Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eigentlich würde die 14-jährige Jana viel lieber mit ihrer Band proben, statt die Weihnachtsferien bei ihrer Oma zu verbringen. Doch als sie einen alten Holzengel findet, verwandeln sich die öden Ferien in ein Abenteuer und ihr erscheint jede Nacht der Geist eines kleinen Mädchens. Das Geistermädchen führt sie zu einem Baumportal, durch das Jana in das Jahr 1838 gelangt. In der Vergangenheit wird Jana selbst zu einem unsichtbaren Geist, was es ihr nicht einfach macht, Kontakt aufzunehmen. Dennoch gelingt es ihr, neue Freunde zu finden: Matthias, den Straßenjungen, ihre Vorfahrin Agathe und den smarten Arzt Konstantin Heydenreich. Können sie gemeinsam das Geheimnis um das Geistermädchen lösen?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 350
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Hinweis der Autorin
Liebe Leser, der Bayerische Wald hat mich zu dieser Geschichte inspiriert. Mit Geografie und Historie habe ich es aber nicht so ganz genau genommen.
Sabine Kruber
ROMAN
Hinweis der Autorin
Der Engel
Hilf mir!
Der Baum
Durch die Wand
In einer anderen Zeit
Nikolaus
Das Diebesnest
Konstantin
Erster Kontakt
Unter Mordverdacht
Befreiung
Wohin?
Die Lutzelfrau
Im Waisenhaus
Recherche
Marie
Auf der Flucht
Beim Bürgermeister
Der geheimnisvolle Schuppen
Silber
Großer Leichtsinn
Törichte Gier
Auf Messers Schneide
Alles anders
Sabine Kruber …
Ich danke …
Samstag, der 1.12.
Extralange Weihnachtsferien – extralange Langeweile! Keine Leute in Janas Alter und eine schneckenlahme Internetverbindung. Kein Wunder bei der niedrigen Bandbreite. Und das ganze fünf Wochen lang! Wie sollte sie das bloß aushalten?
Natürlich war es auch schön, die Weihnachtsferien bei Oma zu verbringen, aber so ganz ohne Bandprobe … Nee, das war doof. Frustriert kickte sie einen Kiesel in die nächste Pfütze, denn es regnete schon seit Tagen, statt zu schneien. Dicke Tropfen klatschten in Janas Gesicht. Irgendwie wurde es den ganzen Tag nicht richtig hell.
Die bewaldeten Berggipfel verschwanden in einer grauen Suppe und hier im Wald war es richtig duster – depriduster. Da machte es nicht mal Spaß, mit Caspar, Omas rotbraunem Cockerspaniel, Gassi zu gehen. Jana blickte auf den Hund, der gerade ausgiebig an einem Baum schnüffelte. »Wenn Oma doch ein Keyboard oder wenigstens ein Klavier hätte«, sagte sie zu ihm, doch Caspar fand den Baum viel spannender. »Schon blöde, dass Sophie die Band jetzt alleine bändigen muss. Ob sie wohl, wie besprochen, nach einem E-Gitarristen sucht?« Jana seufzte. Als ihre beste Freundin geboren wurde, war da eine böse Fee, die Sophie sofort ihr Selbstbewusstsein abgezapft hatte. Das schlummerte jetzt in einem kleinen Fläschchen, solange bis Sophie sich aufmachte, es der bösen Fee aus ihren gierigen Klauen zu reißen. Jana grinste. »Nice Story, da mache ich einen Comic draus«, flüsterte sie und zog Caspar vom Baum weg. »Und die Fee zwingen wir dann dazu, mir hier ein Keyboard herzuzaubern, auch wenn ich für Oma dann Weihnachtslieder spielen muss.«
Oma war voll im Weihnachtsmodus – Plätzchen backen, Fenster schmücken, Geschenke besorgen, Weihnachtslieder für das Chorkonzert üben – und alles gleichzeitig. Jana hatte sie auch gleich eingespannt: Lebkuchenformen von Omas Freundin abholen.
Heute Mittag war Jana in Regenfurt angekommen.
Blöder Heizkessel. Hätte er nicht den Geist aufgegeben und die halbe Schule unter Wasser gesetzt, wären sie nicht wegen der Reparaturarbeiten frühzeitig in die Ferien geschickt worden.
Caspar bellte und riss sie aus ihren Gedanken. Im nächsten Moment rannte der Hund los. Jana flutschte die Leine aus der Hand.
»Caspar, bei Fuß!«
Doch Omas Hund war schon jaulend eine Bachböschung hinuntergerutscht. Jana rannte ihm hinterher, warf ihren Rucksack ab und schlitterte die matschige Böschung hinunter. Um ein Haar wäre sie im Bach gelandet, krallte sich aber gerade noch rechtzeitig an einer Wurzel fest. Unter ihr rauschte das Wasser vorbei.
Caspar hing schon halb in der schlammigen Brühe und versuchte verzweifelt, nicht völlig abzurutschen.
»Halt still!«, schimpfte Jana. »Ich komme, du dummer Hund. Warum läufst du denn weg?« Mit vorsichtigen Seitwärtsbewegungen näherte sie sich ihm. Caspar sah sie ängstlich an. »Mist, ist das glatt hier!« Jana packte sein Halsband, konnte den Hund aber nicht zu sich heranziehen. »Hör auf, so zu zappeln.« Ihr rechter Fuß rutschte weiter ab und landete im Wasser.
»Scheiße ist das kalt!«, fluchte sie und schaffte es schließlich, den Hund an sich zu ziehen. »Mach das nicht noch mal!«, schimpfte sie und drückte Caspar an sich.
Da fiel ihr Blick auf etwas Rotes, das sich in der Uferböschung verfangen hatte. Jana wollte danach greifen, aber dann hätte sie das Gestrüpp loslassen müssen. War doch bestimmt nur Müll. Mach lieber, dass du wieder festen Boden unter die Füße bekommst, ermahnte sie sich. Doch sie konnte den Blick nicht von dem roten Etwas abwenden. So what – ihr Fuß war jetzt eh schon nass. Sie drehte sich ein wenig und setzte ihre Hand um. Sofort rutschte sie wieder ein Stückchen ab, konnte aber eine Wurzel packen und zog sich ein Stückchen höher. Caspar wurde schwerer und schwerer in ihren Armen. Jetzt fing er auch noch an, zu zappeln! »Halt still!«, zischte sie und suchte ein wenig mehr Halt. Zögerlich ließ sie die Wurzel los und tastete nach dem roten Gegenstand. Ihre Fingerspitzen berührten etwas, das sich warm anfühlte. Sie griff zu. Langsam zog sie das Etwas aus dem Gestrüpp heraus. Ein verwitterter Holzengel lag in ihrer Hand. Auf seinem Gewand waren noch die Reste von roter Farbe zu erkennen.
