Das ultimative Spiel - Christine Doyle - E-Book

Das ultimative Spiel E-Book

Christine Doyle

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Beschreibung

Im Juni 2095 wird in einem heruntergekommenen Hotel der Bürgermeister von New York tot aufgefunden. Die Leiche ist mit einem Zinken gekennzeichnet. Eine Markierung, die man sonst bei Avataren im 'ultimativen Spiel' – dem momentan erfolgreichsten Onlinespiel - vorfindet. Die Polizeichefin Mary Clark Johnson findet schnell die vermeintliche Mörderin. Maya Sommers, Tochter des Solarzellentycoons Ronan Sommers. Es nützt ihr aber nichts, da sie der jungen Frau den Mord nicht nachweisen kann. Um schneller voranzukommen, schaltet sie die im Rollstuhl sitzende Detektivin Tini Tucker ein. Doch die will sich nicht mit dem Mord beschäftigen. Sie versucht die Sache auszusitzen und beschäftigt sich stattdessen mit gestohlenen Händen, geflohenen Robotern, verschwundenem Samen und anderem. Mary Clark Johnson lässt aber nicht locker, denn sie hat noch ein anderes Problem. Der ultimative Jäger des Spiels hat sie als neues bedeutendstes Opfer ausgewählt.

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Christine Doyle

Das ultimative Spiel

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Steven Hawking

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Impressum neobooks

Steven Hawking

"Ich bemühe mich ein normales Leben zu führen, nicht   zu viel über meinen Zustand nachzudenken und

nicht zu bedauern, dass ich manchmal Dinge

Prolog

Mitte Juni 2095

Sie betrachtete ihn eingehend. Warum auch nicht? Zeit hatte sie jedenfalls genug. Ihre Arbeit war getan. Er war ordentlich. Das mochte sie. Bei ihm fielen keine Krümel auf den Boden. Es war nicht wie bei den anderen. Am schlimmsten waren die kleinen, die halblangen Menschen, die sie Kinder nannten. Sie sprangen überall herum, ließen ständig etwas auf den Boden fallen. Eigentlich war sie schnell. Trotzdem passierte es oft genug, dass sie zu spät kam und alles bereits in den Öffnungen der Halbwüchsigen verschwunden war. Die hellbraunen Teile kamen auch nicht wieder heraus. Jedenfalls soweit sie es feststellen konnte.

Eigentlich war sie stolz auf sich. Schließlich verschwand in ihrem Bauch viel mehr, als in dem der kurzen Menschen. Krümel, Sand, Laub, Steinchen, selbst Stifte. Ihre Aufgabe war es, das einzusammeln, was den anderen herunterfiel. Das nahm sie ernst. Sie mochte ihren Job als Reinigungsroboter, auch wenn sie für die anderen nur ein unbedeutender Käfer war. Doch sie war mehr, sie war ein intelligenter Käfer. Das Einzige was sie vermied war Wasser. Grundsätzlich machte sie einen großen Bogen um Pfützen. Das hatte einen einfachen Grund. Sie konnte es nicht vertragen. Wasser machte ihre Innereien feucht. Warum sollte sie denn keinen Bogen machen? Schließlich gab es die großen Roboter, die ohnehin meinten, dass nur sie das Zimmer ordentlich reinigen konnten. Diese Aufschneider schubsten sie herum, gaben Befehle. Dabei sollte sie hier der Boss sein. Sie wohnte die ganze Zeit in diesem Zimmer, während die großen Roboter einmal am Tag kamen und schnell wieder verschwanden. Gut, dafür machten die das Bad sauber. Das würde sie ja auch gern können, doch dann hätte ihr der Konstrukteur Beine geben müssen. Mit den kleinen Rollen, die er ihr verpasst hatte, konnte sie sich gerade mal dicht über den Fußboden bewegen. Aber dafür flinker, als alle anderen.

Er stand seit einer halben Ewigkeit nackt vor dem Spiegel. Mindestens kam es ihm so vor. Endlich hatte er ausgiebig Zeit, sich zu betrachten. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass er alt geworden war. Dabei achtete er seit frühester Jugend darauf, dass sein Körper gut in Schuss blieb. Unwillkürlich zuckte er bei dem Gedanken zusammen. Falsch. Er war nicht alt, er war reif. Aber auch das Wort ärgerte ihn. Es erinnerte ihn an Obst. War er ein Apfel, der bald vom Baum fallen würde? Ein komisches Gefühl beschlich ihn. Das ist deine Intuition, auf die musst du hören, sagte seine esoterisch angehauchte Frau in solchen Momenten gern. Er schüttelte sich. Der Gedanke an Mrs. Zeleny erzeugte automatisch einen gewissen Widerwillen. Ja, er hatte sie aus reinen Karrieregründen geheiratet. Sie war die Tochter seines damaligen Parteivorsitzenden. Schnell hatte er bemerkt, dass er sie pflücken konnte. Und das tat er. Darin war er gut. Er nutzte seine Chancen gern. Kaum eine blieb ungenutzt am Wegesrand liegen.

Er rief sich zur Ordnung, indem er die holde Gattin aus seinen Gedanken verbannte. Sie hatte an diesem Ort nichts zu suchen. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Falten. Der Schönheitschirurg hatte ihm versprochen, dass sein viertes Lifting erfolgreich sein würde. Hoch und heilig. Umsonst. Die tiefen Falten um die Augen waren geblieben. Verlogen diese Brut. Gut, dass er sich fit hielt, gesund ernährte und seine Ausgeglichenheit durch seinen persönlichen Mentaltrainer bekam. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das Beste in seinem jetzigen Leben war, dass er sich diese ganz besondere Form von Entspannung gönnen konnte. Frauen. Sie taten ihm gut. Besonders eine. Ihre hohen Wangenknochen erinnerten an Nofretete. Jedes Mal, wenn sie vor ihm stand, war er aufs Neue fasziniert. Er mochte zwei Dinge an ihr. Sie war jung und sie war wild. Wenn er an sie dachte, stieg sogleich Sehnsucht in ihm auf.

Er hatte dieses abgelegene Hotel bewusst ausgesucht. Es besaß eine unschlagbare Kombination. Auf der einen Seite war es unscheinbar und heruntergekommen, auf der anderen Seite gab es an den Wänden Tapeten mit integrierten organischen Leuchtdioden. Damit konnte er die virtuelle Welt auf jede Wand des Zimmers holen. Die Wände wurden zu einem übergroßen Fernseher, der entweder ein Bild produzierte oder viele kleine, ganz wie er es wollte. Er entschied sich für die kleinere Variante. Einige Klicks genügten und er hatte ihr virtuelles Abbild aus dem Netz geholt. Sie war schön wie immer. Mit einem weiteren Klick vervielfältigte er sie auf sämtlichen Wänden. Kein einziger Fleck blieb frei. Verliebt betrachtete er die Bilder. In diesem Moment überkam ihn die Angst, dass sie ihn eines Tages verlassen könnte. Ein Gedanke, der bei ihm einen heftigen Schmerz erzeugte. Natürlich würde er Ersatz finden. Das hatte er in all den Jahren immer hinbekommen, selbst wenn es manchmal schwierig war. Schließlich mochte er es, sich mit den jungen Dingern zu umgeben. Jedenfalls so lange, bis er keine Lust mehr hatte.

Unvermittelt kam ihm die Frage in den Sinn, was ihn eigentlich umtrieb? Es war wohl das dominante Gefühl, das sich in seinem Inneren ausbreitete, wenn er mit ihnen zusammen war. Es durchzog seinen gesamten Körper von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen. Es befriedigte ihn zutiefst, dass er mit ihnen tun und lassen konnte, was er wollte. Keine einzige stellte sich ernsthaft gegen ihn. Die Frauen hatten seinen Anweisungen zu folgen und sie taten es. Nicht dass Reibereien ausgeschlossen waren. Sie kamen immer wieder vor. Meinungsverschiedenheiten löste er auf seine Art. Er schüchterte die jungen Dinger einfach ein, indem er ihnen drohte, ihre Zukunft zu zerstören. Keine leeren Floskeln. Seine Stärke bestand darin, Notweniges zu tun. Schließlich musste er sein Image schützen, denn er war gesellschaftlich hoch angesehen. Es gab glücklicherweise etliche hübsche Frauen, die einem engeren Verhältnis keineswegs abgeneigt waren. Trotzdem musste er zugeben, dass diese eine, deren Abbild jetzt gerade vielfach an den Wänden hing, ihn ganz besonderes berührte. Keine andere war wie sie.

Er blickte auf das Seil. Es war extra lang. Die obere größere Schlinge hatte er gut hinbekommen und die untere sah auch nicht schlecht aus. Sein Chauffeur kam ihm in den Sinn. Dessen Gesichtsausdruck war ihm im Gedächtnis geblieben, als er das Seil zum ersten Mal gesehen hatte. Wahrscheinlich saß er jetzt draußen im Auto und fragte sich einmal mehr, was genau sein Chef damit vorhatte. Es dauerte einige Wochen, bis er die Knoten halbwegs richtig hinbekam. Sie unterstützte ihn dabei. Dafür liebte er sie. Es gab nur noch wenige Frauen mit dieser fürsorglichen Art.

