halt nichts machen!«
»Aber dich lass ich nicht so einfach davonziehen«, meldete Adi prompt Ansprüche auf sie an. »Kumm, mir geh’n tanzen!« Ohne ihr Einverständnis abzuwarten, packte er sie am Handgelenk und zog sie derb mit sich in Richtung Tanzfläche. Henny wurde davon völlig überrumpelt und ließ sich mitziehen.
Im Schlepptau des blonden Hünen kreuzten sie den Weg eines Scheichs. Er versuchte gerade ein Tablett mit frisch gefüllten Sektgläsern durch die Menge zu balancieren. Da Adi ihn ungeschickt anstieß, verhedderte er sich in seinem langen Umhang und geriet ins Stolpern. Henny sah, wie er die Kontrolle über sein Tablett verlor, es ihm aus den Händen glitt und genau auf sie zuflog. Instinktiv riss sie sich von Adi los und fasste danach. Noch bevor es auf dem Boden landen konnte, ging sie in die Hocke und fing es so geschickt auf, dass kaum etwas vom Inhalt der Gläser verschüttet wurde.
Der Scheich hatte indessen weniger Glück gehabt. Er fand nirgendwo einen Halt und plumpste wie ein nasser Sack direkt vor ihr auf den Boden. Henny, die immer noch mit ihrem Tablett in der Hocke war, sah in ein reichlich perplex dreinschauendes Gesicht.
»Wenn mir da mal nicht jemand direkt zu Füßen liegt«, kicherte sie amüsiert.
Der Mann vor ihr versuchte sich unterdessen wieder aufzurappeln. Da sein Umhang viel zu groß war, verfing er sich erneut darin, während das Kopftuch mit dem Stirnband ihm quer über das Gesicht rutschte.
»Verdammte Gardine«, schimpfte er, um Haltung bemüht.
Endlich stand er einigermaßen aufrecht vor ihr und schob sich seine Kopfbedeckung wieder zurecht. Sie standen sich nun gegenüber, und Henny reichte ihm sein Tablett. Die Mundwinkel des Scheichs verzogen sich zu einem dankbaren Lächeln, während er sie aus samtbraunen Augen neugierig musterte. Er hob gerade an, sich bei ihr zu bedanken, als Hennys Verehrer Adi sie auch schon wieder am Handgelenk packte und in Richtung Tanzfläche zog. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, war sie auch schon wieder fort und befand sich mitten auf der Tanzfläche, wo die Kapelle gerade einen amerikanischen Ragtime spielte. Der Indianer nutzte die Gelegenheit, sie an sich zu ziehen und wild herumzuwirbeln.
Henny spürte sofort wieder den Alkohol. Das Blut rauschte durch ihre Adern, und sie merkte, wie ihre Füße sich wie von selbst zu dem flotten Rhythmus bewegten. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder. Leider war Adi nur ein mittelmäßiger Tänzer, der ihr viel zu wenig Freiraum ließ. Als danach ein flotter Swing von Benny Goodman gespielt wurde, hielt sie es nicht länger in seiner Nähe aus. Sie riss sich von ihrem Tanzpartner los und spürte dem Rhythmus der munteren Musik ohne lästige Begleitung nach. Henny hatte nie eine Tanzstunde besucht, dennoch reichte ihr ein kurzer Blick auf die anderen Tänzer, und schon hatte sie sich komplizierte Schrittfolgen eingeprägt. Nur schade, dass dieser Adi ein so plumpes Gegenüber war.
»Mei, du tanzt ja wia a Negerweib«, keuchte ihr Begleiter, als sie sich zu dem Rhythmus von »Bei mir bist du schön« ins Zeug legte und dabei wild ihre Beine durch die Luft schlenkerte. Im Gegensatz zu ihr war der ungelenke Drucker schon ganz schön aus der Puste. Henny versuchte ihn einfach zu ignorieren. Sie fühlte sich so frei wie schon lange nicht mehr. Schon als Kind hatte sie Musik und Tanzen geliebt. Zu ihrem Leidwesen hatten weder Tante Agnes noch Onkel Josef jemals dafür Verständnis gezeigt. Sie waren eben erzkatholische Leute, die das Wort »Spaß« überhaupt nicht kannten. »A gottloses Zeigs is des«, pflegte Agnes zu sagen. Selbst während der Dult im Dorf hatten sie ihr nicht erlaubt, ein wenig zu tanzen, obwohl dort nur traditionelle Volksmusik gespielt wurde. Doch von nun an war ihr das alles einerlei. Sie lebte jetzt in der Großstadt, wo ihr niemand mehr in solche Dinge reinzureden hatte!
Mitten im Tumult auf der Tanzfläche entdeckte sie nun auch Frieda mit ihrem Napoleon. Die beiden wirkten ganz schön verliebt. Der Oberarzt legte sich kräftig ins Zeug, um bei Frieda Eindruck zu schinden. Jetzt küsste er sie sogar in aller Öffentlichkeit! Hoffentlich weiß die Frieda, auf was sie sich da einlässt, schoss es Henny abermals durch den Kopf. Ihre ansonsten so ernste Freundin war ganz schön in Doktor Pollinger verschossen. Allerdings kannte sie auch seinen Ruf als Frauenheld. Die Kapelle schwenkte nun auf einen langsamen Foxtrott um, und ihre Aufmerksamkeit wurde wieder auf ihren Tanzpartner gelenkt. Adi nutzte die Gelegenheit schamlos aus, um wieder Körperkontakt mit ihr aufzunehmen. Seine derbe Pranke umschloss plötzlich ihre Hüfte und zog sie nah zu sich heran.
»Da hob i ja meinen Wildfang wieder«, schmatzte er ihr einen Kuss ins Ohr. Sie roch seinen Schweiß und den Alkohol und versuchte angewidert auf Abstand zu gehen. Doch Adi dachte gar nicht daran, sie wieder loszulassen. »I hob glei auf den ersten Blick g’sehn, was du für a fesches Madl bist.« Er drückte ihr noch einen Kuss in die Halsbeuge. Gleichzeitig spürte sie seine Hand auf ihrer Pobacke.
