Das Unerträgliche annehmen - Joanne Cacciatore - E-Book

Das Unerträgliche annehmen E-Book

Joanne Cacciatore

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Beschreibung

Vorwort von Dr. Jeffrey B. Rubin

EINE SCHATZTRUHE VOLLER VERBALER UMARMUNGEN IN DUNKLEN ZEITEN

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, kann sich der Schmerz des Verlustes unerträglich anfühlen – vor allem, wenn es sich um einen plötzlichen oder traumatischen Tod handelt. Jede Zelle unseres Körpers möchte sich dagegen auflehnen, die ganze Welt um uns herum scheint ihren Sinn zu verlieren. Die Trauer macht uns das Alltagsleben zur Hölle, und manchmal brauchen wir viel mehr Zeit, als andere Menschen uns zugestehen wollen.

Die Trauerpädagogin Dr. Joanne Cacciatore hat mit diesem Buch einen einfühlsamen Begleiter für schwere Zeiten im Leben geschaffen. Sie zeigt darin auf, wie sich in Tragödien Chancen zum Wachstum offenbaren können und erzählt dabei von Menschen mit bewegenden Schicksalen, denen es gelungen ist tiefen Verlustschmerz zu bewältigen.

Das Unerträgliche annehmen ist nicht nur für Hinterbliebene, sondern auch für Trauerbegleiter und Therapeuten eine wertvolle Lektüre. Das Buch ist in leicht verständliche und in sich geschlossene Kapitel gegliedert, so dass es sich auch hervorragend zum Vorlesen beispielsweise in Selbsthilfegruppen eignet.


„Einfach das beste Buch, das ich jemals über den Prozess der Trauer gelesen habe. Erschütternd und ermutigend zugleich.“
—    Ira Israel, The Huffington Post

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Dr. Joanne Cacciatore

Das Unerträgliche annehmen

Wie wir an Verlustschmerz und Trauer wachsen können

Vorwort von Dr. Jeffrey B. Rubin

Im ewigen Gedenken an unsere geliebten Verstorbenen.

Und für all die Trauernden, die mir auftrugen, sie durch ihr unermessliches Leid zu begleiten.

Für meine vier WandererUnd für Cheyenne, meine Hochfliegende:

Früher, jetzt, immer, für Kalpas.

Inhaltsverzeichnis

Liste der im Buch genannten Trauerübungen

Vorwort

Prolog

1 Die Rolle der anderen in unserer Trauer

2 Öffentliche und private Trauer

3 Ritueller und künstlerischer Umgang mit Trauer

4 Die frühen Phasen der Trauer

5 Nährstoffarmer Boden

6 Kulturelles Feingefühl

7 Das Unerträgliche annehmen

8 Innehalten, reflektieren und Sinn erspüren

9 Die Angst hinter der Angst

10 Das Streben nach Glück und die Vereinigung der Gegensätze

11 Trauer zu umgehen heißt, Liebe zu umgehen

12 Intensität und Bewältigung von Trauer

13 Kontraktion und Expansion

14 Die Kollision von Liebe und Verlust

15 Grenzenlose, endlose Liebe

16 Die Personifizierung von Trauer

17 Innehalten in der Trauer

18 Bei etwas sein

19 Mein Herz weinte viele Tränen

20 Barfuß wandern

21 Die Kraft der Selbstfürsorge

22 Selbstfürsorge und Schlaf

23 Wege zur Selbstfürsorge

24 Verwandten und Freunden sagen, was wir brauchen

25 Selbstfürsorge als Ablenkung

26 Neues lernen, sich anpassen, der Intuition vertrauen

27 Wiedertrauer

28 Hingabe und Dehnung

29 Wenn wir zersplittern

30 Wie lange dauert die Trauer?

31 Mut zur Erinnerung

32 Sich die Hände reichen

33 Die Macht unverarbeiteter traumatischer Trauer

34 Jahrzehntelanges Schweigen

35 Schuld und Scham

36 Nach innen und nach außen

37 Leben und Walten der Liebe

38 Wellen der Trauer

39 „Erinnere dich an mich“, sagte sie

40 Rituale und Mikrorituale

41 Sinn finden durch mitfühlendes Handeln

42 Das „Kindness Project“

43 Wenn wir Leid kennen

44 Glühendes Mitgefühl

45 Das Pferd Chemakoh

46 Der Preis unverarbeiteter Trauer und Traumata

47 Generationsübergreifende Trauer

48 Trauersuppe

49 Dunkelheit hat ihr Gutes

50 Was ich weiß

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Lobende Worte für Das Unerträgliche annehmen

Stichwortverzeichnis

Impressum

Trauern müssen wir alle, niemand ist davor gefeit. Wir müssen uns an unsere Toten erinnern. Wir müssen die Trauernden trösten. Wir müssen ganz und gar Mitgefühl sein. Um erlöst zu werden, müssen wir uns erinnern. Erinnerung ist unsere Pflicht – Und das Einzige, das uns retten wird.

„Dieses Buch ist zugleich herzzerreißend und aufbauend. Cacciatore liefert eine praktische Anleitung zur Bewältigung tiefgreifender und lebensverändernder Trauer.“Huffington Post

Liste der im Buch genannten Trauerübungen

Rezept für unverarbeitete Trauer

Entschuldigungsbrief

Personifizierung

Gefühlstagebuch

Trauerpoesie

Barfuß wandern

Selbstfürsorgepläne

Brief an mich selbst

Einmal-täglich-Gelöbnis

Wunschliste für andere

Gefühls-/Handlungstagebuch

Meditation der Hingabe

Adjektiv Tagebuch

Erinnerungskiste

Mikrorituale

Gute Taten

Ausmisten

Vorwort

von Jeffrey B. Rubin

Wir leben in einer prekären Welt, in der in scheinbar immer schnellerem Tempo Todesfälle und Trauer über uns hereinbrechen.

