Das verlorene Dorf - Stefanie Kasper - E-Book
SONDERANGEBOT

Das verlorene Dorf E-Book

Stefanie Kasper

4,6
13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Goldmann
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Oberbayern 1843: Als sich die junge Waise Rosalie in den Bauern Romar verliebt, scheint sie ihr Glück gefunden zu haben. Doch die Waisenhausvorsteherin warnt Rosalie vor dieser Ehe und macht sonderbare Andeutungen. Rosalie heiratet Romar dennoch und folgt ihm in sein Heimatdorf, das tief im Wald verborgen liegt. Eines Nachts hört Rosalie ein Neugeborenes weinen, das am nächsten Tag als angebliche Totgeburt begraben wird. Dann kommt eine junge Frau, mit der Rosalie sich angefreundet hat, auf mysteriöse Weise zu Tode. Rosalie wird bald bewusst, dass in Romars Dorf nichts ist, wie es scheint – und dass auch sie selbst in tödlicher Gefahr schwebt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 450

Bewertungen
4,6 (34 Bewertungen)
25
6
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Buch

Die Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit begleitet die Waise Rosalie, seit sie denken kann. Als die junge Frau sich im Jahr 1844 in den Bauern Romar verliebt, scheint sie ihr Glück endlich gefunden zu haben. Obwohl die Waisenhausvorsteherin Rosalie vor dieser Ehe warnt, wird sie Romars Frau und folgt ihm in sein Heimatdorf. Haberatshofen liegt tief im Wald verborgen. Die Bewohner meiden Kontakt zur Außenwelt, nehmen das neue Dorfmitglied jedoch freundlich auf, so dass Rosalie sich ihnen bald zugehörig fühlt.

Eines Nachts hört Rosalie ein Neugeborenes weinen, das am nächsten Tag als Totgeburt begraben wird. Der Dorftrottel streichelt ihr bei jeder Gelegenheit mit hingebungsvoller Zärtlichkeit über den Kopf, um einer Besorgnis Ausdruck zu verleihen, die er nicht in Worte fassen kann. Mysteriöse Dorfversammlungen finden statt, von denen Rosalie ausgeschlossen bleibt. Nach und nach wird klar: In Haberatshofen ist nichts, wie es scheint.

Als eine junge Frau, mit der Rosalie sich angefreundet hat, unerwartet zu Tode kommt, ist das erst der Anfang. Schon bald muss Rosalie erkennen, dass auch sie selbst in tödlicher Gefahr schwebt …

Informationen zu Stefanie Kaspersowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

Stefanie Kasper

Dasverlorene Dorf

Roman

Der Goldmann Verlag weist auf die Titelgleichheit mit dem im Verlag Literaturwerkstatt erschienenen Roman „Das verlorene Dorf“ von Rahel Hefti hin. Die parallele Nutzung des Titels geschieht mit freundlicher Genehmigung der Autorin. 1. AuflageOriginalausgabe Mai 2015Copyright © 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagfoto: Jean-Daniel / hemis.fr / Getty Images;FinePic®, MünchenRedaktion: Regine WeisbrodBH · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-16147-7www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meine SöhneSamuel und Jakob,die das Sonnenlicht fangen.

Dämmrung will die Flügel spreiten,Schaurig rühren sich die Bäume,Wolken zieh’n wie schwere Träume –Was will dieses Grau’n bedeuten?Hast ein Reh du lieb vor andern,Laß es nicht alleine grasen,Jäger zieh’n im Wald und blasen,Stimmen hin und wider wandern.Hast du einen Freund hienieden,Trau ihm nicht zu dieser Stunde,Freundlich wohl mit Aug’ und Munde,Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden.Was heut müde gehet unter,Hebt sich morgen neu geboren.Manches bleibt in Nacht verloren –Hüte dich, bleib’ wach und munter!

Joseph von Eichendorff»Zwielicht« aus dem Roman »Ahnung und Gegenwart«

Im Sachsenrieder Forst geht es nicht mit rechten Dingen zu. Hast du gehört, wie die Leute miteinander flüstern? Wie sie tuscheln, mit vorgehaltener Hand, um nicht an einem uralten Geheimnis zu rühren?

Sie wissen es nicht. Die Menschen wissen nicht, was geschehen ist. Wenn sie den Wald meiden, dann einem Urinstinkt folgend, der tief in ihrem Unterbewusstsein schlummert.

Besser, du nimmst einen Umweg in Kauf. Oder möchtest du auf der gewundenen Straße durch den Forst eine Autopanne erleiden? Tagsüber – oder gar bei Nacht? Was denkst du? All die Gruselgeschichten, die man sich erzählt … Sind sie wahr? Sind die häufigen Unfälle auf dieser Strecke etwa kein Zufall?

Wenn du das denkst, magst du recht haben.