Ein Klopfen unterbrach seine Gedanken. Endlich. Hastig lief er zur Tür, dabei übersah den Sessel. Sein linker großer Zeh traf voll das Stuhlbein. Er jaulte auf wie ein Hund. Gleich danach verfluchte er sich selbst. Wie konnte er nur den Sessel übersehen? Er humpelte zur Tür. Ein Spalt genügte und die schmale Person, die davor wartete, schlüpfte hinein. Sofort zog er sie an sich heran. Fest umschlungen standen sie da. Oh, wie sie roch. Mit tiefen Zügen sog er ihren blumigen Duft tief in seine Lungen ein. Es war die Süße des Veilchens, die sich sogleich ausbreitete. In dem Moment wünschte er sich, er könnte ihn konservieren. Gegen seinen Willen befreite sie sich. Dabei ging sie sanft und gleichzeitig konsequent vor.

Sie redete nie viel, sondern ging direkt zur Sache. Zügig ließ sie ihre Tasche und nahezu alle Kleider fallen. Aufreizend stand sie in ihrem durchsichtigen Dessous vor ihm. Ihr Körper war wunderbar geformt. Sehr weiblich, sehr frisch. Sie roch wie eine Frühlingswiese. Vor seinem geistigen Auge vermehrten sich die lila Blüten der Viola Odorata rasant.

Die junge Frau bewegte sich geschmeidig wie eine Katze. Unter ihren geschickten Händen legte sich das Seil fast von allein um seinen Hals. Absichtlich langsam schob sie ihn zum begehbaren Kleiderschrank. Sie benutzten ihn in letzter Zeit gern. Die Höhe der Querstange war ideal für seine Körpergröße. Geschickt lief sie vor und zog ihn hinter sich her. Unterdessen betrachtete er ihren Rücken. Er war weiß wie Milch. Die einzelnen Wirbel der Wirbelsäule stachen grob hervor. Das erregte ihn. Als sie am Bett vorbeiging, griff sie nach dem kleinen Handtuch, das er für sie dort deponiert hatte. Kaum im begehbaren Kleiderschrank angekommen, warf sie das Seil über die Querstange. Aus unerklärlichem Grund packte ihn Angst. Er versuchte sie zu verscheuchen, was ihm aber nicht so richtig gelingen wollte.

Sein Problem war, dass die Strangulationsmerkmale hinterher auf gar keinen Fall erkennbar sein durften. Beim letzten Mal waren sie es und zwar deutlich. Da er bei diesen tropischen Temperaturen nicht mal ein Tuch tragen konnte, hatten es leider zu viele Menschen gesehen. Niemand hatte ihn darauf angesprochen, doch die Blicke waren eindeutig gewesen. Das mussten sie dieses Mal unbedingt verhindern. Leider ließen sich die kleinen Blutpunkte an Kopf und Brust nicht völlig vermeiden. Doch sie mussten alles dafür tun, dass sie kaum auffielen. Die Öffentlichkeit würde ihn in Stücke zerreißen, wenn das kleinste Gerücht in Umlauf käme. Die Hyänen saßen bereits in ihren Löchern und lauerten. Es gab genug Leute, die seine gesellschaftliche Vernichtung mit einem Freudenfest zelebrieren würden.

Seine größte Angst jedoch war nicht das Geschwätz, sondern ein Herzanfall. Wie peinlich, wenn er während des Orgasmus eintreten und ihn in so einer Situation erwischen würde. Natürlich ließ er sich regelmäßig checken, trotzdem konnte er diesen Gedanken nie völlig ausschließen. Angeblich war er, obwohl er die siebzig vor etlichen Jahren hinter sich gelassen hatte, in bestem Zustand. Das hatten die Ärzte auch bei seinem alten Kumpel Pete behauptet, trotzdem starb er. Hinterher hieß es lapidar, man sei sich in der Beurteilung einer verkalkten Ader unsicher gewesen.

Noch vor wenigen Wochen hätte er geschworen, sich niemals auf solche sexuellen Spielchen einzulassen. Schließlich war es diese besondere Art von Betätigung, die er selbst in der Öffentlichkeit als abartig verurteilte. Doch der Tod seines virtuellen Ichs in diesem Onlinespiel hatte sein Leben verändert.

Ursprünglich betrachtete er die Teilnahme an dem Spiel als freiwilligen Zwang. Er hasste es, denn für ihn war es nichts weiter als eine reine Zeitverschwendung.

Und dann kam sie. Ihr Avatar war eine Katze. Keine war anhänglicher. Ihr Schnurren machte ihn verrückt. Sie kam und ging, wie sie wollte. Er wusste nie, wie er sie erreichen konnte. Aber wenn sie da war, spielte sie mit ihm. Auf dieser Onlineparty kam sie mit einer virtuellen Kordel. Damit fesselte sie ihn. Überraschenderweise zog sich das Seil um seinen Hals zu. Seine Lebenspunkte verschwanden im Eiltempo. Bevor er es verstanden hatte, waren sie auf Null. Sein Avatar war gelöscht.

Es störte ihn nicht, denn die Schöne, die hinter der Katze steckte, kam in der realen Welt auf ihn zu und entschuldigte sich sehr persönlich bei ihm. Sie erklärte, dass es aus Versehen passiert wäre. Er glaubte ihr. Sie war viel zu aufreizend, um ihr nicht zu glauben.

Seine Gedanken verloren den Faden, liefen durcheinander. Das Seil zog sich gleichzeitig an seinem Geschlechtsteil und an seinem Hals fest. Sein Blick hing unterdessen fest an ihrem Busen, den sie inzwischen entblößt hatte. Bilder fluteten sein Gehirn. Frauen, junge, alte, dicke, dünne, seine eigene. Die Kurven der Blonden nahmen ihn gefangen. Kreisten ihn ein. Jede Unze seiner Aufmerksamkeit war auf sie gerichtet. Er wollte sie berühren, doch er konnte seinen Arm kaum anheben. Ihre Kontur verschwamm, stattdessen überflutete ihn grelles Licht.

Sie betrachte ihn. Die Erregung raubte ihm zunehmend die Sinne. Durch kurze Atemstöße versuchte er sein Gehirn, mit Sauerstoff zu versorgen. Das Wichtigste war die richtige Dosierung des Drucks auf den Hals. Dafür musste sie sorgen und das tat sie.

Er hing mit geschlossenen Augen an der Kleiderstange. Automatisch dachte sie an einen nassen Sack. Seine Gesichtshaut wurde grauer, seine Lippen verfärbten sich bläulich-violett. Seine Finger verformten sich zu Würsten. Schön dick und rund. Die Atmung ging zusehends schneller.

In diesem Moment verabscheute sie ihn zutiefst. Jetzt war es Zeit. Sie zog das Handtuch, das zwischen Hals und Schlinge steckte und zur Dosierung des Druckes diente, heraus. Er nahm es nicht einmal wahr, so sehr war er mit seiner eigenen Erregung beschäftigt.

Sie stützte sich auf ihn und drückte ihn gewaltsam nach unten. Er rang nach Luft. Ein komisches Krächzen entwich ihm. Sein Blick lief wirr durch den Raum. Doch sie ließ nicht locker, sondern drückte weiter. Für den Bruchteil einer Sekunde schnallte er, dass etwas Unvorhergesehenes geschah. Er versuchte sich nach oben zu stemmen. Seine Beine versagten. Die Blonde zog das Seil gleichmäßig enger, bis sein Körper regungslos an der Kleiderstange hing. Sie wich zurück. Was einmal ein Mensch gewesen war, hing nun wie ein unförmiges Stück Fleisch an der Querstange des begehbaren Kleiderschrankes. Das einzige was nicht hing, war sein Glied.

Unwillkürlich gab sie ein leises Sirren von sich. Die Blonde hatte es wahrgenommen, denn die fuhr blitzartig herum. Sie entdeckte sie, obwohl sie sich fast vollständig unter dem Bett versteckt hatte. Wahrscheinlich waren es mal wieder die roten Lämpchen, die sie verrieten. Das war schon öfter vorgekommen. Zum Glück schien die junge Frau keinerlei Interesse an ihr zu haben, denn die zog hastig ihre Kleidung an, ging ins Bad, bürstete ihr Haar und wedelte damit so lange herum, bis es rund um ihren Kopf aufgeschüttelt war.

Das gab ihr etwas Zeit. Das Gute an jedem Roboter war, dass er eigenständig Informationen aus dem Netz holen konnte. Selbst ein kleiner Reinigungsroboter wie sie. Da die Tür des begehbaren Kleiderschranks immer noch offen stand, konnte sie erst den an der Querstange hängenden Menschen scannen, und danach nach anderen hängenden Menschen online suchen. Schnell fand sie einen Bericht über einen Musiker.

Slippy P. wurde vor wenigen Wochen in seinem Kleiderschrank erhängt mit einer Vorhangkordel, die er um den Hals und die unteren Extremitäten gewickelt hatte, aufgefunden. Wie bei Tod durch Strangulation üblich, hing der Musiker unterstützt an der Kleiderstange, was übersetzt hieß, seine Füße berührten den Boden. Die statistische Onlinequelle – seriös oder nicht – zeigte eine Tabelle, in der 66,79% der Erhängten im letzten Jahr unterstützt hängend aufgefunden wurden. Bei der Leichenschau des Musikers waren die Abdrücke der Fesselung im Halsbereich und an den Genitalien am auffälligsten. Der Sinn der Fesselung mit der Kordel war die Kompression des Halses und der unteren Extremitäten.

Der wissenschaftliche Teil des Artikels wies daraufhin, dass das Hängen an Kleiderstangen automatisch zu Angst und damit zur sexuellen Stimulation führt. Schuld am Lustgewinn war der Ausfall des Cortex im Gehirn. Um die Aussagen zu untermauern, gab es einen knappen Rückblick in die Geschichte der Menschheit. So beobachteten erstmals Scharfrichter im 13. Jahrhundert sichtbare Erektionen bei Erhängten.