In einer Gesellschaft wie unserer, die süchtig danach ist, pausenlos dem Glück hinterherzujagen (vielleicht in dem unbewussten Versuch, uneingestandenes Leid von sich fernzuhalten), wird Trauer tabuisiert, pathologisiert und aggressiv vermieden. Trauernden wird geraten: „Sieh das Gute“, „Denk positiv“ und „Sei dankbar“. Wenn diese leeren Plattitüden nicht funktionieren (also so gut wie immer), kommt es öfters dazu, dass verzweifelte Menschen mit Medikamenten ruhiggestellt werden. Mit der Folge, dass trauernde Hinterbliebene sich für ihren Schmerz auch noch schuldig fühlen oder schämen, ohne Handhabe, wie sie ihn bewältigen können. Was bei einem Trauma von zentraler Bedeutung ist und was es erträglich macht (wie uns der Psychoanalytiker Robert Stolorow in Trauma and Human Existence hilfreich ins Gedächtnis ruft), ist, eine Heimat für unsere Gefühle zu haben. Trauer, die abgelehnt, unterdrückt oder zum Schweigen gebracht wird, schadet dem Einzelnen, wie auch den Familien und Gemeinschaften. Wie Dr. Joanne Cacciatore in diesem wundervollen Buch treffend feststellt, führt dies zu „Sucht, Missbrauch und Gewalt, oft gegen Schwächere: Kinder, Frauen, ältere Menschen und Tiere.“

In Das Unerträgliche annehmen zeigt uns Dr. Cacciatore, außerordentliche Professorin an der Arizona State University, Expertin für traumatische Verluste und Trauer, Zen-Priesterin und trauernde Mutter, einen gesünderen Weg auf. Mit einem reichen Schatz an mehr als 20 Jahren klinischer Erfahrung, Forschungserkenntnissen, buddhistischen, christlichen, jüdischen und indigenen Weisheitslehren sowie westlicher Psychologie beleuchtet Dr. Cacciatore die emotionalen Auswirkungen von Trauer und die psychologischen, relationalen und spirituellen Aspekte der Heilung und Transformation. Ihr bewegendes, aufschlussreiches Buch ist ein exzellentes Gegengewicht zu der Übereile, mit der unsere trauerunwillige Gesellschaft negative Gefühle verleugnet und seelischen Schmerz betäubt.

Das Buch enthält ergreifende Kapitel über Themen wie den Preis uneingestandener, unverarbeiteter Trauer und Traumata, generationsübergreifende Trauer, Schuldgefühle und Scham, den Zusammenhang zwischen Verlust und Liebe, das In-Trauer-Sein und den Wert von Ritualen und Mikroritualen. Darin erläutert sie die Strategien, zu denen Betroffene wie auch medizinische und psychiatrische Einrichtungen greifen, um Trauer zu verleugnen, zu unterdrücken und zu betäuben. Und sie zeigt den Weg zur Heilung auf. Das Unerträgliche annehmen ist eine überzeugende Kritik an unserer „mitgefühlsarmen“, glückssüchtigen Gesellschaft, die eine pathologische Beziehung zu Gefühlen im Allgemeinen und zur Trauer im Besonderen hervorruft. Dr. Cacciatore verdeutlicht, welchen Preis es hat, Trauer zu pathologisieren und die Gefühlswelt von Menschen, die einen schrecklichen Verlust erlitten haben, zu verleugnen und zu entwerten. Sie zeigt außerdem auf, wie sehr Trauernde dadurch an sich selbst zweifeln und sich entfremdet und allein fühlen, was eine Heilung von vornherein ausschließt.

Dieses Buch plädiert für Therapieansätze für Traumata und Trauer, die ohne Wenn und Aber das ganze Gefühlsspektrum der Menschen respektieren und unserem Schmerz eine emotionale Heimat geben. Anhand von berührenden und manchmal herzzerreißenden Geschichten aus ihrer Praxis und ihrem Leben zeigt Dr. Joanne Cacciatore (von Zehntausenden trauernden Menschen, mit denen sie auf sechs Kontinenten gearbeitet hat, auch liebevoll „Jojo“ genannt), was notwendig ist, um Heilung zu ermöglichen. Mit unverblümter Ehrlichkeit, inspirierendem Mut und beispielhafter Empathie lässt sich Dr. Cacciatore ruhig, mitfühlend und geduldig auf den Schmerz ihrer Klienten ein. Und ihre Leser können sich auf behutsame Weise verwandelt fühlen.

Das Unerträgliche annehmen erzählt nicht nur bemerkenswerte Geschichten der Heilung, sondern zeigt auch auf beeindruckende Weise, was für eine geheimnisvolle, transformative Kraft die Trauer hat, wenn ihr mitfühlend begegnet wird, sodass unser Herz größer wird, sich unser Kreis des Mitgefühls erweitert und eine tiefere Sinnhaftigkeit in unserem Leben entsteht. Traumatisierte Menschen leben in einer anderen psychologischen Welt als nicht traumatisierte. Aber auch wenn Traumatisierte von Schmerz und Leid überwältigt sind, können sie aus ihrer Alltagstrance erwachen. Dr. Cacciatore erläutert zwei Wege, die einen Wandel ermöglichen: gesteigerte Dankbarkeit und das von ihr so bezeichnete „glühende Mitgefühl“. „Keiner ist so der Dankbarkeit fähig wie jemand, der dem Königreich der Nacht entkommen ist“, erkannte Elie Wiesel. Dr. Cacciatore stellt uns in ihrem Buch Menschen vor, die einen traumatischen Verlust erlitten haben und uns etwas über erweiterte Dankbarkeit und den Dienst an anderen lehren. „Glühendes Mitgefühl“, das aus durchlebter Trauer erwächst, hilft uns, aus unserem Schlummer zu erwachen und wieder voll und ganz zu leben. Es hilft uns, mehr Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen, die genauso leiden wie wir. Dr. Cacciatore ist überzeugt, dass diese Kraft die Welt heilen kann.