Du solltest die Bäume fragen. Die Bäume hören sie kommen. Sie ist ihnen ebenso vertraut wie der Gesang der Vögel in den Baumwipfeln, die bei ihrem Herannahen verstummen. Die Bäume jedoch bleiben gänzlich ungerührt. Sie hören ihre schwere­losen Schritte seit bald zweihundert Jahren ruhelos über den Waldboden schweben. Ihnen ist sie gleich. Gleich, wie zu der Zeit, als sie noch ein Mensch war.

Wer sie ist? Die Weiße Frau, die die bleichen Hände nach dir ausstreckt, wenn du den Fehler machst, ihr zu begegnen. Du fragst dich, ob sie für die Autopannen verantwortlich ist? Für stotternde Motoren und defekte Lichtmaschinen?

Wenn du Glück hast, siehst du sie zwischen den Bäumen stehen und winken. Ein trauriger Gruß. Ob er dir gilt?

Womöglich begegnest du ihr auch auf der Straße. Du siehst eine Gestalt auf dem Asphalt stehen und bremst mit quietschenden Reifen deinen Wagen ab. Blickst dich im aufsteigenden Nebel suchend nach ihr um. Wo ist sie hin, die Frau, deretwegen du dir eben noch erschrocken ans Herz gegriffen hast? Hast du sie erwischt? Du hast keinen Aufprall gespürt. Besser, du drehst dich um. Dort, auf deinem Rücksitz …

Es ist lange her, lange vergessen. Doch in früherer Zeit stand im Sachsenrieder Forst, ganz in der Nähe der Stelle, wo du der Frau womöglich begegnet bist, ein Dorf. Du weißt es nicht, aber einst hat sie dort gelebt.

Manch törichter Gespensternarr, der sich in der Vergangenheit in das verlorene Dorf gewagt hat, ist auf alte Kellergruben gestoßen und auf die Überreste einer Kapelle. Ist über Grabsteine gestolpert, die als solche nur für den zu erkennen sind, der sie mit zittriger Hand freilegt.

Die Geschichte des Dorfes? Du möchtest sie hören? Bist du sicher? Es ist keine schöne Geschichte. Aber das hast du dir vermutlich schon gedacht. Ob du hinterher je wieder durch den Sachsenrieder Forst fahren willst? Ob du gar das Dorf besuchen willst? Im Bewusstsein ihrer Gegenwart.

Haberatshofen. Sprich das Wort aus, forme es mit den Lippen und fühle seinen Klang. Ja, das war der Name des Dorfes. Und jetzt … Du bist dir wirklich sicher? Bitte, wie du willst.

Hier ist seine Geschichte.

1

Schwarzer Peter

»Was ist das, Rosalie? Ein Mensch?«

Das Mädchen nickte. Es konnte wohl sprechen, tat es aber nur selten. Wenn überhaupt, fast ausschließlich in Schwester Agnes’ Gegenwart.

Die Schwester, eine warmherzige Frau mit ergrautem Haar, fliehendem Kinn und erschreckend hohlen Wangen, zog das Kind auf ihren Schoß. Sie umfasste es mit den Armen. Küsste es auf die verstörend weißen Locken. Rosalie war neun Jahre alt, doch so kümmerlich gewachsen, als wäre sie noch viel jünger. An der oft kargen Kost konnte es kaum liegen – auf den Gängen liefen genug dralle Rotbacken herum, denen das strenge Maßhalten nicht schadete. »Ein toter Mensch? Neben einem weiteren toten Menschen?«

Wieder nickte Rosalie.

Agnes seufzte. Die lauernden Schatten regten sich, wuchsen und gediehen in jenen dunklen Ecken, in denen das Kind sich so gerne herumdrückte. Der bleierne Druck auf ihrer Brust wurde stärker. Sie dachte daran, wie sie das Mädchen damals gefunden hatte. Einen bleichen Säugling, an einem klirrend kalten Wintertag, als der Schnee die Dächer der Augsburger Häuser eindrückte. Man hatte Rosalie ausgesetzt, ohne sich darum zu scheren, ob sie gefunden wurde. Ob sie überlebte.

Einfach nur, weil sie anders war?

Neun Jahre war das her. Neun Jahre, die Schwester Agnes im Rückblick zu den bedeutendsten ihres Lebens zählte. Obwohl sie ihren Dienst im Augsburger Waisen- und Armenkinderhaus seit über drei Jahrzehnten verrichtete, hatte niemals eines der Kinder ihrem Herzen so nahegestanden wie dieses. Sie hatte Rosalie ihren Namen gegeben und durch die schweren Säuglings- und Kleinkindjahre gebracht. Sie liebte das Mädchen. Eine Liebe, die umso schwerer wog, da keiner sonst das tat. Im Gegenteil. Deshalb kam es sie hart an zu sagen, was zu sagen war.