Inzwischen war die Blonde so weit, das Hotelzimmer zu verlassen. Erst kurz vor der Tür machte sie kehrt, löschte die unzähligen Bilder auf den Wänden und ging ins Bad. Dort holte sie einen leeren Wäschesack – eigentlich ist er für Handtücher gedacht –, lief zügig zum Kleiderschrank, stülpte ihn über den Kopf des hängenden Mannes und zog kräftig zu. Minutenlang stand sie unbeweglich da und betrachtete ihr Werk. An ihrem Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen, ob sie es mochte oder nicht. Die junge Frau ging zu ihrer Handtasche und zog etwas Metallenes heraus. Auf dem Rückweg entzündete sie mit Hilfe ihres Minibunsenbrenners eine Flamme.

Der kleine Reinigungsroboter war überrascht. Bisher hatte er geglaubt, dass nur Hausmeisterroboter so etwas besitzen würden. Da konnte man mal sehen, selbst ein Reinigungskäfer lernte nie aus.

Die Blonde hielt den Bunsenbrenner an das Metall, bis es glühte. Dann hob sie den rechten Arm des Mannes und drückte den Stempel kräftig unterhalb der Achselhöhle ins Fleisch. Der süßlich penetrante Geruch verbrannter, menschlicher Haut stieg auf. Zufrieden betrachtete sie den schwarzen Zinken, der sich abgebildet hatte. Kurz darauf ließ sie den Arm los und verfolgte, wie er schlaff herunter fiel.

Kaum war die Blonde aus der Tür, legte der Reinigungskäfer los. Endlich. Das wurde aber auch Zeit. Beide Menschen hatten unzählige Hautschuppen, Wollfäden und Haare auf dem Fußboden hinterlassen. Zum Glück gab es sie und sie war gründlich. Nicht das kleinste Teilchen blieb liegen.

Kapitel 1

zwei Tage später

Der Klang des Orchesters erfüllte den Raum. Tini folgte der Melodie, sog sie auf. Ihr Oberkörper wippte rhythmisch. Die erste Geige drängte sich in den Vordergrund. Das Orchester war dagegen. Es überrollte das vorlaute Instrument, ließ es verstummen. Die Musik umhüllte die Detektivin wie ein Schwarm Bienen. Bevor sie es merkte, sauste der Schwarm an ihrem Kopf vorbei. Links, rechts, wieder links. Das Zimmer und ihr Gehirn bebten. Ihre Neuronen tanzten gleichmäßig im Takt. Da setzte das Xylophon mit der Hauptmelodie ein, übernahm die Führung und drängte das Orchester weit zurück.

Hinter den Geigern begannen die virtuellen Skelette hervorzukriechen. Sie verteilten sich gleichmäßig über alle Wohnzimmerwände. Ganz langsam bewegten sie sich in den Raum hinein. Dabei schauten sie grimmig. Scheinbar wollten sie Tini Angst einjagen. Sie spielte mit. Ihre Zähne klapperten im Takt der Musik. Zwischendurch jauchzte sie vor Freude wie ein kleines Kind.

Tini hatte sich bewusst für dieses Onlinevideo entschieden, weil es mit den neuesten holografischen Effekten ausgestattet worden war. Dabei hatte sie die Position des Orchesterdirigenten gewählt; genau in der Mitte des Wohnzimmers. So konnte sie von allen Seiten gleichzeitig angegriffen werden.

Die klappernden Knochenteile wurden mutiger. Sie griffen nach ihr. Einer packte sie am Arm. Der heftige Schmerz, der durch ihren Körper lief, überraschte sie.

Die Schmerzimpulse waren kreiert worden, um das interaktive Erlebnis zu erhöhen. Sie konnten im Takt oder zu speziellen Anlässen losgeschickt werden. Fast jedes Musikvideo war inzwischen damit ausgestattet, egal ob Rap, Soul, Blues oder Rock. So konnte man als Zuschauer bei einem Rockkonzert, durchaus spürbar, eine Gitarre über den Kopf gezogen bekommen. Glücklicherweise ohne bleibende Schäden. Keiner brauchte sich sorgen, dass er künftig mit einem eingeschlagenen Schädel herumlaufen müsste. Natürlich hatten die Programmierer – wegen der unterschiedlichen Sensibilität der Kunden - die Stärke des Schmerzes frei wählbar gemacht.

In diesem Moment wurde das Orchester wieder lauter. Die Skelette wichen zurück. Etliche verschwanden. Tini entspannte sich. Allerdings nicht lange, denn kaum gab es eine leise Stelle in der Musik, krochen sie wieder aus den Tiefen der virtuellen Welt hervor.

Die Detektivin ignorierte sie. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Triangel, der die melodische Führung übernommen hatte. Das Orchester war beleidigt. Es wollte das schmächtige Instrument unbedingt zum Schweigen bringen, deshalb drängte es sich erneut nach vorn. Eine gewaltige akustische Welle rollte auf sie zu. Es war wie eine Woge aus Wasser, die über ihrem Kopf zusammenschlug, sie einfing, umhüllte, ganz in sich aufnahm. Das Orchester donnerte mit aller Macht. Die Musik steuerte auf ein furioses Ende zu.

Es kam, aber es war alles andere als furios. Von einer Sekunde auf die andere herrschte eine verwirrende Stille. Die Skelette rührten sich nicht mehr, standen da und grinsten blöd.

„Diese verdammte Technik. Ist der Mist schon wieder stehen geblieben?“, schimpfte Tini.

Die weltweiten Datennetze waren in letzter Zeit extrem anfällig. Immer wieder fielen große Teile aus. Mal war es eine Sonneneruption, mal das instabile Magnetfeld der Erde, und wenn nicht der viele Regen die Leitungen ertränkte, ging kurzerhand die Technik kaputt. Was es auch war, es war ärgerlich.

„Störe ich?“, fragte jemand in die Stille hinein.

Erschrocken fuhr Tini herum. In der Tür stand Mary Clark Johnson, oberste Chefin des New York City Police Departments.

Was macht die denn hier?, schoss es Tini durch den Kopf.

Die Detektivin konnte ihre unerwartete Besucherin nicht ausstehen, denn sie gehörte zu dem Teil der Bevölkerung, der für gewöhnlich die Leiter im Eilverfahren hochfiel. Grundsätzlich hatte Tini nichts dagegen. Es gab nur ein Problem. Diese Leute fingen an, kaum oben angekommen, kräftig nach unten hin auszuteilen. In diesem Punkt war Mary Clark Johnson besonders gut. Die Polizeichefin diskreditierte Mitarbeiter, die ihr im Weg standen so lange, bis die freiwillig das Handtuch warfen.

Zwei unendlich lange Ausbildungsjahre hatte sie mit dieser Frau als Chefin verbracht. Eine Ewigkeit. Ohne ihren alten Freund Kommissar Henry Berthod hätte sie es nie geschafft, wäre sie nie Detektivin geworden. Trotzdem versuchte sie, meistens jedenfalls, nett zu Mary Clark Johnson zu sein. Nur nicht in diesem Moment.

„Was wollen Sie?“, knurrte sie feindlich und zog ihren Datenhandschuh, mit dem sie die Onlineverbindung zum Musikvideo hergestellt hatte, von der Hand.

Anstatt die Frage zu beantworten, kam mit burschikoser Stimme: „Was ist das bloß für ein altertümlicher Kram? Sie enttäuschen mich, Miss Tucker, ich hätte Ihnen wesentlich mehr Geschmack zugetraut“, sagte die Besucherin, dabei legte sie die Stirn in tiefe Falten. „Na ja, zum Glück kann man heutzutage an vielen Stellen einer Wohnung die Verbindung ins Netz unterbrechen.“

Für die Polizeichefin des New York City Police Departments war es scheinbar das normalste der Welt, in eine fremde Wohnung zu spazieren und das dort laufende Unterhaltungsprogramm zu beenden.

Tini wäre am liebsten vor Wut explodiert, dann sah sie die kleinen Schweinsaugen, die nur auf einen Fehler von ihr lauerten. Ein falsches Wort und Mary Clark Johnson konnte sie wegen Beamtenbeleidigung festnehmen.

„Charles Camille Saint-Saëns, danse macabre aus dem Jahr 1875. Er führte das Xylophon in die Sinfonik ein", presste sie mühsam hervor.

"Kein Wunder, dass in dem Titel das Wort makaber vorkommt. Ich hoffe, der Komponist war kein Amerikaner!“

Die Polizeichefin streckte sich. Ihre Masse füllte dabei nahezu den Türrahmen aus.

"Franzose."

"Ah, das erklärt die schreckliche Musik."

Tini war kurz davor, aus dem Anzug zu springen. Nur mit größter Anstrengung hielt sie sich zurück, schließlich bekam sie ihre Lizenz von der Polizeichefin.

„Was wollen Sie?“, knurrte sie erneut. Die Feindlichkeit in ihrer Stimme war weiter bedrohlich angestiegen.

Mary Clark Johnson ließ sich auf das rote Plüschsofa fallen, das ihr die Großmutter geschenkt hatte. Ein quietschender Laut ertönte.

Muss sich dieses zu schwer geratene Ei eigentlich auf mein Erbe setzen?, fragte sich die Detektivin genervt.