»Nimm sofort deine Finger von mir weg!« Empört trommelte sie mit ihren Fäusten auf seiner Brust herum und versuchte sich gleichzeitig aus seiner Umklammerung zu befreien. Doch Adi lachte nur und zog sie noch enger zu sich heran.
»I woaß doch, was so eine wie du mag«, lachte er derb und versuchte sie nun auf den Mund zu küssen.
Henny drehte angewidert den Kopf beiseite und sah sich hilfesuchend um. Keiner der Umstehenden nahm von ihnen Notiz. Sie spürte einen Anflug von Panik.
»Du sollst mich sofort loslassen.« Sie bekam kaum noch Luft unter seiner engen Umarmung.
»Erst, wenn du deinem Winnetou an Kuss gibst!«
Der Blick aus Adis glasigen Augen ruhte lüstern zwischen ihren Brüsten. Henny wusste sich nicht anders zu helfen, als mit dem spitzen Absatz ihres Schuhs auf seinen Fuß zu treten. Doch die Rothaut kannte keinen Schmerz. Der Kerl trug derbe Stiefel mit dicken Lederkappen. Ihre hilflosen Versuche, sich zu wehren, stachelten ihn nur noch mehr an. Dieses Mal spürte sie seine fleischigen Lippen in ihrem Ausschnitt.
»Hilfe!« Hennys Stimme ging im allgemeinen Trubel jämmerlich unter.
»Schrei nur! Des geilt mi direkt auf!«, lachte Adi und schob seine Hand in ihren Ausschnitt.
Am liebsten hätte sie sich vor Scham in Luft aufgelöst. Wie hatte sie es nur so weit kommen lassen können. Frieda hatte sie ja gleich gewarnt! Zu allem Überfluss erkannte sie ganz in ihrer Nähe noch einen weiteren Arzt aus ihrem Klinikum. Ausgerechnet den Chefarzt Doktor Strößner. Er war noch dazu ein enger Vertrauter der Generaloberin. Wenn der sie erst entdeckte, dann würde ihr erst richtig Ärger blühen.
Adi wurde indes immer zudringlicher. Mit der einen Hand hielt er Hennys Handgelenk fest umschlossen, die andere verkrallte sich jetzt ganz offen in ihre Pobacke. Für jeden sichtbar. Henny spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Jeder hier musste sie doch nun für ein leichtes Mädchen halten.
»Finger weg! Es reicht!«
Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich der Scheich neben ihnen auf. Seine tiefe Stimme besaß erstaunlich viel Autorität, obwohl er Hennys aufdringlichem Verehrer nur bis zur Schulter reichte. Dementsprechend war der nur wenig von ihm beeindruckt.
»Des is mei Madl, nur damit du’s woast«, schnauzte er ihn verächtlich an und versuchte Henny aus seiner Reichweite zu ziehen. Doch der Scheich ließ sich davon nicht beirren. Er hielt Adi an der Schulter fest.
»Sehen Sie das auch so?« Die erstaunlich sanft schimmernden Augen, die ihr vorhin schon aufgefallen waren, sahen sie fragend an, ohne dabei jedoch seinen Widersacher aus den Augen zu lassen.
»Nein, ich … ich … will das nicht. Ich habe mit diesem Mann nichts zu tun«, presste sie schließlich heraus.
»Also lass sie gefälligst los«, forderte der Scheich. »Du siehst doch, dass sie nichts von dir will!«
»Schleich di!«, raunzte Adi und stieß den Mann grob vor die Brust.
Hennys wagemutiger Retter geriet kurz aus dem Gleichgewicht, fing sich jedoch geschickt und packte den Indianer mit einer schnellen Bewegung am Kragen, sodass der gezwungen war, sie loszulassen.
Henny nutzte die Gelegenheit, um sich in Richtung Ausgang dünnezumachen. Bis der widerliche Kerl bemerkt hatte, dass sie ihm entkommen war, war sie bereits bei den Waschräumen. Sie flüchtete in die Toilettenräume und atmete dort erst einmal tief durch.
Nein. So hatte sie sich den Abend ganz gewiss nicht vorgestellt.
Keuchend starrte sie ihr Spiegelbild an. Die graublauen Augen schimmerten unter dem breiten Kohlestrich fast schwarz, und die knallrot geschminkten Lippen standen in krassem Gegensatz zu dem, wie sie sich fühlte. In den Augenwinkeln war die Schminke verlaufen. Sie sah einfach fürchterlich aus.
Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, nahm sie ein Taschentuch, befeuchtete es mit etwas Wasser und beseitigte die verwischten Ränder. Erst nachdem sie auch ihre widerspenstigen Haare geordnet hatte, fühlte sie sich besser. Zum Glück war nichts Schlimmes passiert. Sie war einfach nur leichtsinnig gewesen und musste sich besser vorsehen. Bei so vielen Menschen würde es nicht allzu schwer sein, eine neue Begegnung mit dem zudringlichen Indianer zu vermeiden. Dummerweise war da aber auch noch Doktor Strößner. Vielleicht war es doch besser, sich gleich zu verdrücken. Da kam ihr Frieda in den Sinn. Sie musste sie unbedingt vor ihm warnen. Nicht auszudenken, wenn der Chefarzt sie und Poldi miteinander erwischte. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als sich nochmals auf den Weg in die Höhle des Löwen zu machen, obwohl ihr die Lust auf Vergnügungen mittlerweile gründlich vergangen war.
Zum Glück fand sie Frieda rasch an einer abgelegenen Bar in einem Nebenraum. Sie war allein und offensichtlich ebenso erleichtert, sie zu sehen, wie umgekehrt.
»Du, der Poldi und ich, wir wollen noch zu einem anderen Faschingsball gehen«, begrüßte sie sie aufgeregt. »Ein privates Fest in der Maxvorstadt. Du musst uns unbedingt begleiten. Ohne dich kann ich da nicht hingehen.«
Henny war nicht begeistert. »Ich weiß nicht …«
»Jetzt stell dich nicht so an!« Nun war es Frieda, die sie bedrängte. »Poldi und seine Freunde sind wirklich charmant. Sie werden dir gefallen. Außerdem ist der Strößner hier. Wir können hier nicht bleiben!«
»Dann hast du ihn also auch entdeckt?«
Frieda verzog das Gesicht, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. »Er streunt hier rum wie ein Aufpasser. Poldi ist schon mal vorausgegangen. Der Strößner ist schließlich sein Chef. Wenn der uns hier zusammen sieht …« Sie machte eine wedelnde Handbewegung. »Deshalb wollen wir ja auch verschwinden. Kommst du nun mit?« Sie sah Henny erwartungsvoll an.
