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Das beschauliche ostfriesische Dorf Canhusen wird durch eine Mordserie aufgeschreckt. Kommissar David Büttner und sein Assistent Sebastian Hasenkrug stehen vor einem Rätsel: Warum mussten die Opfer sterben? Und was hat es mit den Teebeuteln auf sich, die bei jedem der Opfer gefunden wurden? Haben diese Morde womöglich etwas mit dem Tod zweier junger Männer zu tun, die in der Nachkriegszeit auf mysteriöse Weise ums Leben kamen? Sie beschreibt die Charaktereigenschaften eines jeden Dorfbewohners so exakt und natürlich. Hier spüre ich nicht nur die Kompetenz, sondern auch die Liebe zu ihrer Heimat."
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Seitenzahl: 356
Für Mama,
Liebe Canhuser, bitte verzeiht mir, dass ich ausgerechnet Euer kleines, beschauliches Dorf zum Schauplatz von Mord und Intrigen gemacht habe. Bitte nehmt dieses Buch so, wie ich (ehemals eine von Euch) es gemeint habe: als Liebeserklärung!
Das beschauliche ostfriesische Dorf Canhusen wird durch eine Mordserie aufgeschreckt. Kommissar David Büttner und sein Assistent Sebastian Hasenkrug stehen vor einem Rätsel:
Warum mussten die Opfer sterben? Und was hat es mit den Teebeuteln auf sich, die bei jedem Opfer gefunden wurden? Haben diese Morde womöglich etwas mit dem Tod zweier junger Männer zu tun, die in der Nachkriegszeit auf mysteriöse Weise ums Leben kamen?
Elke Bergsma, Jahrgang 1968, gebürtige Ostfriesin, lebt in Hessen und ist dort als selbstständige Diplom-Geografin und PR-Beraterin in den Bereichen Stadtentwicklung und Erneuerbare Energien tätig.
www.elke-bergsma.de
Von ihr erschienen auch:
Windbruch, Ostfrieslandkrimi
Lustakkorde, Ostfrieslandkrimi
Merle & Mo, Kinderbuch
Jan Scherrmann legte seine rechte Hand über die Augen, um sie vor den grellen Strahlen der Sonne zu schützen. Es war ein brütend heißer Spätsommertag, wie man ihn hier oben an der Küste nur selten erlebte. Zum Glück aber wehte ein frischer Wind von der See her und verschaffte ihm mit jeder Böe, die ihm in unregelmäßigen Abständen über die verschwitzte Haut strich, eine erfrischende, wenn auch nur kurze Abkühlung.
Prüfend ließ er seinen Blick die Straße hinuntergleiten. Beim Anblick der spielenden Kinder, die johlend und jauchzend immer wieder durch das kühle Nass eines Rasensprengers hüpften, der ganz offensichtlich einzig zu diesem Zweck aufgestellt worden war, flog ein Lächeln über sein Gesicht. Er liebte dieses Idyll, das der kleine Ort an jedem einzelnen Tag des Jahres ausstrahlte. Canhusen. Für die Kinder, die das Glück hatten, hier aufzuwachsen, musste es das Paradies sein. Hier schien die Zeit stillzustehen. Scherrmann konnte sich gut vorstellen, dass sich hier in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas verändert hatte. Das war ihm auch von den Einheimischen bestätigt worden. Canhusen war und blieb Canhusen. In dem kleinen Dorf unweit von Emden war schon seit bestimmt zwei Generationen kein Baugebiet mehr ausgewiesen worden, nur hier und da hatte mal ein älteres Haus, dessen Bewohner verstorben waren, einem neuen weichen müssen. Gut ein Dutzend roter Klinkerhäuser scharrte sich um die kleine, jahrhundertealte Kirche, die im Zentrum des Ortes erhöht auf einer Warf stand und deren kleiner Glockenturm auf dem Dach wie ein gespitzter Bleistift in den blauen Himmel stach. Ergänzend zu diesem Ortskern gab es links der Einfallstraße nach Canhusen die im Volksmund »Alte Siedlung« genannte Straße Am Düsterland sowie ein paar Hundert Meter weiter Richtung Ortsmitte die »Neue Siedlung«, die gemäß ihrem Baumbestand den Namen Pappelallee erhalten hatte.
Jan Scherrmann lebte erst seit wenigen Monaten in Canhusen, er war ein Zugezogener, kam nicht mal aus Ostfriesland, sondern aus dem fernen Dortmund. Entsprechend kritisch war er von seinen neuen Nachbarn beäugt worden. Es kam nur äußerst selten vor, dass sich jemand von außerhalb in diesen Ort verirrte, von dessen Existenz selbst alteingesessene Ostfriesen häufig keine Ahnung hatten. Denn an Canhusen führten eigentlich alle Wege vorbei. Wer hier nicht ganz gezielt etwas zu tun hatte, der nahm das Dorf von der in einigen Hundert Metern vorbeiführenden Landstraße aus gar nicht wahr. Und was sollte man in Canhusen schon zu tun haben? Außer Idylle gab es hier wahrlich nichts. Hier wohnte man. Sonst nichts. Arbeit vor Ort hatten lediglich drei Landwirte, was dazu führte, dass Canhusen schon immer deutlich mehr Kühen ein zu Hause gab als Menschen. Ja, der kleine Ort war ein idyllisches Kleinod inmitten der hektischen Realität. Hier passierte nichts, rein gar nichts.
»Moin«, hörte Scherrmann einen etwas maulend klingenden Gruß hinter sich und drehte sich um. »Moin«, grüßte er zurück und fügte hinzu: »Na, Amelie, heute wieder Langeweile?«
Das fünfzehnjährige Mädchen starrte ihn mit vor dem Körper verschränkten Armen mürrisch an und nickte schwach. »Scheißkaff«, murmelte sie vor sich hin und ging dann mit hängendem Kopf wieder ihrer Wege. Scherrmann nickte wissend. Ja, für so manchen Jugendlichen war Canhusen nicht das Paradies, sondern die Hölle. Amelie war zweifelsohne aus dem Alter raus, in dem sie sich mit den anderen Kindern unter einem Rasensprenger vergnügte. Sie brauchte anderweitige Beschäftigung. Aber die gab es in Canhusen nicht. Und noch etwas gab es in Canhusen nicht: einen Bus. Kein öffentliches Verkehrsmittel stand zur Verfügung, um Mädchen wie Amelie zum Beispiel in die Stadt zu fahren, wo sie sich mit Freunden treffen oder shoppen gehen konnten. Nein, wenn Amelie irgendwo hinwollte, musste sie das Fahrrad nehmen oder sich von ihren Eltern chauffieren lassen. Was diese, angesichts von weiteren drei Kindern, jedoch kategorisch ablehnten. Also saß Amelie hier fest, wollte sie nicht nach der Schule, zu der sie an jedem Morgen und an jedem Mittag bereits mit dem Fahrrad nach Emden fuhr, nochmals mehrere Kilometer bei Wind und Wetter durch die Gegend radeln. Ja, für Amelie war es nach einer wunderbaren Kindheit inzwischen eine echte Strafe, in diesem Dorf zu wohnen. Während sich ihre Altersgenossen in der Stadt trafen, musste sie meistens absagen und saß dann, gerade abends, alleine in ihrem Zimmer vor dem Computer. Häufig vertrieb sie sich die Zeit mit irgendwelchen Computerspielen, auch wenn sie sich viel lieber mit ihren Freunden im Chat getroffen hätte. Aber die gingen ja aus und amüsierten sich, während sie hier vergammelte. Sie hasste Canhusen.