Sie verglich die Polizeichefin des New York City Police Departments seit Jahren heimlich mit einem Ei. Das lag an ihrem Aussehen. Für eine Frau um die fünfzig war sie stramm beieinander. Ihr Fleisch war fest, nichts schwabbelte. Sie war über 1,90 Meter, hatte einen zu klein geratenen Kopf mit kurz geschorenen blonden Haaren und extrem lange dünne Beine. Das auffälligste war jedoch die Form ihres Körpers. Er war tatsächlich ein Ei. Anders konnte man es beim besten Willen nicht bezeichnen. Oben spitz zulaufend und unten schön rund. Trotz ihrer Unförmigkeit war sie erstaunlich flink.

"Was wollen Sie, Mary Clark?“, fragte die Detektivin. Die Gereiztheit in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

"Wie Sie sicher, als gut informierter Mensch, gehört haben, ist vor zwei Tagen unser hochgeachteter Bürgermeister Samuel T. B. Zeleny ermordet worden."

"Ich nehme an, Sie haben keine Ahnung wer der Mörder ist, und das, obwohl unser hochgeachtete Bürgermeister rund um die Uhr bewacht wird?“, konterte Tini.

Das musste gesessen haben, denn die Antwort der Beamtin kam einen Tick zu schnell. "Wir wissen sehr wohl, wer die Mörderin ist. Sie wurde bereits verhört."

"Was wollen Sie dann von mir?“

Die Polizeichefin zögerte. "Wir können kein Geständnis bekommen. Dazu gestaltet sich die Indizienlage schwierig."

"Sie meinen, Ihre modernen Brainwash-Methoden haben versagt?“

Die Detektivin provozierte bewusst. Sie dachte dabei an die neueste Generation der Lügendetektoren, welche elektrische Gehirnströme in lesbare Sätze übersetzen konnten. Die Beamten bekamen dadurch jeden noch so flüchtigen Gedanken eines Tatverdächtigen nachlesbar auf den Bildschirm.

Mary Clark Johnson räusperte sich nervös. "Augenscheinlich ist sie sauber, was ich allerdings stark bezweifle. Wir mussten sie heute Morgen gehen lassen."

Auf dem Gesicht der Polizeichefin zeichnete sich eine gewisse Ratlosigkeit ab, die Tini entspannte.

„Könnte der Bürgermeister Opfer eines Zufalls geworden sein? Ich meine, vielleicht war er zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Es gibt keine Zufälle.“

„Gibt es denn Ihrer Meinung nach wenigstens noch Unfälle?“

„Es war kein Unfall“, sagte die Polizeichefin nachdrücklich, ohne auf die Frage der Detektivin einzugehen. Stattdessen wandte sie sich den charakterlichen Untiefen des hochgeachteten Bürgermeisters zu.

Samuel Theodor Benjamin Zeleny, ein Mann in den besten Jahren und natürlich verheiratet, ließ bis vor wenigen Wochen nichts in der Damenwelt anbrennen. Von einem Tag auf den anderen änderte sich das. Er verliebte sich. Die Identität der Frau hielt er geheim, selbst vor seinem Chauffeur. Das war ziemlich ungewöhnlich, denn er unterhielt ein ausgesprochen enges Verhältnis zu seinem Mitarbeiter. Um diese Liebe zu treffen, ließ er sich regelmäßig etwa fünf Kilometer außerhalb der Stadt zum Sunset-Motel fahren. Die Kamera des Empfangs zeigte, an den entsprechenden Tagen, stets dieselbe junge Frau. Sie checkte jedes Mal innerhalb der nächsten zwanzig Minuten ein.

Mary Clark Johnson stoppte unvermittelt und starrte Tini an.

Die zuckte ratlos die Schultern. „Und?“

„Unser polizeilicher Supercomputer Sherlock Holmes identifizierte sie als Maya Sommers“, sagte sie bedächtig, jede einzelne Silbe betonend.

Die Detektivin stieß einen leisen Pfiff aus. "Sprechen Sie etwa von der Tochter von Ronan Sommers, dem Tycoon der Solarzellenindustrie?“

Die Polizeichefin nickte. "Leider ist die Kamera, die das Zimmer des Bürgermeisters überwacht seit Monaten defekt."

„Sie haben keine Zeugen, nehme ich an.“

Mary Clark Johnson nickte.

Das hieß, die Polizei konnte die Treffen zwischen der jungen Frau und dem Bürgermeister nicht beweisen. Und da Sommers scheinbar kein Geständnis ablegte, war sie nur an Hand der hinterlassenen Spuren im Zimmer zu überführen.

Bevor die Detektivin etwas sagen konnte, brummte Johnson: "Keine Verwertbaren.“

"Gibt es ein Motiv?“

"Keins was offensichtlich wäre."

Tini sah gespannt auf die Hängebacken der Polizeichefin. Sie musste noch etwas in der Tasche haben, sonst würde sie nicht so merkwürdig dreinschauen.

Johnson betonte erneut jede Silbe. "Die Leiche wurde markiert.“ Die Detektivin machte ein ziemlich verdattertes Gesicht. "Wie in diesem mörderischen Onlinespiel“, erklärte die Beamtin ruhig, „dem ultimativen Spiel. Dort markieren die Jäger ihre erlegte Beute, damit sie ihnen eindeutig zugeordnet werden kann.“

Mary Clark Johnson verzog missbilligend das Gesicht. Sie schien sich zu fragen, wie eine Detektivin so etwas Fundamentales nicht wissen konnte.

Tinis Gedanken schweiften ab. Die Entwicklung der weltweit vernetzten Onlinespiele war in den letzten Jahren rasant vorangeschritten. Den größten Schub bekamen sie, als sie mit Hilfe von 3D-Effekten begehbar wurden. Das hieß, jeder Spieler konnte sich auf einmal in der Hülle seines Avatars frei im Spiel bewegen. Genauso wie ein echter Mensch im realen Raum.

Die Detektivin erinnerte sich dunkel, dass sie vor einigen Monaten vom ultimativen Spiel gehört hatte. Irgendeiner verglich das Ganze mit der Jagd aus früherer Zeit. Nur wurden hier keine Füchse oder Wildschweine von Reitern und Hunden gehetzt, sondern Avatare von Avataren. Jagende Avatare hießen Jäger und gejagte Avatare Beute. Die erbeuteten Avatare wurden gelöscht und kamen anschließend auf einen virtuellen Friedhof. Glaubte sie wenigstens.

"Verstehe ich richtig? Sie haben eine Markierung beim menschlichen Bürgermeister gefunden, die sonst erbeutete Avatare haben?“

Mary Clark Johnson nickte heftig.

Die Polizei hatte die Markierung des Bürgermeisters in die virtuelle Welt verfolgt und dabei festgestellt, dass sein gelöschter Avatar mit dem gleichen Zeichen gestempelt worden war.

Tini dachte einen Moment lang nach, dann sagte sie erstaunt: "Aber man kann jedem Jäger einen realen Menschen zuordnen. Es gibt eindeutige IP-Adressen, die bei der Anmeldung verteilt werden.“

Mary Clark Johnson schüttelte den Kopf.

Das Onlinespiel war bewusst anders angelegt worden. Die Identität der Spieler war außerordentlich gut geschützt. Der größte Clou bestand eben darin, dass sich der Datensatz eines Jägers nicht zuordnen ließ. Es sollte sicher gestellt werden, dass selbst ein geschickter Hacker die menschliche Identität nicht herausbekam. Das begeisterte die Spieler so sehr, dass die Zuwachsraten steil in die Höhe schnellten. Um selbst die letzte Zuordnungsmöglichkeit auszuschließen, bekamen die Jäger bei jedem Eintritt ins Spiel automatisch eine neue City-IP-Adresse per Zufallsgenerator zugewiesen. Dadurch wusste nicht mal der Betreiber der Plattform aus welcher realen Stadt die virtuellen Mörder kamen.

"Und Maya Sommers spielt dieses Spiel?“, fragte Tini.

"Davon gehe ich aus."

Tini betrachtete die Polizeichefin neugierig. Die schnaufte wie ein altes Walross. Tonnen mussten auf ihren Schultern liegen.

Nach einer verdächtig langen Pause sagte Mary Clark Johnson: „In dem Spiel gibt es dreizehn andere erbeutete Avatare, die mit genau dieser Markierung gekennzeichnet wurden.“

"Sind die dazugehörenden Menschen ebenfalls tot?“

„Das wissen wir nicht. Jede Zuordnung zu realen Personen ist in diesem verflixten Spiel schwierig. Selbst bei denen, die keine Jäger sind.“

Hintergrund war, dass jeder Spieler seine Identität so stark verändern konnte, dass sich keinerlei Rückschlüsse auf den Menschen dahinter ziehen ließen. Ein Mann, der eigentlich ein Schuhverkäufer war, konnte in der virtuellen Welt ein Bankier, ein Schönheitschirurg, oder eine Hausfrau sein.

Die Einzigen, die ihre Identität nicht ändern durften waren Politiker und Polizisten. Deren Anwesenheit sollte das ultimative Spiel einerseits prickelnder machen und andererseits für Recht und Ordnung sorgen. Wie konnte man sich sonst bei einem Polizisten Hilfe suchen und sich gleichzeitig sicher sein, dass er nicht ein verkappter Jäger war. Durch diese Regel blieb der Bürgermeister von New York eben auch im virtuellen Spiel der Bürgermeister von New York.

"Sind beide Zelenys auf die gleiche Art und Weise gestorben?“ Die Polizeichefin hatte ihre Neugierde geweckt.