»Du musst damit aufhören.«

»Mit dem Zeichnen?« Zwei blass bemalte Raffhalter in Form einer Magnolienblüte hielten die maronenbraunen Vorhänge des Unterrichtsraums zurück. Ein Bündel Sonnenschein sickerte durch das Fenster, enthüllte flirrenden Staub auf dem Boden und streckte langgliedrige Lichtfinger nach der Schwester und dem Kind aus. Rosalies Augen schimmerten rötlich, sobald das Sonnenlicht sich in ihnen verfing – in Augen, die sonst so klar und hell waren wie das Wasser eines hochgelegenen Gebirgssees. Das Mädchen blinzelte und wandte den Kopf ab. Als sie noch um einiges jünger gewesen war, hatte kaum jemand die siechen oder toten Gestalten auf ihren Zeichnungen erahnt. Inzwischen konnte man den Mann mit der Axt oder die Frau mit dem Messer erkennen und das viele Blut. Auch die Frauenleiche, halb vergraben zwischen Kartoffelschalen, Fleischresten und schimmligen Dickrüben, ein Neugeborenes in den erstarrten Armen. Und die beiden Körper, dicht an dicht, unterhalb einer Brücke.

»Ich verstehe dich, meine Kleine«, sagte Agnes teilnahmsvoll. »Ich verstehe deinen Wunsch. All das, was du da malst – die Morde, die Selbsttötungen und die Krankheiten –, du denkst, wenn deine Eltern tot wären, gestorben aus einem dieser Gründe, wäre das besser, als einfach ausgesetzt worden zu sein. Du suchst nach einer Erklärung, nicht wahr?«

Rosalie blieb die Antwort schuldig. Sie schmiegte sich an Schwester Agnes. Es war ein seltener Moment der Zweisamkeit zwischen ihnen. In der Waisenhausgasse 1 blieb man nie lange für sich. Dafür gab es in diesem menschlichen Auffangbecken zu viele Zöglinge. Viel zu viele. Arme Wichte, elternlos oder unerwünscht, in Schande geboren und nicht gewollt. Nur jetzt, nach dem Zeichenunterricht, hatten die Kinder sich eilends in alle Richtungen zerstreut. Eine halbe Stunde Müßiggang war kostbar in einer Anstalt, die von Arbeit, Gebet und Unterricht geprägt wurde.

»Sie fürchten sich vor dir, Rosalie.« Agnes hätte alles für das Kind gegeben. Sie litt darunter, ihm nicht helfen zu können. Denn auch für sie selbst gab es auf der Welt keinen anderen Platz als das Waisenhaus.

»Das tun sie doch ohnehin.«

»Aber deine Zeichnungen machen es schlimmer. Du darfst dich nicht immerzu ausgrenzen. Wenn du nicht sprichst und dich andauernd in dunklen Ecken herumdrückst wie ein scheues Tier oder – lieber Gott, du weißt, ich möchte das nicht sagen – ein Geschöpf der Nacht, werden die anderen Kinder dich niemals akzeptieren. Und ich werde nicht immer da sein, um eine Brücke zwischen dir und der Welt des Waisenhauses zu schlagen.«

»Weil du krank bist«, sagte das Mädchen. Seine reizempfindlichen Augen, die nicht gut sahen und von Natur aus häufig feucht wurden, vergossen Tränen, die Flecken mit salzigen Rändern auf dem Gewand der Schwester hinterließen.

»Ja. Und weil ich dich lieb habe. Die Schwestern und Erzieher sind allerhand gewohnt. Grobiane, Raufbolde und Querköpfe. Auch Hinterlist, Lügen und Heimtücke. Waisenkinder sind aufmüpfige Kinder, das muss ich dir am allerwenigsten erklären.«

»Ich bin nicht so.«

»Nein, bist du nicht. Hör zu, was ich dir sagen will. Mag sein, die anderen Kinder sind oft rau und grob. Weil sie Waisen sind, Rosalie, wie du. Das darfst du nicht vergessen. Sie rebellieren gegen das Schicksal und gegen ein Los, das ihnen von Anfang an wenig Chancen zugesteht. Aber sie behaupten sich irgendwie. Besser oder schlechter, aber sie behaupten sich. Nur du tust das nicht.«

»Ich will mich nicht behaupten. Die sollen mich alle in Ruhe lassen.« Rosalie hörte zwar, was Agnes sagte, doch in erster Linie lauschte sie verzückt dem weich schwingenden Singsang ihrer Stimme. Viel zu selten hatte sie die Waisenhausschwester für sich allein. Sie konnte es nicht wissen, aber Agnes’ Stimmmelodie ähnelte der ihrer leiblichen Mutter. »Du willst das nicht wahrhaben, Agnes, und trotzdem ist es so: Ich, das Monstrum, will bloß meine Ruhe.«