»Meinetwegen!« Henny gab sich geschlagen.
Sie holten ihre Mäntel an der Garderobe ab und gingen hinaus auf die Straße, wo Poldi und einige seiner Freunde bereits warteten. Zu ihrem großen Erstaunen war auch der Scheich unter ihnen, was ihr plötzlich sehr peinlich war. Ausgerechnet das noch. Am liebsten hätte sie sich sofort aus dem Staub gemacht. Doch es war bereits zu spät. Er hatte sie bereits gesehen und steuerte direkt auf sie zu, während Frieda zu ihrem Arzt ging.
»So sieht man sich wieder«, begrüßte er sie mit einem schelmischen Grinsen. Seine sonore Stimme verlieh ihm eine besondere Präsenz. Sie nickte ihm verschämt zu, während sie ihn genauer musterte. Ihr Retter in der Not war zwar nicht klein, aber doch von durchschnittlicher Größe, dazu schlank, ja beinahe grazil. Am meisten faszinierten Henny jedoch seine schlanken, feingliedrigen Hände, die zu einem Uhrmacher gepasst hätten. Das Gesicht war eher durchschnittlich. Vielleicht etwas blass, doch klar konturiert mit einer schmalen, geraden Nase und einem kräftigen Kinn. Ein durchaus gut aussehender Mann, das musste sie sich trotz der peinlichen Situation eingestehen.
»Geht es Ihnen gut?«
Seine Frage holte sie in die Wirklichkeit zurück. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn die ganze Zeit wie blöd angestarrt haben musste. Sie fühlte, wie sie rot wurde.
»Es ist nur die kalte Luft«, stammelte sie, »die einen ganz starr werden lässt!« Sie tat, als fröstele sie, obwohl im Augenblick eher das Gegenteil der Fall war. Was war sie nur für eine jämmerliche Lügnerin! Am liebsten wäre sie im Boden versunken.
»Dann lassen Sie uns rasch ins Warme gehen!« Der Scheich überging ihre Verlegenheit, indem er ihr seinen Arm reichte und auf eines der wartenden Taxis zeigte, vor dem auch Frieda stand. »Ich nehme mal an, wir haben dasselbe Ziel.«
»Wie ich sehe, hast du bereits eine neue Bekanntschaft gemacht.« Frieda hob feixend ihre Augenbrauen, was Henny mit einem strafenden Blick quittierte.
Hennys Scheich deutete eine übertriebene Verbeugung in ihre Richtung an. »Mein Name ist übrigens Emil Thorbecke, wenn ich nicht gerade als Ölscheich junge Damen vor ihrem Verderben rette!«
Henny musste erneut gegen ihre Verlegenheit ankämpfen, während sie sich gleichzeitig ein wenig über seine Indiskretion ärgerte. Frieda und sie stellten sich ebenfalls vor, bevor sie gemeinsam mit Poldi in das Taxi stiegen, das sie von Schwabing in die Maxvorstadt kutschierte. Im Grunde genommen hätten sie den Weg zu Fuß gehen können, doch Friedas Galan bestand darauf, sich chauffieren zu lassen.
»Besser schlecht fahren als gut laufen«, gab der Oberarzt sich gut gelaunt und zwickte Frieda ohne Scham in die Backe, was sie zu einem entzückten Quietschen veranlasste. Die verliebten Blicke, die sich die beiden zuwarfen, waren Henny peinlich. Überhaupt fühlte sie sich deplatziert in dem engen Automobil. Bestimmt dachte dieser Emil nun, dass sie nur darauf aus war, ebenfalls mit ihm anzubandeln.
»Woher kennen Sie eigentlich Doktor Pollinger?«, fragte sie, um nüchterne Unterhaltung bemüht.
»Mann, bist du förmlich«, beschwerte sich Frieda, die heute so ausgelassen war, wie Henny sie noch selten erlebt hatte. »Heute Abend wird sich geduzt. Wir sind doch schließlich auf dem Fasching.«
»Genau«, stimmte Poldi zu. »Ich bin der Poldi! Und das ist der Emil. Wir sind zusammen in Regensburg in die Schule gegangen und haben uns rein zufällig in München wiedergetroffen.« Er zwinkerte Henny aufmunternd zu. »Ist ein feiner Kerl, auch wenn er manchmal recht ernst sein kann!«
»Hat jemand etwas gegen einen Schluck Sekt einzuwenden?« Emil zauberte plötzlich aus den Tiefen seines Umhangs eine Flasche Schaumwein hervor. Geschickt ließ er den Korken knallen und bot als Erstes Henny die Flasche an.
»Die Damen zuerst. Gläser gibt’s heute leider nicht!« Seine Augen blitzten vergnügt, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als die Flasche zu nehmen und zu trinken. Der Alkohol löste ihre Verkrampfung, und sie wurde wieder lockerer. Sie reichte die Flasche an Frieda weiter, die sie weitergab, bis sie am Ende der Runde leer getrunken war. Als sie schließlich eine Viertelstunde später vor einem mehrstöckigen Bürgerhaus in der Gabelsbergerstraße anhielten, fühlte sich Henny wieder so beschwingt wie zu Beginn des Abends. Ganz selbstverständlich ließ sie sich von Emil in das Haus führen, in dessen Beletage kräftig gefeiert wurde. Selbst das Treppenhaus war voller Luftschlangen und bunter Lampions. Aus der geöffneten Eingangstür drang die knarzende Musik eines Grammofons und das Gelächter und die Stimmung von sich prächtig amüsierenden Menschen.