Warum fühlte er sich so warm an?
Caspar wand sich in ihren Armen. Jana tastete nach ihrer Jackentasche und stopfte den Engel hinein. »Jetzt aber hoch mit uns.«
Da bemerkte sie eine Bewegung auf der anderen Bachseite. Dort stand ein kleines Mädchen. »Wir werden beobachtet«, flüsterte sie in Caspars Ohr.
Das Kind rührte sich nicht, sondern starrte nur zu ihr hinüber. »Ja, ich weiß«, rief Jana ihr zu. »Tolle Aktion. Mach das bloß nicht nach.«
Das Mädchen winkte ihr zu und schien irgendetwas zu sagen. Jana konnte deutlich ihre Mundbewegungen sehen. »Ich kann dich nicht hören«, rief sie. Keine Reaktion. »Dann eben nicht!« Jana kletterte weiter. Älter als acht war die bestimmt nicht. Was hatte sie überhaupt so alleine im Wald zu suchen? Jana rutschte wieder ein Stück abwärts. Konzentrier dich, schimpfte sie, blickte sich aber erneut nach dem Mädchen um. Sie hatte lange blonde Haare. Auf der linken Seite fiel ein geflochtener Zopf auf ihre Schulter. Auf der rechten Seite fehlte die Haarschleife und der Zopf hatte sich aufgelöst. Das Kind trug ein kittelähnliches Kleid, das schmutzig und zerrissen war. Schuhe trug sie keine, stattdessen hatte sie sich Stofffetzen um die Füße gewickelt. Seltsame Klamotten. Zu frieren schien das Mädchen nicht. Wo sie diesen Fetzen wohl herhatte? Aus dem Theaterfundus?
»Bist du wegen der da ausgebüxt?«, fragte sie Caspar, doch der sah sie nur an und wand sich. »Ich muss ihr helfen. Vielleicht hat sie sich verlaufen. Aber erst mal hochkommen.«
Über sich hörte sie einen fremden Hund bellen. Caspar bellte zurück. Am Rande der Böschung tauchte eine Frau in einem braunen Mantel auf.
»Alles in Ordnung?«, rief sie. »Braucht ihr Hilfe?«
»Könnten Sie uns vielleicht hochziehen?«, rief Jana und die Frau streckte ihr die Hand entgegen.
Oben angekommen, sah Jana, dass ihre Jeans völlig schlammverschmiert war. Ihre Zähne klapperten und ihre Zehen spürte sie vor lauter Kälte auch nicht mehr.
»Was wolltest du denn da unten?«, fragte die Frau.
»Mir ist der Hund abgehauen.« Jana zog Caspar von dem knurrenden Schäferhund der Frau weg und hob ihren Rucksack auf.
»Danke, dass Sie uns raufgeholfen haben.« Als sie sich nach dem Kind auf der anderen Bachseite umsah, war es verschwunden.
»Wie seht ihr denn aus!« Oma schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen, als Jana zur Tür hereinkam. »Was ist denn mit euch passiert? Bleibt mir ja aus meiner Küche draußen, die habe ich gerade erst geputzt.«
Groß und schlank war Oma und Jana fand immer, dass sie für ihre fünfundsechzig Jahre noch gar nicht alt aussah. Ihre Klamotten waren zwar ziemlich flippig - heute trug sie eine weite rote Hose unter der gestreifte Strümpfe hervorsahen und einen lila geblümten Schlabberpulover - aber ihre Kurzhaarfrisur war schick und das fast weiße Haar stand ihr wirklich super.
»Viele Grüße von Frau Müller!« Jana stand auf der Schmutzmatte und holte zwei große Lebkuchenformen aus ihrem Rucksack. »Du kannst dir Zeit damit lassen, sie braucht sie dieses Jahr nicht.«
»Lieb von dir, dass du sie für mich bei diesem Mistwetter geholt hast. Danke.« Oma nahm ihr die Formen ab.
Jana versuchte, sich ihre verschlammten schwarz-silbernen Lederstiefel auszuziehen und dabei Caspar gleichzeitig am Halsband festzuhalten. Ein akrobatischer Akt, der misslang. Caspar entwischte und rannte zu seinem Fressnapf. Seine Pfotenabdrücke zogen sich quer über die hellen Küchenfliesen.
»Komm her du Racker!« Oma schnappte sich ihren Hund und hielt ihn mit weit ausgestreckten Armen von sich weg. »Ab mit dir in die Wanne! Und mach mir ja meinen schönen Pullover nicht schmutzig«, drohte sie.
»Gib ihn mir«, sagte Jana. »Ich brauche auch eine Dusche.«
»Das ist lieb von dir.« Oma streckte ihr Caspar entgegen. »Ich sitze gerade an den Kostümen für das Krippenspiel.«
Jana stellte den Engel auf den Küchentisch, nahm ihrer Oma den Hund ab und tapste in nassen Strümpfen nach oben.
»Erst du, dann ich!«, entschied Jana und setzte Caspar im Badezimmer in die Wanne. »Du stinkst«, sagte sie und zupfte Caspar kleine Zweige und Dreckklumpen aus dem Fell. Also das volle Programm. Sie griff nach dem Hundeshampoo. Gerade als Caspar aussah wie ein weißes Riesen-Wattebällchen, fing Janas Smartphone an zu gackern und sie zog es aus der Hosentasche heraus.
»Mensch, endlich komme ich mal bei dir durch. In welchem Funkloch bist du denn gelandet?«
»Hallo Sophie!« Jana setzte sich auf den Wannenrand. »Was gibt‘s Neues in Laustadt? Habt ihr geprobt?«
»Naja, kann man so sagen. Wir haben alles Mögliche angespielt, können uns aber immer noch nicht einigen, in welche Richtung es gehen soll.«
»Hardrock, Heavy-Metal«, sagte Jana.
»Ich schicke dir gleich ein Augenrollsmiley.«
Jana seufzte. »Ja, is’ klar. Wie sieht es denn mit weiteren Musikern aus? Schon jemand mit E-Gitarre am Horizont aufgetaucht?«
Caspar machte Anstalten aus der Wanne zu springen und Jana schob ihn zurück.
»Zwei«, sagte Sophie. »Beide für die Tonne.«
»Schade! Aber toll, dass du am Ball bleibst«, machte Jana ihrer Freundin Mut. Sophie meisterte die Situation, die schüchterne Sophie. Jana war stolz auf ihre Freundin.
Mit einem Satz sprang Caspar aus der Wanne. »Ich muss Schluss machen«, sagte sie. »Melde mich später noch mal.«
Als Jana Caspar endlich abgeduscht und halbwegs trocken gerubbelt hatte, triefte sie vor Nässe. Ihre schwarze, knallenge Jeans sah geküsst aus und war eher braun als schwarz.