»Sag das nicht. Du bist eine unter zigtausend, meine Kleine. Kein Monstrum, sondern etwas Besonderes.«

»Ein Monstrum«, wiederholte das Kind und blickte absichtlich ins Sonnenlicht, das den Raum mit zunehmender Kraft flutete. »Ein Schattenmensch mit Augen wie glühende Höllenkohlen. Das ist es, was sie über mich sagen.«

»Deine Augen sind lichtempfindlich. Deshalb schimmern sie manchmal rötlich. Erinnerst du dich nicht, was der Doktor gesagt hat?« Agnes klang flehentlich. Die abwehrende Haltung, die Rosalie anderen Menschen gegenüber an den Tag legte, zerriss ihr das Herz. Das Mädchen verschlimmerte seine Lage, die ohnehin schon schlimm genug war.

»Mach dir nichts vor, liebe Agnes. Man kann meine Augenbrauen und meine Wimpern nicht sehen, so hell sind sie. Und meine Haut ist schneeweiß.« Rosalie rutschte vom Schoß der Schwester. »Ich bin eine Abscheulichkeit der Natur. Und bald zu alt dafür, mich von dir noch länger darüber hinwegtrösten zu lassen.« Im Grunde ängstigte das Mädchen sich zu Tode darüber, mit Agnes das einzige Nest zu verlieren, das sie je gehabt hatte. Den einzigen Menschen, der sie liebte.

»Hör auf!« Agnes war nicht länger sanft. »Du wirst dir in Zukunft Mühe mit den anderen Kindern geben. Und auch mit den Schwestern und den Erziehern.«

»Es wird nichts ändern.«

»Du musst es wenigstens versuchen, Rosalie! Und ich will auch keine Furcht einflößenden Zeichnungen mehr von dir sehen!« Ruckartig erhob Agnes sich von ihrem Sessel und hieb mit der Faust einige Male wütend gegen den Stuhlrahmen. So etwas war nicht ihre Art und ließ auf den Grad ihrer Verzweiflung schließen. »Ich verfluche den Tag, an dem dieser vermaledeite Faber den Zeichenunterricht einführen ließ. Hör auf, Rosalie, versprich es mir! Male eine Sonne, male einen Baum, male meinethalben eine Textilfabrik oder den Schtoinernen Ma. Es ist mir ganz gleich, nur male keine toten Menschen mehr. KEINE – TOTEN – MENSCHEN.«

Es dauerte weniger als ein Jahr, bis Schwester Agnes starb. Weniger als ein Jahr, bis Rosalie einsamer war, als es ein Mensch je sein sollte.

*

Das Augsburger Waisen- und Armenkinderhaus war ein knappes Jahrzehnt zuvor zu seinem Zeichenunterricht gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Im Jahr des Herrn 1826 – Schwester Agnes war noch nicht von ihrer Krankheit gezeichnet gewesen – hatte ein distinguierter Herr und naher Verwandter des Nürnberger Bleistiftfabrikbesitzers Leonhard Faber am Tor der Waisenhausgasse 1 gestanden und Einlass begehrt. Es geschah selten (der Ehrlichkeit halber so gut wie nie), dass ein betuchter Mann eine Waise an Kindes statt annahm. Friederich Faber, dessen Eheweib nach einem Dutzend Fehlgeburten unfruchtbar war, adoptierte gleich drei Augsburger Waisen. Zwei halbwüchsige Knaben und ein kleines Mädchen von anderthalb Jahren. Letzteres wohl aus dem hehren Grund, seiner Frau ein kleines Wesen zum Bemuttern und Verhätscheln ins Haus zu bringen. Obendrein sprach Faber mit den Räten der Stadt und sorgte für die Einführung eines regelmäßigen Zeichenunterrichts im Waisenhaus – für den die Bleistiftfabrik Faber für die Dauer von fünfzig Jahren Papier und Stifte stellen würde.

*

»Sie hat es wieder getan. Haben Sie die Zeichnung schon gesehen? Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren.« Die ältliche Schwester Aurelia kratzte sich am Kopf. Ein hässliches, scharrendes Geräusch, das Schwester Grete die Härchen an den Armen zu Berge stehen ließ.