»Die Wohnung gehört einem Freund von SS-Standartenführer Wüst«, erklärte Poldi, während sie die Treppe hinaufgingen. »Rudolf Teudt ist Gründungsmitglied für die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe und ebenfalls Professor an der Philosophischen Fakultät – ein esoterischer Freigeist und Spinner, wenn ihr mich fragt. Aber er weiß, wie man feiert und …«, er schnippte vielsagend mit Zeigefinger und Daumen, »… er hat das nötige Kleingeld, um sich so etwas leisten zu können.«
»Ein Nazifest?« Frieda blieb stehen und sah Poldi entgeistert an. »Ich mag nicht bei solchen Menschen feiern! Schlimm genug, dass sie sich in alles einmischen.«
»Ach, stell dich nicht so an!« Poldi zog sie zu sich heran und küsste sie lange auf den Mund. »Du musst ja nicht gleich Parteimitglied werden, wenn du dich hier ein wenig amüsierst.«
Frieda ließ sich weichklopfen, obwohl sie, wie Henny wusste, einen tiefen Widerwillen gegen die Braunen hatte. Ihr Vater war überzeugter Sozialist, was auch auf Frieda abgefärbt hatte. Henny ihrerseits hingegen hatte ein viel unproblematischeres Verhältnis zu den neuen Machthabern. In dem Dorf, aus dem sie kam, waren mittlerweile fast alle Männer und auch viele Frauen Mitglieder der NSDAP geworden, ohne dass sich dadurch viel verändert hatte.
Bereits am Eingang wurden sie von indischen Tempeltänzerinnen empfangen, die ihnen Champagner in edlen Kristallgläsern anboten. Emil reichte ihr eines und stieß mit ihr an. Überhaupt wich er ihr nicht mehr von der Seite, was ihr in dem unübersichtlichen Getümmel überaus recht war. Poldi war mit Frieda längst verschwunden, um den Gastgeber Rudolf Teudt, einen wohlbeleibten, als Maharadscha verkleideten Lebemann zu begrüßen.
Henny sah sich unterdessen staunend um. Die vornehme Wohnung war für die Faschingsfeier weitgehend leer geräumt worden. Nur an den Wänden befanden sich einige bequeme Sitzgelegenheiten. Durch ein großzügiges Foyer betrat man den Salon, der als Tanzfläche diente. Im angrenzenden Herrenzimmer war ein reichhaltiges Büfett mit unterschiedlichen Canapés, belegten Schnittchen, Königinnenpasteten und süßen Kuchenstückchen aufgebaut. Henny lief das Wasser im Mund zusammen.
»Du siehst aus, als hättest du Hunger!« Emil schien ihre Gedanken erraten zu haben und führte sie direkt zum Büfett. Sie nahm einen Teller und tat sich ordentlich auf. Henny machte sich mit großem Appetit über die Köstlichkeiten her. Sie hatte den ganzen Tag nicht viel gegessen. Auch ihr Glas war schon wieder leer. Emil beobachtete sie amüsiert. »Du scheinst wohl lange nichts mehr zu essen bekommen zu haben«, zog er sie auf. Er selbst hatte sich nur ein belegtes Leberwurstbrot mit Essiggurke aufgetan.
»Im Krankenhaus wird der Eintopf ständig nur mit Rüben und Wasser gestreckt«, antwortete sie mit vollem Mund. »Da darf ich mir solch eine Gelegenheit doch nicht entgehen lassen. Die Pasteten sind wirklich köstlich.«
Sie tat ein Stück auf ihre Gabel und bot Emil davon an. Bereitwillig kostete er davon, während sein Blick sich in ihren Augen versenkte. Henny spürte ein wohliges Kribbeln und gleichzeitig Verlegenheit. Sie griff nach einem neuen Glas Sekt und trank es viel zu hastig leer. Sie wusste, dass sie das besser nicht hätte tun sollen, aber nun war es schon zu spät. Mit einem Mal fühlte sie sich wie befreit. Plötzlich scherte es sie nicht mehr, was alle von ihr dachten. Sie wollte sich nur noch amüsieren.
»Lass uns tanzen«, forderte sie Emil auf und zog ihn übermütig mit sich auf die Tanzfläche. Bei Teudt spielte zwar keine Kapelle, dafür hatte er ordentliche Tanzmusik, sogar amerikanischen Swing und Jazz.
Emil ließ sich nicht zweimal bitten. Galant führte er sie aufs Parkett und bewegte sich zu der Musik, als hätte er nie etwas anderes getan. Henny hatte noch nie einen Mann besser tanzen sehen. Zu Count Basies neuesten Rhythmen bogen sich seine Arme und Beine, als wären sie aus Gummi. Henny sah ihm eine Weile aufmerksam zu, dann ließ sie sich ebenfalls auf die Musik ein. Emil lächelte ihr auffordernd zu, was sie dazu ermutigte, immer neue Bewegungen auszuprobieren. Ihr war, als flöge sie über den Tanzboden, so leicht und beschwingt fühlte sie sich, als er sie herumwirbelte, als wäre sie sein Spielball. Hatte sie je etwas anderes getan, als mit diesem Mann zu tanzen? Sie beide harmonierten, ohne dass es einer Absprache bedurfte. Ein Rhythmus folgte auf den anderen, ohne dass sie die geringste Müdigkeit verspürt hätte. Von ihr aus hätte es ewig so weitergehen können. Die Zeit flog nur so dahin. Erst als sich die Tanzfläche deutlich zu leeren begann, legten sie eine Pause ein.
Henny sah zum ersten Mal seit Stunden auf die Uhr und erschrak. In weniger als zwei Stunden musste sie zum Frühdienst erscheinen.
»Ich muss sofort nach Hause!« teilte sie Emil mit, der ihr gerade noch einmal etwas zu trinken besorgt hatte. Sie leerte ihr Sektglas auf einen Zug und stellte es auf einen der Beistelltische. Dann eilte sie zur Garderobe. Wo war nur Frieda? »Weißt du vielleicht, wo sie steckt?«, fragte sie Emil, der ihr gefolgt war.