Die heiße Dusche tat gut. Langsam taute sie wieder auf. Schließlich stellte sie das Wasser ab und wickelte sich in ein flauschiges Badehandtuch. Irgendwie war es doch schön bei Oma. Barfuß tapste Jana in ihr Zimmer. Eigentlich war es ja Mamas ehemaliges Kinderzimmer, in dem sie während der Ferien schlief.
Vor dem Spiegel fuhr sie sich einmal durch ihren Kurzhaarschnitt und zupfte ihre tiefblauen Ponysträhnen im schwarz gefärbten Haar zurecht.
Sie hatte das Zimmer ganz für sich. Zumindest bis zum 21. Dezember, denn erst dann würde Mama nachkommen und sie beide würden sich das Zimmer teilen. Papa wollte mit seiner neuen Freundin in den Alpen Skifahren. Jana nahm das Foto in die Hand, das sie auf den Nachttisch gestellt hatte. Mama, Papa und sie beim gemeinsamen Sommerurlaub in Paris. Alle drei lachten sie in die Kamera. Das würden die ersten Weihnachten ohne Papa werden. Jana drückte das Bild an sich.
Ihr Blick fiel auf einen Adventskalender, der auf der Kommode stand. Der hatte heute Mittag aber noch nicht dort gestanden. Oma war einfach die Beste. Jana stelle das Bild zurück, nahm den Kalender und drückte das erste Türchen auf. Genießerisch schob sie sich einen kleinen Schokoengel in den Mund.
Keine fünf Minuten später saß sie eingehüllt in Mamas Bademantel am Küchentisch, vor sich eine Tasse mit Omas heißem Kakao-Kokos-Spezialtrank. Das tat gut. Jetzt war ihr wirklich warm.
Vor ihr stand der Holzengel. Es war so ein typischer Engel mit einem weiten Kleid und ausgebreiteten Flügeln. In ein paar Ritzen konnte sie noch Reste blauer und weißer Farbe erkennen. Eine Flügelspitze war abgebrochen und auch sonst sah das Holz ziemlich morsch aus, so als hätte es lange in der Feuchtigkeit gelegen. Jana strich darüber. Aber das Holz war nicht feucht. Es fühlte sich warm und trocken an!
»Einen Kakao trinke ich noch mit«, sagte Oma und setzte sich. »Aber dann muss ich los zur Chorprobe.« Sie trank einen Schluck. »Wo hast du den denn her?« Sie nahm Jana den Engel aus der Hand.
»Gefunden, oder besser gesagt, Caspar hat ihn gefunden«, sagte Jana. »Es war irgendwie seltsam. Caspar ist plötzlich abgehauen. Irgendwas hat ihn zu diesem Bach gezogen, da oben im Wald am Wegkreuz.«
»Am Kapellenhügel? Da hat es nach den heftigen Regenfällen letzte Woche einen Erdrutsch gegeben, da solltest du besser nicht hingehen.« Oma klang besorgt.
»Da war so ein seltsames Mädchen unten am Bach«, erzählte Jana. »Sie hatte ganz komische Klamotten an, richtig altmodisch und an den Füßen trug sie Lumpen. Als ich einen Moment nicht hingesehen habe, war sie weg. Irgendwie spooky.«
»Nicht, dass du eines der Niemandskinder gesehen hast!« Oma lachte.
»Niemandskinder?«
»Geister!« Oma nahm einen Schluck Kakao und sah Jana über den Rand der Tasse mit verschmitzten Augen an. »Kinder, die die Lutzelfrau geholt hat. Man sagt, in der Adventszeit spuken die Lutzelfrau und ihre Geisterkinder durch den Wald.«
»Ach Oma, glaubst du, dass ich mich jetzt grusel?«, fragte Jana, obwohl ihr tatsächlich ein leichter Schauer über den Rücken lief.
»Ist nur eine alte Geschichte hier in der Gegend.« Oma lachte. »Ich habe ein Buch darüber.« Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Gleich darauf kam sie mit einem dicken Wälzer zurück.
»Weihnachtsdämonen«, sagte sie. »Schau es dir mal an. Du zeichnest doch gerne Fantasyfiguren.«
»Meinst du Knecht Ruprecht?« Interessiert zog Jana das Buch zu sich hinüber.
»Den auch.« Oma nickte. »In dem Buch findest du bestimmt Inspirationen.
Sollen wir deinen Engel mit in die Weihnachtskrippe stellen?«, wechselte sie das Thema. »Ich habe den Stall heute Morgen aufgestellt.« Oma sah sie fragend an.
»Ich weiß nicht!« Jana war unentschlossen.
Oma gab ihr den Engel zurück. Er fühlte sich so schön warm an, eigentlich wollte Jana ihn nicht aus der Hand legen. »Ob er sehr alt ist?«
»Wenn er lange im Wasser gelegen hat, kann man das schwer einschätzen«, sagte Oma.
»Vielleicht ist er ja so alt wie deine Weihnachtskrippe!«
»Oh, die ist wirklich sehr alt.« Oma nickte.
»Wie alt?«, bohrte Jana. Sie wusste nur, dass die Krippe ein Familienerbstück war.
»Das kann ich dir nicht sagen.« Oma überlegte. »Also meine Mutter hat sie als Kind schon aufgestellt und ebenso meine Großmutter. Ob die Krippe noch älter ist? Ich weiß es nicht.«
»Und war es schon immer so, dass ihr jeden Tag eine Figur aufgestellt habt und zu Weihnachten war die Krippe dann komplett?«
Oma nickte. »Das war schon immer so.« Sie zeigte auf den Engel. »Wenn du ihn behalten willst, dann frag Onkel Florian mal, wie du das Holz trocken bekommst.«
»Aber er fühlt sich gar nicht feucht an!« Jana strich über einen der Flügel.
»Kind, der ist triefend nass. Das ganze Holz hat sich vollgesogen.«
»Quatsch!« Jana stand auf. »Ich muss noch an meinem Referat arbeiten.« Das Ganze war irgendwie seltsam. Wieso meinte Oma, der Engel sei nass, wo er sich doch warm und trocken anfühlte? Jana schnappte sich das Buch, stieg die Treppe hoch und warf sich auf Mamas Bett. Sie hatte nicht vor, jetzt an ihrem Referat zu arbeiten. Doch nicht an einem Samstag! Ihre Lehrer hatten ganz schön viele Hausaufgaben aufgegeben, damit sie in den langen Ferien genug zu tun hatten. Aber sie hatte ja Zeit in Hülle und Fülle.