"Der virtuelle wurde während eines autoerotischen Spiels stranguliert, der reale erstickte vermutlich bei der gleichen Art von Unterhaltung", sagte Mary Clark emotionslos. Ohne auf den verdatterten Gesichtsausdruck der Detektivin einzugehen, fügte sie hinzu: „Zuerst starb der virtuelle.“

Bürgermeister Zeleny liebte Partys. Ganz besonders liebte er die virtuellen Partys in dem Onlinespiel. Regelmäßig lud er die erfolgreichsten Jäger in seine Villa ein. Und das, obwohl er wusste, dass er als ultimatives Opfer – also als Beute mit der höchsten Punktzahl - ausgesucht worden war.

Mary Clark Johnson war sich sicher, dass Zeleny regelmäßig mit dem einen oder anderen Jäger die Privatgemächer aufsuchte. Vielleicht glaubte er das Risiko sei überschaubar. Schließlich war er ständig von seinen virtuellen Sicherheitsleuten umringt. Doch er irrte sich. Einer der Jäger war geschickter. Der erlegte Avatar des Bürgermeisters wurde erst entdeckt, als die Party längst vorüber war.

Die Polizeichefin machte erneut eine ungewöhnlich lange Pause: "Es gibt noch ein Problem."

"Was denn noch?“

"Sie haben ein neues ultimatives Spiel auf der höchsten Ebene, dem ultimativen Level, gestartet.“ Mary Clark Johnson war dicht davor in Tränen auszubrechen. „Das Ziel ist ...“ Ihre Stimme versagte.

Tini wartete geduldig. Dabei starrte sie ihr Gegenüber regungslos an. Gerade als sie Luft holte, um etwas zu sagen, sprach die Polizistin mit brüchiger Stimme weiter: "Das Ziel ist die bedeutendste Person umzubringen.“ Pause. „Sie haben sich gestern für die Polizeichefin von New York City entschieden.“ Pause. „Ich bin zum neuen ultimativen Opfer erklärt worden", hauchte sie kaum hörbar.

So klein hatte Tini die massige Mary Clark Johnson, Polizeichefin von New York City, noch nie gesehen. Nicht, dass sie sonderlich viel Mitleid mit ihr hatte. Zu oft war sie ihr schon in die Quere gekommen. Doch das war ziemlich starker Tobak.

„Helfen Sie mir und Sie werden, ganz egal was Sie anstellen, in den nächsten zehn Jahren die Lizenz behalten“, krächzte die Polizeichefin. Kaum vernehmbar setzte sie hinzu: „Ich schwöre es, bei allem was mir heilig ist.“

Dir ist leider nichts heilig, schoss es der Detektivin durch den Kopf.

Mary Clark Johnson musste ihre Gedanken erraten haben, denn hastig fügte sie mit unerwartet sonorer Stimme hinzu: „Denken Sie daran, dass Sie immer irgendetwas auf dem Kerbholz haben!“ Bei diesem Satz verengten sich ihre Schweinsaugen gefährlich schmal.

Tini saß in ihrem Rollstuhl und starrte vor sich hin. Es war schon erstaunlich, wie sehr die virtuelle Welt inzwischen ihr tägliches Leben beeinflusste. So holte sie jetzt ihren morgendlichen Kaffee aus dem begehbaren Online-Kaffeeshop, wie sie früher zur realen Filiale gefahren war. Die Anlieferung dauerte dann tatsächlich keine fünf Minuten.

Natürlich hatte das Netz auch seine Nachteile. Vor einigen Monaten war sie auf der Suche nach einem Partner. Sie hatte geglaubt, dass das ein guter Ort dafür wäre. In der Geschichte der Menschheit hatte es noch nie so viele Verabredungen auf einen Flirt gegeben wie jetzt.

Ein unterdurchschnittlich aussehender Mann konnte mit Hilfe eines attraktiven Avatars eine hübsche Frau in ein Restaurant ausführen und eine vergnügliche Zeit mit ihr verbringen. Da die virtuelle Welt die realen äußerlichen Mängel ausschaltete, waren zwei Menschen in der Lage sich näher kennenzulernen, die normalerweise nie ein Wort miteinander gewechselt hätten. Das bedeutete natürlich keineswegs, dass die reale Frau hinter dem Avatar tatsächlich hübsch war. Ja, es musste sich nicht einmal um eine Frau handeln, denn schließlich konnte jeder jede Identität annehmen. In gewisser Weise war das auch egal. Hauptsache man hatte eine angenehme Zeit. Ohne schlechtes Gewissen konnte jeder Spaß haben. Selbst virtueller Sex war kein Problem. Die Lustzentren reagierten auf den Austausch elektrischer Signale. Wenn man der anderen Person überdrüssig geworden war, löschte man den eigenen Avatar und legte einfach einen neuen an.

Leider war die schöne bunte Onlinewelt auch ein Mekka der Spinner, Psychopathen und Verbrecher. Nirgendwo sonst konnten sie dermaßen einfach auf Menschenfang gehen. Die Dummen starben eben nie aus. Die Zahl, der um ihr Geld geprellten, war nie so hoch wie im vergangenen Jahr. Ganz ähnlich sah die Entwicklung bei den Verschwundenen aus.

Selbst Tini entging nicht der Täuschung. Er wirkte jung, dynamisch und kreativ. In Wirklichkeit war er alt, gebrechlich und senil. Erst nach dem Sex fiel ihr auf, dass ihr Partner die Hundertzwanzig längst überschritten haben musste. Seine vorgegaukelte Jugendlichkeit hatte ihm sein Enkel verpasst. Danach schwor sie, nur noch in der realen Welt nach einem passenden Partner zu suchen. Ein Vorhaben, so erfolglos, wie die Verhinderung des nächsten Sonnensturms.

Na ja, schließlich bin ich nicht die Einzige ohne Sex, versuchte sie sich stets zu trösten. Umsonst.

Andererseits bot die virtuelle Welt große Vorteile für einen Genießer, wie Tini es war. Sie liebte ausgefallenes Essen. Wenn sie zum Beispiel ein Steak vom Kobe-Rind wollte, erschienen sämtliche Supermärkte auf dem Bildschirm, die es lieferten. Neben dem Preis und der Dauer bis zur Lieferung, konnte sie sich die Zufriedenheit der anderen Kunden ansehen. Allerdings war es in letzter Zeit modern geworden die Onlinesupermärkte herunterzumachen; wahrscheinlich in der Hoffnung auf fallende Preise. So liefen etliche grässliche Schmutzkampagnen kreuz und quer durch die virtuelle Welt.

Ihre Gedanken wurden vom Klingeln des Bildtelefons unterbrochen. Ihr Freund Kommissar Henry Berthod tauchte auf dem Bildschirm auf. Dass die Vorfahren des Kommissars ursprünglich aus dem entspannten französischen Süden kamen, war jedem, der ihn traf, sonnenklar. Er besaß keine hektischen Züge, nicht mal Ansätze. Ein Koloss voll innerer Ruhe und Gelassenheit. Er war verheiratet; angeblich seit vielen Jahren, angeblich glücklich.

Sie hatte keine Vorstellung davon, wie seine Frau aussehen könnte. War sie groß, klein, hübsch? Henry Berthod war kein Männermodel, doch seine freundliche, ruhige Art wirkte anziehend. Seine schwarzen Haare, der weit nach außen geschwungene Zwirbelbart und das tiefe Dunkel seiner Augen führten bei ihr automatisch zur Entspannung.

Mary Clark Johnson musste ihn unverzüglich auf den Fall angesetzt haben. Hatte sie tatsächlich Angst um ihr Leben? War es berechtigt? Tini bekam keine Zeit darüber nachzudenken, denn Berthod breitete in seiner behäbigen Art die Einzelheiten aus.

Er beschrieb den Bürgermeister Samuel Theodor Benjamin Zeleny als einen alten geilen Sack, der junge Frauen über alles liebte. Sein Chauffeur fand ihn tot im Zimmer des Sunset-Motels auf. Er baumelte leblos an der Querstange des begehbaren Kleiderschranks.

Zunächst ging der ermittelnde Kommissar von einem autoerotischen Unfall aus, da der Tote mit einem Seil um Hals und Genitalien aufgefunden wurde. Erst als der Chauffeur eindringlich darauf hinwies, dass es sich um den Bürgermeister von New York City handelte, kam die Leiche zur Obduktion in die Pathologie. Dort fand man eine Markierung unterhalb der rechten Achselhöhle in Form eines Zinkens. Ein altes Zeichen aus der Sprache der Vagabunden. Die Bedeutung hinter dem Zinken lautete: sich fromm stellen. Welchen Bezug dieses sich fromm stellen zum Mörder und dessen Tat hatte, war unklar. Klar dagegen war, dass Maya Sommers die Geliebte von Samuel T.B. Zeleny sein musste. Tauchte er im Sunset-Motel auf, war auch sie wenig später zur Stelle. Während der Vernehmungen äußerte sie sich kein einziges Mal zu den Vorwürfen. Seltsamerweise reagierten die elektrischen Ströme in ihrem Gehirn auf keine einzige Anschuldigung.

Deshalb spekulierte Berthod darüber, ob sie in der Lage war, real Erlebtes komplett auszuschalten. Eigentlich hatte die Polizei erwartet, dass sie sich zumindest wegen falscher Vorwürfe aufregen würde. Doch nichts.

Leider gab es keine Zeugen. Das Haus wurde wenig benutzt, da es weit unter dem üblichen Standard lag. Dazu stand es abgelegen in einer Schlucht. Die hauseigenen Roboter hatten das Zimmer gründlich gereinigt, bevor die Polizei am Tatort eingetroffen war. Die Maschinen glaubten, der Bürgermeister wäre an der Querstange hängend eingeschlafen. Deshalb schlossen sie auch die Tür des Kleiderschranks einfach wieder.