Das Unerträgliche annehmen ist voll herzerwärmender Geschichten und einzigartiger Einblicke und zeigt uns, dass Schmerz ein Tor zur Weisheit und zu glühendem Mitgefühl sein kann. Dr. Cacciatore legt überzeugend dar, dass wir mit der Trauer leben und bei ihr sein müssen. Dieses Buch wird Ihren Horizont erweitern, Ihr Herz erwärmen und Ihre Seele bereichern. Das Unerträgliche annehmen ist nicht nur eine Kritik an Trauervermeidung und ein Plädoyer für Empathie und Mitgefühl, sondern auch eine Einladung zu einem offenen, fürsorglichen, mutigen und zugewandten Leben.

Ich empfehle dieses Buch von ganzem Herzen allen Menschen, die einen Verlust erlitten haben, Fachleuten für psychische Gesundheit und spirituell Suchenden, Studierenden und Lehrkräften in den Geisteswissenschaften und ganz normalen Menschen, die sich nach einem lebendigeren, erfüllteren Leben sehnen. Nach der Lektüre dieses wunderbaren Buches werden Sie nicht nur besser mit Ihrer eigenen Trauer und dem Kummer anderer Menschen umgehen können, sondern auch weiser leben und lieben.

Dr. Jeffrey B. Rubin ist Autor von „Psychotherapy and Buddhism: Toward an Integration“ und „The Art of Flourishing: A New East-West Approach to Staying Sane and Finding Love in an Insane World“.

Prolog

Das Vergessenwollen verlängert das Exil – und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Jüdisches Sprichwort, 1985 von Richard von Weizsäcker bei seiner Rede vor dem Bundestag zitiert

I.

Es gibt einen Ort, einen unantastbaren Ort in den tiefsten Winkeln meines Herzens, wo ihr Name eingebrannt, eingehämmert, eingemeißelt ist.

Es war ein warmer Sommertag, als ich meine Tochter Cheyenne zu Grabe trug, die noch ein Baby war. Ich sah zu, wie Männer in grauen Anzügen weiche Erde auf den kleinen, mit rosafarbenem Satin ausgeschlagenen Sarg schaufelten, der ihren eingewickelten Leichnam enthielt. Es war eine kleine Trauerfeier; nur wenige hatten sie gekannt.

Keine jungen Freunde waren da, um sich von ihr zu verabschieden und ihren frühen Tod zu beklagen. Keine Lehrer, um ihre Gutherzigkeit zu preisen. Keine frühere Nachbarin, um zu sagen, wie sehr sie ihr Lächeln vermissen würde. Nur ich war da, so fühlte es sich zumindest an, und meine Brüste, die im angestauten Widerspruch zu ihrem plötzlichen Tod brannten.

Nur wenige Stunden zuvor hatte ich den Sargdeckel eigenhändig geschlossen. Es gibt keine Worte für diesen körperlichen, emotionalen und existenziellen Verlust – außer, dass ich an jenem Tag mit ihr starb.

Ich hatte mir das nicht gewünscht.

Ich hatte es nicht gewollt.

Ich hasste alles daran.

Ich weiß noch, dass ich mich fragte, wie sich die Welt nach dieser Tragödie überhaupt weiterdrehen konnte. Ich wollte die Autos anbrüllen, die am Friedhof vorbeifuhren. Ich wollte die Vögel in den Bäumen anschreien, die Schatten auf ihren Grabstein warfen. Ich wollte, dass das Gras aufhörte zu wachsen und die Wolken aufhörten vorüberzuziehen und die anderen Kinder, die dort begraben wurden, aufhörten zu sterben.

Während die Stunden zu Tagen wurden und die Tage zu Wochen, wurde meine Trauer immer stärker und erfasste bald alle Ebenen meines Seins. Es fühlte sich an, als würde ich körperlich sterben, jeden Tag aufs Neue, sobald ich die Augen öffnete – in den seltenen Fällen, in denen ich überhaupt Schlaf gefunden hatte. Das Atmen tat mir weh und von Kopf bis Fuß breitete sich ein allumfassender Schmerz in mir aus.

Tief in der Nacht strich ich wie ein gefangenes Wildtier durch die Flure, auf der Suche nach meinem Baby.

Ihr Körper war nicht mehr da, aber alles in mir war evolutionär darauf programmiert, bei ihr zu sein, ihr die Brust zu geben, sie zu besänftigen, ihre Haut zu berühren. Die Sehnsuchtsanfälle waren unstillbar, machten mich verrückt und viele Male bezweifelte ich, überhaupt noch bei Sinnen zu sein. Was ich nicht wusste, war, dass ich mich gerade veränderte, eine qualvolle Verwandlung durchmachte – das Wissen darum hätte meinen Schmerz allerdings nicht im Geringsten gelindert.

Und bis zum heutigen Tag würde ich all das mit Freuden wieder eintauschen, um sie hier bei mir zu haben …

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, kann das Leben für uns unerträglich werden.

Und doch werden wir – vom Leben, vom Tod – aufgefordert, es zu ertragen, das Nichterleidbare zu erleiden, das Unaushaltbare auszuhalten. Das Unerträgliche annehmen ist ein Ausdruck meines Herzens und mein Lebenswerk – aufreibend und furchtbar, erfüllend und zutiefst lebendig.