»Sie ist schon vor einer ganzen Weile mit Poldi verschwunden.« Er half ihr in den Mantel. »Keine Sorge. Ich bringe dich selbstverständlich nach Hause.«
Als sie gemeinsam in die frische Nachtluft hinaustraten, bereute sie, dass sie das letzte Glas Sekt so schnell geleert hatte. Ihr war ganz schummerig, und sie geriet kurz ins Schwanken. Emil fing sie galant auf, und für einen Augenblick lag sie in seinen Armen. Sie roch sein rauchiges Rasierwasser, bevor sie wieder auf ihren eigenen Beinen stand. Fast bedauerte sie, dass der Moment so schnell vorübergegangen war, und musste plötzlich wie ein junger Backfisch über ihre eigenen frivolen Gedanken kichern. Was war bloß heute mit ihr los? Emil sah sie besorgt an.
»Soll ich uns vielleicht ein Taxi rufen?« Allein der Gedanke ließ sie nur noch alberner werden.
»Ich kann mir doch im Leben kein Taxi leisten«, prustete sie beschwipst. »Außerdem wird mir der kleine Spaziergang nur guttun, jetzt, da ich einen so edlen Ritter an meiner Seite habe.«
»Komisch, und ich habe mir eingebildet, mich heute als Scheich verkleidet zu haben«, bemerkte er trocken.
»Nein, nein, du bist in Wirklichkeit ein edler Ritter. Von deiner Sorte gibt es nicht besonders viele!« Sie hatte plötzlich einen Schluckauf und musste anhalten. Um sie herum drehte sich alles. Sie versuchte sich auf Emil zu konzentrieren und entdeckte plötzlich zwei von seiner Sorte. »Du hast ja einen Doppelgänger«, kicherte sie. »Wo hast du denn den so schnell hergezaubert?«
»Du hast einen Schwips«, stellte Emil fest. Sie fand, dass seine Stimme ein wenig vorwurfsvoll klang.
»Das kann dir doch egal sein.« Henny schob beleidigt die Unterlippe vor. »Ich habe mich auf jeden Fall heute Abend prächtig amüsiert.« Sie machte sich von seinem Arm los und konzentrierte sich auf ihren Weg. Eine ganze Weile gingen sie so schweigend nebeneinander her. Die frische, kalte Nachtluft half ihr, wieder einen klareren Kopf zu bekommen.
»Wohnst du schon lange in München?« Emils Frage hatte etwas Ernüchterndes nach dem wundervollen Abend. Wahrscheinlich versuchte er damit ihre peinliche Entgleisung von gerade eben zu überspielen. Henny fühlte sich plötzlich beschämt.
»Ich lebe seit zwei Jahren im Mutterhaus der Schwesternschaft des Roten Kreuzes, um dort eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen«, antwortete sie und versuchte, ihrer Stimme einen kühlen Klang zu verleihen. »Und du, was treibst du so, wenn du nicht als Scheich unterwegs bist?«
»Ich bin Hauptmann der Feuerschutzpolizei.«
»Ach, wie interessant!« Henny gab sich betont desinteressiert. Außerdem rückte sie noch ein Stück weiter von ihm ab. Emil sollte bloß nicht glauben, dass sie eine von denen war, die sich gleich dem Erstbesten an den Hals werfen.
»Wohnen deine Eltern weit von München entfernt?«
Himmel, was war denn das schon wieder für eine Frage? Jetzt hatten sie sich so herrlich amüsiert, und nun endete der Abend in einem unromantischen Kreuzverhör. Bitte, dachte sie trotzig, kann er gerne haben!
»Ich bin im oberbayerischen Peutenhausen bei meiner Tante und meinem Onkel aufgewachsen. Meine Eltern sind tot, und ich bin Vollwaise.«
»Das tut mir leid für dich.«
Sie nahm Emils Betroffenheit zufrieden zur Kenntnis. Das hatte er nun von seinen dummen Fragen. Doch sie hatte sich getäuscht, wenn sie glaubte, dass ihn das zu einer weniger schweren Konversation gebracht hätte.
»Meine Eltern sind auch tot«, erklärte er mit unverminderter Ernsthaftigkeit. »Ich bin in einem Waisenhaus und Internat aufgewachsen.«
Henny verkniff sich einen Kommentar und bedauerte nun fast, dass sie Emil gestattet hatte, sie nach Hause zu begleiten. Die Stille, die nun zwischen ihnen stand, brachte eine unangenehme Spannung mit sich.
»Ich glaube, jetzt habe ich mit meinen ungeschickten Fragen die ganze schöne Stimmung vermasselt«, gab sich Emil plötzlich überraschend einsichtig. Sie sah sein schiefes Grinsen und begriff, dass es ihm tatsächlich leidtat. »Wollen wir noch einmal von vorne anfangen?«
Sein Dackelblick brachte sie schließlich zum Lachen. »Meinetwegen«, sagte sie. »Jeder Mensch hat schließlich eine zweite Chance verdient!«
Mit einem Streich hatte sich die Spannung zwischen ihnen wieder aufgelöst. Den Rest des Heimwegs verbrachten sie in ungezwungener Plauderei. Henny erzählte Emil von ihrem Arbeitsalltag in der Klinik, ihrer Freundschaft zu ihrer Zimmergenossin Frieda Krupp und machte sich über den Kasernenton lustig, der neuerdings auf der Station herrschte, seitdem die Nationalsozialisten auch auf die Schwesternschaft des Roten Kreuzes großen Einfluss ausübten.
Emil hörte ihr aufmerksam zu und warf ab und zu interessierte Fragen ein. Über sich erzählte er allerdings nur wenig. Sie erfuhr lediglich, dass er ein Studium an der Technischen Hochschule absolviert hatte und seit etwas mehr als zwei Jahren bei der Berufsfeuerwehr als Beamter eingestellt war. Viel zu schnell hatten sie ihr Ziel in der Nymphenburger Straße erreicht. Als Henny bemerkte, wie spät es war, hatte sie es plötzlich sehr eilig.
»Ich muss rasch hinein. In nicht einmal einer halben Stunde beginnt meine Schicht.« Sie dachte an die strenge Generaloberin und die misslaunige Oberschwester, die womöglich schon ihre Runden zogen. »Man darf uns nicht zusammen sehen! Danke für die Begleitung.«
Sie waren kurz vor dem schmiedeeisernen Eingangstor, als sie ihm kurzerhand ihre Hand zum Abschied hinstreckte. Emil ignorierte sie und zog sie unvermittelt zu sich heran, um sie kurz, aber leidenschaftlich auf den Mund zu küssen. Henny war so perplex, dass sie ihn erst empört ansah und ihm dann instinktiv eine scheuerte. Dann hastete sie in Richtung Eingang davon.