„So etwas nennt sich nun intelligente Technik“, unterbrach ihn Tini.

Kommissar Berthod verteidigte die Roboter. Schließlich waren sie programmiert worden, schlafende Gäste in Ruhe zu lassen und leise ihre Arbeit zu verrichten. So waren selbst die winzigsten Hoffnungen auf Fingerabdrücke, Hautschuppen oder Haare zerstört worden. Die Maschinen meldeten den Vorfall nicht einmal, denn für sie war alles in bester Ordnung. Erst als dem Chauffeur die Warterei zu viel wurde, ging dieser zum Zimmer. Er dauerte eine Weile, bis er überhaupt auf die Idee kam, im Kleiderschrank nachzusehen. Dort entdeckte er den Toten.

Tini beendete die Bildleitung und wandte sich an ihren Rechner. Da es noch dreizehn andere erlegte Avatare mit dieser Markierung gab, konnte sie durchaus von weiteren menschlichen Opfern ausgehen. Cassandra musste sie finden. Zusätzlich musste der Rechner überprüfen, ob Mary Clark Johnson tatsächlich alle gelöschten Avatare, die zu dem Fall gehörten, gefunden hatte.

Die Detektivin vertraute der Maschine. Schließlich hatte sie ihren Computer nicht grundlos Cassandra getauft. Der Rechner besaß die besondere Fähigkeit, aus zusammenhanglosen Fakten eine logische Folge von Ereignissen abzuleiten. Der einzige Computer weltweit, der noch logischer denken konnte, war der Polizeirechner Sherlock Holmes.

Cassandra hatte diese besondere Fähigkeit, da sie nur zum Teil eine Maschine war. Der Rest bestand aus Biomaterial, genauer gesagt aus menschlicher Gehirnmasse. Die Detektivin hatte es auf die Leiterplatten kleben lassen, um Emotionalität zu erzeugen. Viele Leute verstanden nicht, warum ein Computer Gefühle braucht. Doch sich in jemanden hineinzuversetzen, heißt ihn und sein Handeln zu verstehen. Cassandra konnte dadurch selbst unlösbare Fälle lösen. Die positiven Auswirkungen auf Tinis Auftragslage blieben nicht aus. Sie bekam in den letzten Jahren vermehrt Jobs, die außerhalb der Sperma- oder Geldmotive lagen. Ihre Erfolgsquote konnte sich, selbst bei schwierigsten Fällen, sehen lassen.

Cassandra schnarrte auffällig blechern. „Auf dem virtuellen Friedhof des ultimativen Spiels gibt es vierzehn erbeutete Avatare, die mit einem Zinken gestempelt wurden. In der realen Welt habe ich nur zwei markierte Tote mit diesem Zeichen gefunden. Beide Männer sind zweifellos ermordet worden. Ein Opfer ist unser hochgeachteter Bürgermeister Zeleny, wie wir bereits wissen. Der andere ist ein gewisser Vince Tailor. Er war Kunstlehrer an einer teuren Privatschule.“

Wie hatte die Maschine den zweiten markierten Toten so schnell finden können? Es schien, dass die Identität der Onlinespieler weniger geheim war, als Mary Clark Johnson glaubte.

„Die Namen der Menschen hinter den restlichen zwölf erlegten Avataren kommen in wenigen Minuten, auch die der Jäger“, schnarrte es erneut.

Tini war mal wieder stolz auf Cassandra. Sie hatte in kurzer Zeit geschafft, was bei der Polizei eine halbe Ewigkeit dauern konnte. Ihre Laune stieg merklich.

„Die Zuordnung der Jäger gestaltet sich tatsächlich äußerst schwierig“, tönte es kurz danach unzufrieden aus den Boxen. Die Maschine war ehrgeizig und konnte es nicht ausstehen, wenn sie sich anstrengen musste. „Zum Glück ist es bei den Menschen hinter den restlichen zwölf erbeuteten Avataren problemloser… sofern man sich auskennt“, fügte Cassandra süffisant hinzu. Ihr Ton verriet, dass sie die Zuordnung bereits kannte.

Der Bildschirm des Rechners zeigte eine schöne goldene Farbe, die er stets annahm, wenn sich die Maschine selbst gut fand. Die Antwort, die dann kam, war allerdings ernüchternd, denn die zwölf menschlichen Spieler hinter den gelöschten Avataren waren ebenfalls tot.

„In welchem Zeitraum starben sie?“, fragte Tini.

„Innerhalb der letzten zwei Jahre.“

„Wer sind die Toten?“

„Alles Männer. Sie kommen aus sehr unterschiedlichen Schichten. Die meisten sind Arbeiter und kleine Angestellte.“

Tini machte ihrem Rechner nachdrücklich klar, dass sie nicht nur die genauen Todeszeitpunkte brauchte, sondern wirklich alle Informationen, die zu kriegen waren. Besonders interessierte sie der Lehrer. Vielleicht stand er ja am Anfang? Schließlich trifft man Lehrer eher in jungen Jahren.

Außerdem benötigte sie sämtliche Videomitschnitte - so weit vorhanden und nicht gelöscht - auf denen Maya Sommers, mit einem der vierzehn Männer, zu sehen war.

"Nach Ansicht der Polizei sind nur der Bürgermeister und der Lehrer Mordopfer“, sagte der Rechner.

Tini stutzte. Nur zwei Mordopfer?

„Leider lässt sich nicht feststellen, ob auch die zwölf anderen Männer mit einem Zinken markiert wurden. Für die Polizei gilt jedenfalls keiner als ermordet“, präzisierte die Maschine ihre Aussage.

„Ermordet oder nicht", sagte die Detektivin, "wenn Maya Sommers etwas damit zu tun hat, wird die Beweisführung wahrscheinlich nur über Videos möglich sein. Außer, man kann sie doch noch zum Reden bringen.“

„Viele Menschen bewegen sich selbst heutzutage noch im videofreien Raum“, gab Cassandra zu bedenken.

„Gut, dann hast du weniger zu tun“, sagte Tini barsch. „Scanne die Gesichter und lass Suchroutinen laufen!“ Die Detektivin machte eine kurze Pause, dann fiel ihr eine weitere Frage ein: „Kommen die zwölf wenigstens aus New York und Umgebung?“

„Nein. Sie sind weltweit verteilt.“

„Warum sollte es auch einfach sein?“, seufzte die Detektivin. „Also, lass dir lieber von Sherlock Holmes helfen!“

Am nächsten Morgen wurde Tini viel zu früh durch ein Dauerklingeln aus dem Bett geholt. Die Bildleitung baute sich äußerst langsam auf. Als sie endlich stand, war sie komplett verschneit. Begleitet wurde die Verbindung von diversen Aussetzern. Eine starke Sonneneruption legte seit Stunden fast die Hälfte der weltweiten Server lahm. Trotz der technischen Probleme, sah man deutlich Mary Clark Johnsons Nervosität. Tini dagegen war nichts als müde.

„Wie können Sie eigentlich eine gute Detektivin sein, wenn Sie den halben Tag verschlafen?“

„Mary Clark, es ist nicht mal sieben.“

„Ich bin seit fünf Uhr auf, da hat man wenigstens was vom Tag.“

Munter klang die Polizeichefin, dass musste sie zugeben. Für ihren Geschmack zu munter.

„Auf jeden Fall ist es viel zu früh“, presste Tini mühsam hervor.

Johnson hob entschuldigend die Hände. „Ich brauche Sie. Um zehn Uhr findet die Trauerfeier für Zeleny statt. Sie müssen dabei sein. Sie sind ein außerordentlich guter Beobachter. Die meisten Menschen auf unserer schönen Welt leiden unter einem gravierenden Aufmerksamkeitsmangel.“

Bisher hatte die Detektivin geglaubt, dass Polizisten davon ausgenommen waren, doch die Beamtin schien ihre eigene Spezies mit einzubeziehen.

„Mary Clark, wollen Sie wirklich, dass ich niedergeschmetterte Verwandte und angebliche Freunde beobachte?“

Die Polizeichefin ignorierte ihre Frage. „Unser Bürgermeister war ja sehr beliebt. Alle wichtigen Leute der Stadt werden da sein. Selbst Ronan Sommers und Tochter. Was ich persönlich makaber finde, aber na ja.“

„Schuld muss erst bewiesen werden“, konterte die Detektivin scharf.

Mary Clark Johnson drehte sich unvermittelt aus dem Bild. Das gab Tini einen Augenblick lang Zeit darüber nachzudenken. Der Gedanke, die junge Frau persönlich in Augenschein zu nehmen, schien nicht falsch zu sein. Schließlich stimmte der erste Eindruck in der Regel.

„Also gut, geben Sie Cassandra Ort und Zeit. Wir sehen uns dort“, sagte sie hastig und kappte die Leitung.

Tini war zwar im Rollstuhl gefangen, doch den normalen Problemen einer Frau entging sie dadurch keineswegs. Da sie seit Jahren keine Familie und kaum Freunde hatte, konnte sie keine entsprechende Kleidung für einen ernsten Anlass vorweisen. Außerdem war nicht damit zu rechnen, dass es etwas Brauchbares auf Anhieb für ihre verkorkste Figur im Onlineshop gab. Also musste sie sich in aller Eile selbst einen Hosenanzug designen.