Dieses Buch wird Ihnen keine seelische Umgehungsstraße anbieten; es wird nicht dazu führen, dass Sie sich nicht mit dem Trauerschmerz auseinandersetzen müssen, und das soll es auch nicht. Wenn wir zutiefst lieben, trauern wir zutiefst; außergewöhnliche Trauer ist ein Ausdruck außergewöhnlicher Liebe. Trauer und Liebe spiegeln einander; das eine ist ohne das andere nicht möglich.

Was dieses Buch aber hoffentlich tun wird, ist, Ihnen einen sicheren Raum zu eröffnen, damit Sie fühlen und bei Ihrem zu Recht gebrochenen Herzen sein können. Es ist eine Einladung, den qualvollen Schmerz auszuhalten, in der tiefen Nacht der trauernden Seele zu verweilen und bewusst bei dem zu sein, was ist – so schwierig und schmerzvoll es auch ist.

Das englische Wort bereave leitet sich von dem altenglischen Wort befearfian ab, das „entziehen, wegnehmen, berauben“ bedeutet. Wenn der Tod uns unserer Lieben beraubt, dann hallt unsere Trauer, unser Verlust durch die Zeit. Wir trauern um die Momente von morgen und die Momente des kommenden Monats und Jahres, wir trauern bei Abschlussfeiern und Hochzeiten, bei Geburten und darauffolgenden Todesfällen. Trauer besteht aus zahllosen Einzelteilen, zahllosen Momenten, die alle für sich betrauert werden können. Und durch sie alle wissen wir immer zutiefst, dass jemand fehlt, dass es einen Ort in unserem Herzen gibt, der niemals wieder ausgefüllt werden kann.

Mit dem Tod eines geliebten Menschen verschwindet auch die Person, die wir einst waren, und wir werden zu einer irgendwie abweichenden Form unserer selbst, die auf eine fremde Art und Weise in der Welt ist. Wir wollten das nicht, es war so nicht geplant, so sollte es nicht sein – und doch ist es jetzt so, auch wenn unser Herz immer wieder wispert: „Nein, nein, nein.“ Da sind wir nun, fühlen uns wie ausgestoßen, mit dem Gesicht am Boden, auf blutigen Knien oder mit ausgestreckten, um Hilfe flehenden Armen.

Der Tod fühlt sich brutal an und in gewissem Maße ist er das auch – aber Trauer muss deshalb nicht verteufelt werden.

Wir mögen es niemals akzeptieren, dass unser Kind, Elternteil, Lebenspartner, Enkel, Freund oder Geliebter gestorben ist, aber wir können lernen zu akzeptieren, wie wir uns mit diesem Verlust fühlen, wo in uns der Schmerz am stärksten ist, wie er beschaffen ist, wie sein Grundtenor ist und wie tief er geht. Und mit der Zeit kann die Trauer sich dann von einem gefürchteten, unerwünschten Eindringling in etwas Vertrauteres und weniger Furchterregendes verwandeln – in einen Begleiter vielleicht.

Machen wir uns nichts vor: Jemanden zu verlieren, den wir lieben, verändert uns zutiefst, unausweichlich und für immer, und der Schmerz ist jenseits aller Vorstellungskraft. Der Psychologe Rollo May schrieb: „Man kann nicht vollkommen menschlich werden ohne schmerzlichste Erfahrungen.“ Erst wenn wir, oft unter Schmerzen, in unseren Gefühlen leben, können wir vollkommen menschlich werden. Durch Trauer können wir eine alchemistische Verwandlung erfahren, die niemand anderes erdenken, beschleunigen oder bewirken kann.

Ganz in der Trauer zu leben bedeutet, die Widersprüchlichkeiten des großen Mysteriums in uns zu tragen, dass ein Verlust uns vernichtet, uns aber auch ganz werden lässt. Trauer macht uns leer, aber wir sind voller Gefühle. Angst lähmt uns, aber wir machen anderen Mut. Wir betrauern die Abwesenheit unserer geliebten Menschen, aber beschwören sie uns herbei. Wir hören auf zu sein, wie wir einst waren, aber werden menschlicher. Wir kennen die dunkelste aller Nächte, können aber so das Licht unserer geliebten Menschen in die Welt tragen.

Wir sind das Paradoxon.

Wir sind die, die das Unerträgliche ertragen.

II.

Herzstück dieses Buches ist der Tod meiner Tochter, aber mit dem Schreiben begann ich auf einer sechswöchigen Vortragsreise an der Ostküste der USA. Meine Erfahrungen auf dieser Reise, vor allem auf der langen Zugfahrt zurück, zeigten mir einmal mehr, wie wichtig und wirksam es ist, sich mit seiner Trauer auseinanderzusetzen.

Meine Reise hatte mich zunächst nach Richmond, Virginia, geführt, wo ich Trauer-Meditation gelehrt hatte. Im von uns gemeinsam geschaffenen Raum hatten die Teilnehmer still geweint, und mir waren die Worte Ajahn Chahs in den Sinn gekommen: „Wer während einer Meditation noch nie geweint hat, der hat noch nicht richtig meditiert.“ Wir hatten Kerzen angezündet und uns erinnert. Wir hatten einander gehalten. Einige hatten nur wenige Wochen vor dem Workshop geliebte Menschen verloren, andere schon Jahrzehnte zuvor.