Ausfahrt mit Folgen
Tagebuch der Luise Winter
München, den 2. Dezember 1899
Nach Monaten der tiefsten Trauer habe ich mich dazu entschlossen, ein Tagebuch zu führen. Es mag vielleicht seltsam klingen, aber ich habe schon jetzt das Gefühl, auf diese Weise die Trauer um meine geliebte Mutter besser bewältigen zu können. Seit sie nicht mehr am Leben ist, habe ich das Gefühl, nirgendwo in der Welt mehr richtig verankert zu sein. Sie war meine Sonne und ich ein Trabant, der in festen Bahnen um sie gekreist ist. Jeden Tag und jede Stunde muss ich an sie denken. Sobald ich hinaus auf den Flur unserer Wohnung trete, bilde ich mir ein, ihre warme Stimme zu hören. Mal ist es ein glockenhelles Lachen, mal ein mahnender Ruf, wenn mein Leopold wieder über die Stränge geschlagen hat. Sogar ihren röchelnden Husten vermisse ich. Ich höre nicht auf zu fragen, weshalb Gott so grausam war, sie viel zu früh von uns zu nehmen. Was haben wir ihm getan, dass er uns so bestraft hat?
Seit ihrem Tod ist nichts mehr so, wie es war. Vater vergräbt sich in seine Arbeit in der Bank und tut so, als wäre nichts geschehen. Er geht über ihren Tod schweigend hinweg, als könne er seinen Schmerz damit geringer machen. Dabei spüre ich, dass er genauso leidet wie Leopold und ich. Ist es nicht seltsam, dass jeder von uns seine eigene Art hat, um sie zu trauern? Leopold sucht Vergessen in Vergnügungen, während ich Zerstreuung in meinen Büchern zu finden hoffe. Mein Verstand weiß, dass mein Leben auch ohne sie weitergehen wird, aber meine Seele kann es noch nicht begreifen.
Das ist auch kein Wunder. Schließlich habe ich nun niemanden mehr, der mich richtig versteht. Mutter war die Einzige, die immer begriffen hat, wie wichtig Bücher und Wissen für mich sind. Trotz Vaters Widerstände hat sie meine Wissbegier gefördert und mich oft in Schutz genommen. Literatur, Geschichte, fremde Sprachen waren und sind für mich ein Quell von Inspiration. Sie lassen mich von Dingen träumen, die das wahre Leben mir wohl für immer vorenthalten wird, nur weil ich als Frau geboren wurde. Doch ich will nicht klagen. Dank Mutters Unterstützung konnte ich immerhin die höhere Mädchenschule besuchen und dort einen Abschluss machen. Schade nur, dass mein Wunsch, Lehrerin zu werden, nun nicht mehr erfüllt werden wird. Auch hier habe ich sie als Unterstützerin verloren. Meine Träume zerplatzen gerade wie Seifenblasen, denn Papa tut alles als dumme Flausen ab. Allein das Wort Ausbildung lässt ihn ungehalten und zornig werden. Seine Sorge um mich besteht leider nur darin, möglichst rasch einen passenden Ehemann für mich zu finden. Eine Frau muss in seinen Augen dankbar zurückschauen, gläubig aufwärtsblicken und freudig an der Seite ihres Mannes vorwärtsschreiten… Was ist das für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich Leopold beneide. Er hat es als Mann so viel einfacher als ich. Welch ein freies Leben darf er doch führen! Bei ihm lässt Vater die Zügel schleifen, obwohl er doch sehen müsste, dass er sich seit Mutters Tod nur noch bei der Burschenschaft oder in Kneipen herumtreibt. Ich möchte bezweifeln, dass er in den letzten Monaten auch nur eine Vorlesung an der juristischen Fakultät besucht hat.
Natürlich werde ich ihn nicht verraten. Dafür habe ich ihn viel zu lieb. Außerdem ist er der beste Bruder, den ich mir vorstellen kann. Ohne ihn wäre mein Leben noch sehr viel eintöniger. Er ist derjenige, der wieder etwas Farbe in mein Leben gebracht hat, obwohl ich bislang der festen Überzeugung gewesen war, dass tristes Grau mein künftiges Leben beherrschen wird. Doch alles der Reihe nach:
Vor ein paar Tagen trat Leopold in mein Zimmer und lud mich zu einer Kutschfahrt durch den Englischen Garten ein. Wie üblich schlug ich seine Einladung kurzerhand aus. Harmlose Zerstreuungen machen mir schon lange keine Freude mehr. Sie kommen mir falsch und eigennützig vor. Doch dieses eine Mal ließ Leopold nicht locker. Er bestand darauf, dass ich ihn begleite.
»Ich sehe nicht länger zu, wie du immer blasser und kränklicher wirst«, sagte er zu mir und setzte mir so lange zu, bis ich ihm endlich nachgab.
Missmutig und nicht allzu begeistert, stieg ich zu ihm in die Kutsche. Doch schon nach wenigen Minuten konnte ich nicht anders, als unsere kleine Ausfahrt zu genießen. Obwohl es bereits Dezember ist, hatten wir einen wunderbaren Nachmittag. In dicke Pelzdecken gehüllt, fuhren wir in dem von Leopold gemieteten Landauer von unserem Haus in der Bothmerstraße Richtung Osten in den winterlichen Park. Sobald ich die frische, klare Luft einatmete, sah ich ein, wie recht mein lieber Bruder mit seiner Idee gehabt hatte. Der Englische Garten bot sich uns in seiner ganzen Schönheit an. Eine dichte Schneedecke überzog Wiesen und Bäume. Überall funkelten Schneekristalle, und ich spürte eine Freude, wie ich sie schon lange nicht mehr empfunden habe.
