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In der heißen Savanne Namibias steht eine Familie vor den Herausforderungen des heraufziehenden Krieges …
Deutsch-Südwestafrika, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Jella von Sonthofens Glück scheint perfekt: Sie hat ihren Vater wiedergefunden und den Mann ihres Lebens kennengelernt, mit dem sie ein gemeinsames Kind erwartet. Doch das Leben der kleinen Familie ändert sich schlagartig, als sie mitten in den Strudel des Herero-Aufstandes und in die gefährlichen Auseinandersetzungen um die deutsche Kolonie gerissen werden. Für Jella und ihren geliebten Fritz bleibt nur noch ein Ausweg: Sie müssen fliehen. Zehn Jahre vergehen, bis sie in ihre wahre Heimat des Herzens zurückkehren können.
Die Afrika-Saga bei Blanvalet:
1. Der Ruf der Kalahari
2. Sehnsucht nach Owitambe
3. Zauber der Savanne
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Seitenzahl: 768
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Deutsch-Südwestafrika: Jella von Sonthofen hat nicht nur ihren Vater gefunden, sondern auch den Mann ihres Lebens kennengelernt. Ihr gemeinsames Liebesglück wird von der Geburt ihres Kindes gekrönt. Doch die Schrecken des Hereroaufstandes und die blutigen Auseinandersetzungen um die deutsche Kolonie machen auch vor der glücklichen Familie nicht Halt, und so entschließen sich Jella und Fritz, mit ihrer Tochter nach Indien zu gehen. Auf dem farbenprächtigen Kontinent ziehen die Jahre fast unbemerkt ins Land … Werden sie jemals wieder in die wahre Heimat ihres Herzens zurückkehren können?
Sehnsucht nach Owitambe ist der zweite Teil einer fesselnden Familiensaga vor einer einzigartigen Landschaft. Sie erzählt von den Abenteuern einer Familie, die Deutschland verlassen hat, um in Afrika ihr Glück zu finden.
Patricia Mennens große Leidenschaft ist das Kennenlernen von Menschen ursprünglicher Kulturen. Wann immer es geht, macht sie sich auf und versucht, einen authentischen Einblick in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Ihre Eindrücke und Erlebnisse verarbeitet sie in ihren Büchern. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern abwechselnd in der Nähe des Bodensees und der Provence. Derzeit schreibt Patricia Mennen an der Fortsetzung zu Sehnsucht nach Owitambe.
Für Willem, Anna-Fee und Amelie
Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.
Südafrikanisches Sprichwort
Die Erde vibrierte unter gewaltigem Stampfen. Aus den Steilwänden der berghohen Düne lösten sich feine Sandbäche, die als sanfte Lawinen ins Dünental glitten. Langsam, aber stetig rieselte der rote Sand über den schlafenden Mann am Boden der Senke und begrub ihn, ohne dass er es merkte. Erst als das Geriesel seinen Mund erreicht hatte und dann über die Nase in seine Atemwege drang, erwachte er und rang jäh nach Luft. Mit einem Satz befreite er sich aus seiner misslichen Lage und sprang auf. Vom Schlaf noch verwirrt, wischte er sich den Sand aus seinem gesunden Auge. Seine scharfen Ohren nahmen gleichmäßige Erschütterungen und Schnauben wahr. Sehen konnte er nichts. Um ihn herum herrschte das neblige Grau der ersten Morgendämmerung. Irgendwo über ihm kämpfte die Sonne ihren morgendlichen Kampf gegen die dichte Nebelwand. Nur zögerlich verwandelte ihr erstes Licht die nachtfeuchte Luft in ein sanftes, wärmendes Orange. Der junge Buschmann versuchte die Richtung auszumachen, aus der das Stampfen kam. Eilig fasste er nach seinem Lederumhang, in dem er die Nacht verbracht hatte. Seine Glieder waren noch steif von der eisigen Wüstennacht. Um sich zu wärmen, sprang der Buschmann einige Male mit den Armen um sich schlagend auf und ab. Dann lauschte er nochmals. Argwöhnisch blickte er auf den Kamm der Düne hoch über sich. Seine Hände griffen nach dem Speer, dem Beutel und dem kleinen Bogen mit den Giftpfeilen.
Von welcher Seite würden sie kommen?
Der Nebel, der von der Atlantikküste weit in die Namib waberte, bildete nach wie vor einen undurchdringlichen Vorhang. Behände kletterte der kleinwüchsige Mann die Düne hinauf, um einen besseren Überblick zu bekommen. Der weiche, tiefrote Sand erschwerte jede Vorwärtsbewegung, doch er hatte eine Technik entwickelt, auf allen vieren wie ein Käfer voranzukommen. Als er die ersten zwei Drittel der Düne geschafft hatte, warf sich plötzlich ein riesiger, dunkler Schatten über ihn. Daneben tauchten ein zweiter und schließlich ein dritter auf. Ohne eine Sekunde zu zögern, machte der Buschmann kehrt. Mit großen Schritten rannte er den Dünenabhang hinab, ließ sich fallen, überschlug sich und schlidderte bäuchlings mit rudernden Armen weiter, rappelte sich wieder auf, spurtete auf die abflachende Seite der Düne zu und warf sich hinter ihrer Kante flach auf den Boden.
Keinen Augenblick zu früh.
Als er schließlich keuchend seinen Kopf hob, bekam er ein gleichermaßen komisches wie beeindruckendes Schauspiel zu sehen. Mit einem lauten Trompetensignal machte sich ein gewaltiger roter Elefant an den Abstieg der Düne. Dort, wo der Buschmann nur wenige Augenblicke vorher gelegen hatte, verwandelte sich der Steilhang der Düne in eine riesige Rutschbahn. Zwölf Elefantenkühe und sieben Jungtiere versuchten sich nacheinander an dem steilen Abstieg. Auf dem Hinterteil sitzend, die Rüssel hoch in die Luft gestreckt, glitten die ersten wie Kinder auf einer Rutsche den Abhang hinab. Während die älteren Tiere den Abstieg routiniert und mit sichtlichem Vergnügen bewältigten, verlief bei den Jungtieren die Rutschpartie nicht immer reibungslos. Manch eines verlor das Gleichgewicht und purzelte kopfüber den Abhang hinab. Ihre roten, staubbedeckten Körper vermischten sich mit dem aufgewirbelten Sand zu einer immensen Staubwolke. Der Buschmann konnte nun gar nichts mehr erkennen. Aber er roch die Elefanten, und er spürte ihre Unruhe, als sie sich, unten angelangt, wieder zu einer Gruppe versammelten. Während sich der Sandstaub langsam senkte, tauchten die massigen Körper der Wüstenelefanten wie eine geisterhafte Erscheinung vor ihm auf. Noch war alles schemenhaft, doch mit einem Mal gelang es der stärker werdenden Sonne, ein Loch durch den Nebel zu fressen, und innerhalb weniger Augenblicke weitete sich der Himmel zu einem tiefen, klaren Blau. Die sandroten runzligen Leiber der Elefanten waren nun deutlich zu erkennen. Sie waren keinen halben Speerwurf weit von ihm entfernt. Die Leitkuh lief aufgeregt um die anderen herum, als wolle sie nachzählen, ob alle heil angekommen waren. Dann witterte sie den Buschmann. Argwöhnisch spreizte sie ihre großen Segelohren ab und blickte ihn aus kleinen, dicht bewimperten Augen prüfend an. Der Buschmann hielt den Atem an. Er war sich der Gefahr durchaus bewusst. Langsam stand er auf und stellte sich der Situation. Jede falsche Bewegung konnte sein Ende bedeuten. Die Herde hatte Jungtiere und war deshalb überaus nervös. Der Rüssel der Leitkuh schlug ärgerlich in den Sand und wirbelte ihn meterhoch auf. Mit einem Mal lehnte sie sich zurück, dann schnellte sie wie ein Katapultgeschoss nach vorn und stürmte mit weit ausholenden Schritten und aufgestellten Ohren auf ihn zu. Noch bevor der Buschmann sich regen konnte, war sie bei ihm. Der kleine Mann schloss angstvoll die Augen und wartete darauf, überrannt oder in die Luft geschleudert zu werden. Keine zwei Menschenlängen von ihm entfernt blieb die Leitkuh jedoch abrupt stehen, stieß einen ohrenbetäubenden Warnruf aus und drehte dann überraschend ab. Ohne ihm weitere Beachtung zu schenken, setzte sie sich gemächlichen Schrittes an die Spitze der Elefantengruppe und führte sie durch das Dünental fort.