»Habe ich.« Grete – die im Leben lieber alles andere als Waisenhausschwester geworden wäre – sprach voller Ingrimm. Obwohl Rosalie malte, seit sie einen Stift halten konnte (und sie stand inzwischen in ihrem fünfzehnten Jahr), versetzten ihre Bilder die Schwestern und Erzieher noch immer mit schönster Regelmäßigkeit in helle Wut. »Theresa, ihre Bettnachbarin, hat mich kürzlich schier angebettelt, ihr Rosalie vom Hals zu schaffen. Das arme Mädchen leidet Höllenqualen, das Bett mit ihr teilen zu müssen. Aber was soll ich tun? In den anderen Betten schlafen sie freiwillig zu viert, bloß um ihr fernzubleiben.«

»Wenn wir sie wenigstens ganz vom Zeichenunterricht ausschließen dürften«, warf eine weitere Schwester ein, »aber das ist ja in diesem Haus nicht gestattet, solange sie nicht sterbenselend daniederliegt. Wahrlich, mir wäre wesentlich lieber, sie verweigerte den Zeichenunterricht, damit wir sie bestrafen und wegsperren können, als …«

»Als am Ende der Stunde das Bild zweier pockenentstellter Leichname ansehen zu müssen, die Hand in Hand aufgebahrt liegen, einen schreienden Säugling zwischen sich«, schloss der Erzieher Christof Gründt. »Bei Gott, sie zeichnet verdammt gut. Woher nimmt sie nur die Vorstellungsgewalt für diese abscheulichen Darstellungen? Vom Teufel persönlich?« Das schiefe Lächeln hing verloren in den Mundwinkeln des untersetzten, breitschultrigen Mannes. »Scherz beiseite. Ich sage es nicht gerne, doch ich für meinen Teil bin bereit, die Sache anzugehen.«

»Die Sache? Sie meinen das, was wir schon seit Agnes’ Tod mit uns herumtragen?«

»Genau«, sagte Gründt.

»Den Nachtmenschen loswerden?« Schwester Marie, ein feingliedriges Geschöpf mit großen furchtsamen Augen, wagte nicht mehr als ein Flüstern. »Aber sie ist doch nicht volljährig.«

»Mich kümmert das nicht.« Erzieher Gründt reckte die geballte Faust.

»Und falls sie sich rächt?« Maries ängstliches Wispern legte sich wie ein dichter Schleier über die Schwestern und den Erzieher.

Alle schwiegen.

»Wie denn? Wie sollte sie sich schon rächen?«, schimpfte schließlich Schwester Grete, um die Schatten zu vertreiben, von denen sich alle eingeholt fühlten. »Ein richtiger Hemmschuh bist du, Marie, ein abergläubischer Hasenfuß. Wenn wir das Mädchen in ein Arbeitslager schicken, an eine Fabrik verkaufen oder meinethalben als Dienstmagd, sind wir sie los. Ein für alle Mal.«

»Früher oder später geschieht das ohnehin.« Schwester Aurelia kratzte sich wieder am Kopf.

»Mir für meinen Teil wären fünfzig Krawallknaben, wie der Günter einer ist, lieber als ein solcher Schattenmensch. Es ist unnatürlich und widerwärtig.« Christof Gründt beugte sich dichter zu der Schar Schwestern, die ihn umringten wie Hennen den Hahn. Er senkte die Stimme. »Ich glaube, als Arbeitskraft taugt sie nicht. Wer würde sie denn nehmen? Alle hätten Angst vor ihr.«

»Wir könnten es verschweigen. Man sieht es nicht auf den ersten Blick – wenigstens nicht die Augen.«

»Damit sie wieder vor unserem Tor steht, sobald es herauskommt?«, stichelte Grete. »Das ist ausgemachter Blödsinn.«

»Das meine ich – mit Verlaub, liebe Aurelia – allerdings auch. Allein Rosalies absonderliches Benehmen würde ausreichen, den Argwohn eines möglichen Dienstherrn zu wecken. Das Mädchen spricht ja kaum ein Wort, da wird ein jeder schnell aufmerksam. Und wer sie erst einmal genauer betrachtet, der sieht … nun, was wir sehen. Nein, ich dachte mehr an eine endgültige Lösung.«

»Das meinen Sie nicht im Ernst. Sie wollen das Mädchen … umbringen?«, quiekte Schwester Marie.

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Gesagt nicht. Gemeint schon.« Schwester Grete hatte keinen Zweifel an Gründts Absichten.

»Lieber Himmel«, wetterte der Erzieher und war puterrot im Gesicht. »Ich dachte bloß an ein Freudenhaus. Bestimmt gibt es Männer, die mögen, was sie ist. Von dort kommt sie nicht fort, wenn ihre Möse klingelnde Münze bedeutet.«

»Herr Gründt!« Schwester Aurelia errötete.

»Und einen solchen Vorschlag können Sie mit Ihrem Gewissen vereinbaren?«

»Ich kann noch ganz andere Dinge mit meinem Gewissen vereinbaren. Sie sind viel zu zart besaitet, Marie.« Erzieher Gründt durchbohrte die Schwestern mit düsteren Blicken.

»Lasst ihn. Er hat doch recht. Was, wenn es geradezu göttlicher Wille ist, eine so teuflische Gestalt aus unserer Mitte zu entfernen – aus den Reihen unschuldiger Kinder?« Schwester Ruth, die bisher still zugehört hatte, glühte vor frommem Eifer.