Da Cassandra mit den Rechercheaufgaben beschäftigt war und damit als direkte Beraterin ausfiel, entschied sie sich für einen Avatar aus dem Onlinegeschäft. Das tat sie nur ungern, denn die virtuellen Assistenten wurden gern manipuliert. Sie neigten dazu, den liegengebliebenen Mist verkaufen zu wollen. Letzten Monat hatte sie eine alte chinesische Vase gesehen. Sie war so lange interessiert, bis sie merkte, dass es ein Replikat war. Doch dieser dämliche Onlineverkäufer ließ nicht locker. Erst als sie die Leitung des Shops direkt kontaktierte, wurde der Bursche kurzerhand aus dem Verkehr gezogen und gelöscht.

Sie entschloss sich die Verbindung im Wohnzimmer herzustellen. Dort gab es an der Zimmerdecke und an den drei Wänden, die nicht zum Fensterbereich gehörten, Tapeten mit organischen Leuchtdioden. Genauer gesagt waren es hoch auflösende Displays, die den Onlinezugang ins Netz ermöglichten. Sie konnte mit jedem Zugang neu festlegen, an welcher Stelle des Zimmers sich der Bildausschnitt der schönen modernen virtuellen Welt befinden sollte. Die Abmessungen der Fläche waren frei wählbar. An dieser Technik mochte sie besonders, dass sie die Onlineverbindung aus einem anderen Raum heraus per Voice-Command aktivieren konnte.

Die organischen Leuchtdioden waren weit mehr, als nur der Eintritt in die schöne, bunte virtuelle Welt. Wollte sie nicht online gehen, fungierten die Dioden als Lampen, welche den Raum mit einem angenehmen warmen Licht ausleuchteten. Da sie sehr dünn und flexibel waren, wurden sie unsichtbar in die Tapete integriert. Ein weiterer Vorteil war, dass sie kein Licht reflektierten.

Tini positionierte ihren Rollstuhl so, dass sie sich auf der Bildschirmoberfläche gut sehen konnte. Dadurch bekam der virtuelle Verkäufer einen entsprechenden Eindruck von ihren Proportionen.

Der Avatar nannte sich selbst Stuart. Tini fand das altmodisch, obwohl sie zugeben musste, dass es zu ihm passte. Er glich einem knöchrigen Butler, der sein ganzes Leben lang ausschließlich für den Hochadel gearbeitet hatte. Vielleicht war er aus Altersgründen aus dem Luxussegment in den leicht überdurchschnittlichen Bereich abgeschoben worden? Natürlich war dieser Gedanke idiotisch, denn Stuart war nichts als ein Programm. Welchen Vorteil gab es eigentlich, einen alten Knacker als Verkäufer anzulegen? Sie kam zu keiner Antwort, denn der Avatar hatte sich bereits entschieden.

Stuart war für einen kirschroten Hosenanzug. Er begründete seine Wahl mit der Lebenslust des Toten. Tini war strikt dagegen. Sie ließ ihn deutlich wissen, dass es zwischen ihr und dem Bürgermeister zu keinerlei Liaison gekommen war. Nach etlichen Diskussionen mit ihm, entschied sie sich für einen kaffeebraunen Anzug, mit goldenen Streifen an den Rändern.

Ihre größten Differenzen fochten sie bei der Art des Stoffes aus. Tini hatte sich extra Sensoren auf die Fingerkuppen gesteckt, damit sie sämtliche Materialien anfassen konnte. Das Gefühl war für den Tragekomfort wichtig, denn bequem musste der Anzug auf jeden Fall sein.

Unerwartet bevorzugte Stuart moderne biosynthetische Stoffe, die sich selbstständig auf Körpertemperatur und -feuchtigkeit einstellten und bei Bedarf einen Ausgleich herstellten.

Die Detektivin dagegen war altmodisch veranlagt. Sie entschied sich für einen extra dicken Samt – aus Seide und Baumwolle -, der traditionell für Trachtenkleidung benutzt wurde. Kaum hatte sie den Stoff ausgewählt, erschienen die Fotos mehrerer Seidenraupen und ein Gruppenfoto glücklicher Baumwollpflücker auf dem Bildschirm. Unter den Bildern standen alle relevanten Daten über die Hersteller und ihre Produkte. Es war modern geworden, dem Kunden den Ursprung der Ware zu zeigen. Back to the roots sozusagen. Besonders kleine Firmen nutzten diese Werbung, um sich persönlich bei den Kunden vorzustellen.

In der letzten Zeit war die Geschichte allerdings ausgeufert. Tierschützer hatten heimlich Kühe, Schweine und Hühner fotografiert und ihre Abbilder ins Internet gestellt. So konnte jeder, der wollte, seine Salami einscannen und das Rind bzw. das Schwein kennenlernen, das seinen Körperteil unfreiwillig zur Verfügung gestellt hatte.

Tini war in diesem Moment allerdings etwas genervt, deshalb klickte sie die Bilder kurzerhand weg. Sie hatte genug mit Stuart zu tun, denn nicht mal bei der Wahl des Geruchs wurden sie sich einig. Dabei war der unglaublich wichtig. Schließlich stieg ihr der Duft des Stoffes direkt in die Nase. Sie wollte unbedingt ein weiches samtiges Aroma; eins mit einer leichten Pfirsichnote. Also etwas Aufmunterndes, denn die Veranstaltung würde sowieso unangenehm genug sein.

Stuart fand die Zusammenstellung von Farbe, Stoff und Geruch lächerlich und sagte das auch.

„Avatare haben keinen Geschmack. Sie sind nichts weiter als Programme, die man löschen kann“, konterte Tini.

„Sie können mich ja ersetzen lassen“, kam pikiert von der virtuellen Seite.

„Okay, dann hätte ich gern ein kleines, nettes Mäuschen.“

Augenblicklich verwandelte sich der Avatar. Die Stimme der Maus war dermaßen spitz, dass die Detektivin lachen musste.

Mein nächster Avatar ist eine Ratte, die hat wenigstens eine tiefe Stimme, gackerte Tini, ohne sich beruhigen zu können.

Die Trauerfeier fand auf einem realen Friedhof statt, mit einem realen Sarg und einem realen Toten. Etwas, was in dieser Form nur noch selten vorkam. Man musste von gesellschaftlicher Bedeutung sein, um auf diese Art bestattet zu werden. Es war einfach kein Platz da für so viele, deshalb wurden die meisten Menschen verbrannt und verstreut.

Der Ort, an dem man normalerweise einen Verstorbenen besuchte, war der virtuelle Friedhof. Der Kontakt mit dem Toten erfolgte über dessen Avatar. Er war das genaue Abbild des Verstorbenen. So konnte man sich einbilden, der geliebte Mensch, wenn man ihn denn tatsächlich geliebt hatte, wäre noch am Leben. Das führte allerdings dazu, dass laut Statistik die hinterbliebenen Ehepartner wesentlich seltener als früher in der Lage waren, neue Bindungen einzugehen. Manche Menschen gingen sogar so weit, die Lieblingssätze ihrer Angehörigen vor ihrem Tod aufzunehmen, und sie dann bei Bedarf abzuspielen.

Wenn Tini sich langweilte, surfte sie auf diesen Seiten, um nachzuforschen, wie viele Klicks der Verstorbene bekam. Kinder und Tiere bekamen die meisten. Dicht gefolgt von Menschen, die erst nach ihrem einhundertzehnten Lebensjahr das Zeitliche gesegnet hatten. Das Interesse an Informationen über das Erreichen eines sehr hohen Alters, schien nie nachzulassen. Auch Tote, die an unheilbaren Krankheiten verstorben waren, wurden viel geklickt. Scheinbar war es wichtig zu wissen, worunter andere Menschen in ihrem Leben gelitten hatten. Warum auch nicht? Wenn man dieses Schicksal nicht teilte, fühlte man sich selbst gleich besser.

Um zu einem realen Friedhof zu kommen, brauchte Tini ein Taxi mit Begleitung. Sie bestand bei der Bestellung darauf, dass der Fahrer kein Roboter war. Unruhig rollte sie vor dem Eingang des Bo-Buildings hin und her. Sie wartete geschlagene drei Minuten. Kein Taxi kam. Stattdessen warb das Plakat neben ihrer Haustür, mit den neuesten Duftkreationen.

„Lieben Sie Chanel, Miss Tucker? Sagen Sie bloß, Sie haben den famosen Duft nie kennengelernt?“

Tini war länger nicht außerhalb ihrer Wohnung gewesen, denn sie hasste es, von den Passanten angestarrt zu werden. Seit die Gliedmaßen nachgezüchtet und Teile der Wirbelsäule ersetzt wurden, gab es kaum noch körperlich Behinderte auf den Straßen. Dafür fielen die wenigen, die es gab, umso so stärker auf, denn sie wichen meist deutlich von der Normalität ab.

Jedenfalls hatte Tini Irgendwie die Aufdringlichkeit dieser Werbungen verdrängt. Sie hatte schlicht vergessen, zu was diese Plakate in der Lage waren. Hätte sie daran gedacht, wäre sie rechtzeitig ausgewichen. Doch so traf sie das Parfum mit einer Präzision am Hals, die sie völlig überraschte.

„Ist der Duft nicht wunderbar?“, schwärmte das Plakat in höchsten Tönen.

Vielleicht für andere Passanten, für sie war er das jedenfalls nicht. Wutschnaubend rollte sie einige Meter weiter. Schon meldete sich das nächste Plakat. Es war eine Werbung für einen Film, der direkt aufs Smartphone geladen werden wollte. Kaum schaute sie hin, lief sogleich ein Trailer mit persönlicher Begrüßung an, samt den mehr oder weniger notwendigen Informationen über das Werk.