Das Herz des Mannes raste wie das eines Hasen. Er stieß einen tiefen Seufzer der Dankbarkeit aus. Mochte Kauha verhüten, dass er den großen Tieren noch einmal so nahe kam! Dennoch musste er ihnen folgen. Sie waren die Rettung, auf die er so lange gewartet hatte. Einige Tage und genauso viele Nächte hatte er nun schon in der Einsamkeit der Namib verbracht, bis er endlich auf die Tiere gestoßen war. Wie oft hatte er an seinem Erfolg gezweifelt. Es war nur eine vage Vermutung gewesen, dass auch den Elefanten am Ende dieser dürftigen Regenzeit das Futter in der Wüste knapp werden würde und dass sie deshalb mit ihren Jungtieren die Namib durchqueren würden, um in fruchtbarere Gebiete zu gelangen. Leider war ihr Revier unendlich groß, und die seltenen Tiere waren nur schwer aufzuspüren.
Die Buschmänner kannten einige der verborgenen Wasserstellen in dieser augenscheinlich so lebensfeindlichen Wüste, aber die Elefanten kannten sie alle. Die Trockenheit hatte die meisten Quellen versiegen lassen. Die Menschen seiner Gruppe hatten Mühe, genug Wasser zu finden. So war das Leben in den letzten Monden besonders hart und entbehrungsreich gewesen. Es hatte viel zu wenige von den nahrhaften und wasserreichen Tsamma-Melonen gegeben, und die essbaren Gräser, Knollen und Pflanzen waren dürr und wenig nahrhaft geblieben. Einige der Jäger hatten versucht, am großen Wasser Robben zu erlegen, aber sie mussten unverrichteter Dinge wieder umkehren, weil die Robbenkolonie sich einen neuen, unbekannten Platz an der Küste gesucht hatte. Außer ein paar ausgemergelten Küstenwölfen und einem Rudel hungriger Löwen waren sie keinem Tier begegnet. Den Buschmännern blieben die Echsen, Schlangen und kleinen Säugetiere, die nachts aus ihren heißen Sandverstecken krochen. Die Tiere warteten auf die Kühle der Nacht, die mit dem abendlich aufziehenden Küstennebel auch Feuchtigkeit mit sich brachte. Das Wasser, das auf den Wüstenpflanzen kondensierte, genügte ihnen zum Überleben. Für die Buschmänner waren die kleinen Tiere in guten Jahren eine willkommene Zwischenmahlzeit. Doch jetzt musste das wenige Fleisch als Hauptnahrung reichen. Vergeblich hatten sie nach den großen Oryxantilopen Ausschau gehalten. Die wehrhaften Tiere mit ihren lanzenähnlichen Hörnern waren dieses Jahr überhaupt nur vereinzelt durch ihr Gebiet gezogen. Das war ein schlechtes Zeichen, denn gerade diese Tiere waren auf besondere Weise an das harte Leben in der Wüste angepasst.
Es war seine Idee gewesen, die Elefanten aufzuspüren. Über kurz oder lang würden die Tiere die Menschen dorthin führen, wo es Wasser gab. Das hatte innerhalb der Gruppe zu großen Diskussionen geführt. Die meisten waren gegen seinen Vorschlag gewesen.
»Wir haben nicht die Kraft für eine lange Suche«, hatte Kwi, einer der erfahrenen älteren Männer eingewandt.
»Ich werde dir kein Wasser geben«, bestimmte gar N!ore, der in ihm nur einen Konkurrenten sah. Allein sein Freund Twi hatte ihm nicht abgeraten, sondern ihm stillschweigend etwas von seinem Wasservorrat abgegeben. So war er, allen Warnungen zum Trotz, eines Morgens losgezogen.
Und jetzt hatten die Elefanten ihn gefunden!
Mit neuer Energie machte er sich an ihre Verfolgung. Den ganzen Tag ließ er sie nicht aus den Augen. Die schwerfälligen Tiere kamen erstaunlich rasch voran. Der Buschmann war ein hervorragender Läufer, doch die Hitze sowie die Anstrengungen und Entbehrungen der letzten Tage forderten ihren Tribut. Er hatte kaum noch Wasser. Nur einmal hielt er kurz inne. Mit großer Bedächtigkeit zog er das Grasbüschel aus der kleinen Öffnung in dem Straußenei, schloss die Augen und trank einen winzigen Schluck. Das musste reichen. Während er weiterlief, schlich sich der Zweifel säende Geist Gwi in seine Gedanken. Wie lange waren die Elefanten wohl unterwegs? Wer sagte ihm, dass sie überhaupt Wasser suchten? Was, wenn sie eben erst an einer Wasserstelle gewesen waren? Dann würden sie ohne Mühe die nächsten Tage ohne Wasser auskommen. Er zwang sich, diese Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, doch der schalkhafte Geist Gwi ließ sie weiterhin wie Schreckgespenster in seinem Kopf kreisen. Seine Kräfte begannen ihn schon jetzt zu verlassen. Wurden seine Schritte nicht immer langsamer und der Abstand zu den Elefanten immer größer?
»Lass mich in Ruhe, Gwi!«, schimpfte er laut.
Der Widerhall seiner Stimme holte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Er würde die Elefanten nicht verlieren. Solange kein Wind aufkam, konnte er leicht ihre Spuren verfolgen. Die nächste Wasserstelle war sicher nicht mehr fern!
Die Elefanten marschierten unterdessen unbeirrt weiter. Auch ihnen machte der Wassermangel zu schaffen. Immer wieder blieb eine der Kühe mit ihrem Jungtier zurück und ließ es kurz an ihren ausgemergelten Zitzen trinken. Nach wenigen Zügen stieß das Muttertier jedoch sein Junges beiseite. Jämmerlich klagend quälte sich das Kleine weiter. Es schien genauso erschöpft wie der Buschmann. Doch es war auch ein gutes Zeichen, denn es zeigte, dass die Tiere durstig waren.
Am späten Nachmittag weitete sich die hohe Dünenlandschaft zu einer breiten Senke. Die Ränder der Dünen begannen sich im eintretenden Abendlicht scharf von ihrer Umgebung abzuzeichnen. Vor dem gelben Sand der Senke und dem tiefen Coelinblau des Himmels leuchteten die Sandberge kräftig rot. Dürre, fahlgrüne Grasbüschel warfen fetzige Schatten. Die Elefantenherde suchte nicht die offene Landschaft, sondern hielt sich weiterhin nahe bei den Dünen und verschwamm schließlich mit deren dunkler werdenden Schatten. Der Abstand zwischen dem Buschmann und den Elefanten war in der Zwischenzeit immer größer geworden. Schließlich verlor er sie aus den Augen. Das Letzte, was er von der Herde sah, war, wie sie hinter einem der Dünenkämme verschwand. Jetzt blieben ihm nur noch ihre Spuren. Sorgenvoll betrachtete er den Horizont. Zartviolette Nebelschwaden zogen von Westen über die Wüste. Die Sonne verwandelte den Himmel in eine Sinfonie aus Farben. Das ockergetönte Rot der Dünen verwandelte sich in ein dunkles Violett, während sich der Himmel vor den Nebelschwaden in einer zartgelben Unendlichkeit verlor. Es wurde Nacht. Noch einmal sammelte der Mann alle Reserven, die er besaß, trank den letzten Schluck Flüssigkeit aus seinem Straußenei und beschleunigte seine Schritte. Wenn er vor einsetzender Dunkelheit die Tiere nicht wiederfand, war er verloren.
1904/1905
»Nein, nein, nein!« Nancy schwang ihr Hinterteil, während sie sich empört umdrehte, wobei ihre Röcke einen weiten Bogen beschrieben. In ihrer Hand hielt sie einen riesigen Kochlöffel, den sie drohend in Richtung Samuel und seiner Helfer schwang. »Was seid ihr nur für hirnlose Erdmännchen! Ich habe euch tausendmal gesagt, ihr sollt die Tafel unter dem großen Baum aufbauen, nicht bei den Ställen, wo alles nach Kuhmist riecht!«
Samuel grinste sie breit an.