Jana legte sich auf den Rücken und betrachtete die Figur genauer. Gerne wäre sie jetzt zu Finja und Maja rübergelaufen und hätte ihnen diesen seltsamen Engel gezeigt. Seit sie denken konnte, hatten die Zwillinge neben Oma gewohnt. Gemeinsam hatten sie immer einen riesen Spaß gehabt. Wilde Schneeballschlachten, Schlitten, Skifahren und Plätzchen backen. Doch die Familie war dieses Frühjahr weggezogen, weil Finjas und Majas Papa einen neuen Job angenommen hatte. Es tat schon ein bisschen weh, niemand hatte ihr das mitgeteilt, nicht mal eine Adresse hatte sie bekommen. Oma hatte es ihr vorhin erst gesagt, als sie Jana vom Bahnhof abgeholt hatte. Sie seufzte, stellte den Engel zur Seite und kuschelte sich mit Omas Buch unter die warme Bettdecke. Krampus, Knecht Ruprecht, Perchten, Pudlmutta. An der Lutzelfrau blieb Jana hängen. Eine verzerrte Fratze starrte sie an. Zerzauste Haare und furchtbare Krallen.
Die Lutzelfrau war ursprünglich die heilige Lucia, las Jana. Ihr Tag ist der 13. Dezember und in Skandinavien wird dieser Tag auch als Lucientag gefeiert. In verschiedenen Gegenden Europas verwandelte sich die heilige Lucia im Laufe der Jahrhunderte in eine Dämonin. Die Lutzelfrau. Sie wandert in der Zeit vor Weihnachten umher, ist vermummt und hat furchtbare Krallen, mit denen sie Kindern die Bäuche aufschlitzt.
Gruselig. Jana schüttelte sich. Nein, da war ihr der Weihnachtsmann lieber.
Obwohl es noch nicht spät am Abend war, merkte sie, wie die Müdigkeit in sie hineinkroch. Die lange Fahrt, der kalte Bach und jetzt Omas heißer Kakao im Bauch. Keine zwei Minuten, nachdem sie das Licht ausgemacht hatte, war sie eingeschlafen.
Sonntag, der 2.12.
Erschrocken fuhr Jana hoch. »Die Lutzelfrau!«
Ihre Stirn war schweißnass und es war stockdunkel. Panisch tastete sie nach dem Schalter der kleinen Nachttischlampe. Unter ihren Fingern spürte sie den Kippschalter.
Klick!
Doch es blieb dunkel.
»Hallo?«, flüsterte Jana. Sie spürte, wie ihre Stimme zitterte und kam sich im selben Moment albern vor. Sie hatte von grässlichen Fratzen und Klauen, die nach ihr griffen, geträumt. Ein Albtraum. Sie drückte wieder den Schalter der Lampe, doch das blöde Ding funktionierte nicht.
Da! Bewegte sich neben ihrem Bett nicht etwas? »Oma?« Zitternd streckte Jana die Hand aus. »Hallo?«
Ein bläuliches Licht erhellte plötzlich das Zimmer gerade so weit, dass Jana die Umrisse der Möbel und Gegenstände erkennen konnte, aber es war keine Lichtquelle auszumachen. Niemand war hier.
Das ist doch verrückt, dachte sie. Ich muss das träumen. Ich bin gar nicht wach! Zum Beweis kniff sie sich fest in den Arm. »Aua!« Also war es doch kein Traum!?
Sie sah auf den Nachttisch, wo sie gestern den Engel hingestellt hatte. Er war verschwunden. Stattdessen stand dort ein Tablett mit Broten und ein Becher Tee.
»Oma! Wenn das ein Streich sein soll, ist das nicht witzig!«, sagte Jana, obwohl sie nicht glaubte, dass ihre Oma so etwas machen würde. »Ich stehe jetzt auf und mache das Licht an!«, sagte sie laut, um sich selber Mut zu machen.
Da sah sie das Mädchen vom Bach. Das Kind stand direkt vor dem Lichtschalter.
Jana erschrak fürchterlich.
»Wer bist du?«, flüsterte sie.
Auch das Mädchen erschrak und fuhr herum. Ihr Zopf, der durch eine Schleife mit einer dicken Holzperle zusammengehalten wurde, wirbelte durch die Luft. Dann verharrte sie einen Moment und sah Jana an.
Jana fühlte sich unbehaglich. »Was willst du von mir?« Das Mädchen bewegte den Mund, aber Jana hörte nichts. Das Kind streckte ihr die Hände entgegen und Jana meinte die Worte »Bitte!« von den Lippen lesen zu können, und »Hilf mir!«
»Ich soll dir helfen?«, fragte Jana »Bei was?«
Erschrocken fuhr das Mädchen erneut herum. Die ganze Szene wiederholte sich. Und dann noch mal und noch mal, wie in einem Stummfilm, der immer und immer wieder dieselbe Szene abspielte.
Immer wieder meinte Jana die Wörter »Bitte!« und »Hilf mir!« erkennen zu können. War das Einbildung? Sie spürte, wie ihre Angst schwand. Das Mädchen war klein und wirkte schutzbedürftig.
Jana setzte sich auf. »Wobei soll ich dir helfen?« Vorsichtig schlüpfte sie aus dem Bett, doch die Reaktionen des Kindes blieben gleich, Jana machte zwei Schritte auf das Mädchen zu und streckte ihr die Hand entgegen.
Doch bevor sie das Kind berühren konnte, war das blaue Licht verschwunden und mit ihm das Mädchen. Jana musste an Omas Gruselgeschichte denken. War das eines der Niemandskinder?
Sie tapste zum Lichtschalter und das Deckenlicht ging an. In ihrem Zimmer war niemand. Sie drückte den Schalter der Nachttischlampe, auch die ging jetzt ganz normal an. Komisch. Wo aber war der Engel?
Sie setzte sich auf das Bett und starrte auf den Brotteller. Jetzt erst merkte sie, dass sie wirklich Hunger hatte.
»Aufstehen, du Schlafmütze! Frühstück!«
Jana blinzelte. Sie war tatsächlich wieder eingeschlafen. Im Türrahmen stand Oma und strahlte sie an. »Einen wunderschönen ersten Advent!«
»Komme gleich!« Jana gähnte und kroch aus dem Bett.
Oma nahm das Tablett vom Nachttisch. »Habe ich mir doch gedacht, dass du heute Nacht noch Hunger bekommen würdest.« Sie lächelte Jana an. »Duschen kannst du nachher, komm erst mal runter«, sagte sie und ging wieder nach unten.
Jana begnügte sich mit einem schnellen Blick in den Spiegel, warf sich Mamas Bademantel über, öffnete noch schnell das zweite Türchen an ihrem Adventskalender und sprang, den Schokostern im Mund, die Treppe hinunter. Ob sie Sophie von ihrer nächtlichen Begegnung erzählen sollte?
»Hast du den Engel mitgenommen, als du mir das Abendessen auf den Tisch gestellt hast?«, fragte sie Oma, kaum dass sie die Küche betreten hatte.
»Herzchen, hast du den gestern nicht selbst neben die Krippe gestellt? Ich hab nur das Tablett auf deinem Nachttisch abgestellt.« Oma machte mit dem Kopf eine Bewegung Richtung Weihnachtskrippe, während sie Eier in eine Pfanne schlug.