Scherrmann lief, nach einem letzten amüsierten Blick auf die spielenden Kinder, weiter Richtung Gemeindehaus. Die ehemalige Schule des Dorfes lag im Ortskern und wurde für kleinere Veranstaltungen genutzt. Am heutigen Abend beispielsweise würde sich hier wieder der Altherrenstammtisch treffen, wie an jedem Dienstag. Nachdem er, Scherrmann, die Idee mit der Fotoausstellung gehabt hatte, waren die fünf Herren des Stammtisches auf ihn zugekommen und hatten ihm angeboten, sich ihnen anzuschließen. Da er wusste, wie wichtig es in einem Dorf war, sich in die Gemeinschaft einzufügen, wollte man nicht für immer als Außenseiter gebrandmarkt sein, hatte er dankend zugestimmt – auch wenn er dadurch den Altersdurchschnitt der Runde erheblich senkte. Wie man ihm erzählt hatte, war der Altherrenstammtisch gleich nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden, und zwar von denselben Leuten, die auch heute noch an ihm teilnahmen. Das eine oder andere Mitglied war allerdings inzwischen verstorben. Hinzugestoßen war im Laufe der Jahrzehnte wohl kaum jemand, sodass Scherrmann sich wahrlich geehrt fühlen konnte, in die eingeschworene Gemeinschaft aufgenommen worden zu sein.
Die Fotoausstellung würde ein echter Erfolg werden, das zeichnete sich schon jetzt ab. Scherrmann hatte die Herzen der Einwohner Canhusens im Sturm erobert, als er eines Tages vorgeschlagen hatte, zur Geschichte des kleinen Dorfes alte und neuere Fotos zu sammeln und im Gemeindehaus zu präsentieren. Mit Feuereifer waren vor allem die älteren Menschen ans Werk gegangen, hatten alte Schuhkartons voller Bilder sowie längst vergessene Fotoalben ausgegraben und sich beim Sortieren häufig in ihrer eigenen Geschichte verloren. Scherrmann hatte die Koordination der Ausstellung übernommen, zahlreiche Dias eingescannt, war bei der Auswahl der Fotos behilflich gewesen und hatte dabei viele lustige, aber auch die eine oder andere tragische Geschichte zu hören bekommen. Und nun standen an den Wänden des Gemeindehauses diverse Stellwände, die darauf warteten, mit den Erinnerungen der Canhuser bestückt zu werden und ihre Mitmenschen an dem einen oder anderen Ereignis der Vergangenheit rückblickend teilhaben zu lassen.
Scherrmann betrat den nicht allzu ausladenden, aber an diesem heißen Sommertag angenehm kühlen Raum und wurde von den bereits anwesenden drei Personen herzlich begrüßt. »Moin, Jan«, rief ihm Lübbo Krayenborg entgegen und klopfte ihm, als Scherrmann sich neben ihn stellte, freundschaftlich auf die Schulter. Der alte Herr hatte die Achtzig bereits überschritten, hielt sich aber, trotz eines Nierenleidens, rüstig auf den Beinen und leitete und koordinierte den Altherrenstammtisch seit dem ersten Tag seines Bestehens. Er war von eher kleiner, gedrungener Statur, erweckte durch sein selbstbewusstes Auftreten jedoch schnell den Eindruck nicht nur geistiger, sondern auch körperlicher Überlegenheit. Scherrmann war schnell klar gewesen, dass ohne Lübbo Krayenborg in Canhusen nichts lief. Viele nannten ihn scherzhaft Bürgermeister, obwohl Canhusen über einen solchen natürlich nicht wirklich verfügte. Der offizielle Bürgermeister saß in Hinte, akzeptierte aber von jeher die hervorgehobene Position seines heimlichen Rivalen. Nicht weil er ihn besonders schätzte, sondern weil er es sich ansonsten mit allen Canhusern ganz schnell verscherzt hätte. Und dass er sich das als Politiker, der noch Karriere machen wollte, nicht erlauben konnte, erklärte sich ja von selbst.
Lübbo hatte seine Frau Fenna mitgebracht, die erst vor wenigen Tagen mit einem großen Fest ihren achtzigsten Geburtstag in ebendiesem Gemeindehaus gefeiert hatte. Lübbo hatte aus diesem Anlass einen sündhaft teuren Catering-Service für einen ganzen Tag gebucht und eine bekannte ostfriesische Kapelle aufspielen lassen. Das ganze Dorf war bereits zum Frühstück eingeladen worden und hatte sich bis in den späten Abend hinein mit erlesenen Speisen und Getränken verköstigen lassen. Auf der Wiese vor dem Gemeindehaus hatte Lübbo einen Tanzboden errichten lassen und mit seiner Fenna bis tief in die Nacht schwungvoll seine Runden gedreht. Es war ein Fest gewesen, wie es Canhusen noch nicht erlebt hatte. Allein, es hatte vor allem den Gästen Spaß gemacht, keineswegs aber der Jubilarin selbst. Zwar hatte sich Fenna den ganzen Abend bemüht, einen fröhlichen und gelösten Eindruck zu machen, aber Jan Scherrmann hatte sie nicht täuschen können. Nicht nur ihm war bekannt, dass die alte Dame eigentlich viel lieber im Familienkreis mit ihrer noch lebenden Schwester Okka und ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln gefeiert hätte. Aber das hatte ihr Gatte nicht zugelassen. Nein, Fenna sollte sich feiern lassen an ihrem großen Tag, da kam gar nichts anderes infrage. Und wenn Lübbo das so beschlossen hatte, dann war es Gesetz. Egal, was seine Frau oder irgendwer dazu zu sagen hatte. Alles, was Lübbo sagte, war Gesetz, das kannte man in Canhusen nicht anders. Und somit widersprach ihm auch keiner. Insgeheim tat den Menschen ihre alte Nachbarin Fenna zwar leid, wusste doch ein jeder, wie ungern sie im Mittelpunkt stand und wie wohl sie sich hingegen im Kreise ihrer Lieben fühlte. Aber auch das war Canhusen. Es nahm auf den Einzelnen nicht viel Rücksicht, wenn es galt, den Frieden im Dorf zu wahren. Und das war nur möglich, wenn man sich gut mit Lübbo Krayenborg stellte. Alles andere wäre gesellschaftlicher Selbstmord gewesen.