»Das wissen wir auch, Mama Nancy«, sagte er schelmisch. »Wir wollten nur sehen, was du für ein Gesicht machst!«
»Ach ja?«, fragte Nancy scharf. »Und was für ein Gesicht habe ich deiner Meinung nach gemacht?«
»Sag einem Krokodil erst, dass es hässlich ist, wenn du den Fluss überquert hast!«, antwortete Samuel, wobei er den anderen Farmarbeitern vielsagend zuzwinkerte. Nancy stand fassungslos da; ihr Unterkiefer klappte nach unten. Die Männer hielt es nun nicht mehr. Erst Joseph, dann Ernst und schließlich auch Josua und Samuel begannen hemmungslos zu lachen. Die Freude über Samuels Scherz brachte ihre Augen zum Glänzen. Immer wieder klopften sie sich mit den Händen auf die Schenkel. Nancy hatte sich schnell wieder gefasst. Ihr dunkelhäutiges Gesicht bekam kurz grimmige Züge. Sie hob ihren Kochlöffel und machte Anstalten, sich auf die Lümmel zu stürzen, aber dann hellte sich ihre Miene wie eine aufgehende Sonne auf, und sie fiel unvermittelt in das Gelächter der Männer ein. Sollten sie doch ihren Spaß haben. Es zeigte nur, wie gut es ihnen ging. Kopfschüttelnd begab sie sich schließlich wieder in ihre Küche, wo die Vorbereitungen zu der großen Hochzeit auf Hochtouren liefen.
Der ganze Distrikt sprach von dem bevorstehenden Ereignis. Von »unerhört!«, »skandalös«, »Verkafferung und Verlust der guten Sitten« bis hin zu »mutig«, »Respekt« reichte die Palette der diversen Meinungen. Es kam schließlich nicht alle Tage vor, dass Vater und Tochter gleichzeitig vor den Traualtar traten. Doch das allein war an sich nichts Anstößiges. Es gab noch viel mehr Anlass für Klatsch und Tratscherei. Johannes von Sonthofen hatte eine Affäre mit einer Himbafrau, aus der ein gemeinsamer Sohn hervorgegangen war. Das war zwar verwerflich, aber an sich nichts Ungwöhnliches, denn der Bastard hatte kaum mehr Rechte als ein gewöhnlicher Schwarzer. Aber um genau das zu ändern, hatte Sonthofen sich entschlossen, die Himbafrau zu ehelichen. Mischehen waren in den Kolonien generell verpönt. Vor allem den Nationalisten lag daran, solche Beziehungen strikt zu verbieten, weil sie ihrer Meinung nach »Schmutz« in das reine, deutsche Blut brachten und die Menschen »verkafferte«. Ein Gesetz, das Mischehen verbot, stand kurz vor dem Inkrafttreten. Aus diesem Grund hatte der Distriktchef von Otjiwarongo die Ehe zwischen Johannes von Sonthofen und der Himbafrau Sarah verbieten wollen. Doch die guten Kontakte, die Johannes schon seit längerer Zeit zu Gouverneur Leutwein unterhielt, machten sich jetzt bezahlt. Auf höchste Anweisung von oben wurde der Distriktchef gezwungen, das Paar dennoch zu trauen. Auch das andere Brautpaar war nicht ohne Makel. Die Tochter des Farmers Sonthofen würde den anschwellenden Bauch unter ihrem Brautkleid wohl kaum verbergen können.
Das alles scherte die eintreffenden Gäste wenig, und wenn, dann sprach man nur hinter vorgehaltener Hand darüber. Ein Fest war schließlich ein Fest und in diesen Breiten ein willkommener Anlass, sich untereinander auszutauschen. Nach und nach trafen die Ochsenwagen der Nachbarn ein, von denen einige schon seit dem Morgengrauen über die staubigen Wege, die Pads, unterwegs gewesen waren. Einige wenige besaßen Kutschen mit Pferden und brachten die langen Strecken wesentlich komfortabler hinter sich. Samuel, der Vorarbeiter der Farm, hatte eine ganze Scheune leer geräumt, in der die Gäste ihre Tiere unterstellen konnten. Überall gab es ein großes Willkommen. Johannes begrüßte alle Gäste persönlich. Mit Rücksichtnahme auf Sarah, die keine Christin war, hatte er auf die kirchliche Trauung verzichtet.
Das Fest am heutigen Tag sollte ganz allein dem jungen Brautpaar gehören. Die meisten Nachbarn brannten darauf, Jella nun endlich kennenzulernen. Die junge Frau war erst einige Monate zuvor überraschend aus Berlin angereist und hatte sich als uneheliche Tochter aus einer früheren Beziehung Sonthofens vorgestellt. Doch bisher war die Braut nicht zu sehen. Sie bereitete sich offensichtlich noch auf das große Ereignis vor. Heute sollte die kirchliche Trauung sein. Die standesamtliche Trauung hatte bereits vor einigen Tagen in Otjiwarongo stattgefunden. Johannes und Sarah sowie Jella und Fritz hatten sie in kleinstem Kreis abgehalten.
Die ersten Gäste waren bereits vor einigen Tagen eingetroffen. Unter ihnen war auch Lisbeth Eberle, die aus Stuttgart stammende Krankenschwester, mit der Jella vor etwa einem Jahr nach Deutsch-Südwest gekommen war. Die beiden jungen Frauen hatten einige Zeit zusammen im Missionskrankenhaus in Windhuk gearbeitet und waren bestens befreundet.
Lisbeth war mindestens ebenso aufgeregt wie Jella, die wie ein aufgescheuchtes Huhn im Bademantel durch das Haus lief.
»Wo habe ich nur das Medaillon hingelegt?«, rief Jella verzweifelt und fuhr sich mit beiden Händen in ihr aufgestecktes Haar.
»Jesus, Maria und Josef«, stöhnte Lisbeth, die das widerspenstige Haar gerade zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt hatte. »Jetzt siehst du aus wie ein gerupftes Huhn! Wir können gleich noch mal von vorn anfangen!«
Jella ließ das alles ziemlich unberührt. Sie suchte fieberhaft weiter, öffnete Schubladen, suchte hinter der Obstschale auf dem Buffet und drang dann sogar in Nancys Reich ein. Doch Nancy verwehrte ihr mit ihrer ganzen breiten Statur den Eintritt.
»Raus!«, schimpfte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Dabei rollten ihre schwarzen Augen gefährlich in den Augenhöhlen.
»Aber … ich muss …«, versuchte Jella ihr Anliegen vorzutragen. Doch Nancy duldete keinen Widerspruch und schob sie hinaus. Jella musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Schließlich fand sie das Medaillon in seinem kleinen Beutel neben ihrem Bett.
»Gott sei Dank«, seufzte sie erleichtert. Vorsichtig zog sie es heraus und klappte es auf. Das Bild ihrer Mutter lächelte ihr entgegen. »Ohne meine Mutter bei mir zu haben, hätte ich nicht heiraten können«, erklärte sie ihrer Freundin. »Wenn ich es trage, dann ist es fast so, als wäre sie hier bei uns!«
Ein paar Tränen kullerten aus Jellas hellgrünen Augen und rollten ihr über die Wange. Lisbeth strich ihrer Freundin tröstend über den Arm.
»Sie würde sich sicherlich sehr über Fritz freuen!«, versicherte sie ihr. Jella schniefte und ließ sich ungeduldig nochmals die Haare aufstecken.
»Wo ist eigentlich Fritz?«, wollte sie wissen. Sie hatte ihren Zukünftigen heute nur kurz gesehen.
»Ich glaube, er hilft den anderen beim Aufbau der Tanzbühne. Das Orchester ist auch schon eingetroffen. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich allerdings nicht, dass sie sehr gut spielen können. Die meisten Instrumente sehen ziemlich verbeult aus!«
Jella lachte vergnügt. »Imelda hat unbedingt darauf bestanden. Sie meinte, eine Hochzeit ohne Orchester ist wie ein Weihnachtsessen ohne Gans. Sie hat die Leute selbst zusammengestellt und behauptet steif und fest, dass sie den Hochzeitswalzer richtig gut spielen könnten. Außerdem hat Fritz noch ein Grammofon organisiert. Damit ist der musikalische Teil der Feier wohl gesichert.«
»Ist diese kleine, fette Witzfigur tatsächlich der Pfarrer? Wieso ist er eigentlich schon hier?«
Jella zuckte mit den Schultern. »Mein Vater hielt es für das Beste, Traugott Kiesewetter gleich in der Missionsstation abzuholen, damit er die Hochzeit nicht vergisst. Der gute Mann ist zwar herzensgut, aber er neigt dazu, manche Dinge zu vergessen.«
»Und jetzt macht er sich daran, das Hochzeitsessen schon vor der eigentlichen Feier zu vertilgen«, kicherte Lisbeth. »Ich habe ihn die paar Tage, die ich hier bin, noch nie ohne Essen herumlaufen sehen. Ich glaube, er ist der Einzige, der sich ungestraft in Nancys Küche begeben darf.«
»Weiß der Teufel, wie er das anstellt«, meinte Jella. »Bist du nun endlich fertig?«
Lisbeth steckte die letzten Nadeln in die Frisur und betrachtete zufrieden ihr Werk.