Tatsache, dort stand er, als einzige Figur neben der Krippe.
Hab ich nicht, wollte Jana gerade sagen, biss sich aber noch rechtzeitig auf die Zunge. Wenn Oma den Engel nicht dorthingestellt hatte, wer denn dann? Sie nahm die Figur und setzte sich an den gedeckten Frühstückstisch.
In dem Moment ging die Tür auf. »Frische Brötchen!« Onkel Florian stapfte mit eingezogenem Kopf und schlammbespritzten Stiefeln herein.
»Onkel Lulatsch!«, rief Jana und musste grinsen. Die Zimmerdecken in dem alten Bauernhaus waren sehr niedrig und weil Onkel Florian hier aufgewachsen war, zog er automatisch den Kopf ein.
»Schuhe aus!«, kommandierte Oma.
Gleich hinter ihrem Onkel trat seine Frau ein, die sich sofort die Stiefel auszog.
Mit Tante Dora war Jana noch nicht so richtig warm geworden. Ihr Onkel hatte sie letztes Jahr geheiratet. Die beiden bewirtschafteten jetzt Omas Hof. Voll ökologisch.
»Na, du Urlauberin!« Onkel Florian warf die Brötchentüte auf den Tisch, zog sich ebenfalls die Stiefel aus und wrang sich das Regenwasser aus seinem Pferdeschwanz. Zwischen seinem dichten Vollbart zeichnete sich ein fröhliches Grinsen ab. »Groß bist du geworden. Lass dich mal drücken.«
Jana stand auf.
»Wie alt bist du jetzt? Dreizehn?«
»Vierzehn«, sagte Jana dumpf in den Norwegerpullover ihres Onkels hinein. »Kannst Du mich bitte loslassen? Dein Pulli kratzt.«
Lachend ließ er sie los und schob sich auf die Küchenbank.
»Hallo Jana!« Tante Dora drückte sie etwas steif und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Ich hoffe, du hattest eine gute Reise?«
»Äh, ja danke!« Jana setzte sich neben ihren Onkel und kam sich dabei wie immer ziemlich klein vor.
»Was ist denn das Hübsches?« Onkel Florian war auf den Engel aufmerksam geworden.
»Habe ich gestern am Bach gefunden.« Sie gab ihm die Figur.
»Na so was!« Onkel Florian nahm den Engel unter die Lupe. »Der scheint mir schon was älter zu sein!«, sagte er schließlich. »Leider in einem schrecklichen Zustand. Soll ich dir helfen, ihn wieder in Schuss zu bekommen?«
»Das wäre prima!« Jana fand eigentlich nicht, dass man an dem Engel irgendetwas reparieren müsste, aber sie wollte keine Diskussion anfangen.
»Florian, du denkst aber schon daran, dass du mir noch die zwei Spinnräder für mein Seminar in Ordnung bringen musst?« Tante Dora zog die Augenbrauen hoch.
»Bin doch schon dabei!« Onkel Florian zog seine Frau liebevoll an ihrem Pferdeschwanz. »Und wenn du wüsstest, was ich in meiner Werkstatt sonst noch so zaubere!« Er drehte sich Jana zu. »Ach, war da nicht noch was, bei dem ich dir helfen sollte?«
»Nicht hier!«, zischte Jana. Sie hatte ihren Onkel letzte Woche gefragt, ob er ihr helfen würde, Bilderrahmen für ihre Bilder zu bauen. Sie hatte von jedem Familienmitglied ein Porträt gezeichnet. Das sollten ihre Weihnachtsgeschenke in diesem Jahr werden.
Onkel Florian nickte ihr grinsend zu.
»Wie wäre es, wenn du die erste Krippenfigur aufstellst?«, fragte Oma und stellte Jana die Figur eines Mannes mit einem Schlüssel in der Hand neben den Teller.
»Ist das Josef?« Jana nahm die Figur und betrachtete sie genau. »Sieht dem Engel ein wenig ähnlich, findet ihr nicht?«
»Das ist nicht Josef«, sagte Oma. »Das ist der Herbergswirt!« Sie stellte die Pfanne mit Rührei auf den Tisch und legte die Brötchen in einen Korb.
»Sie sehen sich trotzdem ähnlich!« Als Jana sich die Unterseite der Figuren ansah, stutzte sie. »Kein Wunder!«, sagte sie. »Die sind von derselben Person geschnitzt worden. Da stehen die gleichen Buchstaben drunter.«
»Im Ernst?« Oma sah sie überrascht an. »Zeig mal!«
Jana gab ihr die Figuren. »Du weißt wirklich nicht, wer sie geschnitzt hat?« Sie griff nach einem Brötchen.
»Wirklich nicht!« Oma reichte die Figuren an ihren Sohn weiter. »Die Weihnachtskrippe ist schon viel zu lange in der Familie.«
Gedankenverloren schmierte Jana ihr Bötchen und sah aus dem Küchenfenster, das Omas Weihnachtsoffensive schon hinter sich hatte. Hinter den bunten Papiersternen zeigte sich ein Himmel, der genauso trübe und wolkenverhangen war, wie gestern auch schon.
Ihr ging das Geistermädchen nicht aus dem Kopf. Wobei sollte sie ihr helfen? Und hatte sie etwas mit diesem Engel zu tun? Erschien ihr dieser Geist, weil sie den Engel gefunden hatte?
Vielleicht sollte sie sich die Stelle im Wald noch mal genauer anschauen.
»Geh doch mal ins Stadtarchiv«, riss Tante Dora sie aus ihren Gedanken.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Onkel Florian, während er die abgebrochene Flügelspitze des Engels untersuchte.
»Das solltest du gleich morgen machen«, sagte Oma. »Dort kannst du dann auch an deinem Referat arbeiten.«
Jana rümpfte die Nase, als sie das Wort Referat hörte. »Mal sehen.«
»Wie wäre es, wenn wir uns nachher den Weihnachtsmarkt in Altfürstenburg ansehen?« Oma strahlte Jana an.
Darauf hatte Jana überhaupt keinen Bock. Aber als sie in die Runde sah, war klar, dass die Sache beschlossen war und so rang sie sich ein Lächeln ab. Den Wald konnte sie für heute wohl vergessen.
Gelangweilt saß sie kurze Zeit später auf dem Rücksitz von Tante Doras klapprigem VW und sah aus dem Fenster. Neben ihr saß Oma. Auf den Beifahrersitz hatte sich Onkel Florian mit eingezogenem Kopf gequetscht und Tante Dora saß am Steuer. Sie hatte Probleme, den Wagen zu starten.
Plötzlich nahm Jana eine Bewegung hinter dem Küchenfenster wahr. Das war doch das Gesicht eines Mädchens mit blonden Zöpfen.