»Sie gehen zu weit, Herr Gründt. Sie auch, Ruth. Also wirklich, ein Bordell, wo sie immerhin in diesem Haus großge…« Aurelia schüttelte den Kopf.

»Vielleicht käme auch eine Abnormitätenschau in Frage«, platzte Grete heraus, ohne die ältliche Schwester ausreden zu lassen. »Erst kürzlich gastierte eine am Roten Tor. Die kamen aus Übersee. Mit Missgeburten wie Zwergen, Wolfsmännern, dreibeinigen Ungetümen und einem Löwenmenschen. Ein armloses Krüppelwesen konnte, so habe ich gehört, mit dem Fuß sogar die Harfe zupfen. Dorthin würde Rosalie mit ihren Glühaugen passen. Ich weiß sicher, die nehmen solche Leute wie sie. Es ist schon einige Jahre her – ehe Agnes das Kind überhaupt fand, ich war selbst noch klein –, aber der Kuriositätenwagen des Herrn Balau hatte einen Eismenschen dabei. Der war wie das Mädchen. Haare und Haut ohne Farbe. Der Herr Balau leuchtete mit einem Licht in seine Augen, und man sah das Höllenfeuer darin aufglühen.«

Gründt nickte beifällig, während die übrigen Schwestern betreten zu Boden blickten. Man hatte in der Zeitung schon davon gelesen, wie es den Attraktionen solcher Abnormitätenschauen abseits der Bühne erging. Dass sie wie Tiere in Käfigen gehalten wurden und auf Befehl kleine Kunststückchen einstudieren mussten. Zur Belustigung der Massen.

Schwester Marie fasste sich ein Herz. »Ich habe Angst vor dem Mädchen wie die meisten hier, das will ich nicht verhehlen. Aber Rosalie ist kein Tier, das man in einen Käfig sperren darf. Und wir dürfen nicht vergessen: Es gibt eine Aktei über sie, mit sämtlichen Dokumenten und Unterlagen, die seit dem Tag ihres Auffindens abgefasst wurden.«

»Könnte man verschwinden lassen«, murmelte Schwester Grete.

»Was ist mit den Notizen im Kirchenbuch? Über Rosalies Taufe, ihre Erstkommunion und ihre Firmung? Der Herr Pfarrer hat uns anempfohlen, uns dem Mädchen gegenüber als Christenmenschen zu verhalten. Wenn ich mich nicht irre, führt der Kirchenschreiber darüber hinaus sogar über die Vergabe der Beichtbildchen Buch – und, wie ihr alle wisst, schicken wir unsere Kinder regelmäßig zur Beichte. Ihr könnt Rosalies Existenz nicht einfach auslöschen.«

»Sie wollen sagen, Schwester Marie, wir sollen dieses … dieses Wesen weiter ertragen?« Christof Gründts ausgeprägte Hängebacken verfärbten sich erneut puterrot. »Weshalb diese Rücksichtnahme? Weil sie Agnes’ Schützling war? Haben Sie einmal darüber nachgedacht, ob vielleicht der Umgang mit dem Nachtmenschen sie überhaupt erst krank gemacht hat? Ich sage: Wenn sie fürs Freudenhaus zu fein ist, sollte man sie abstechen wie eine quiekende Sau!« Damit stapfte er davon.

Später fand Gründt keinen Schlaf. Die Nacht war dunkel, sternenlos, die Stadt lag in schwarzes Tuch geschlagen. Er dachte über die hohe Sterblichkeit unter den Kindern des Waisenhauses nach, ganz besonders unter den Säuglingen und Kleinkindern. Wenn von zehnen gut über die Hälfte durchkam, konnte man von Glück reden. Es reute ihn, das Problem mit dem Nachtmenschen nicht schon ganz zu Anfang ein für alle Mal gelöst zu haben. Gründt hasste Rosalie, die niemals auch nur das Wort an ihn gerichtet hatte, abgrundtief. In Nächten wie dieser malte er sich genüsslich ihren Tod aus. Genau, wie er früher vom Sterben seiner missgestalteten Schwester geradezu besessen gewesen war, die alle Liebe der Eltern für sich genommen hatte. Für ihn war nichts geblieben. Als der Erzieher endlich einschlief, wurde er in seinen Träumen von rot glühenden Kohleaugen verfolgt.

Rosalie träumte auch. Papierene, brüchige Träume. Bilder ohne Farben, in schwarzen und weißen und grauen Tönen. Lediglich das Blut war immer rot. Mal sprudelnd und lebendig, mal kalt und eingetrocknet wie Rost. Aber immer rot.