»Wenn du deine Finger jetzt gefälligst bei dir behältst, dann bist du die schönste Braut Südwestafrikas!«
»Bis auf das Brautkleid! Wie spät ist es eigentlich?« Lisbeth sah auf die Taschenuhr auf der Kommode.
»O je, wir haben uns total verplappert! Schnell, du musst in dein Brautkleid schlüpfen! Aber vorsichtig. Nicht, dass du es noch zerreißt!«
Alles auf der Farm Owitambe war feierlich geschmückt worden. Jella, Imelda, Sarah und Nancy hatten sich alle Mühe gegeben. Herausgekommen war eine Mischung aus deutsch-burischer Gemütlichkeit und afrikanischen Elementen. Die Trauung selbst sollte oben auf dem Hügel stattfinden, wo die große Schirmakazie stand. In ihrem Schatten waren lange Tischreihen mit weißen, gestärkten Baumwolltischdecken aufgestellt worden. Nancy hatte einen Teil der Küche nach draußen verlagert und kochte auf offenem Feuer. Auf gusseisernen Dreibeinen standen riesige Töpfe mit Eintopf, Suppen und Gemüsegerichten. Samuel und Josua hatten sich weiße Schürzen umgebunden und sollten über gewaltigen Rosten das Fleisch garen. Dazu gab es verschiedene Fruchtsoßen, selbst gebackenes Brot, frisch gebrautes Bier, das Fritz extra aus Grootfontein hatte kommen lassen, und sogar einige Kisten mit südafrikanischem Wein. Auf den Tischen standen Schalen mit frischem Obst und Blumen aus dem hauseigenen Garten. In die weit ausladenden Zweige hatte Johannes bunte Papierlampions hängen lassen. Überall waren Fackeln und Petroleumlampen aufgestellt worden, die nach der früh einsetzenden Dunkelheit den Platz erhellen sollten. Auf dem Hof vor dem Wohnhaus stand eine Holzbühne für den Tanz. Daneben war Platz für das »Orchester«. Die vier dunkelhäutigen Musiker besaßen hauptsächlich Blechblasinstrumente, die so verbeult waren, dass die Vermutung nahelag, sie könnten schon bei der einen oder anderen Schlägerei eingesetzt worden sein. Imelda, Fritz’ Mutter, hatte die Instrumente aufgetrieben und kurzerhand dazu ein paar ihr musikalisch erscheinende Herero aus Okakarara ausgewählt. Mit unendlicher Geduld hatte sie mit ihnen in den letzten Wochen einige Tanzlieder, unter anderem auch den Kaiserwalzer, eingeübt. Hinter vorgehaltener Hand hatten Jella und Fritz kichernd die Befürchtung geäußert, dass wohl einige Gäste die Feier verlassen könnten, bevor überhaupt die Trauung stattgefunden hatte. Doch Imelda wollte davon nichts wissen. Sie war stolz auf ihre Musiker und überzeugt, dass sie ihre Aufgabe meistern würden. Nachdem sich alle versammelt hatten, schärfte sie den Männern noch einmal ausdrücklich ein, erst zu beginnen, wenn der Bräutigam vor dem Pastor stand. Die Musiker sahen einander an und nickten ernst.
Als Erster kam Traugott Kiesewetter. Der kleine Pastor hatte sich extra für den feierlichen Anlass in sein schwarzes Priestergewand geworfen und die weiße Halskrause angelegt. Mit würdevollem Schritt erklomm er den kleinen Hügel, wandte sich dann den unten sitzenden Gästen zu und faltete die Hände vor seinem Bauch. Schweiß rann über seine Stirn, doch er bewahrte Haltung. Mit aufmunternden Zurufen der verheirateten Männer wurde schließlich der Bräutigam empfangen. Fritz lächelte ihnen zu. Mit sicheren Schritten lief er durch das Spalier der Gäste in Richtung des Pastors. Er trug einen schwarzen Frack, darunter ein gestärktes, weißes Hemd mit Stehkragen und Binder. Seinen Kopf zierte ein glänzender Zylinder. Das dunkle Haar darunter war mit Pomade geglättet. Die jungen Fräulein der Gesellschaft stießen ein kaum zu überhörendes Seufzen aus. Fritz sah wirklich umwerfend aus. Mehr als eine war neidisch auf die gute Partie, die Jella machte. Wer es nicht wusste, konnte kaum erkennen, dass dem Bräutigam die linke Hand fehlte. Geschickt hielt er den Stumpf zwischen den Knöpfen seines Fracks versteckt.
Jetzt fehlte nur noch die Braut. Viele der Eingeladenen kannten Jella noch nicht. Umso heftiger waren die Spekulationen der Frauen und der jungen Mädchen über ihr Brautkleid. Würde sie es wagen, trotz ihrer Umstände einen Schleier zu tragen? War es nicht unerhört, dass sie überhaupt kirchlich heirateten? Die Braut sollte außerdem sehr hochgewachsen sein und nicht unbedingt dem deutschen Schönheitsideal entsprechen, tuschelten die einen. Diejenigen, die sie bereits kannten, schilderten sie demgegenüber als charmante, kluge Frau, die immer sagte, was sie dachte. Ihre Spekulationen wurden durch das laute Hupen einer Tuba unvermittelt unterbrochen. Der betreffende Musiker hatte sich mit seinem Einsatz vertan und schaute jetzt erschrocken in die Menge. Imelda, die bereits neben Sarah und dem kleinen Raffael in der ersten Reihe saß, bekam einen hochroten Kopf. Man konnte ihr ansehen, dass sie am liebsten den Schuldigen erwürgt hätte. Sie gestikulierte und gab ihnen zu verstehen, dass sie es noch einmal von Neuem versuchen sollten. Doch der zweite Anlauf ging genauso schief wie der erste, nur dass dieses Mal alles durcheinander erklang. Imelda erhob sich von ihrem Sitz und marschierte unter den amüsierten Blicken der Gäste zu ihren Schutzbefohlenen. Nach einem kurzen, heftigen Wortwechsel hatte sie die Ursache des neuerlichen Scheiterns herausgefunden. Die Musiker kannten ihre Stücke auswendig, da sie keine Noten lesen konnten. Allerdings hatten sie vergessen, mit welchem Lied sie beginnen sollten. Der Tubaspieler und der Trompeter hatten sich kurzerhand für den Einzugsmarsch von Johann Strauß entschieden, der Posaunist und der Schlagzeuger dagegen für den Kaiserwalzer. Der Erfolg war eine entsetzliche Kakophonie gewesen. Imelda warf den Musikern einen mörderischen Blick zu und gab nun selbst den Einsatz. Schuldbewusst konzentrierten sich die vier und begannen zum dritten Mal. Zum Erstaunen der meisten Gäste konnte sich die Musik durchaus hören lassen. Das Orchester spielte zwar nicht unbedingt brillant, aber zumindest sehr eigenwillig und engagiert.
Inmitten dieses amüsanten Zwischenfalls hatten die Zuschauer nicht mitbekommen, wie Jella am Arm ihres Vaters aus der Haustür getreten war. Das schlichte, cremefarbene Brautkleid umschmeichelte elegant ihren Körper. Es war ärmellos und eng geschnitten und gab sich nicht ansatzweise die Mühe, die unübersehbare Wölbung ihres Bauches zu kaschieren. Gerade das machte den Reiz des Kleides aus und ließ die Braut noch attraktiver erscheinen. Das lockige, widerspenstige Haar war zu einer kunstvollen Steckfrisur aufgetürmt. Anstatt eines Schleiers oder eines Blumenkranzes trug sie locker verteilt blaue und weiße Blüten in ihrem roten Haar. Lange, goldene Ohrringe hingen bis zu ihren Schultern. Ihre limonengrünen Augen glänzten vor Aufregung, als sie gemeinsam mit ihrem Vater in viel zu großen Schritten auf Fritz zuging.
Fritz verschlug es den Atem. Jella war für ihn schon immer die schönste Frau gewesen, die er jemals kennengelernt hatte, aber heute sah sie einfach hinreißend aus. Am liebsten wäre er auf sie zugestürzt und hätte sie vor allen geküsst. Es kostete ihn Überwindung, es nicht zu tun. Mit einem leichten Nicken übernahm er von Johannes Jellas Arm, der bis zu den Ellenbogen in cremefarbenen Spitzenhandschuhen steckte. Jella sah Fritz an und strahlte. Gemeinsam traten sie vor den Pastor.