Jan Scherrmann drückte Fenna die Hand und bemerkte, dass sie trotz der Hitze eiskalt war. Er sah der zierlichen Frau lächelnd in das von tiefen Falten durchfurchte Gesicht, und sie nickte ihm freundlich zu, wobei sie sich allerdings leicht zur Seite drehte, wohl um den Bluterguss, der auf ihrer rechten Wange prangte, zu verstecken.
»Das sieht aber nicht gut aus«, bemerkte Scherrmann dennoch und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Och, Fenna ist mal wieder ein bisschen trottelig gewesen«, bemerkte Lübbo und schlang grinsend den Arm um die Hüfte seiner Frau. »Hat sich an der Tür vom Küchenschrank gestoßen. Ich hatte ihr ja vorher gesagt, sie solle sie lieber wieder zumachen, nicht dass sie sich stößt beim Geschirrspüler-Ausräumen. Aber, nun ja, sie wollte ja nicht auf mich hören.«
»Ja«, pflichtete ihm nun sein Freund Johann Schepker bei und lachte kurz auf, »so ist unsere Fenna, ständig legt sie sich mit Möbelstücken an oder fällt die Treppe runter. Aber das ist nun mal so, Jan, da musste dir nichts bei denken. Das war schon immer so, seit ich sie kenne, seit achtzig Jahren nämlich.«
Scherrmann räusperte sich vernehmlich, erwiderte aber nichts. Stattdessen wandte er sich den zahlreichen Kisten zu, die sich vor den Stellwänden stapelten. Auf jeder der Kisten stand in großen schwarzen Ziffern eine Jahreszahl oder ein Zeitraum. Er hatte sie gestern schon vorsortiert, jetzt mussten die Bilder und die dazugehörigen Bildunterschriften nur noch an ihren Platz geheftet werden.
»Na, dann legen wir mal los«, verkündete Lübbo Krayenborg, griff sich die erste Kiste mit der Aufschrift 1920–1932 und wuchtete sie mit einem lauten Stöhnen auf einen der Tische, die in der Mitte des Raumes standen. »So, Fenna, du gibst mir die Fotos und ich bringe sie an der Tafel an«, keuchte er und wischte sich mit einen Taschentuch aus blau kariertem Stoff die Schweißperlen von der Stirn.
»Ich würde auch gerne die Fotos anbringen«, sagte Fenna leise, »daran hätte ich großen Spaß. Weißt du, Jan«, fügte sie an Scherrmann gewandt hinzu, »ich bin schon ganz gespannt, was da alles in den Kisten zu finden ist. Ich habe ja mein ganzes Leben in Canhusen verbracht und bestimmt so einiges vergessen. Es war eine so großartige Idee von dir, diese Ausstellung zu machen, Jan. Erst gestern habe ich zu Johanns Frau Edith gesagt, dass ...«
»Fenna, hör auf, so viel zu brabbeln, und gib mir endlich die Fotos«, brummte Lübbo und sah seine Frau finster an. »Die Geschichten, die du zu erzählen hast, interessieren Jan doch überhaupt nicht.«
»Doch, sicher interessieren sie mich, und ich fände es auch gut, wenn Fenna die Fotos ...«, warf Jan ein, wurde aber durch den herrischen Tonfall seines Nachbarn sogleich wieder unterbrochen.
»Fenna, die Fotos, aber ein bisschen fix!«, brüllte Lübbo, und sein Gesicht lief puterrot an. Er duldete keinen Widerspruch. Schlimm genug, dass nicht ihm die Idee mit der Fotoausstellung gekommen war, sondern Jan, einem Zugezogenen, der mit diesem Dorf so rein gar nichts zu tun hatte. Aber sich von ihm nun auch noch vorschreiben zu lassen, wer hier was zu tun hatte, das ging wirklich zu weit.
Mit viel Sorgfalt hefteten Lübbo und Johann die Bilder an die Stellwände, und zu beinahe jedem Foto, das sie in die Hände bekamen, hatten sie etwas zu sagen. Scherrmann hörte interessiert zu und stellte Fragen. So wäre es sicherlich ein ganz amüsanter Nachmittag geworden, wenn Fenna nicht so betont lustlos ihrer Aufgabe, ihrem Mann die Fotos zu reichen, nachgekommen wäre. Scherrmann wusste, dass sie sich sehr auf diesen Nachmittag gefreut hatte. Immer wieder hatte sie ihm das in den vergangenen Wochen gesagt, wenn sie ihm irgendwo über den Weg gelaufen war. Aber nun schien ihr aller Spaß vergangen zu sein, nachdem ihr Mann sie so unwirsch abgebügelt hatte. Scherrmann schenkte ihr immer mal wieder ein aufmunterndes Lächeln, aber sie reagierte darauf nur, indem sie den Kopf senkte und so tat, als sei sie voll und ganz auf ihre Arbeit konzentriert.
Lübbo und Fenna hatten die erste Stellwand bestückt und machten sich nun an die Jahre 1946 bis 1955, während Scherrmann und Johann Schepker noch mit der Zeit des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt waren. Fenna sah die vergilbten Schwarz-Weiß-Bilder kaum an und schien völlig in Gedanken versunken. Umso erschrockener war Scherrmann, als sie plötzlich einen erstickten Schrei ausstieß, sich im nächsten Moment auf einen Stuhl fallen ließ und das Foto, das sie in ihrer Hand hielt, mit leichenblassem Gesicht und weit aufgerissenen Augen anstarrte, während sie die linke Hand auf ihr Herz presste.
»Ist dir nicht gut, Fenna?«, fragte Scherrmann besorgt und legte ihr seine Hand auf die Schulter. Aber die alte Frau antwortete nicht, sondern schien in einer Schockstarre gefangen zu sein.