Beim Monopteros wartete eine Überraschung auf mich. Der im griechischen Stil erbaute Säulentempel ist erst letztes Jahr renoviert worden und ein beliebter Treffpunkt für viele Lustwandelnde. Hier waren es Leopolds Freunde, die auf uns warteten. Mein hinterhältiger Bruder hatte mir natürlich nichts von diesem fröhlichen Treffen verraten. Ich wäre sonst bestimmt nicht mit von der Partie gewesen. Doch nun blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich damit zu arrangieren. Alle hatten eine Kleinigkeit für ein Picknick mitgebracht. Es gab reichlich Glühwein, Tee und Gebäck, die wir auf den Stufen des Rundbaus, auf Pelzdecken gebettet, verzehrten. Im Nu war ein kleines Volksfest im Gange. Einer von Leopolds Freunden hatte ein Akkordeon mitgebracht, zu dem einige Pärchen sogar einen Walzer wagten. Mit einem heißen Becher Tee in den Händen betrachtete ich das bunte Treiben mit etwas Abstand. Mir war nicht danach, mich weiter unter die Leute zu mischen. In Gedanken versunken, bemerkte ich gar nicht, wie Leopold plötzlich in Begleitung eines jungen Herrn auftauchte.
»Das ist Tassilo von Waldeck«, stellte er ihn vor. »Er ist Student an der philosophischen Fakultät und kann es gar nicht abwarten, deine Bekanntschaft zu machen. Ich habe ihm berichtet, wie klug und belesen du bist. Allerdings muss ich dich auch vor ihm warnen, er ist ein Freigeist und versteht es, hübschen jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen.« Er zwinkerte mir schelmisch zu und überließ mich seinem Freund.
Ehe ich michs versah, war ich mit dem fremden Studenten allein. Auf meine Verlegenheit anspielend, lüpfte er seinen Hut und verbeugte sich mit einem ungezwungenen Lächeln.
»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Fräulein Winter«, versprach er galant. »Ich möchte mich einfach nur mit dem hübschesten Mädchen weit und breit unterhalten.«
Ich spürte, wie ich errötete, obwohl mir seine Worte doch reichlich übertrieben erschienen. Mit meinen achtzehn Jahren hatte ich schließlich noch nicht oft Gelegenheit, mir Komplimente anhören zu dürfen.
»Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?«, fragte er mit der allergrößten Selbstverständlichkeit. »Wir könnten zum Chinesischen Turm hinüberlaufen. Was halten Sie davon?«
Seine natürliche Offenheit machte Eindruck auf mich. Im Gegensatz zu den wenigen anderen jungen Männern, deren Bekanntschaft ich bisher gemacht habe, war er erfreulich unkompliziert. So befanden wir uns im Handumdrehen auf dem Weg zum Chinesischen Turm. Der Schnee knirschte unter unseren Füßen, während wir munter plaudernd den geschwungenen Wegen durch den zauberhaften Park folgten. In der folgenden halben Stunde lernte ich Tassilo von Waldeck als einen wunderbaren Unterhalter kennen. Er erzählte mir, dass er der mittlere Sohn eines Landadligen aus dem Bayrischen Wald sei.
»Das hat so manchen Vorteil«, bekannte er ohne jeden Groll. »Da mein älterer Bruder einmal sämtliche Ländereien übernehmen wird, kann ich mit meinem Leben tun und lassen, was mir gefällt!« Ich fragte ihn, welche berufliche Laufbahn er denn einschlagen wolle, und bekam eine etwas merkwürdige Antwort. »Ich schätze die Philosophie des Lebens«, verkündete er mit voller Inbrunst. »Und die Schönheit des Augenblicks! Und genau das soll mich mein Leben lang leiten.« Dabei breitete er theatralisch seine Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen.
Ich musste unwillkürlich lachen, woraufhin Tassilo eine übertriebene Verbeugung vor mir machte.
»Sehen Sie, nun habe ich Sie doch zum Lachen gebracht!«
Er reichte mir seinen Arm, und wir spazierten weiter. Was soll ich sagen, an diesem Nachmittag habe ich zum ersten Mal wieder so etwas wie Zuversicht empfunden. Das lustige, temperamentvolle Wesen dieses Mannes mit den unverwechselbaren schwarzen Locken und dem dichten Schnurrbart hat mich überaus beeindruckt. Für Menschen wie Tassilo von Waldeck scheint es auf der Welt keine Probleme zu geben. Er besitzt die unbegreifliche Fähigkeit, selbst in schlimmen Dingen noch das Gute zu sehen. Dabei ist er überhaupt nicht eitel und von solch einer Unbeschwertheit, dass er mich immer wieder zum Lachen brachte. Wir haben so den ganzen Nachmittag miteinander verbracht.
Am Ziel angekommen, versuchte er, mich mit seinem Wissen zu beeindrucken.
»Ist Ihnen bekannt, dass der Chinesische Turm der Großen Pagode im königlichen Schlossgarten Kew Gardens in London nachempfunden wurde?«, fragte er und staunte, als ich mit einer Gegenfrage konterte.
»Und wussten Sie, dass diese Pagode in London wiederum die Majolikapagode in den Gärten des chinesischen Kaisers in Peking als Vorbild hat?«
»Touché!« Er lachte und machte mir ein Kompliment. »Sie sind mit Sicherheit die einzige Frau in München, die mit solch einem außergewöhnlichen Wissen aufwarten kann!« Ich fühlte mich überaus geschmeichelt, denn seit Mutters Tod weiß niemand mehr meine Belesenheit zu schätzen. Als Tassilo sich am Ende dieses wundervollen Nachmittags mit einem Handkuss von mir verabschiedete, klopfte mein Herz voll Übermut.
»Wir werden uns wiedersehen«, versprach er mir. Seither warte ich darauf, dass er sich wieder bei mir meldet…
9. Dezember 1899
Warum lässt Tassilo mich so lange im Ungewissen? Ich warte nun schon eine volle Woche, ohne dass er sich bei mir gemeldet hat. Jeden Morgen wache ich mit der Hoffnung auf, eine Nachricht von ihm zu erhalten. Diesen kleinen Funken nähre ich den ganzen Tag, nur um am Abend feststellen zu müssen, dass alles vergebens war. Womöglich beruht meine Schwärmerei nur auf Einbildung. Ich sollte mir den jungen Mann rasch aus dem Kopf schlagen. Auf der anderen Seite geht er mir aber nicht mehr aus dem Sinn. Ob ich wohl in ihn verliebt bin? Fühlt sich Liebe etwa so an? Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass plötzlich alles sehr aufregend ist!