Nach der Trauung gab es einen kleinen Umtrunk, während die Gäste nacheinander dem Brautpaar gratulierten. Die meisten waren überrascht, wie natürlich Jella war. Sie war erstaunlich gut über die Familienverhältnisse der Nachbarn informiert und erkundigte sich sogar nach denen, die verhindert gewesen waren zu kommen.
»Sag mal, Vater, warum ist eigentlich niemand von den Nachtmahrs erschienen?«, fragte Jella, als sie einen Augenblick von niemandem in Anspruch genommen wurde.
Johannes verzog sein Gesicht.
»Mit Rüdiger von Nachtmahr ist nicht unbedingt gut Kirschen essen. Er ist sehr eigenwillig. Es würde mich nicht wundern, wenn er dem Fest mit Absicht fernbliebe. Dabei hat er eine wirklich reizende Frau.«
»Auch egal. Ich werde ihn schon noch kennenlernen. Vielleicht sollten wir für ihn ja einmal einen Extraempfang geben.«
Bevor ihr Vater antworten konnte, wurde sie von Lisbeth unterbrochen.
»Du stehst schon viel zu lange hier herum. Denk an deinen Zustand. Du solltest dich endlich einmal hinsetzen!«
Sie schaute vorwurfsvoll Fritz an, der sofort reagierte.
»Ja, Liebes, lass uns endlich Platz nehmen. Ich glaube, die Leute haben alle Hunger!«
Jella verdrehte die Augen. »Warum behandeln mich alle wie ein kleines Kind? Ich bin schwanger und nicht krank.«
Dennoch ließ sie sich von Fritz an den Tisch führen, wo sie sich in der Mitte der langen Tafel hinsetzten. Für die anderen Gäste war das auch das Zeichen, Platz zu nehmen. Man plauderte, tauschte Freundlichkeiten aus und freute sich auf das bevorstehende Essen. Nancy kommandierte ihre Küchenmannschaft herum und bewachte mit argwöhnischen Augen die Arbeit von Samuel und Josua, die mit dem Grillen des Fleisches begonnen hatten. Rechts neben Fritz saßen Imelda und Jakob, links neben Jella Johannes, Sarah und deren gemeinsamer Sohn Raffael. Für die anderen Gäste gab es keine feste Sitzordnung. So mancher Farmer murrte, weil Schwarze mit am Tisch saßen, aber weder Jella noch ihre Familie scherten sich darum und taten einfach so, als hätten sie es nicht gehört. Schon bald beruhigten sich die erregten Gemüter und ließen sich von der freundlichen Atmosphäre auf Owitambe gefangennehmen. Nach dem ausgiebigen Mahl, das von Unmengen Wein und Bier begleitet wurde, kam das Orchester zu seinem zweiten Einsatz. Imelda hatte nicht zu viel versprochen. Die schrägen und falschen Töne machten die Musiker durch ihren Einsatz und ein erstaunliches Rhythmusgefühl wett. Mit einem ungewöhnlichen Kaiserwalzer eröffneten Fritz und Jella schließlich den gemütlichen Teil des Festes. Die Sonne stand mittlerweile tief am Horizont, was die Hitze des Tages etwas milderte. Die Stimmung war gelockert und fröhlich. Die älteren Männer rauchten gemeinsam Zigarren, während die jüngeren die seltene Gelegenheit eines Tanzes nutzten und ihre Frauen auf die Tanzfläche führten. Auch die schwarzen Arbeiter waren zu dem Hochzeitsfest geladen. Allerdings feierten sie etwas abseits und weigerten sich, mit den Weißen mitzufeiern, obwohl Jella sie mehrmals dazu aufforderte.
»Lass sie«, meinte Fritz. »Sie haben eben eine andere Kultur. Außerdem merken sie sehr wohl, dass es hier viele gibt, die ihnen mit Ablehnung gegenüberstehen.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, seufzte Jella. »obwohl ich es eigentlich nicht verstehe. Wir leben schließlich alle in demselben Land. Warum können wir uns dann nicht einfach gegenseitig als Menschen respektieren?«
Fritz gab Jella einen Kuss und spielte mit einer Strähne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. Seine dunklen Augen glänzten leidenschaftlich. »Ich denke gerade an ganz andere Dinge!«, flüsterte er heiser in ihr Ohr, während er leicht an ihrem Ohrläppchen knabberte. »Meinst du, wir könnten schon gehen?«
Jella bekam eine Gänsehaut und errötete. Gleichzeitig drückte sie ihn leicht von sich weg. Fritz’ offenes Begehren war ihr peinlich, obwohl sie es selbst kaum erwarten konnte, mit ihrem Mann allein zu sein. Sie wollte gerade etwas erwidern, als ein von Pferden gezogener Pritschenwagen in rasendem Tempo auf den Festplatz gefahren kam. Alle Blicke wandten sich teils entsetzt, teils entrüstet dem Gefährt zu, das von einem jungen schmächtigen Mann gelenkt wurde. Erst als es in der Nähe der Tanzfläche zu stehen kam, konnte man erkennen, dass der Wagen Mist geladen hatte. Der junge Mann sprang von seinem Kutschbock auf die hintere Pritsche, auf der zwei schwarze Farmarbeiter bereits die Seitenwände gelöst hatten und sich daranmachten, den Mist mit Gabeln in hohem Bogen auf die Tanzfläche zu werfen. Eines der Tanzpaare bekam eine volle Ladung Mist ab und kreischte vor Entsetzen auf.
Fritz und Johannes hatten sich mittlerweile mit Blicken verständigt. Sie waren beide ein ganzes Stück von dem Geschehen entfernt und eilten mit langen Schritten darauf zu. Doch bevor sie das Gefährt erreicht hatten, war die ganze Mistladung schon auf der Tanzfläche gelandet. Der junge Mann grinste unverschämt in die Menge, kletterte wieder auf den Kutschbock und ergriff drohend die Peitsche. Als er Fritz und Johannes vor sich stehen sah, erhob er seine Stimme, die sich vor Aufregung und Triumphgefühl überschlug.
»Einen schönen Hochzeitsgruß von meinem Vater«, schepperte er bösartig. »Das ist unser Hochzeitsgeschenk. Keiner von uns Nachtmahrs würde jemals auf eine Kaffernhochzeit gehen! Owitambe und seine Bewohner sind eine Schande für das Deutsche Reich, und für den Kaiser erst recht. Wir scheißen auf euch!«
Mit diesen ordinären Worten knallte er mit der Peitsche und lenkte seine Pferde vom Hof. Fritz wollte den Tieren in die Zügel fallen, doch Johannes schüttelte nur beschwichtigend den Kopf.
Triumphierend preschte der junge von Nachtmahr davon.
Die ausgelassene Stimmung war mit einem Mal wie weggeblasen. Überall bildeten sich Grüppchen, die den Zwischenfall eifrig kommentierten. Jella nahm sehr wohl wahr, dass es auch unter ihren Gästen einige Sympathien für die Nachtmahrs gab. Sie diskutierten gestenreich mit den anderen, die die Aktion empört als Sabotage bezeichneten. Die Heirat ihres Vaters mit einer Eingeborenen sorgte immer noch für viel Aufregung. Die nationalistisch eingestellten Farmer waren der festen Überzeugung, dass die schwarze Bevölkerung minderwertig und der europäischen Rasse weitaus unterlegen war. Es fiel ihnen schwer, Männer mit liberaleren Ansichten zu akzeptieren. Auf der anderen Seite war Johannes von Sonthofen bei allen wegen seiner politischen Weitsicht anerkannt. Ihm und seinen guten Beziehungen zu den Schwarzen war es schließlich zu verdanken, dass es in der Nachbarschaft von Owitambe bisher noch zu keinen Überfällen der Herero gekommen war. Ehe man sich’s versah, war aus der Hochzeit eine politische Debatte geworden. Erste Gäste brachen bereits auf, andere folgten, und die Gesellschaft drohte auseinanderzufallen, bevor der Abend überhaupt richtig begonnen hatte.
Wütend und verzweifelt eilte Jella zu ihrem Vater. Sie wollte den schönsten Tag ihres Lebens keinesfalls so enden lassen.
»Du musst zu den Gästen sprechen«, forderte sie. »Sag ihnen, dass das Fest jetzt erst richtig losgeht. Ich spreche mit Nancy, dass sie die Bowle bringen soll. Wir schenken sie einfach ein wenig früher aus!«
Johannes umarmte seine Tochter herzlich, bevor er sich auf die ruinierte Tanzfläche begab. Mit ruhiger, kräftiger Stimme brachte er die Gäste dazu, ihm zuzuhören.