»Was ist los, Fenna?«, knurrte Lübbo ungehalten, »wo bleibt das nächste Foto?«
Aber auch auf ihn reagierte sie nicht. Lübbo machte ein paar Schritte auf sie zu und riss ihr das Foto aus den Händen, was sie zunächst mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck quittierte. Dann aber fing sie am ganzen Leib an zu zittern und streckte mit flehenden Augen die Hand nach dem Bild aus. Mit Entsetzen bemerkte Scherrmann den Blick, mit dem der alte Mann das Foto anstarrte. In ihm stand der blanke Hass. Im nächsten Augenblick zerriss Lübbo das Bild in zwei Hälften, ließ diese auf den Boden fallen und wandte sich wortlos dem Ausgang zu. Kurz darauf hörte man ihn »Fenna, komm sofort her, wir gehen nach Hause!« brüllen. Scherrmann wollte die nun völlig verstörte Frau zurückhalten, aber sie schüttelte nur den Kopf und beeilte sich, immer noch am ganzen Körper zitternd, ihrem Mann zu folgen.
Scherrmann sah Johann Schepker, der völlig verdattert im Raum stand und auf einen imaginären Punkt an der leeren, weiß getünchten Wand gegenüber starrte, fragend an. »Johann, kannst du mir erklären, was das zu bedeuten hat?«, fragte er leise und bückte sich, um die zerrissene Schwarz-Weiß-Fotografie aufzuheben.
»Das musste ja so kommen«, murmelte Johann.
»Was? Was musste so kommen?«, fragte Scherrmann, legte die zwei Teile des Fotos auf den Tisch und schob sie wieder aneinander. Auf dem Bild waren zwei junge Männer zu sehen, vielleicht zwanzig Jahre alt, die sich gegenseitig den Arm um die Schulter gelegt hatten und mit strahlend weißen Zähnen und wuscheliger blonder Haarmähne in die Kamera lachten. In der Hand hielten sie jeweils eine nicht sehr große, nach unten spitz zulaufende Papiertüte, die sie mit so stolzem Blick präsentierten, als hätten sie soeben einen wertvollen Schatz gehoben. Ihre Gesichter, so war es selbst auf dem Schwarz-Weiß-Bild zu erkennen, waren braun gebrannt, sie trugen fadenscheinige Hemden sowie Hosen, deren Beine mehrere Risse aufwiesen. Sie standen barfuß im hohen Gras, im Hintergrund war die Canhuser Kirche zu erkennen. Sie sahen sich ein wenig ähnlich, fand Scherrmann.
»Wir dachten, es gebe kein Foto mehr von denen.«
»Von wem? Wer sind diese Männer, Johann?«
Ganz langsam, wie in Zeitlupe, drehte sich Johann um und zeigte mit dem Finger auf das Bild. »Das da links ist Siebo Manninga, der daneben heißt Tammo Freerksen.«
Scherrmann fühlte plötzlich einen kalten Schauer über den Rücken gleiten, sog tief die Luft ein und sagte dann: »Und was ... hat es mit diesen Männern auf sich?«
»Sie sind mit uns aufgewachsen, hier in Canhusen.«
»Also hat Fenna sie auch gekannt?«
»Sicher, Fenna war sogar mit einem von ihnen verlobt. Mit dem hier.« Er zeigte auf Tammo Freerksen.
»Was ist passiert?«
»Sie sind gestorben.«
»Gestorben? Im Krieg?«
»Hm.«
»Waren sie genau so alt wie ihr, ich meine, wie Lübbo und du?«
»Ja, ungefähr so alt.«
Scherrmann rechnete nach. »Dann muss dieses Bild aber nach dem Krieg aufgenommen worden sein.«
»Kann auch sein.«
»Du weißt nicht mehr, wann genau deine Freunde ums Leben gekommen sind?«, fragte Scherrmann und sah Johann ungläubig an.
»Es ist schon lange her. Aber stimmt, es war nach dem Krieg. Ja, sie sind nach dem Krieg umgekommen.«
»Wie ist das passiert?«
Johann machte eine wegwerfende Handbewegung. »War eine blöde Geschichte. Will ich jetzt nicht drüber reden. Ist ja auch egal. Sind tot und bleiben tot.«
Scherrmann schluckte und sah sich die beiden fröhlich lachenden jungen Männer noch einmal an. Wie gut gelaunt sie aussahen und so ... lebendig! »Und Fenna hat dann Lübbo Krayenborg geheiratet, nachdem Tammo Freerksen gestorben war?«, hakte er nach.
»So isses.«
»Und warum hat sie so erschrocken auf das Bild reagiert?«
»Sie ... hat wohl schon lange keins mehr gesehen.«
»Ihre Reaktion war seltsam. Ich meine, der Mann ist seit ungefähr sechzig Jahren tot. Da muss sie doch drüber hinweg sein.«
»Ja. Sollte man meinen.«
»Und warum war Lübbo so sauer?«
»Hm. Musst ihn selber fragen. Ist ’ne Sache zwischen Lübbo und Fenna. Da misch ich mich nicht ein.«
»Siebo Manninga«, sagte Scherrmann, und seine Stimme klang plötzlich heiser, »war der auch verlobt gewesen?«
»Ja ... äh ... nee.«
»Was denn nun?«
»Da gab es eine Frau, glaube ich, aus dem Nachbardorf, aus Osterhusen. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Siebo kam gut an bei den Frauen damals. Genau wie Tammo.«
»Waren ja auch zwei hübsche Kerle.«
»Jo.«
Scherrmann schob das zerrissene Bild beiseite. Er würde es nicht an die Stellwand hängen, nachdem es Fenna so in Aufregung versetzt hatte. »Machen wir weiter?«, fragte er dann und wandte sich wieder der Kiste mit Fotos zu, die sie vor dem Zwischenfall bearbeitet hatten.
»Jo«, sagte Johann und atmete tief ein. Offensichtlich war er froh, dass Scherrmann nicht weiter in ihn drang.
Schweigend und tief in ihre Gedanken versunken arbeiteten sie für eine Weile Hand in Hand und waren in den Sechzigerjahren angekommen, als Scherrmann an der Tür des Gemeindehauses plötzlich einen Schatten vernahm. Er drehte sich um und schaute in das gelangweilte Gesicht von Amelie. »Hallo Amelie«, sagte er und lächelte sie an, »hast du nicht vielleicht Lust, uns zu helfen?«
»Wobei?«
»Fotos aufhängen.«
»Warum?«
»Weil’s Spaß macht?«
»Was soll denn daran wohl Spaß ...«
»Guck mal, Amelie, hier ist ein Foto von deinen Großeltern, als sie noch ganz jung waren«, meldete sich unvermittelt Johann zu Wort.
»Zeig mal«, rief das junge Mädchen und ging, nun plötzlich doch interessiert, auf ihn zu. »Krass«, sagte sie, als sie das Foto, das Johann soeben aus der Kiste gefischt hatte, in der Hand hielt, »die waren ja mal voll jung.«
»Kannst es gleich hier dazuhängen«, sagte Scherrmann und zeigte auf eine passende Lücke in einer Reihe von Bildern, die er gerade aufgehängt hatte. Das tat Amelie und pinnte auch gleich die Unterschrift darunter, die lautete: Verlobung von Eeske und Hinnerk Janssen, 1969.