Es ist weit nach Mitternacht, und an Schlaf mag ich nicht denken. In nur wenigen Stunden ist so vieles passiert. Endlich, endlich, endlich! Mein Warten wurde nun doch belohnt! Heute Morgen überraschte uns Leopold mit seiner Anwesenheit beim Sonntagsfrühstück. Seit er in seiner Studentenbude im Haus der Burschenschaft logiert, lässt er sich nur selten hier blicken. Als Vater sich wie üblich in seine Zeitung vertiefte, steckte er mir heimlich eine Nachricht zu. Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich sah, dass sie von Tassilo war. Am liebsten hätte ich den Umschlag sofort geöffnet. Als Vater endlich das Frühstück für beendet erklärte, hatte ich es besonders eilig. Dummerweise hielt er mich auch noch auf.
»Luise, ich habe mit dir zu reden«, teilte er mir mit und bedeutete mir, mich wieder zu setzen.
Ungeduldig kam ich seiner Forderung nach. Sein sonst so ernstes Gesicht zeigte eine ungewöhnliche Milde. Gleichzeitig bedachte er mich mit einem nachdenklichen Blick, der mich sofort aufmerken ließ.
»Nun, du bist ein hübsches junges Fräulein geworden.« Er räusperte sich, wobei er verlegen über seinen buschigen grauen Backenbart strich. Das machte mich nur noch mehr stutzig. Es ist so gar nicht Vaters Art, unvermittelt Komplimente zu machen. »Deine Mutter war immer sehr stolz auf dich«, fuhr er fort. »Du warst ihr Augenstern.« Betroffen registrierte ich ein Glitzern in seinen Augen. »Sie wollte immer, dass du glücklich wirst. Und das möchte ich auch.«
»Mir geht es gut«, beeilte ich mich rasch zu sagen. Seine sentimentale Anwandlung war mir fremd, und ich wollte nicht, dass er so traurig war. Vater bemühte sich um Fassung.
»Nun«, fuhr er schließlich mit festerer Stimme fort, »deshalb möchte ich vollenden, was Henriette nicht mehr vergönnt wurde. Ich möchte deine Zukunft in sicheren Händen wissen. Aus diesem Grund wünsche ich, dass du mich morgen Abend in das Haus von Direktor Stieglmaier begleitest. Er gibt eine kleine Gesellschaft, zu der einige interessante Herrschaften geladen sind.«
Ich muss ihn reichlich dämlich angestarrt haben, denn er schob eilig eine Erklärung nach. »Es ist mein Wunsch, dass du dich wieder unter Leute mischst. Mutter würde es sicherlich gutheißen– auch in Anbetracht der Tatsache, dass es an der Zeit ist, dir einen geeigneten Ehemann zu suchen.«
Nun war die Katze aus dem Sack.
»Wie kannst du daran nur denken!«, entglitt es mir empört, denn ich empfand keinerlei Wunsch nach einer langweiligen Gesellschaft, auf der ich heiratswillige junge Männer abwehren musste. »Mutter ist noch nicht einmal ein Jahr unter der Erde!«
Mein Argument verfehlte nicht seine Wirkung. Vater reagierte prompt verlegen und begann beschwichtigend meine Hand zu tätscheln.
»Das ist mir jeden Augenblick bewusst«, seufzte er bekümmert. »Wir werden auch keinesfalls etwas übereilen. Aber Gelegenheiten für aussichtsreiche Bekanntschaften sind rar. Und gerade jetzt will es der Zufall, dass sich so etwas ergibt. Ignaz ist übrigens aus Dortmund zurück. Er arbeitet jetzt im Kontor seines Vaters. Du weißt, wie sehr er dich immer verehrt hat! Er ist übrigens ein strammer junger Bursche geworden.«
Ich verzog mein Gesicht, als hätte ich auf eine saure Gurke gebissen. Ignaz Stieglmaier war so ziemlich der Letzte, den ich zu sehen wünschte. Ich hatte diesen weinerlichen Schlappschwanz noch nie leiden können.
»Glaube mir, wir werden alles gut bedenken«, fuhr Vater unnachgiebig fort. »Ich wünsche allerdings, dass du mich morgen Abend auf die Gesellschaft begleitest. Ein wenig Abwechslung wird dir guttun.« Als er mein missmutiges Gesicht sah, fügte er noch etwas hinzu, was mich aufmuntern sollte. »Ich habe gehört, dass Stieglmaier einen schottischen Missionar aus dem Herzen Afrikas eingeladen hat. Das wird für dich eine gute Gelegenheit sein, deine Englischkenntnisse ein wenig aufzufrischen.«
Er sah mich erwartungsvoll an. Dachte er tatsächlich, dass ich nun in Jubelrufe ausbrechen würde? Ich hatte weder Lust, einen schottischen Missionar kennenzulernen, noch gar ein Verlangen, Ignaz zu begegnen. Ich habe ja nichts gegen Veit Stieglmaier. Er ist ein grundgütiger Mensch und mein geschätzter Patenonkel. Außerdem ist er Vaters bester Freund. Seinem Einfluss als Besitzer einer bedeutenden Druckerei ist es zu verdanken, dass mein Vater zum Kommerzienrat ernannt wurde. Unerträglich bleiben jedoch seine ständig herummäkelnde Frau Trude und ihr eingebildeter Sohn. Allein die Vorstellung, mit ihnen einen ganzen Abend verbringen zu müssen, verursachte mir beinahe Übelheit.
»Ich weiß nicht, ob ich solch einem Ereignis nach Mamas Tod schon gewachsen bin«, versuchte ich mich herauszureden. »Außerdem kommt das alles viel zu plötzlich. Ich habe doch nicht einmal ein passendes Kleid. Mein gewöhnliches Trauerkleid wird wohl kaum für solch einen Anlass taugen.«
Vater ließ meinen Einwand nicht gelten. »So etwas lässt sich regeln«, meinte er bestimmt. »