»Wollt ihr euch wirklich von solch einem ungehobelten Raubein das schöne Fest verderben lassen?«, rief er. »Es mag unterschiedliche Meinungen geben, das gebe ich wohl zu. Aber muss das gleich mit barbarischen Mitteln kundgetan werden? Damit setzt er sich nur selbst ins Unrecht! Ich bitte euch, diesen billigen Zwischenfall zu vergessen. Heute ist der Hochzeitstag meiner einzigen Tochter. Da sollten Zwistigkeiten keine Rolle spielen. Lasst uns die Tische beiseiteräumen und eine neue Tanzfläche schaffen. Wir alle werden dem Fest einen neuen Glanz verleihen!«
Zustimmendes Gemurmel zeigte, dass Johannes die richtigen Worte gewählt hatte. Die verkrampfte Stimmung löste sich und wich einer neuen Heiterkeit. Mit einem Mal wurde der Zwischenfall mit Humor betrachtet und das mit Mist beworfene Tanzpaar gar zur geheimen Attraktion des Abends. Mit zufriedenem Lächeln stellte Johannes fest, dass sogar die zur Abfahrt bereiten Gäste wieder kehrtmachten und zurückkehrten. In der Zwischenzeit hatten Jella und Nancy die Bowle herangeschafft und begannen mit dem Austeilen des Getränks.
Fritz hatte unterdessen das Grammofon aufgestellt und eine moderne Tanzplatte aufgelegt. Die Musiker hatte er zu ihrer großen Erleichterung entlassen. Als die ersten beschwingten Takte erklangen, begab er sich zu Jella, nahm ihr den Schöpflöffel aus der Hand und trug sie auf die Tanzfläche. Die Gäste klatschten begeistert in die Hände, als er sie absetzte und mit ihr in einer wilden Polka über die Tanzfläche zu preschen begann. Es dauerte nicht lange, bis die nächsten Tanzpaare ihnen folgten und sich lachend zu den noch nie gehörten Rhythmen schwangen.
»Es war ein Unsinn, von unserer Gruppe wegzugehen«, klagte Chuka. »Welcher dumme Geist hat sich da meiner bemächtigt?«
Nakeshi strich ihrer Mutter beruhigend über den Unterarm. »Spar deine Kräfte für den Marsch«, riet sie ihr. »Es kann nicht mehr weit sein. Twi hat mir die Wasserstelle genau beschrieben.«
Mürrisch folgte Chuka ihrer Tochter. Seit dem Tod von Debe war sie noch zänkischer geworden. Ihr Lebensgefährte fehlte ihr so sehr, dass sie innerlich zu verdorren schien. Doch ihr Wesen ließ es nicht zu, dass sie ihre Gefühle offen zeigte. Stattdessen vergrub sie ihren Schmerz und verwandelte ihn in Missmut, den sie nur allzu gern an ihrer Tochter ausließ. Chuka verstand Nakeshi einfach nicht. Sie war eigenwillig und tat immer nur das, was sie wollte. Jetzt hatte sie sogar ihren Mann, einen erfahrenen Jäger, verlassen, nur weil er ihr verbieten wollte, als Heilerin tätig zu sein. Nakeshi wollte immer hinter die Dinge blicken, anstatt sich mit den althergebrachten Regeln der Gruppe zu begnügen. Ihre Sturheit gefiel Chuka ebenso wenig wie die Freundschaft mit dieser weißen Frau mit den Feuerhaaren. Wie konnte es sein, dass eine Juoansi und eine Weiße Sternenschwestern waren? Die alte Frau schüttelte verständnislos den Kopf. So etwas hatte es noch nie gegeben.
»Hier ist es!«
Nakeshi riss Chuka aus ihren unfreundlichen Gedanken und zeigte auf das schmale Vlei, ein ausgetrocknetes Flussbett, in dem eine abgestorbene Kameldornakazie stand. Eilig kniete sie sich nieder und begann unweit des Baums mit ihrem Grabstock ein Loch zu graben. Chuka setzte sich neben sie und half. Doch so tief die beiden Frauen auch gruben, es zeigte sich nicht das kleinste bisschen Flüssigkeit. Als Nakeshis Oberkörper schon fast verschwunden war, gab sie auf. Die junge Frau schüttelte kurz den Kopf mit den kurzen, wie Inseln wachsenden Zöpfchen und sah ihre Mutter sorgenvoll an.
»Schon wieder nichts«, murmelte sie enttäuscht.
»Zum Umkehren ist es nun zu spät«, stellte Chuka verbittert fest. In ihrer Stimme schwangen Vorwürfe mit. »Wir hätten unsere Gruppe nie verlassen dürfen.«
»Es war deine Idee, zu Twi zu gehen«, hielt Nakeshi ihrer Mutter vor. »Du wolltest deinen Sohn noch einmal sehen.«
Chuka musterte ihre Tochter mit zusammengekniffenen Augen.
»Du hättest deiner alten Mutter eben davon abraten müssen!«
»Klagen hilft uns nicht«, sagte Nakeshi streng. »Wir sind Juoansi.«
Chuka wollte ihr gerade etwas Unfreundliches entgegnen, als Nakeshi die Hand an ihr Ohr hob und lauschte.
»Hörst du es?«, flüsterte sie aufgeregt. Aus der Ferne war ein schrilles, wenn auch nicht sehr lautes Geräusch zu hören.
Chuka fuhr erschrocken zusammen.
»Die Geister kommen, um uns zu holen!«
Trotz der Hitze überkam die alte Frau ein Frösteln.
»Das sind keine Geister«, wehrte Nakeshi ab. Die Geräusche wurden lauter, vielstimmiger, und waren nun besser zu erkennen. Die junge Buschmannfrau ergriff aufgeregt den Arm ihrer Mutter und zog sie hoch.
»Wir müssen dorthin! Das sind Elefanten!«
»Elefanten!« Chuka hielt sich vor Schreck die Hände vor den Mund. »Niemals werde ich zu diesen riesigen Tieren gehen. Wir sind Frauen; wir können sie doch nicht jagen.«
»Mutter!« Nakeshi sah ihre Mutter halb verärgert, halb belustigt an. »Niemand will die Tiere jagen! Hörst du nicht, wie froh ihre Rufe klingen?«
Chuka schüttelte entschieden den Kopf.
»Das ist nicht froh, das ist bösartig! Gwi steckt in ihnen, ich spüre es! Ich bin deine Mutter, und ich sage dir, wir gehen nicht dorthin!«
Um die Ernsthaftigkeit ihrer Absicht zu unterstreichen, drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zurück. Nakeshi hielt sie auf.
»Verstehst du denn nicht?«, fragte sie ungeduldig. »Den Elefanten geht es wie uns. Sie haben genauso Durst und verschwenden ihre Kraft nicht unnötig. Sie müssen einen Grund haben, weshalb sie so aufgeregt sind!«
Chuka hielt an. Sie dachte einen Augenblick nach, dann erhellte der Anflug eines Lächelns ihr runzliges Gesicht um eine Spur. »Du meinst, sie haben Wasser gefunden?«
Nakeshi nickte erleichtert.
»Lass uns dort hingehen! Das ist eine sehr gute Gelegenheit, um an Wasser zu kommen!«
Chuka ging nur widerwillig mit. Sie sah ungern ein, dass ihre Tochter recht hatte. Die beiden Buschmannfrauen folgten dem Geräusch, das immer lauter und fröhlicher wurde. Neben den trompetenähnlichen Rufen der Elefanten hörten sie bald auch Prusten und Stampfen. Bald trennte sie nur noch eine Düne von der Herde. Sie umrundeten vorsichtig den Hügel aus Sand und blieben in sicherer Entfernung hinter einem Sandfelsen stehen – den Wind im Gesicht. Im untergehenden Licht der Sonne wirkten die massigen Leiber der riesigen Tiere noch beeindruckender. In stillschweigender Übereinkunft machten sich die Elefanten an die Arbeit. Zwischen einigen dürren Akazien hoben sie ein tiefes Loch aus. Mit ihren Füßen lockerten sie den Sand auf, um ihn dann mit den Rüsseln hinter sich zu schleudern. Das Loch war bald über einen Meter tief, als sie endlich auf Wasser stießen. Es musste genug vorhanden sein, denn die Elefanten konnten damit nicht nur ihren Durst stillen, sondern sich auch noch gegenseitig damit bespritzen. Aus der trägen, durstigen Truppe war im Handumdrehen ein munterer Haufen geworden. Die Kälber standen etwas abseits und beobachteten verwundert das ausgelassene Treiben ihrer Mütter. Die Leitkuh und eine andere lieferten sich Scheingefechte, um sich kurz danach liebevoll aneinanderzuschmiegen, die Rüssel zärtlich ineinander verhakt. Andere Elefanten liefen einander hinterher oder rieben ihre mächtigen Hinterteile genussvoll aneinander.