Am nächsten Tag bestrafte man Rosalie mit Stockschlägen, Essensentzug und einer halben Woche im Kartoffelkeller für das Bild der pockennarbigen Toten. Sie nahm sowohl die Züchtigung als auch den Arrest und den knurrenden Magen stoisch hin. Seit Agnes tot war, konnte sie der Anziehungskraft eines frisch angespitzten Bleistifts nicht widerstehen. Wenngleich sie beim Zeichnen niemals für sich war, sondern an ihrem Pult im Unterricht saß, sich der argwöhnischen Blicke und der Konsequenzen bewusst. Es war, als riefen all die ungemalten Bilder danach, die Fülle der Möglichkeiten auf Papier zu bringen. Jener Möglichkeiten, die dazu geführt hatten, dass sie eine Waise war. Rosalie konnte einfach nicht anders, wiewohl sie die Folgen kannte.

Vielleicht hielt Agnes’ Geist eine schützende Hand über das Mädchen, denn sowohl Schwester Grete als auch Erzieher Gründt verließen bald danach das Waisenhaus. Grete verliebte sich in einen dicken Zwiebelhändler, was einen besseren Menschen aus ihr machte. Christof Gründt hingegen wurde mit den Füßen zuerst aus dem Haus getragen. Er stolperte unglücklich über eine Teppichfalte und brach sich den Hals.

Die übrigen Schwestern und Erzieher sahen in dem Nachtmenschen zwar ein stetes Ärgernis, doch wagten sie keinen Versuch, Rosalie vor der Zeit loszuwerden. So blieb das Mädchen mit den glühenden Augen im Augsburger Armenkinderhaus und am Leben, bis weit in ihr achtzehntes Jahr hinein – bis die scheue Schwester Marie gegen Ende 1843 eine Lösung fand, die im darauffolgenden Frühsommer umgesetzt wurde. Im Grunde war es einfach. Der Schwarze Peter (ein Spiel, das die Waisen mit reichlich Ruß und abgegriffenen Karten spielten, die ein lange vergessener Spender einst an der Waisenhauspforte abgegeben hatte) in Form einer jungen Frau mit schneeweißer Haut und auffallend weißem Haar wurde weitergereicht; die Karten neu gemischt.

2

Irgendwie verwaschen

»Jemandem muss sehr daran gelegen sein, dich loszuwerden. Die haben in Augsburg gleich drei unserer Mädchen als Wäscherinnen genommen. Drei Mädchen im Tausch gegen eines.« Die Schongauer Waisenhausmutter, Schwester Dora Mann, war eine dicke, schwammige Frau mit höckriger Nase und einer Stimme, die allzeit ein wenig aufgebracht klang. Ihre kleinen, flinken Hände waren ständig in Bewegung. Rosalie konnte sich gut vorstellen, wie sie deuteten und zeigten, Worte abschnitten, schalten, lobten und Trost spendeten. »Kein Mensch braucht zur gleichen Zeit drei zusätzliche Wäscherinnen. Oder irre ich mich?« Schwester Dora ließ sich nicht blenden. Seit neunzehn Jahren leitete sie die Bewahranstalt für elternlose und unerwünschte Kindlein (das Waisenhaus, sagten die Leute in der Gegend schlicht, denn die offizielle Bezeichnung kam ihnen reichlich dumm vor).

»Ich weiß nicht. Verzeihung.« Rosalie starrte angestrengt auf ihre abgewetzten Lederschuhe. Wenn sie wollte, konnte sie den kleinen Zeh zwischen Leder und Sohle hervorstrecken. Aber das sah man nicht, wenn man es nicht wusste. Genau wie niemand von dem Block und den Bleistiften wusste, die sie heimlich genommen hatte, ehe sie aus Augsburg fortgebracht worden war. Jetzt zog sie den kleinen Zeh ein. Am liebsten hätte sie auch die Augen zugemacht.

»Nun gut. Die Köchin wird dir mehr zu deinen Aufgaben sagen können. Hier fürs Erste der grobe Ablauf: Am Morgen essen wir Suppe. Brennsuppe, Kartoffelsuppe oder Brotsuppe.« Schwester Dora zählte die verschiedenen Suppen an den Fingern ab. »Unter der Woche gibt es zu Mittag ebenfalls Suppe. Kartoffelsuppe, Krautsuppe, Gemüsesuppe. Dazu Knödel oder Kartoffeln. Mittwochs und freitags überlassen uns die Fischer manchmal etwas vom Tagesfang. Karpfen, Hechte und Schleien.« Wieder nahm sie die Finger zu Hilfe. Es mochte Einbildung sein, aber für Rosalie roch die Frau nach Kohlsuppe. »Hast du gelernt, wie man Fisch zubereitet?«

»Ja.« Schwester Agnes hatte ihr gezeigt, wie man Fische ausnahm, sie wusch, salzte und füllte.