Die viele Arbeit hatte sich gelohnt. Die Gäste der Fotoausstellung waren begeistert, selbst Bürgermeister Meinhard Harms war gekommen und hatte sogar ein Grußwort gehalten, in dem er auf die lange, mehrere Hundert Jahre alte Geschichte der Gemeinde Hinte im Allgemeinen und der Ortschaft Canhusen im Besonderen eingegangen war.
Im kleinen Gemeindehaus entstand gleich nach der Eröffnung der Ausstellung ein unglaubliches Gedränge, obwohl man die Tische bereits wohlweislich nach draußen gestellt hatte, um möglichst viel Platz zu schaffen. Auf ihnen wurden nun Kaffee, Tee und frischer Kuchen serviert. Am anderen Ende der Freifläche waren ein paar Männer damit beschäftigt, einen großen Schwenkgrill aufzubauen, unter ihnen auch Lübbo Krayenborg, der lautstark seine Anweisungen brüllte.
Jan Scherrmann schlenderte auf ihn zu, um sich nach dem Befinden von Fenna zu erkundigen, die er in den letzten Tagen nicht mehr gesehen hatte und die auch jetzt nicht zu der Veranstaltung, die ihr doch so sehr am Herzen gelegen hatte, gekommen war. Doch war es gar nicht so einfach, zu Lübbo vorzudringen, denn immer wieder wurde Scherrmann in Gespräche über die Ausstellung verwickelt oder einfach nur auf eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen eingeladen. Jung und Alt schienen sich prächtig zu amüsieren und waren so voll des Lobes für den Organisator dieses außergewöhnlichen Events, dass es Scherrmann schon nach kurzer Zeit unangenehm wurde.
Gerade meinte er, sein Ziel, mit Lübbo Krayenborg sprechen zu können, endlich erreicht zu haben, als jemand an seinem völlig durchschwitzten T-Shirt zupfte. Er drehte sich um und sah Eike Diekhoff vor sich, einen Mann mittleren Alters, der einen der Bauernhöfe in Canhusen betrieb und, wenn man sich mit ihm unterhielt, kein anderes Thema kannte als die Landwirtschaft. Er war Bauer mit Leib und Seele und im Dorf wurde gelästert, er verhätschle seine rund fünfzig Kühe mehr als seine Frau und seine zwei Kinder. Manch einer behauptete sogar, er würde öfter im Kuhstall übernachten als bei seiner Frau im Bett, aber das schien Jan Scherrmann doch ein wenig weit hergeholt.
»Herr Scherrmann, Sie sind doch Rechtsanwalt«, sagte Eike Diekhoff nun und sah Scherrmann fragend an.
»Ich war Rechtsanwalt, Herr Diekhoff. Wie Sie wissen, habe ich keine Kanzlei mehr.«
»Ja, weiß ich doch«, nickte Diekhoff.
»Und was kann ich für Sie tun?«
Diekhoff schaute sich um, entdeckte Lübbo Krayenborg, der unmittelbar hinter ihm stand, und bedeutete Scherrmann mit einem Handzeichen, sich von der etwas höher gelegenen Wiese hinunter auf die Straße zu begeben.
»Ich wollte eigentlich gerade mit Lübbo sprechen«, sagte Scherrmann mit gerunzelter Stirn.
»Nur ein paar Minuten«, bettelte Diekhoff.
»Na gut, gehen Sie schon mal vor. Ich komme zu Ihnen, sobald ich mit Lübbo gesprochen habe. Versprochen«, fügte er hinzu, als er Diekhoffs zweifelnden Gesichtsausdruck sah.
Eike Diekhoff trollte sich die Wiese hinunter, und Scherrmann wandte sich seinem alten Nachbarn zu, der sich nach wie vor am Grill zu schaffen machte, an dem es anscheinend etwas zu reparieren gab.
»Moin, Lübbo«, grüßte Scherrmann, der schon den ganzen Morgen den Eindruck gehabt hatte, dass der alte Mann ihm absichtlich aus dem Weg ging. Denn ganz entgegen seiner Gewohnheit war Lübbo am Morgen nicht als einer der Ersten am Gemeindehaus gewesen, sondern hatte sich erst deutlich später ins Getümmel gestürzt und sich auch bei der Ansprache des Bürgermeisters auffallend zurückgehalten, als es galt, nach dessen kurzweiligem Vortrag ein paar Dankesworte zu murmeln. Zwar hatten ihn alle auffordernd angestarrt, als der Bürgermeister geendet hatte, aber er hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Schließlich war Scherrmann selbst aufgestanden und hatte unvorbereitet ein paar Worte aus dem Ärmel geschüttelt, was ihm dank seiner Erfahrung als Rechtsanwalt, durch die er es gewohnt war, auf unvorhergesehene Situationen spontan zu reagieren, nicht schwergefallen war.
Er führte die ungewohnte Zurückhaltung Lübbo Krayenborgs auf den vergangenen Dienstag zurück, als er, Scherrmann, abends beim Altherrenstammtisch versucht hatte, mehr über das Schicksal der beiden jungen Männer vom Schwarz-Weiß-Foto zu erfahren, das Lübbo vor den Augen seiner am ganzen Leib zitternden Frau so demonstrativ zerrissen hatte. Kaum, dass er das Thema aufgegriffen hatte, war es plötzlich ganz still geworden am Stammtisch. Scherrmann hatte das Gefühl gehabt, dass bereits alle anwesenden Herren über den Zwischenfall im Gemeindehaus informiert gewesen waren, obwohl er erst wenige Stunden her war. Irgendwer musste also gleich im Anschluss den Dorffunk in Gang gesetzt haben. Scherrmann tippte auf Lübbo selbst, denn so verlegen, ja geradezu eingeschüchtert, wie die Männer auf seine Fragen reagierten, musste sie jemand im Vorfeld unter Druck gesetzt haben. Und das beherrschte sicherlich keiner im Dorf so gut wie der Bürgermeister. Scherrmann aber hatte nicht klein beigegeben, sondern als Reaktion auf die geballte Mauer des Schweigens mit ebendieser Frage reagiert, nämlich warum es Lübbo so wichtig sei, dass zu der Geschichte der beiden Männer nichts bekannt wurde. Und warum Fenna so außer sich gewesen sei, als sie das Foto aus dem Karton gefischt hatte.