Das Geistermädchen!
»Halt!«, rief sie, doch in dem Moment sprang der Wagen an und Tante Dora brauste los.
Montag, der 3.12.
Diese Nacht war Jana das Mädchen wieder erschienen. Als Folge davon hatte sie zu wenig geschlafen und bei den Hausaufgaben waren ihr heute Vormittag fast die Augen zugefallen. Aber jetzt war sie sich ganz sicher: Das Kind brauchte ihre Hilfe. Jana hatte das Gefühl gehabt, auf seinem Gesicht einen leisen Vorwurf lesen zu können. Warum warst du gestern nicht im Wald? Tja, warum nicht? Weil sie mit Oma, Onkel Florian und Tante Dora über den öden Weihnachtsmarkt von Altfürstenburg gelatscht war.
Dafür aber jetzt. Vor der Hoftür sah Jana sich noch einmal um. Niemand da, der sehen konnte, dass sie sich keineswegs Richtung Innenstadt auf den Weg machte. Erleichtert pustete sie sich die blaue Ponysträhne aus den Augen. Vielleicht würde sie ja später doch noch ins Stadtarchiv gehen und ein wenig an ihrem Referat arbeiten. Dann musste sie Oma nicht total anschwindeln. Außerdem gab es dort vermutlich WLAN.
Omas WLAN hatte irgendeine Macke, jedenfalls schneckte es nur. Wenn sie einen ordentlichen Internetzugang haben wollte, musste sie rüber zu ihrem Onkel und da guckte ihr dann ständig Tante Dora über die Schulter. Nein danke! Im Archiv konnte sie bestimmt ausgiebig mit Sophie chatten. Die Musikersuche zog sich viel länger dahin, als sie gedacht hatten. So richtig zum Proben waren sie irgendwie noch nicht gekommen. Bisher waren sie auch nur zu dritt. Sophie spielte Gitarre und sang sehr schön, traute sich aber leider nicht so richtig. Eva saß am Schlagzeug und sie selbst spielte Keyboard. Vielleicht sollte ich einfach lernen E-Gitarre zu spielen, schoss es Jana durch den Kopf. Alberne Idee, das würde Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, bis sie gut genug wäre. Aber cool wäre es schon, Stücke von Metallica spielen zu können. Während sie die Straße hinaufging, summte sie »Nothing else matters« vor sich hin.
Die Straße ging am Waldrand in einen Forstweg über. Kaum war sie außer Sichtweite, zog sie den Engel aus dem Rucksack. Der Ochse, den sie heute Morgen in die Krippe gestellt hatte, trug dieselben Initialen wie der Engel und der Herbergswirt.
Jana machte sich auf den Weg in Richtung Kapellenhügel. Komischer Name. Weit und breit gab es keine Kapelle, nur das Pilgerkreuz, an dem Caspar ihr ausgebüxt war.
Es war ein ruhiger Tag. Niemand kam ihr entgegen, was ihr ganz recht war. Am Kreuz angekommen, bemerkte sie ein Warnschild: Vorsicht, Erdrutsch! Rechts davon ging ein kleiner Weg ab, der mit einem einfachen rot-weißen Plastikband gesperrt war. Das war ihr vorgestern glatt entgangen.
Was nun? Würde das Geistermädchen einfach so auftauchen, wie gestern Morgen am Küchenfenster oder musste sie irgendwas machen? Ein bisschen mulmig war ihr bei dem Gedanken schon, aber andererseits spürte sie auch kribbelnde Neugierde.
Sie blickte den Hang hinunter. Dort unten war der Bach. Man konnte noch deutlich sehen, wo sie sich vorgestern wieder nach oben gekämpft hatte. Aufmerksam beobachtete sie eine ganze Weile das rauschende Wasser und die Bäume dahinter. Nichts – kein Geistermädchen. Wie war der Engel überhaupt in den Bach gekommen? Hatte ihn jemand hineingeworfen oder verloren? Und wie lange hatte er da schon in den Zweigen der Uferböschung gesteckt? Vielleicht war er ja auch durch den Erdrutsch in den Bach gespült worden.
Jana folgte dem Bachlauf aufwärts. Nach kurzer Zeit kam sie an eine Brücke und der Bach stürzte dahinter als Wasserfall in die Tiefe.
Jana fröstelte. Auf der Brücke war es viel kälter. Die Holzbohlen waren glitschig und sie musste aufpassen, dass sie nicht ausrutschte.
Sie zog sich ihre Mütze tiefer über die Ohren und schlug den Jackenkragen hoch. Die Feuchtigkeit kroch überall hinein.
So oft sie sich auch umsah, das Geistermädchen oder irgendetwas anderes Auffälliges sah sie nicht. Vielleicht hätte sie doch zuerst ins Archiv gehen sollen. Ein Tropfen rann ihr in den Kragen.
Igitt! Ja, sie würde jetzt ins Archiv gehen, dort war es bestimmt auch warm und trocken. Kaum, dass sie ein paar Meter gegangen war, hatte sie das Gefühl, jemand würde dicht hinter ihr herlaufen. Jana drehte sich um. Da war niemand. Doch nach ein paar Metern spürte sie einen warmen Atem, den ihr jemand in den Nacken hauchte. Jana blieb stehen und drehte sich erneut um. Angestrengt sah sie in den Wald. War da gerade etwas gewesen? Oder doch nicht? Hatte sich da hinten nicht etwas bewegt?
Sie verließ den Weg und zwängte sich neben dem Bach bergauf durch dichtes Unterholz. Vielleicht war es irgendein Tier. Ein Wildschwein? Die konnten gefährlich werden.
Da sah sie das Mädchen. Sie stand unter einer Tanne und winkte, drehte sich um und ging los.
War das eine Aufforderung? Sollte sie dem Geistermädchen folgen?
»Warte!«, rief Jana, doch das Kind reagierte nicht, sondern ging zügig weiter, sodass Jana Mühe hatte, ihm bergauf zu folgen. Immer weiter führte das Mädchen sie vom Weg ab. Bald wusste Jana nicht mehr, wo sie war.
Hin und wieder blieb das Kind stehen, drehte sich aber nicht um. Es schien aber so, als würde es auf Jana warten.
Während das Geistermädchen einfach so durch das dornige Unterholz hindurchglitt, hatte Jana große Mühe damit und wünschte sich eine Machete oder etwas Ähnliches. Wenigstens ging es nach einer Weile nicht weiter bergauf.
Mit einem Mal tauchte vor ihr ein großer, toter Baum auf. Das Geistermädchen steuerte zielstrebig auf ihn zu. Vor dem Baum blieb das Kind stehen und bückte sich, wodurch es aus Janas Blickfeld verschwand.
Jana kämpfte sich durch die letzten Dornenranken, dann stand sie vor dem grauen, toten Holz. Von dem Mädchen war weit und breit nichts mehr zu sehen.