So faszinierend der Anblick auch sein mochte, Nakeshi und Chuka konnten das Ende dieser Vorführung nicht abwarten. Ihre Kehlen waren ausgetrocknet, und sie sehnten sich nach der Flüssigkeit, die die Elefanten so verschwenderisch vergeudeten.
»Sie werden doch wohl nicht die ganze Nacht hierbleiben«, schimpfte Chuka ungeduldig. Nakeshi überging die Bemerkung. Sie war viel zu vertieft in die Betrachtung dieser wunderbaren Tiere. Endlich gab die Leitkuh ein Zeichen und setzte ihren schwerfälligen Körper in Bewegung. Mit wiegenden Schritten verließ sie als Erste das Wasserloch. Der gelbe Abendhimmel hatte sich nun in ein blaues Grau verwandelt, in dem die nassen Elefantenkörper nur noch schwer auszumachen waren. Ihr schwerer Tritt, das Pusten der Rüssel und das klatschende Schlagen der großen Ohren verklangen langsam in der einbrechenden Nacht.
Nachdem die Frauen ausgiebig getrunken und ihre Straußeneier gefüllt hatten, griffen sie in ihre Taschen, um ein paar Beeren und getrocknetes Fleisch zu sich zu nehmen. Erst dann tasteten sie in der Dunkelheit nach morschen Ästen, um damit ein Feuer zu entzünden. Chuka grunzte vor Behaglichkeit und rollte sich sogleich in ihren Lederumhang ein, während Nakeshi zufrieden dem prasselnden Flammenspiel zusah und die Wärme des Feuers genoss.
Der weite Sternenhimmel mit seinen unzähligen Lichtern lag wie ein Zeltdach über den beiden Frauen. Eine wohlige Ruhe umgab sie und hüllte sie in trügerische Sicherheit. Nakeshi wusste, dass dieser Frieden sich blitzschnell in eine gefährliche Bedrohung verwandeln konnte. Aber wie alle Menschen ihres Volkes konnte sie gerade deshalb diesen Moment umso mehr genießen. Satt und zufrieden nickte auch sie schließlich ein. Die lange Wanderung durch die Wüste und die Strapazen ihrer langen Reise ließen sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen.
Weder sie noch ihre Mutter hörten, wie sich der fremde Buschmann anschlich und sie vorsichtig umrundete. Er zögerte, weil er erkannte, dass die beiden Frauen nicht zu seiner Gruppe gehörten. Zweimal schnalzte er mit seiner Zunge, um auf sich aufmerksam zu machen. Doch die beiden Frauen schliefen tief und fest, den Rücken dem Feuer zugewandt. Schließlich näherte er sich der Feuerstelle und tippte der jüngeren der beiden Frauen leicht auf die Schulter. Ihr Gesicht lag im dunklen Schatten der Nacht. Die junge Frau rührte sich immer noch nicht. Sie musste sehr erschöpft sein. Also versuchte er es noch einmal. Er wollte nicht ohne ihre Erlaubnis an ihrem Feuer schlafen. Endlich regte sich die Frau. Sie schnellte empor und sah ihn erschrocken an. Bei seinem Anblick entwich ihr ein leiser Schrei. Fassungslos rang sie nach Atem und brachte nur ein einziges Wort über ihre Lippen:
»Bô!«
Die Sonne hatte schon fast ihren höchsten Punkt erreicht, als Jella am nächsten Morgen erwachte. Ein leises Kribbeln machte sich zwischen ihren Beinen bemerkbar, und erstaunt stellte sie fest, dass sie schon wieder vor Lust feucht war. Beinahe scheu ließ sie ihre Augen über Fritz gleiten, dessen nackter, muskulöser Oberkörper sich neben ihr gleichmäßig im Schlaf hob und senkte. Ihre erste Nacht als Ehepaar hatte nichts an Wünschen offengelassen. Obwohl ihre Schwangerschaft sie allmählich schwerfälliger werden ließ, war ihre Lust ungebrochen. Ihre Leidenschaft wuchs mit jedem Mal, in dem sie sich Fritz hingab. Sie seufzte tief und glücklich auf.
Leise schob sie das dünne Leintuch zurück und setzte sich auf. Mit wohligem Behagen spürte sie einen leichten, warmen Windhauch, der über ihren nackten Körper strich. Natürlich war ihr bewusst, dass es ungehörig war, so völlig unbekleidet zu sein, aber dieser Morgen war einfach etwas Besonderes. Sie legte ihre Hände auf den sich wölbenden Bauch und fragte sich, wann sie wohl zum ersten Mal das Kind in ihrem Leib spüren würde. Manchmal hatte sie schon Angst, dass etwas nicht in Ordnung war. Sarah hatte ihr erzählt, dass sie Raffaels Tritte schon viel früher gespürt hatte, doch Fritz hatte sie beruhigt und ihr zu erklären versucht, dass eine Schwangerschaft bei jeder Frau eben etwas anders verlief.
»Du bist so wunderschön!«
Fritz’ bewundernde Worte umschmeichelten sie sanft. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte ihn an. In seinen dunklen Augen glänzten Tränen.
»Was ist mit dir?«, fragte sie erschrocken.
»Nichts«, schluckte Fritz vor unterdrückter Rührung. »Ich bin nur glücklich. Ich wünschte, dieser Augenblick ginge nie vorüber!«
Jella stupste ihn mit dem Zeigefinger an die Nase.
»Wir werden hoffentlich noch mehr solcher Augenblicke erleben«, neckte sie ihn.
Der Glanz in Fritz Augen verwandelte sich erst in ein Lächeln und dann in einen Ausdruck aufsteigenden Begehrens. Seine Hand glitt unter dem Leintuch hervor und griff nach ihrem Arm. Mit sanfter Gewalt zog er sie zu sich zurück ins Bett und küsste sie leidenschaftlich. Jella wollte eigentlich aufstehen, aber als sie Fritz’ Härte an ihrem Schenkel spürte, überließ sie sich nur allzu gern seinen Liebkosungen.
Am frühen Nachmittag verließ das frisch vermählte Paar gemeinsam mit Imelda Owitambe. Sie würden Fritz’ Mutter zurück nach Okakarara begleiten und von dort aus für ein paar Tage in die Wildnis fahren. Jella konnte sich keinen schöneren Ort für ihre Flitterwochen vorstellen. Zudem hatten sie einen Abstecher nach »Buschmanns Paradies« geplant, wo sie ihre erste gemeinsame Nacht verbracht hatten.
Johannes, Sarah und der kleine Raffael winkten ihnen hinterher.
Johannes hatte Fritz von Anfang an gemocht und schnell erkannt, dass das Händlerdasein seinen Schwiegersohn nicht wirklich befriedigte. Außerdem brauchte er Hilfe auf der Farm und glaubte in seinem Schwiegersohn und seiner Tochter ideale Partner gefunden zu haben. Deshalb hatte er ihm das Angebot gemacht, Teilhaber auf Owitambe zu werden. Fritz hatte erst strikt abgelehnt und mit einem verkniffenen Lächeln auf seine fehlende linke Hand verwiesen. Doch Jella war ganz anderer Meinung gewesen. Gemeinsam mit ihrem Vater war es ihr schließlich doch gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass er sehr wohl von Nutzen war und viele Arbeiten auf der Farm übernehmen konnte. Den letzten Ausschlag hatte gegeben, als Jella ihrem Mann vorschlug, einen Teil des Farmgeländes als Auffangstation für kranke Wildtiere zu nutzen. Dorthin konnte auch seine kleine Menagerie an Wildtieren umziehen, die er in Okakarara, wo er mit seiner Mutter einen Kolonialwarenladen betrieb, aufgenommen hatte. Das Grundstück dort platzte aus allen Nähten, vor allem seit Pascha, ein halbwüchsiger Leopard, dort sein Unwesen trieb. Fritz war Tierarzt mit Leib und Seele, hatte sich aber nach seiner Kriegsverletzung nicht mehr zugetraut, den Beruf auszuüben. Mit der Auffangstation erfüllte sich für ihn ein lang gehegter Traum.