Lübbos Freund Johann Schepker hatte ihm mit einem flehenden Gesichtsausdruck bedeutet, ruhig zu sein und keine Fragen mehr zu stellen. Aber Scherrmann hatte ihn nicht beachtet. Im Gegenteil hatte ihn das demonstrative Schweigen so wütend gemacht, dass er angefangen hatte, immer weitere Fragen zu stellen. Warum hatten die beiden jungen Männer sterben müssen? War es ein Unfall gewesen? Oder eine Krankheit? Waren sie gar getötet worden? Bei dem Wort getötet waren die Männer am Tisch sichtlich zusammengezuckt und hatten fast gleichzeitig nach ihrem Bier gegriffen, um einen tiefen Schluck zu nehmen. »Es reicht«, hatte Lübbo plötzlich gebrüllt und mit seiner donnernden Stimme, die wie ein scharfer Keil in die angespannte Stille des Gemeindehauses gefahren war, dafür gesorgt, dass sich mindestens zwei der Anwesenden fürchterlich an ihrem Bier verschluckten und noch Minuten später vor sich hin japsten.
Scherrmann hatte begriffen, dass er an dieser Stelle nicht weiterkam, und hatte das Gemeindehaus mit einem knappen Gruß verlassen. Um den Tod der beiden jungen Männer auf dem Foto schien sich ein jahrzehntealtes Geheimnis zu ranken, das von dem Altherrenstammtisch oder sogar von der ganzen Canhuser Dorfgemeinschaft wie ein geheimer Schatz gewahrt wurde.
»Moin, Lübbo«, sagte Scherrmann nochmals, denn der alte Mann hatte auf seinen ersten Gruß nicht reagiert. Nun aber schaute er zu ihm auf und zog mürrisch die Augenbrauen zusammen. »Moin, Jan«, knurrte er, »was gibt’s?«
»Wollte mal hören, was mit Fenna ist. Sie ist ja gar nicht hier.«
»Geht ihr nicht gut.«
»Was hat sie denn?«
»Krank.«
»Wie, krank. Was Ernstes?«
Lübbo kam mühsam aus der Hocke hoch. Scherrmann wollte ihm helfen, aber er schlug die Hand weg. »Das schaff ich gerade noch allein«, brummte er und sah Scherrmann mit einem so feindseligen Blick an, dass dieser instinktiv einen Schritt zurücktrat. »Fenna ist krank. Alles andere geht dich nichts an.«
»Wenn ich irgendwie helfen kann ...«
»Nee.«
»Lübbo, ich ...«
»Brauchst nicht mehr zum Stammtisch zu kommen, Jan. Bist da von jetzt an unerwünscht.«
»Du erklärst mich zur persona non grata, einfach so?«
»Zu wat?«, fragte Lübbo und machte ein so herrlich konsterniertes Gesicht, dass Scherrmann wohl zu jedem anderen Zeitpunkt laut aufgelacht hätte. Aber sein Spaß an dieser Situation hielt sich in Grenzen.
»Unerwünscht, soso«, sagte er deshalb nur und sah den alten Mann herausfordernd an.
»So isses.«
»Na, ich werde auch ohne den Stammtisch herausbekommen, was sich damals ereignet hat.«
Lübbo lief rot an und holte tief Luft, so, als wolle er etwas erwidern. Dann aber machte er nur eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich wieder dem Grill zu.
Scherrmann schüttelte verärgert den Kopf. Nicht, weil er besonders traurig und enttäuscht war, dass er nicht mehr zum Stammtisch geladen wurde. Nein, das würde er schnell verwinden, so wichtig war der ihm sowieso nicht gewesen. Eine gute Informationsquelle darüber, was im Dorf so los war, ja. Aber das würde er auch auf anderem Wege erfahren. Genau genommen ließ es sich sogar gar nicht vermeiden, dass man alles erfuhr, selbst wenn man es gar nicht wollte. Denn dazu war Canhusen nun tatsächlich zu klein und deren Bewohnerschaft zu mitteilsam. Nein, dumm sterben würde er hier ganz sicherlich nicht.
Sein verärgertes Kopfschütteln galt vielmehr der Tatsache, dass er nicht wusste, was mit Fenna war. Er vermutete stark, dass Lübbo sie nach dieser Geschichte im Gemeindehaus ganz besonders übel zugerichtet hatte. Denn dass der feine Herr Bürgermeister seine Frau schlug, lag auf der Hand. Scherrmann hatte einen Blick dafür. Während seiner Berufslaufbahn als Rechtsanwalt hatte er genau diese Fälle verteidigt, hatte sich sozusagen auf sie spezialisiert. Ja, er hatte wirklich viele Frauen gesehen, die von ihren Männern geprügelt und gedemütigt wurden, durch alle sozialen Schichten hindurch. Auch wenn es häufig vermutet wurde, so waren Geld und eine gute Bildung ganz gewiss kein Garant für Gewaltfreiheit. Scherrmann hatte im Gegenteil zahlreiche in Seide gekleidete und mit teurem Schmuck behängte Gattinnen in seiner Kanzlei sitzen gehabt, die gar nicht so viel Schminke hatten auftragen können, als dass man ihr blaues Auge nicht mehr sah. Verdächtig waren auch die gewesen, die mitten im Sommer einen fein drapierten Schal um den Hals trugen, um die Würgemale, die ihnen ihr in der feinen Gesellschaft hoch angesehener Gatte zugefügt hatte, zu verdecken.
Dass es keinen Sinn hatte, Lübbo anzuzeigen, war klar. Fenna war noch nicht so weit, gegen ihn auszusagen. In ihrem hohen Alter war es auch sehr unwahrscheinlich, dass sie sich dazu noch durchringen würde. Zu viel stand dabei für sie auf dem Spiel. Ihr Leben würde plötzlich ein ganz anderes sein. Womöglich würden sich sogar viele ihrer Freunde und Bekannten gegen sie stellen, da sie ihre vermeintlich heile Welt verraten und die sorgsam errichtete Fassade eingerissen hatte. Nein, die Menschen wollten ihre Ruhe haben und sich in ihrem vertrauten Umfeld, in ihrer kleinen Welt in Sicherheit wiegen, koste es, was es wolle. Packte Fenna aber aus und würde ihren prügelnden Mann anzeigen, dann würden Fragen gestellt. Viele Fragen. Im ganzen Dorf. Bei jedem einzelnen Nachbar. Und das wäre unverzeihlich. Eine alte Frau, die das ungeschriebene Gesetz einer Dorfgemeinschaft, persönliche Probleme zum Wohle der Gemeinschaft so tief wie irgend möglich unter den Teppich zu kehren, missachtete, würde für immer in Ungnade fallen. Sie wäre plötzlich nicht mehr Opfer, sondern Täter. Sie würde nicht auf Mitleid hoffen können. Sie wäre auf einmal sehr einsam.