»Hallo!«, rief Jana. »Wo steckst du?«
Nichts rührte sich. Was wollte dieses Kind von ihr? Vielleicht in eine Falle locken? Jana lief ein Schaudern über den Rücken. Sollte sie sich im Wald verirren? Und dann?
Ratlos betrachtete sie den Baum. Er musste einmal riesig gewesen sein. Der Stamm wirkte, als seien mehrere Bäume ineinander verwachsen. Von der Krone waren nur noch die stärksten Äste übrig geblieben, welche wie verkrüppelte Arme in den trüben Dezemberhimmel ragten. Am auffallendsten war allerdings, dass der Baum innen hohl zu sein schien. Jana sah auf eine schmale Öffnung im Stamm, die ihr bis zur Hüfte reichte.
Sie bückte sich. Nur wenig Licht drang ins Innere und so schaltete sie die Taschenlampenfunktion an ihrem Smartphone ein. Im Gegensatz zu der Öffnung, war das Innere des Baums recht geräumig. Auch auf der anderen Seite befand sich eine schmale Öffnung. Auf dem Boden lagen Zweige und kleine Knochen.
Ob sie dort hineingehen sollte? War es das, was das Geistermädchen von ihr wollte? Jana legte die Hand auf den Stamm, doch sie spürte nichts als die raue Borke.
Unentschlossen richtete sie sich wieder auf und ging langsam um den Baum herum. Sie sah den Stamm empor. Nur ein Stückchen über ihrem Kopf, da war doch etwas Ungewöhnliches. Jana stellte sich auf die Zehenspitzen. Es war eine Schnitzerei. Bei genauerem Hinsehen konnte sie vier verwitterte Gesichter ausmachen.
Erneut sah sie sich nach dem Kind um, spähte intensiv in das Unterholz, doch das Mädchen blieb verschwunden. Was sollte sie hier?
»Verdammt, werde doch mal was deutlicher!«, schimpfte Jana. »Was willst du von mir?«
Sie blickte auf die schmale Öffnung im Stamm. Sollte sie wirklich da reingehen? Jana trug Omas knalligblaue Winterjacke. Die musste nicht unbedingt schmutzig werden. Dann wäre sie allerdings nicht mehr so knalligblau. Sie musste kichern. Das war absolut nicht ihre Farbe, aber ihre schöne schwarze Winterjacke musste nach der Aktion am Bach erst mal in die Reinigung. Ach, was soll’s. Sie gab sich einen Ruck und quetschte sich mit gebeugtem Rücken in die Höhle hinein.
Innen war es so geräumig, dass sie aufrecht stehen konnte. Durch beide Öffnungen drang kaum Tageslicht. Jana sah nach oben. Absolute Finsternis. Sie leuchtete mit ihrem Smartphone hoch. Dort steckten Äste, Zweige und Laub fest.
Sie tastete das Höhleninnere ab, entdeckte jedoch nichts Auffälliges.
Mit einem Mal rutschte eine kleine Schneelawine durch die andere Öffnung.
Schnee?
Dafür war es doch viel zu warm und dann gleich so viel. In dem Moment rutschte ihr eine ganze Ladung Schnee entgegen. Jana erschrak. Nein, das war doch nicht möglich. Sie war doch noch keine Minute hier drinnen.
Sie bückte sich und steckte vorsichtig den Kopf durch die Öffnung. Eine tief stehende Sonne, die auf eine geschlossene Schneedecke fiel, blendete Jana. Über ihr war eine mächtige Baumkrone und darüber ein strahlendblauer Himmel. Das konnte doch gar nicht sein!
Ungläubig quetschte sie sich aus der Öffnung hinaus. Äste und Zweige bogen sich unter einer dicken Schneelast. Sie stand bis über die Knöchel im weichen Pulverschnee. Staunend sah sie sich um und bemerkte verwundert, dass sie die Kälte nicht spürte. Sie spürte – gar nichts, nicht mal den Schnee unter ihren Stiefeln. Jana bückte sich, wollte nach dem Schnee greifen, einen Schneeball formen. Doch sie glitt mit der Hand durch den Schnee, ohne ihn zu berühren.
Sie erschrak. »Wo bin ich?«, flüsterte sie. »Was bin ich? Ein Geist?« Hastig tastete sie sich ab. Ihre Jacke, die Hose, schließlich zog sie sich kräftig an den Haaren. »Autsch!« Sie konnte sich spüren. Warum aber spürte sie den Schnee und die Kälte nicht?
Sie stand wieder auf und strich mit der Hand über die Borke des Stamms. Auch das konnte sie spüren. Nachdenklich betrachtete sie den Baum. Er trug keine Blätter jetzt im Winter, logisch. Aber tot war er nicht. Außerdem kam er Jana viel schmaler vor. Sie untersuchte den Stamm und entdeckte die Schnitzerei. Sie sah viel frischer aus und sie konnte die Gesichter deutlich erkennen. Es waren ein Mann, eine Frau, ein Junge und ein Mädchen mit Zöpfen. War es das Geistermädchen?
Jana machte ein paar zögerliche Schritte von dem Baum weg. Es sah alles so anders aus. Der Baum, durch den sie gekommen war, stand auf einer kleinen Lichtung, eingefasst von einem dichten Tannenwald. Die Schneedecke war bis auf ein paar Tierspuren unberührt. Was war das hier für ein Wald? Überhaupt, was hatte es mit diesem komischen Baum auf sich? Sie lauschte, ob sie irgendetwas hören konnte, Menschen? Fahrzeuge? Doch nichts. Es war still, nicht mal Tiere hörte oder sah sie. Der Schnee schluckte jedes Geräusch.
Hier ist niemand, du brauchst keine Angst zu haben, ermutigte sie sich selbst und folgte einer Spur. Zu welchem Tier gehörte sie? Vielleicht einem Reh?
Nach ein paar Metern kreuzte eine andere Spur ihren Weg. Groß und unförmig. Welches Tier war hier entlanggelaufen? War die Spur überhaupt von einem Tier? Jana folgte den Abdrücken im Schnee mit den Augen. Die Abstände zwischen den einzelnen Fußabdrücken waren regelmäßig, einmal links, einmal rechts, immer abwechselnd. Das Wesen ging auf zwei Beinen. Jana lief ein kalter Schauder den Rücken hinunter. Die Spur war weder von einem Menschen noch von einem Tier. Was hauste hier im Wald?
Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung am Waldrand. Kurz darauf hörte sie ein Geräusch. Jana zucke zusammen. War es ein Schnaufen? Oder eher ein Grunzen?
Panisch kroch sie hastig zurück in die Baumhöhle. Einen Moment blieb sie im Inneren hocken und wartete darauf, dass ihr Herz aufhörte, so wild zu pochen.