Jella hatte ebenfalls Pläne. Sie wollte sich um die kranken Menschen in der Region kümmern. Die nächste Krankenstation war weit, und sie hatte sich durch ihre Ausbildung als Krankenschwester und ihre Laborarbeit bei Professor Robert Koch beachtliche medizinische Kenntnisse angeeignet. Warum sollte sie ihr Wissen nicht anwenden? Sie sehnte sich danach, etwas Sinnvolles zu tun. Fritz gefiel das nicht besonders. Stirnrunzelnd hatte er darauf hingewiesen, dass sich eine Frau um ihre Familie zu kümmern hatte und nicht um fremde Menschen. Doch Jella hatte seine Bedenken einfach beiseitegewischt und gemeint, dass sie genügend Kraft hätte, um sich auch noch um andere zu kümmern. Fritz’ Hoffnung war, dass seine junge Frau durch die Geburt zur Vernunft kommen würde. Wenn das Baby erst einmal auf der Welt war, würde Jella schon merken, wie viel Arbeit so ein Säugling machte.
Das einzig wirkliche Problem bestand in der Frage, was in Zukunft mit Fritz’ Mutter und dem Kolonialwarenladen geschehen sollte. Johannes hatte Imelda großzügig angeboten, ebenfalls nach Owitambe zu ziehen. Jella, Fritz und das Baby würden ohnehin ein neues Haus brauchen, in das man gleich Platz für sie einplanen könne. Doch Imelda hatte abgewinkt. Sie wollte auf keinen Fall ihre Selbstständigkeit verlieren.
»Die Menschen in Okakarara brauchen mich«, behauptete sie steif und fest. »Wo sollen sie ihre Stoffe, ihr Werkzeug und ihre Lebensmittel herbekommen? Außerdem brauche ich die Abwechslung. Hier auf Owitambe wäre mir bald langweilig! Nein, nein, nein! Jakob und ich schaffen das schon allein!«
Fritz wusste aus Erfahrung, dass sie sich dadurch viel zu viel zumutete. Jakob, ihre einzige Hilfe, war auch nicht mehr der Jüngste, und die Waren wogen schwer und mussten dauernd umgeschichtet werden. Fritz hatte darauf bestanden, seiner Mutter so lange zu helfen, bis Imelda jemanden gefunden hatte, der ihr tatkräftig unter die Arme greifen konnte, oder sie sich eines Besseren besann. Jella mochte diese Lösung genauso wenig wie Fritz. Schließlich bedeutete das, dass sie einander zumindest unter der Woche nicht sehen konnten, weil die Entfernung zwischen Owitambe und Okakarara einfach zu groß war. Doch daran ließ sich im Moment nichts ändern.
Jella freute sich auf den kleinen Zwischenstopp in Okakarara. Sie fühlte sich wohl im Haus ihrer Schwiegermutter, das die gleiche heitere Gelassenheit verströmte wie Imelda selber. »Imeldas Store« war nicht sehr groß. Es war ein einfaches, weiß getünchtes Steinhaus mit vielen Fenstern und hübschen, bunten Vorhängen. Der Laden und die Lagerräume befanden sich im Erdgeschoss, während die Wohnung darüber lag. Sie bestand aus einer gemütlichen Wohnküche und drei kleinen Kammern. Hinter dem Haus gab es ein paar Stallungen auf einem eingezäunten Platz. Hier befand sich Fritz’ provisorische »Wildtierfarm«. Sie war nicht viel mehr als vier Morgen groß. Immerhin hatte Fritz in der Mitte des Grundstückes ein kleines künstliches Wasserloch anlegen lassen, das durch eine Windradpumpe befüllt werden konnte. Rundum wuchsen Mopanebüsche und hohes Buschgras. Während Imelda für sie alle Tee kochte, gingen Jella und Fritz mit ein paar Leckereien zu den Tieren. Das blinde Zebra Leopold kam sofort auf sie zugetrabt und begrüßte sie mit einem ungestümen Schnauben. Seine Nase war feiner als die eines Hundes, zumindest, was das Aufspüren von Leckereien anging. Gierig schnappte er nach der Möhre, die Fritz ihm hinhielt, und kaute sie genüsslich. Danach verlangte er nach mehr. Doch Fritz versetzte ihm einen Klaps und scheuchte ihn davon. Aus dem mit dickem Draht versehenen Gehege drang freudiges Miauen. Pascha bettelte ungeduldig um Aufmerksamkeit. Fritz brachte ihm den Oberschenkelknochen eines Kudus.
»Geh du nur zu dem kleinen Racker«, lachte Jella. »Ich versuche mal, mich beim General beliebt zu machen. Hast du Duikduik schon gesehen?«
»Der ist längst bei Imelda im Haus. Du weißt doch, die beiden sind unzertrennlich!«
Fritz öffnete die Tür zu dem Gehege und warf den Knochen in eine Ecke. Pascha stürzte sich sofort darauf. Aber nachdem er ein paar Bissen heruntergeschlungen hatte, besann er sich eines Besseren und sprang auf Fritz zu. Der hatte Mühe, den Sprung des fast ausgewachsenen Tieres abzufedern, umso mehr, als Pascha sich daranmachte, ihm quer über das Gesicht zu schlecken.
»Was hast du nur für einen schrecklichen Mundgeruch!«, stöhnte Fritz und beförderte den Leoparden lachend wieder zurück auf dessen eigene Pfoten und kraulte ihn sodann kräftig am Hals. Schon bald begann Pascha zu schnurren wie eine kleine Hauskatze. Zärtlich schmiegte er sich an Fritz’ Beine und zeigte ihm seine Zuneigung. Fritz hatte die Raubkatze als Baby im Busch gefunden. Der kleine Leopard war seither sehr anhänglich und folgte Fritz auf Schritt und Tritt. Allerdings begann mit zunehmendem Alter sein Jagdinstinkt durchzuschlagen, und Fritz befürchtete, dass Pascha eines Tages eines der anderen Tiere oder gar einen Menschen anfallen könnte. Allmählich war es an der Zeit, das Tier wieder zurück in die Freiheit zu entlassen. Leoparden waren ausgesprochene Einzelgänger und durchstreiften ein großes Revier. Hier in Gefangenschaft würde Pascha nie glücklich werden, das wusste er.
»Bald beginnt für dich ein neues Leben«, murmelte er melancholisch. »Dann kannst du auf eigene Faust entdecken, wie schön Afrika ist.«
Pascha sah ihn mit seinen braunen Augen treuherzig an, so, als verstehe er jedes Wort.
»Aber erst musst du noch das Jagen lernen«, sagte Fritz mit erhobenem Zeigefinger. Pascha verstand das als Aufforderung zum Spielen und sprang erneut an ihm hoch. Fritz lachte. »Du musst nicht immer alles gleich wörtlich nehmen! Außerdem meinte ich mit ›jagen‹ nicht, dass du deinen Ziehvater erlegst!«
Mit einem kräftigen Schubs stieß er die Raubkatze von sich und verließ das Gehege.
Jella saß unterdessen unter dem Anabaum und fütterte einen ziemlich großen Pavian mit den Hülsenfrüchten des Baums. Der General saß auf seinem rosa Hinterteil und machte durch freundliches Blecken seiner riesigen Eckzähne deutlich, wann er eine neue Frucht haben wollte. Seine eng stehenden braunen Augen verfolgten dabei jede von Jellas Bewegungen. Nachdem sie ihm die letzte Frucht gegeben hatte, legte der Pavian seinen Kopf schief.
»Ich habe nichts mehr«, behauptete Jella und zeigte ihm ihre leere rechte Hand. Die Linke hielt sie mit einer letzten Frucht versteckt auf dem Rücken. Argwöhnisch kam der Affe näher, umkreiste sie und zog schließlich an ihrer linken Hand. Mit seinen langen Affenfingern öffnete er sie blitzschnell, packte die Frucht und brachte sich damit mit einem höhnischen Gelächter in Sicherheit.
»Wie schlau er ist«, staunte Jella und sah zu Fritz hoch. Dieser zog sie zu sich hoch und sog tief den Duft ihres kupferroten Haares ein.
»Du riechst wie Afrika«, meinte er schnuppernd.
»Ach ja?« Jella zog die linke Augenbraue kritisch nach oben. »Und wie riecht Afrika?«
Fritz schien zu überlegen. »Erdig und aufregend«, meinte er mit gespieltem Ernst. »Wild und – warte mal, ja, jetzt habe ich es: mit einem Hauch der Würzmischung eines dominanten Pavians.«
ENDE DER LESEPROBE
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
1. Auflage Originalausgabe Dezember 2011 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Umschlagillustration: © Illustration Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock. Redaktion: Dr. Rainer Schöttle DF · Herstellung: sam Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eISBN 978-3-641-08128-7
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