Eike Diekhoff sah Scherrmann bereits erwartungsvoll entgegen, als dieser die kleine Treppe zum Gemeindehaus hinunterkam und auf die Straße trat. Sofort schickte er seine zwei Kinder weg, die ihn, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, anscheinend um irgendetwas angebettelt, es aber nicht bekommen hatten und nun beleidigt von dannen zogen.
»Na, Herr Diekhoff«, fragte Scherrmann, »was gibt es denn so dringend?«
»Ach, die wollten nur schon wieder ein Eis aus der Gefriertruhe haben. Dabei steht hier doch alles voller Kuchen.« Diekhoff machte eine ausladende Armbewegung und fing damit die gesamte Szenerie rund um das Gemeindehaus ein.
Scherrmann lachte. »Ja, so sind sie, die Kinder. Aber das meinte ich allerdings gar nicht. Ich wollte eigentlich nur wissen, warum Sie mich so dringend sprechen wollten.«
»Ach so.« Diekhoff grinste und fuhr sich verlegen durch den Bart. Dann sah er sich nach allen Seiten um. »Können wir vielleicht ein Stück gehen, weg von den ganzen Leuten hier?«
»Na, Sie machen es aber spannend.«
»Muss ja nicht jeder gleich hören, was wir zu besprechen haben.«
»Okay, laufen wir ein Stück. Vielleicht einmal den Canhuser Ring entlang? Dann kommen wir hier irgendwann automatisch wieder an.«
»Also, wenn Sie mich fragen, Herr Scherrmann, dann kommen wir hier immer automatisch wieder an, egal, in welche Richtung wir laufen. So groß ist Canhusen ja nun wirklich nicht.«
»Da haben Sie zweifelsfrei recht.«
Als sie sich auf den Weg einmal rund um das Dorf machten, wie Scherrmann es vorgeschlagen hatten, nahm Eike Diekhoff Daumen und Zeigefinger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Gleich darauf kam ein mittelgroßer, schwarz-weißer Mischlingshund laut kläffend und wild mit dem Schwanz wedelnd aus einem Gebüsch geschossen und schloss sich ihnen an.
»Woodstock scheint sich ja mächtig über den Spaziergang zu freuen«, stellte Scherrmann fest.
»Jo. Ist ein wilder Hund. Streunt den ganzen Tag wie ein Vagabund durch die Gegend und tut dann so, als wäre er tagelang eingesperrt gewesen, wenn man ihn auf einen Spaziergang mitnimmt. Versteh einer diesen Köter.«
Woodstock rannte, die Nase wie ein Trüffelschwein immer am Boden, den beiden Männern ein ganzes Stück voraus, markierte hier und da einen Grasbüschel am Wegesrand und fischte schließlich einen Ast aus einem Straßengraben, der mindestens doppelt so lang war wie er selbst. Mit stolz erhobenem Kopf kam er auf Scherrmann zu und schmiss ihm den Stock direkt vor die Füße. Der tat ihm den Gefallen, nahm den Ast hoch und schleuderte ihn dann weit ins Feld hinein. Aufgeregt kläffend setzte Woodstock seiner Errungenschaft nach, sprang mit einem Satz über den Graben und war nun für eine ganze Weile mit der Suche beschäftigt.
»Also, Herr Diekhoff, was wollten Sie mit mir besprechen?«, fragte Scherrmann.
»Es geht um meinen Hof. Besser gesagt um die Tiere.«
»Ihre Kühe, meinen Sie.«
»Ja, und auch die Schweine.«
»Was ist mit ihnen?«
»Ich habe sie schlachten lassen. Also, ein paar von ihnen. Die, die gerade an der Reihe waren eben.«
»Das kommt vor auf einem Bauernhof«, bemerkte Scherrmann, und sein ironischer Unterton war kaum zu überhören.
»Jo. Aber jetzt hab ich ein Problem. Ein böses Problem.«
»Und das wäre?«
»Die Händler wollen mir das Fleisch nicht abnehmen.«
»Warum das denn? Ist irgendwas damit nicht in Ordnung?«
»Das kann mal wohl sagen. Man hat Wachstumshormone im Fleisch gefunden. Jede Menge Wachstumshormone.«
»Aber ich denke, Sie haben einen Biohof. Da darf doch so was gar nicht eingesetzt werden.«
»Eben.«
»Und warum haben Sie es dann getan?«
»Hab ich doch gar nicht.«
»Sondern?«
»Ich weiß es ja nicht. Deshalb wollte ich doch mit Ihnen reden.«
»Sie wissen nicht, wie die Hormone in Ihre Tiere gekommen sind?« Ungläubig sah Scherrmann seinen Nachbarn Diekhoff von der Seite an, während er erneut den Stock von Woodstock in ein frisch abgeerntetes Stoppelfeld schleuderte.
»So isses. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ich weiß ja nicht mal, wie man an so ein Zeug rankommt.« Eike Diekhoff hatte nun ein so sorgenvolles Gesicht aufgesetzt, dass Scherrmann ihm seine Unwissenheit sofort abnahm. Dieser Mann, der hier neben ihm lief, in Jeans und Leinenhemd und mit Birkenstockschlappen an den Füßen, hatte Angst. Angst um seine Existenz.
»Sie glauben, dass noch weitere Ihrer Tiere davon betroffen sein könnten?«
Diekhoff nickte stumm und trat einen Stein zur Seite, der vor ihm auf dem Weg lag.
»Haben Sie einen Verdacht? Ich meine, können Sie sich vorstellen, dass da irgendwer seine Finger im Spiel hat, der Ihnen schaden will?«, hakte Scherrmann nach.
Wieder nickte Diekhoff. »Es ... ich weiß nicht, ob ich es wirklich sagen soll.«
»Aber deshalb wollten Sie doch mit mir sprechen, oder?«
»Jo. Aber was ist, wenn das alles nicht stimmt? Wenn mein Verdacht falsch ist? Wenn das Zeug nur aus Versehen in meine Tiere ...«
»Aus Versehen?«, unterbrach Scherrmann ihn. »Wie, bitte schön, können denn Wachstumshormone aus Versehen in einem solchen Ausmaß in Ihre Tiere gelangen, dass das Fleisch nicht mehr verwertbar ist?«
»Als Biofleisch nicht mehr verwertbar ist«, präzisierte Diekhoff. »Als konventionelles Fleisch würde es durchgehen. Da sind solche Hormone ja normal.«
»Gut. Aber Sie werden es auf Ihren Absatzmärkten nicht los, richtig?«
»Jo.«
»Und weil das so nicht weitergehen kann, müssen Sie handeln, richtig?«
»Jo, glaub schon.«
»Sie müssen handeln, Diekhoff, sonst gefährden Sie Ihre Existenz. Also, wen haben Sie im Verdacht, da seine Finger im Spiel zu haben?«
Diekhoff zögerte und schien froh zu sein, dass in diesem Moment sein Hund wieder angesprungen kam und diesmal eine längere Holzlatte in der Schnauze trug. Offensichtlich hatte Woodstock seinen Ast nicht mehr finden können. Oder aber die Latte war ihm als Spielzeug attraktiver erschienen. »Gib schon her«, sagte Diekhoff zu Woodstock und zog ihm das morsche Stück Holz aus dem Maul. Er ließ es ein paarmal über dem Kopf kreisen und warf es dann in hohem Bogen auf eine Wiese, auf der ein Anhänger mit Heuballen stand und darauf wartete, abtransportiert zu werden.