Ich war zum Wohnsitz der Familie Bacon in Newtown, Connecticut, gefahren und dieselben Holzdielen hinuntergestiegen wie die Erstklässlerin Charlotte Helen Bacon vor dem tragischen Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School [bei dem 100 km von New York entfernt im Dezember 2012 insgesamt 28 Menschen starben, Anm. d. Übers]. Ich hatte ihren Bruder getroffen und er hatte für mich ein Exemplar des Buches signiert, das er im Gedenken an seine ermordete kleine Schwester geschrieben hatte. Ihre Eltern und ich hatten ihr Grab besucht, nah bei ihren Freunden, und wir hatten schweigend davorgestanden. Was gibt es auch zu sagen angesichts einer unaussprechlichen Tragödie?

Ich war nach New York gereist, wo ich Gesundheitsdienstleister angeleitet hatte, trauernden Menschen zuzuhören, eine Schicht nach der anderen aufzuarbeiten. Mehrere Tage hintereinander hatten sich Menschen, deren Aufgabe es sonst war, anderen zu helfen, ganz von Neuem mit ihrem eigenen seelischen Schmerz befasst. Einige empfanden ihre latente Trauer wie ein verblichenes Foto, das vom jahrelangen Anfassen an den Rändern schon ganz abgenutzt war, und wie ihre Klienten brauchten auch sie einen sicheren Ort, um sich mit ihren alten Wunden auseinanderzusetzen.

Auf der Konferenz hatten trauernde Mütter über ihre Erfahrungen mit dem Verlust gesprochen und geschildert, wie sie ihrer Kinder gedachten, indem sie anderen Menschen halfen – und die kleinen Kinder, deren Andenken sie bewahrten, wurden für uns alle zu großartigen Lehrern des Mitgefühls. Eine Mutter hatte uns beschrieben, wie sie nach dem unerwarteten Tod ihres Babys mit Gewalt fixiert werden musste – nun hilft sie trauernden Eltern auf der ganzen Welt. Eine andere Frau hatte erzählt, wie sehr sie mit Schuldgefühlen rang, weil durch ihr Handeln, wenn auch unbeabsichtigt, ihre Tochter ums Leben gekommen war. Jetzt lässt sie sich zur Trauerberaterin ausbilden. Eine weitere Frau hatte die Ereignisse geschildert, die zur Ermordung ihrer beiden kleinen Kinder geführt hatten, und über ihre jetzige Arbeit gesprochen, bei der sie Eltern Hilfe anbietet, deren Kinder ebenfalls ermordet wurden.

Ich hatte viele Geschichten über Liebe, Verlust und Trauer gehört, manchmal mutig vor Gruppen vorgetragen, manchmal in Form von leisen Geständnissen im hinteren Teil eines Raumes. Einige Menschen kontaktierten mich Stunden oder Tage später vergleichsweise anonym per E-Mail; ihre Trauergeschichten waren wie Keimlinge durch im Laufe der Jahre festgetretene Erde gebrochen.

Als ich jetzt den Zug bestieg und zurück nach Hause fuhr, sann ich über eine mysteriöse Eigenschaft der Trauer nach: Wenn wir jemandem in die Augen schauen, der Leid erfahren hat, dann wissen wir ohne ein einziges Wort, dass der andere es weiß, und es liegt etwas schmerzlich Erholsames in diesem gegenseitigen Erkennen.

Im Zug ergaben sich immer wieder Gespräche, die erst einfach begannen und dann schnell zu einem tiefen, bedeutungsvollen Austausch über Liebe und Verlust, Leben und Tod wurden. Ein junger Mann mit ruhigen Augen und einem strahlenden Lächeln erzählte mir, dass er hilflos mitansehen musste, wie sein Freund von einem Zug erfasst und getötet wurde, und er bemerkte sichtbar traurig, dass das Ereignis nun schon fast ein Jahr her war. Nach einem kurzen Gespräch mit einer jungen Mutter und ihrem kleinen Jungen über die Herausforderungen des Zugreisens mit Kleinkindern fragte sie mich, was ich beruflich machte. Ich sagte es ihr, woraufhin sie mir vom Tod ihres ältesten Bruders erzählte und dass ihre Mutter seit diesem Verlust nicht mehr dieselbe war, weil in der Familie die unausgesprochene Regel galt, nicht über den Tod des Jungen zu sprechen und daher nichts über sein Leben oder ihre Liebe zu ihm zu sagen.

Eines Morgens beim Frühstück saß ich einem älteren Mann aus Südkalifornien gegenüber, der eine Kappe eines Traktorherstellers trug und einen ausladenden Bauch hatte. Wir kamen ins Gespräch und irgendwann blickte er von seinem griechischen Joghurt auf und sagte: „Ich weiß eine ganze Menge über Trauer und Traumata“, woraufhin er begann, über seine Dienstjahre in einer SWAT-Einheit zu erzählen. „Sie glauben nicht, was ich alles gesehen habe“, sagte er und schilderte so traumatische Erlebnisse, dass sie ihn auch noch fünfunddreißig Jahre später beschäftigten. „Ich war immer stark, die Ruhe selbst. Ich vergoss nie eine Träne … aber seit ich in Rente bin, kommt es mir vor, als wäre ich ständig am Heulen und nah am Wasser gebaut.“ Ich nickte und fand es angebracht zu fragen, wann er denn angefangen hatte, sich so zu fühlen. Er hielt inne und blickte hinauf zur Decke. „Hm, keine Ahnung. Ich habe einfach noch nie so viele und so tiefe Gefühle gehabt. So langsam frage ich mich, ob mit mir was nicht stimmt.“ Aber am Ende unseres Gesprächs kam er zu dem Schluss, dass dieser Gefühlsansturm jetzt „wahrscheinlich normal“ war, weil man „damals bei der Arbeit keine Schwäche zeigen oder heulen durfte.“

Ein anderer Mann aus St. Louis erzählte mir eines Morgens bei einem Porridge vom Tod seiner ersten Frau. Er hatte sich kaum Zeit zum Trauern gelassen und wenige Monate später wieder geheiratet, weil er „zu traurig war, um das alles allein zu ertragen“. Doch seine Trauer ließ sich einfach nicht vertreiben, und zwei Jahre später ließen er und seine zweite Frau sich nach der Geburt ihres ersten Kindes scheiden, woraufhin er zu trinken begann und den Kontakt zu seinem einzigen Nachkommen verlor. Der Schmerz über alle diese Verluste hatte sich ihm in tiefen Linien ins Gesicht gegraben.