Sie sah zu der Öffnung, durch die sie gekommen war. Was, wenn sie jetzt dort hindurchkroch und auch wieder in dem fremden Winterwald rauskommen würde? Wie würde sie wieder heim zu Oma finden?
So schnell sie konnte, kroch Jana durch die Öffnung zurück, durch die sie gekommen war. Über ihr war ein bleigrauer Himmel und Regentropfen fielen auf ihr Gesicht.
Erleichterung machte sich in ihr breit. Kaum zu glauben, dass sie sich über dieses Mistwetter freuen konnte. Sie richtete sich auf und betrachtete den Baum. O. k., das war also ein geheimer Durchgang, den das Geistermädchen ihr gezeigt hatte. Ein Tor, das in einen Winterwald führte. Spooky! Aber warum? Warum sollte Jana dort hindurchgehen?
Da hörte sie im Wald ein Rascheln. Etwas scharrte über den Boden. Was war das? Ein Wesen mit großen unförmigen Füßen? Bloß weg hier. Ohne sich noch einmal nach dem Baum umzusehen, rannte Jana heim.
Dienstag, der 4.12.
Gedankenverloren starrte Jana auf die Krippe. Wie von selbst skizzierten ihre Finger den Esel, den Oma gerade aufgestellt hatte, an den Rand ihres Heftes, gleich neben ein paar Drachen und Elfen. Auf das blöde Referat konnte sie sich einfach nicht konzentrieren. Sie seufzte. »Schluss für heute, mir reicht‘s.« Entschlossen packte sie ihre Schulsachen weg. Oma hatte darauf bestanden, dass sie bis mittags an ihren Hausaufgaben arbeitete. Zu allem Überfluss kam dann auch noch ein Anruf von Frau Berger, ihrer Klassenlehrerin, die wissen wollte, ob Jana klarkam. Wieso musste ausgerechnet sie so eine engagierte Lehrerin haben?
Jedenfalls war es nun schon früher Nachmittag und viel Zeit würde Jana nicht mehr bleiben, bis es dunkel wurde. Aber vorher wollte sie unbedingt noch mit Sophie chatten.
»Sollen wir was Schönes zusammen unternehmen?«, fragte Oma, die gerade mit einer Vase hereinkam, in der ein blattloser Zweig stand. »Wir könnten backen oder sollen wir Sterne basteln? Die Fenster oben vertragen noch ein wenig Weihnachtsdeko.«
»Vielleicht heute Abend«, sagte Jana.
»Hast du noch was vor?« Oma stellte die Vase auf den Tisch und sah sie neugierig an.
»Was ist denn das für ein hässlicher, nackter Ast?«, fragte Jana.
»Ein Barbarazweig.« Oma zupfte ein wenig an den Zweigen. »Heute ist Barbaratag und wenn dieser Zweig zu Weihnachten blüht, dann bedeutet das Glück im nächsten Jahr. Das ist ein alter Weihnachtsbrauch.« Sie lachte. »Du lenkst ab. Aber schon in Ordnung, vor Weihnachten hat doch jeder so seine Geheimnisse.«
Jana grinste verlegen. Das mit dem Baumtor war einfach zu krass, das würde Oma ihr eh nicht glauben. »Ich würde gerne noch was rausgehen, bevor es dunkel wird. Mir qualmt der Schädel von den ganzen Hausaufgaben«, sagte sie stattdessen.
Keine fünfzehn Minuten später verließ sie den Hof. Auf der angrenzenden Weide hatten Onkel Florian und Tante Dora ein Haus gebaut. Ein Energiespar- und Passivhaus. Voll öko und ein total hässlicher Kasten. Es passte überhaupt nicht neben Omas gemütliches altes Bauernhaus. Aber wenigstens hatte ihr Onkel vernünftiges Internet. Und wenn sie schon mal da war, dann konnte sie eigentlich auch gleich mal nach dem Kapellenhügel und dem seltsamen Baum googlen.
Der Haustürschlüssel steckte im Schloss, trotzdem klingelte Jana. Nichts rührte sich. Vermutlich waren die beiden in den Ställen oder sonst wo. Jana betrat das Haus und fühlte sich unwohl. Hier war zu viel von Tante Dora. Ordentlich, aufgeräumt und alles aus Naturmaterialien. Die Möbel waren schlicht und es lag absolut kein Zeugs rum – genauso wie in Mamas Schöner-Wohnen-Zeitschriften.
Was hatte Tante Dora mit Onkel Florian gemacht? Jana musste an seine ehemalige Junggesellenbude unter Omas Dach denken. Da gab es keine Ecke, in der sich nicht irgendwas gestapelt hatte. Aber es war gemütlich und Jana war gerne bei ihm gewesen.
Sie ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf das mausgraue Sofa fallen. Gerade als sie Baumhöhle in die Suchmaske eingab, ploppte eine Nachricht von Sophie auf: »Lebst du noch?«
»Offensichtlich ja«, schrieb Jana zurück. »Seid ihr eigentlich mit dem Bandnamen weitergekommen?« Es dauerte eine Weile, bis Sophie sich meldete.
»Wir haben gestern ein Brainstorming gemacht. Ich finde Galactic Birds total bombe, Eva findet Ice String Baby besser. Was hältst du von den Namen?«
»Galactic Birds klingt cool«, antwortete Jana.
»Gleich wieder da«, schrieb Sophie. »Mom ruft.«
Jana seufzte und googelte stattdessen los. Baumhöhlen. Schnell stieß sie auf eine Seite über alte Linden und betrachtete sich die wuchtigen dicken Bäume, einige mit beachtlich großen Höhlen.
»Du kannst auch gerne an den Computer«, schreckte Tante Dora Jana plötzlich auf. »Recherchierst du für dein Referat?« Sie blieb hinter Jana stehen und sah auf ihr Smartphone.
»Auch«, murmelte Jana und entzog das Display Tante Doras Blick.
»Tee?«, fragte ihre Tante und ging in die Küche, die Teil des riesigen Wohnzimmers war.
»Ja, danke!« Jana wollte nicht unhöflich erscheinen, auch wenn sie keinen Bock hatte, sich mit ihrer Tante zu unterhalten.
»Um was geht es in deinem Referat?«, fragte Tante Dora neugierig.
»Wie beeinflusst das Smartphone unser Leben!«, antwortete Jana und googelte nach dem Kapellenhügel, nur um festzustellen, dass es davon mehrere gab.
»Na, das ist doch ein wirklich gutes Thema!« Tante Dora schaltete den Wasserkocher ein. »Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, woher die Rohstoffe für dein Smartphone kommen und wer sie abbaut?«
»Äh nein!« Jana fühlte sich unwohl. Sie hatte von Tante Dora schon einige Moralreden mitbekommen. Wenn die einmal anfing zu dozieren, hörte sie so schnell nicht mehr auf.