Verärgert rollte sie dicht an den Straßenrand und checkte ihr Handy. Das Taxi stand zwei Häuserblocks entfernt und rührte sich nicht. War die Ampel rot oder hatte das Auto eine Macke? Sie scannte den Bereich rund um den Wagen. Die Ampel war eindeutig grün.

Na super, dachte sie‚ jetzt ist die Karre auch noch kaputt.

Wahrscheinlich bekam der Wagen gerade eine ferngesteuerte Reparatur verpasst. Zwar wurden die technischen Daten online von der Werkstatt aus dem Schlüssel gelesen und gingen auf diesem Weg wieder zurück in die Elektronik des Autos, doch selbst mit modernster Technik konnte die Reparatur eine Weile dauern. Sicher war nur, dass sie für ihren Geschmack zu lange dauerte.

Sie entschloss sich, dass nächst beste Taxi heranzuwinken. Kurz darauf hielt ein schnittiger Wagen. Sie rollte auf ihn zu. Bevor sie sich versah, schoss ein junger Mann an ihr vorbei, setzte sich ins Auto und knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Das Taxi brauste davon. Beleidigt blieb sie zurück. Allerdings nur für einen Augenblick, dann dachte sie: New York ist eben New York, bestimmt nicht die freundlichste Stadt auf diesem Planeten, aber die Interessanteste.

Ihr bestelltes Taxi kam wenig später. Der Begleiter stieg aus. Er war ausgesprochen gut gepolstert. Ihr Blick blieb an seinen muskulösen Oberarmen hängen.

„Guten Morgen. Ick war extra in der Muckibude“, protzte er, da er ihre Bewunderung bemerkt hatte.

Mit einer erstaunlichen Leichtigkeit schnappte er sich Tini und verfrachtete sie ins Auto. Wie immer landete sie auf der Rückbank. Die Menschen kapierten nach wie vor nicht, wie wichtig es für einen Behinderten war, vorn zu sitzen. Sie kam allerdings nicht dazu sich zu beschweren, denn sie wurde zum dritten Mal freundlich mit ihrem Namen begrüßt.

"Ihre Muskeln sind nicht echt, oder?“, fragte Tini den Begleiter stattdessen, während er sich zu ihr in den hinteren Teil des Wagens quetschte.

„Ick hab eben bisschen mit Roboterkraft nachgeholfen, deshalb die schicke Jacke. Die is volljepackt mit neuester Technik. Meine Bandscheiben müssen noch ne Weile durchhalten, weeßte. Außerdem hab ick ein kleenet Doping-Frühstück intus. Sollste och mal probieren.“

Tini hasste diesen ganzen Dopingquatsch im Essen, deshalb schwieg sie einfach. Warum musste man unbedingt sein Gehirn den ganzen Tag auf vollen Touren laufen lassen? Die Grenzen des eigenen Gehirns auszuloten, war in den letzten Jahren sehr beliebt geworden. Das führte vermehrt dazu, dass Menschen wegen totaler Erschöpfung von einer Minute auf die andere starben, ohne dass es vorher irgendwelche Warnzeichen gab. Für einen logisch denkenden Menschen war das kein Wunder, schließlich wurden die natürlichen Zeichen des Körpers bewusst ausgeschaltet.

Der Verkehr war zähfließend. Wahrscheinlich gab es mal wieder zu viele Autos auf der Straße. Das Leitsystem entschied sich für eine alternative Route, die ihr allerdings noch langsamer vorkam. Zu ihrem Leidwesen fuhr das Auto eigenständig zum Friedhof. Das verschaffte dem Begleiter Zeit, ohne Punkt und Komma zu plappern.

Er saß gemütlich neben ihr auf der Rückbank und kuschelte sich an ihre Schulter. Seine langen Füße hatte er zwischen die Vordersitze gedrückt.

Tini war ein Mensch, der sich eigentlich immer nach Nähe sehnte, nur nicht hier und nicht mit einem vollkommen Fremden. Obwohl es ihr unangenehm war, ließ sie es geschehen.

Der Friedhof lag hinter hohen Bäumen. Kühle schlug ihr entgegen. Endlich ein Ort, der die Hitze des Sommers auf natürliche Art ausschaltete. Tini kam als letzte. Die Trauernden standen bereits um die leere Grube herum.

Etwas entfernt hörte man einen Bläser mit der Lieblingsmelodie des Toten. Direkt hinter ihm schritt der Pfarrer, der eine auffallend krumme Nase hatte, gefolgt von den Robotern, die den Sarg im Gleichschritt trugen.

Eigentlich ein würdevolles Bild, das hier allerdings lächerlich wirkte, denn einer der Roboter humpelte. Er konnte sein rechtes Metallbein nicht strecken. Wahrscheinlich war es in letzter Zeit nicht geölt worden und klemmte jetzt. Der Sarg schwankte bei jedem zweiten Schritt bedenklich nach links.

Ob es irgendwann einen Tag geben wird, an dem Technik reibungslos funktioniert?, fragte sie sich im Stillen.

Und als ob das Ganze nicht schlimm genug wäre, fing der humpelnde Roboter auch noch an zu quietschen, was sich im Kanon mit dem Bläser ziemlich schräg anhörte. Etliche Trauergäste konnten sich nicht zurückhalten und kicherten los. Daraufhin empörten sich die tatsächlich leidenden Trauergäste heftig.

Die Detektivin betrachtete die Runde. Alles was Rang und Namen hatte war da. Banker, die wichtigsten Geschäftsleute, Museumsdirektoren, Künstler, Architekten, der neu eingesetzte Bürgermeister, Mrs. Zeleny und natürlich Mary Clark Johnson, die Polizeichefin von New York City. Sie stand etwas weiter abseits. Rechts vor ihr standen Ronan Sommers und Tochter. Der schwerreiche Mann machte einen äußerst eleganten Eindruck. Seine Tochter Maya stand ihm in nichts nach. Sie war fast so groß wie der Vater und ausgesprochen schön. Tini schätzte sie auf zwanzig. Während er offensichtlich trauerte, stand die blonde Tochter stocksteif da und starrte regungslos vor sich hin.

Inzwischen waren Bläser, Pfarrer, Roboter und Sarg an der offenen Grabstelle eingetroffen. Während die Roboter den Sarg hinunter ließen, begann der Pfarrer aus dem Buch Jakob zu zitieren: „Ein Bruder aber, der niedrig ist, rühme sich seiner Höhe; und der da reich ist, rühme sich seiner Niedrigkeit, denn wie eine Blume des Grases wird er vergehen. Die Sonne geht auf mit der Hitze, und das Gras verwelkt, und seine Blume fällt ab, und seine schöne Gestalt verdirbt: also wird der Reiche in seinen Wegen verwelken….Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen und er selbst versucht niemand. Sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod…. Darum, liebe Brüder, ein jeglicher Mensch sei schnell zu hören, langsam aber zu reden, und langsam zum Zorn. Denn des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist. Darum so leget ab alle Unsauberkeit und alle Bosheit und nehmet das Wort an mit Sanftmut, das in euch gepflanzt ist, welches kann eure Seelen selig machen. Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein, wodurch ihr euch selbst betrügt… Wer aber durchschaut… das vollkommene Gesetz der Freiheit und darin beharrt und ist nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seiner Tat.“

Der Ton des Pfarrers blieb gleichmäßig monoton. Es gab keinerlei Schwankung. Die Detektivin fragte sich, ob es Redner irgendwann in der Geschichte der Menschheit lernen würden, sich der Situation entsprechend emotional zu äußern. Vielleicht sollte man selbst dafür Roboter einsetzen. Eins war sicher, emotional programmierte Maschinen würden jeden zum Weinen bringen, selbst wenn man dem Toten in keiner Weise nahe stand. Jeder könnte sich während der Zeremonie in den eigenen Gefühlen verlieren, was eine starke Erinnerung an das Ereignis für das restliche Lebens garantierte.

Auffallend oft wanderte der Blick des Pfarrers während der Rede zu Sommers und seiner Tochter. Während die meisten Anwesenden einige Tränen herausdrückten, zeigte Maya nach wie vor keine Regung. Sie wirkte wie von der restlichen Welt abgetrennt. War ihre Trauer einfach intensiver, als die der anderen? Stand sie noch unter dem Schock des Verlustes?

Es fiel der Detektivin schwer, sich den Bürgermeister und die Blonde als Liebespaar vorzustellen. Das passte nicht. Was für Tini dagegen durchaus passte, war der Pfarrer mit der auffallend krummen Nase. Er passte sogar ausgezeichnet zu den beiden Sommers.

Nachdem die langweilige Rede endlich beendet war, durften sich die Umstehenden von Samuel Theodor Benjamin Zeleny verabschieden. Auch Maya. Ohne darauf zu achten was sie tat, warf sie Erde ins Grab. Dann verließ sie den Friedhof, ohne sich umzudrehen.

Nachdem auch die Polizeichefin ihre Pflicht getan hatte, kam sie zu Tini. „Na, was sagen Sie?“

„Mary Clark, was soll ich nach dem kurzen Eindruck schon sagen? Emotionen scheinen nicht gerade Maya Sommers Stärke zu sein. Wenn man sich die Sache so ansieht, könnte man meinen, sie hätte eine Affäre mit dem Pfarrer und nicht mit dem Bürgermeister.“

„Sie und Ihre komischen Ideen. Na ja, wenigstens ist Ihnen aufgefallen, wie eiskalt sich die schöne Blonde verhalten hat. Ich sage Ihnen, die hat Samuel T.B. Zeleny auf dem Gewissen.“

„Wenn Sie sich so sicher sind, bringen Sie die junge Frau vor Gericht.“

„Werde ich!“