Ich traf eine 78-jährige pensionierte Krankenschwester aus Dayton, als sie sich gerade über das kärgliche Teeangebot der Eisenbahngesellschaft beschwerte. Ich erzählte ihr, dass ich auch ein Tee-Snob sei und deshalb meine eigene Bio-Mischung dabeihätte. Ich bot ihr etwas davon an und sie fragte, was ich denn an der Ostküste machte. Als ich es ihr sagte, senkte sie den Blick auf ihre dampfende Tasse Earl Grey. Sie spitzte die Lippen, nahm mit sichtbarem Unbehagen einen Schluck und stieß dann einen langen Seufzer aus. „Wissen Sie, ich hatte eine Tochter“, sagte sie. „Sie wäre jetzt etwa in Ihrem Alter.“ Sie seufzte erneut – und dann, auf der Fahrt vorbei an Gebirgszügen, mit Graffiti bemalten Brücken und hier und da ein paar Baumwollfeldern, erzählte sie mir über zwei Stunden lang die Geschichte ihrer Tochter, die 1974 gestorben war. Es war eine Geschichte, die sie noch nie jemandem vollständig erzählt hatte. Als sie fertig war, sagte sie: „Ich glaube, meine Tochter wäre genau so eine nette junge Frau gewesen wie Sie.“ Wir hatten beide Tränen in den Augen.

Meine Reisen nach Osten und zurück nach Hause schienen mir symbolisch für viele Reisen durch Liebe und Trauer. Durch das Fenster an meinem Platz sah ich verlassene Spielplätze und verfallene Scheunen direkt neben frisch gestrichenen Schulen und florierenden Bauernhöfen. Ich sah ausgetrocknete Flussbetten und üppig bewachsene Ufer. Ich sah sterbende Tümpel und grüne Bäche. Manchmal war die Fahrt turbulent und ruppig, dann wieder ruhig und beschaulich.

Wie die Trauer hatte auch der Zug seinen eigenen Rhythmus, seine wechselnden Geschwindigkeiten und veränderlichen Bedingungen – beeinflusst vom Wetter, von einer guten oder weniger guten Wartung und von den Landstrichen, durch die wir fuhren. Manchmal schienen wir ganz langsam dahinzukriechen, und ich konnte mich ganz auf die Silos von Garden City oder die Antilopenherde im Comanche National Grassland konzentrieren. Dann wieder verwischte das hohe Tempo auch die majestätischsten Bäume, vermengte Farben und ließ Konturen verschwimmen.

An manchen Stellen auf der Strecke konnte eine einfache Weiche unsere Fahrtrichtung ändern, was mich daran denken ließ, wie wir uns bei einem Todesfall in Richtung Verdrängung oder Liebe wenden können, Richtung Trauer oder Verleugnung. In Tunneln war es manchmal so dunkel, dass absolut kein Licht mehr zu sehen war; auch die Trauer kennt solche Zeiten. Meine Augen brauchten Zeit, um sich daran anzupassen, aber dann konnte ich erkennen, was sich an diesen dunklen Orten befand. Manchmal hatte mein Handy Empfang, manchmal nicht; manchmal hatte ich eine Verbindung zur Außenwelt, dann wieder war jede Verbindung gekappt – wie auch bei der Trauer.

Beim Blick aus dem Fenster begann mir irgendwann auch der Kontrast zwischen Vor- und Hintergärten aufzufallen. Die Vorgärten imponierten mit sorgfältig gepflegtem Rasen und akkurat getrimmten Hecken, blitzsauberen Autos und leuchtend roten Fahrrädern. Die Hintergärten sahen aus wie Schrottplätze mit ausrangierten Dingen, die die Leute nicht mehr brauchten und nutzlos fanden. Was hinterm Haus lag, war unerwünscht, in Einzelteile zerlegt, kaputt oder in Vergessenheit geraten. Manches verrottete dort schon seit Jahren, lag sinnlos herum, aus den Augen, aus dem Sinn, manchmal mit einer Plane abgedeckt – aber immer noch da. Auch Trauer fühlt sich für viele an wie etwas, das zum „Gerümpel“ muss, ab in den Hinterhof, wo man nicht mehr an sie herankommt, wo sie unwichtig ist und keinen Einfluss mehr hat. Wir wollen diesen Plunder nicht, wir wollen ihn vergessen. Aber wie der erste Bundespräsident des wiedervereinigten Deutschlands, Richard von Weizsäcker, uns mit dem von ihm zitierten Sprichwort bereits mahnte: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil – und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ So ist es auch mit der Trauer.

Diese 5300 Kilometer, 140 Stunden dauernde Zugreise wurde zu einem Mikrokosmos meiner Arbeit: die Schaffung eines Raumes, in dem Trauer mit offenen Armen akzeptiert und geachtet wird und diese Anerkennung an erster Stelle steht. Mit diesem Buch lade ich Sie dazu ein, gemeinsam mit mir in die unzähligen Gesichter und Herzen der Trauer zu blicken, um zu unserer menschlichen Ganzheit zurückzufinden.