»Lübbo. Lübbo Krayenborg«, sagte er dann unvermittelt.
»Sie verdächtigen Lübbo Krayenborg, Ihren Tieren Hormone verabreicht zu haben?«
»Ich weiß nicht, ob er es selbst gemacht hat. Vielleicht hat er auch jemanden beauftragt.«
»Und warum sollte er so etwas tun?« Scherrmann sah keinerlei Zusammenhang zwischen Eike Diekhoffs Kühen und Lübbo Krayenborg.
»Er hat mir gedroht.«
»Er hat Ihnen gedroht? Womit?«
»Na, damit.«
»Er hat damit gedroht, dass er Ihren Tieren Wachstumshormone spritzen würde?«
»Nein, nicht so direkt. Er hat gesagt, er würde meine Existenz zerstören.«
»Aber warum? Ich meine, er muss doch einen Grund haben.«
»Jo. Er meint, dass er einen hat.«
»Und welchen?«
»Kennen Sie seinen Sohn?«
»Ja, sicher. Ihm gehört doch der große Hof da drüben, ein paar Hundert Meter von hier.« Scherrmann machte eine Armbewegung in die Richtung, in der er den Hof vermutete. »Ich meine, ihn gerade auch auf der Ausstellung gesehen zu haben, oder?«
»Ja«, nickte Diekhoff. »Immo ist ein paar Jahre älter als ich. Der Jüngste von den Krayenborg-Kindern. Er hat noch zwei ältere Schwestern, Deike und Kirsten.«
»Ist mir bekannt, ja. Immo hat den Hof seines Vaters übernommen.«
»Richtig. Lübbo war früher auch Landwirt. Er ist dann mit Fenna ins Dorf gezogen, aufs Altenteil, als Immo den Hof übernommen hat. Deike lebt in Oldenburg, Kirsten in Emden.«
»Also, was hätte Lübbo für einen Grund, Ihre Existenz zu zerstören?«
»Ich habe seinen Sohn Immo vor einiger Zeit dazu überredet, nein, davon überzeugt, dass er auch auf biologische Landwirtschaft umstellt.«
»Und was ist daran so schlimm? Ich meine, was hat das mit Lübbo zu tun?«
»Lübbo war immer ein überzeugter Vertreter der konventionellen Landwirtschaft. Je mehr Pestizide und chemischer Dünger, desto besser. Auf die Biobauern hat er immer nur verächtlich hinabgeschaut, sie als Ökospinner beschimpft und ihnen ausrichten lassen, sie sollten doch zurück auf die Bäume ziehen, wenn sie mit dem Segen des Fortschritts nicht zurechtkämen.«
»Das passt zu ihm. Was er sagt und macht, ist Gesetz, und alles andere ist Blasphemie.«
»Ja. Und jetzt das. Immo arbeitet heute nach noch viel strengeren Kriterien als ich. Sein Vater spricht deshalb kein Wort mehr mit ihm. Und mir gibt er die Schuld an allem. Wissen Sie, ich war der erste Landwirt, der seinen Hof umgestellt hat. Für meinen Vater war das okay. Er sagte, ich solle das machen, was ich für richtig halte, schließlich habe alles seine Zeit.«
»Gesunde Einstellung.«
»Jo, da hab ich Glück gehabt. Meine Eltern sind nach Hinte gezogen, schauen aber regelmäßig vorbei. Mein Vater ist dann immer ganz neugierig, was ich mir wieder Neues hab einfallen lassen.«
»Und Sie meinen, aus Rache dafür, dass Sie Immo Krayenborg zum Biobauern gemacht haben, will Lübbo Sie jetzt in den Ruin treiben?«
»So sieht’s aus. Ich weiß nicht, wer oder was sonst hinter der Sabotage stecken könnte.«
»Klingt einleuchtend. Aber wie kommt Lübbo an das Zeug ran, an die Hormone?«
»Ach, wissen Sie, Lübbo hat so seine Kontakte. Und bestimmt ein paar Leute, die ihm noch was schuldig sind. Oder die er erpressen kann. Der hat so viel Dreck am Stecken, dass es für drei reicht, da bin ich sicher.«
»Er oder sein Mittäter müssten sich Zugang zu Ihrem Stall verschafft haben.«
»Das ist kein Problem. Der steht Tag und Nacht offen. Wir leben hier ja schließlich nicht in Chicago.«
Fast kommt es mir so vor, dachte Scherrmann, sagte aber nichts.
»Sie sollten ihn anzeigen.«
»Ich habe keine Beweise.«
»Sie haben seine Aussage. Gibt es dafür Zeugen?«
»Ja. Immo stand daneben, als er mir gedroht hat.«
»Würde er gegen seinen Vater aussagen?«
»Müsste ihn fragen. Kann sein, kann auch nicht sein.«
»Nun, dann fragen Sie ihn.«
»Würden Sie mich als Anwalt vertreten, Herr Scherrmann?«
Ohne zu überlegen, schüttelte Scherrmann den Kopf. »Nein. Ich habe meine Zulassung als Rechtsanwalt zurückgegeben. Ich möchte jetzt nur noch meinen Ruhestand genießen. Außerdem wäre so eine Sache auch gar nicht mein Spezialgebiet. Aber ich könnte mich mal in der Szene umhören, wer für einen solchen Fall infrage käme. Allerdings kenne ich mich in Ostfriesland nicht so gut aus. Ich kann es aber versuchen.«
»Das ist nett, danke. Ich denke, dass ich gleich morgen zur Polizei gehe und Anzeige erstatte. Selbst wenn nichts dabei herauskommt, soll Lübbo doch sehen, dass er nicht einfach machen kann, was er will.«
»Kann er nicht?«, fragte Scherrmann sarkastisch. »Ich habe in den Monaten, die ich hier lebe, eigentlich den Eindruck gewonnen, dass er hier Narrenfreiheit hat.«
»Ja«, sagte Eike Diekhoff leise, blieb abrupt stehen und richtete seinen Blick starr auf einen imaginären Punkt am Horizont. »Das hat er. Aber damit ist nun Schluss. Endgültig.«