Joanne Kyouji Cacciatore

Sedona, Arizona, USA

1

Die Rolle der anderen in unserer Trauer

Und wir weinten, dass ein so wundervoller Mensch nur so kurz leben sollte. William Cullen Bryant

Ich lernte Kyles Mutter durch meine Arbeit mit trauernden Eltern kennen. Ihr 14-jähriger Sohn war von einem Querschläger getroffen und getötet worden. Auch wenn der Schuss nicht ihm gegolten hatte, so waren doch alle seine vierzehn Jahre ausgelöscht worden – durch einen Menschen, den man niemals finden und strafrechtlich verfolgen würde.

„Ich hasse Trauern! Ich will es nicht mehr! Sorgen Sie dafür, dass es aufhört! Es bringt mich um!“ Karen schrie und weinte auf dem Boden meines Büros, während ich im Schneidersitz still neben ihr saß. Sie vergoss so viele Tränen, dass sie auf ihre beige Leinenhose tropften und Flecken ihrer blauen Wimperntusche darauf verteilten, die sie – in dem Versuch, irgendwie ihre Verzweiflung zu verbergen – jeden Morgen bei der Arbeit trug. Karen war alleinerziehend und Kyle war ihr einziges Kind gewesen, ihr „Ein und Alles“. Der Tag, an dem er starb, veränderte ihr Leben und ihre Identität, sagte sie. Sie fühlte sich von anderen unter Druck gesetzt, damit abzuschließen, und wollte sich wieder „normal fühlen“.

Sie erzählte mir, wie ihr Cousin sie einem kinderlosen Kollegen als ebenfalls kinderlose Frau vorgestellt hatte. Das war für Karen eine Zäsur, die sie in die Isolation trieb. Ab diesem Moment sah sie sich nicht mehr als Mutter. Ihr Schlaf veränderte sich, sie hörte auf, in die Kirche zu gehen. Sie zog sich von Freunden zurück und fühlte sich in der Welt unsicher. Sie gab das Haus auf, in dem sie Kyle aufgezogen hatte, und zog in eine Wohnung in einem nahegelegenen Vorort.

Sechs Monate nach Kyles Tod kam Karen zu mir und wünschte sich von mir, dass ich ihr helfen würde, ihre Trauer zu „überwinden“ und „sich besser zu fühlen“. Es lag etwas Verzweifeltes in unserem Gespräch, das mir sehr vertraut war. Sie fantasierte darüber zu sterben, um bei Kyle zu sein. Sie wollte nicht wirklich sterben, sondern wünschte sich nur mit aller Kraft, die Zeit zurückzudrehen. Sie wollte Kyle zurück. Seine Rückkehr war das Einzige, das ihr ihren unheilbaren Schmerz nehmen würde. Körper, Geist, Herz und Seele waren im Protestzustand.

Oft sind wir kollektiv wie gebannt, wenn wir erfahren, dass jemand gewaltsam zu Tode gekommen ist, wenn Todesfälle in den Medien thematisiert werden oder wenn ein Star stirbt. Diese Reaktion ist gang und gäbe, oft noch garniert mit öffentlichen Gefühlsergüssen und unpassenden Beileidsbekundungen wildfremder Menschen. Umgekehrt finden Todesfälle wie Kyles, die sich unter privateren, aber ebenfalls tragischen Umständen ereignen und nicht öffentlich bekannt werden, kaum Beachtung.

In Karens Fall waren mitfühlende Gesten der Anteilnahme nur von kurzer Dauer. Ihre Mutterrolle wurde nach dem verfrühten Tod ihres Sohnes verleugnet, sodass sie irgendwann an ihrem eigenen Herzen zweifelte. Sie fühlte sich weiterhin als Kyles Mutter, aber der ständige gesellschaftliche Druck führte schließlich dazu, dass sie nicht nur ihrer Mutterrolle misstraute, sondern auch ihren rechtmäßigen Gefühlen, ihrer Trauer. Niemand erinnerte sich mit ihr an Kyle. Niemand sprach über ihn oder erkannte ihre Trauer an.

Im scharfen Kontrast dazu waren die Leute völlig entsetzt, als Charlotte Helen Bacon in Newtown, Connecticut, schlagzeilenträchtig von einem Amokläufer getötet wurde, viele bekundeten ihre Trauer über ihren Tod, obwohl sie sie nie gekannt hatten.

In der Sandy Hook Elementary School wurden 20 Erstklässler und sechs Angestellte der Grundschule ermordet. Es war eine Horrorgeschichte, die über Monate und Jahre immer wieder von den Massenmedien aufgegriffen wurde. Viele Menschen, die persönlich vom Tod eines Kindes oder eines anderen geliebten Menschen betroffen waren, fühlten sich der unaufhörlichen Berichterstattung hilflos ausgeliefert.

Ich lernte Charlottes Eltern im Sommer 2014 kennen. Charlotte, ein kluges, mutiges und beharrliches Mädchen, das „ein bisschen frech“ und voller Lebensfreude gewesen war, wurde ermordet, als sie sich mit ihren Klassenkameraden in den Toilettenräumen der Schule verschanzte. Alle Kinder bis auf eines in den Toilettenräumen starben an diesem verhängnisvollen Tag. Charlottes Eltern Joel und JoAnn rangen mit dem tragischen Tod ihrer einzigen Tochter und widersetzten sich gleichzeitig der öffentlichen Ausschlachtung ihrer privaten Tragödie. In einem offenen Brief schrieb eine wütende, verletzte und frustrierte JoAnn:

Am 14. Dezember 2012 hat jemand meine Tochter ermordet und damit ihre und meine Zukunft gestohlen. Sie wurde mit ihren Klassenkameraden in die Toilettenräume ihrer Schule gedrängt und niedergeschossen. Völlig schutzlos und wehrlos. UND ICH BIN WÜTEND. Meiner Erfahrung nach mögen die Leute Wut am allerwenigsten. Es gibt drei Arten, wie sie darauf reagieren: Entweder sie versuchen, meine Einstellung zu ändern und mich dazu zu bringen, „positiv zu denken“ und „das Gute zu sehen“, oder sie wechseln das Thema oder sie kommen gar nicht mehr vorbei. All das bringt mich nur noch mehr zur Weißglut. Es ist ein Teufelskreis. Ich kann meine Wahrheit aussprechen, dann sind alle pikiert und ergreifen die Flucht, oder ich kann so tun als ob, lächeln und nicken und mich dabei wie eine Heuchlerin fühlen. Beides ist furchtbar, und so oder so fühle ich mich isoliert und unverstanden.

Ich möchte wirklich wissen, wie irgendjemand auf die Idee kommen kann, ich würde jemals mit der Ermordung meiner Tochter klarkommen? Ich bin empört und will schreien: „Warum seid ihr nicht empört?“ Und was das Gute angeht, das ich doch sehen soll: Diesen Weg wollt ihr sicher nicht mit mir gemeinsam gehen. Ihr könnt gern das Gute sehen, ich sehe davon gerade nicht sehr viel. Ihr braucht mir auch nicht zu erzählen, dass aus großen Tragödien auch immer Großes erwächst. Ich will nicht hören, dass ihr durch den Tod meiner Tochter irgendwas Tiefgründiges gelernt oder getan habt. Meine Tochter ist nicht auf die Welt gekommen, um durch ihr Ableben neue Perspektiven zu schaffen. Charlotte war hier, weil sie gewollt war, geliebt wurde und dieser Welt zu ihren Lebzeiten etwas zu geben hatte. Alles andere fühlt sich an wie Beschwichtigung – und es tut weh. Nichttrauernde suchen gerne Inspiration, den Silberstreif am Horizont, das triumphale Ende. Ich hasse es, erzählt zu bekommen, ich sei eine Inspiration. Mir wird schlecht davon. Ich bin eine trauernde Mutter.

JoAnn spricht wichtige Punkte an, wie andere Menschen unsere Trauer wahrnehmen. Das kann viele Gefühle in uns aufwühlen und unsere Trauererfahrung noch komplizierter machen. Für JoAnn ist die ausgesprochene oder stillschweigende Annahme, Charlottes Tod sei dazu da, andere zu inspirieren oder eine bessere Welt zu schaffen, nicht hilfreich. Welches „Vermächtnis“ ihr Tod auch immer haben mag, für ihre Familie ist der Preis viel zu hoch. Und den tiefen, absoluten Schmerz nicht anzuerkennen, der ihrem „neuen“, so nicht gewünschten Leben vorausgegangen ist, ist respektlos.

Unsere kulturellen Normen befördern eine unerklärliche Doppelmoral, die oft großen Schaden bei Trauernden anrichtet. Tragödien, die man für würdig erachtet, erhalten Aufmerksamkeit, woraufhin dann oft fremde Menschen diese Todesfälle an sich reißen und für sich eine Trauer beanspruchen, die nicht die ihre ist. Persönliche Trauer ist unerwünscht, ja sogar verpönt, wenn sie über eine kurze Zeitspanne hinausgeht. Noch Jahre später erinnert man in unserer Gesellschaft gerne öffentlich an private Tragödien, ohne die persönlich Betroffenen vorher um ihre Einwilligung gebeten oder Rücksprache mit ihnen gehalten zu haben. Wenn ein Verlust hingegen nicht dramatisch genug ist, die Massen nicht bewegt oder unbrauchbar für die öffentliche Bühne ist, dann kann es sein, dass die Öffentlichkeit sich überhaupt nicht mehr daran erinnert.

Wenn andere unsere Trauer infrage stellen, unsere jahrelange Beziehung zu unseren geliebten Verstorbenen missachten, uns wie Aussätzige behandeln, uns aus dem Weg gehen und uns zur Heilung drängen, bevor wir dazu bereit sind, dann machen sie unsere Last noch schwerer.

Es scheint fast so, als könnten wir unseren Schmerz nur auslöschen, indem wir unsere Liebe aufgeben – indem wir den Platz für den geliebten Menschen in unserem Leben entfernen. Doch wenn wir auf die Weisheit unseres Herzens hören, wissen wir, dass das unmöglich ist.

Trauer und Liebe gehen Hand in Hand.

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Öffentliche und private Trauer

Mögen wir so sehr eins sein, dass, wenn einer weint,n der andere Salz schmeckt. Khalil Gibran

Am 22. Dezember 2009 verabschiedeten sich Katie und Zack von ihrer Mutter, um sich in ihrer Kleinstadt im Süden Arizonas mit Freunden zu treffen. Es war das letzte Mal, dass sie sich sahen. Bei einem plötzlich aufkommenden Staubsturm kollidierten neun Sattelzüge und 13 Personenkraftwagen in einem so überwältigenden Flammenmeer, dass von der Straße auch acht Stunden später noch Rauch aufstieg. Bei dem schrecklichen Unfall verloren Katie und Zack ihr Leben. Ihre Eltern Sandie und Mark erlitten einen unwiederbringlichen Verlust, der sie für immer verändern sollte. Alle zwei Wochen besuchten sie mich in Phoenix, eine vierstündige Fahrt von ihrem Wohnort entfernt. Sandie saß oft einfach nur weinend da. Auch Mark weinte, war aber offener für Gespräche.