Sieh zu, möglichst viele Gräten gleich herauszubekommen. So, siehst du? Soll uns ja keiner dran ersticken.

»Mädchen, träumst du?« Eine Hand fuhr vor Rosalies Gesicht durch die Luft.

»Nein. Entschuldigung.«

»Es ist nicht so, dass wir hier unbedingt eine Beihilfsköchin brauchen. Ich frage mich wirklich, weshalb sie dich loshaben wollten.« Die Waisenhausmutter tippte Rosalie an die Schulter. Herausfordernd. »Komm schon, Mädchen. Es ist nicht unüblich, euch Waisen mit dem Erwachsenwerden untereinander zu vermitteln. Das nicht.« Sie forschte in Rosalies Gesicht nach einer Regung, doch die verzog keine Miene und hielt den Blick gesenkt. »Nun gut.« Schwester Dora fuhr mit ihren Ausführungen fort. Zu Rohrnudeln, Räucherfisch und Birnenkompott. Zur Portionierung von Fleisch und Wurst (ein Vielfraß wird nicht geboren, sondern erzogen), wenn dergleichen denn einmal auf den Tisch kam. Manchmal brachten die Bauern der Umgebung sogar ein Huhn, einen Schinken oder eine Schweinekeule – meist an hohen Feiertagen, nicht selten nach dem Kirchgang, sofern der Herr Hochwürden in seiner Predigt von Nächstenliebe und dem Lohn des Himmelreichs zu erzählen gewusst hatte. »Weißt du, was ich sehe?« Mitten in der ausführlichen Erläuterung des Spüldienstes hielt sie neuerlich inne und verschränkte die Finger ineinander. Wie Fische im Netz schienen sie in dieser Position nicht stillhalten zu wollen.

Rosalie zuckte zusammen. Ihr Nacken kribbelte warnend, als liefen Ameisen darüber. Was jetzt kam, hatte mit der Waisenhausküche nichts zu tun. »Nein.« Ihre Antwort war leise, kaum mehr als ein Flüstern.

»Ein schmales, scheues Geschöpf. Auffallend blass und irgendwie verwaschen. Das Zerrbild eines Mädchens. Bist du immer so? Sieh mich an«, verlangte die Waisenhausmutter. »Sieh mich an, Mädchen!«

Rosalie hob den Blick. In der unaufgeräumten Schreibstube, die verriet, dass für die Bücher zu wenig Zeit blieb, dämpften bodenlange Vorhänge das Tageslicht. Der mattgrüne Vorhangstoff roch muffig, als würde der Raum zu selten gelüftet. Die eingestickten Akanthusranken darauf waren verblichen und kaum zu erkennen.

»Was stimmt nicht mit dir?« Schwester Dora studierte eindringlich Rosalies Gesicht, ging dann im Kreis um sie herum. »Du hast auffallend helle Haut, das habe ich schon gesagt, und dein Haar ist fast weiß. Ungewöhnlich, aber so ungewöhnlich nun auch nicht. Vielleicht hast du nordische Vorfahren. Ich werde dir keinen Strick daraus drehen, wenn du mir verrätst, was es mit dir auf sich hat. Was hast du angestellt?«

Rosalie, die bis dahin keine zehn Worte gesprochen hatte, überlegte lange, ehe sie antwortete. Sie dachte an Agnes und was sie ihr wohl geraten haben würde. »Es sind meine Augen. Sie sind sehr lichtempfindlich, genau wie meine Haut. In Augsburg haben sie mich deshalb einen Schattenmenschen geheißen. Der Doktor, der mich als Kind untersucht hat, meinte, es gäbe noch andere wie mich. Andere, deren Augen bei Lichteinfall rötlich schimmern. Aber nicht viele.« Rosalie holte tief Luft. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Es war wahrscheinlich der längste Monolog, den sie je im Leben gehalten hatte. »Die Wahrheit ist, ich bin obendrein nicht gut, was die Bindung zu anderen Menschen anbelangt. Ich bleibe am liebsten für mich. So war es schon immer. Werfen Sie mich jetzt hin­aus?«

»Du kannst kochen, oder? Deshalb bist du hergekommen.« Die Waisenhausmutter lächelte zum ersten Mal. »Ich weiß Offenheit zu schätzen, Mädchen. Mir persönlich ist es gleich, ob deine Augen braun, grün oder rot sind.« Eine von Schwester Doras hervorstechenden – und womöglich besten – Eigenschaften war ihre Ehrlichkeit. »Aber lass dir gesagt sein: Die Gegend um Schongau ist ländlich. Die Menschen sind bodenständig und fleißig, was sie nicht daran hindert, zugleich recht abergläubisch zu sein. Wenn du hier bestehen willst, musst du dein Verhalten ändern. Mach dich nicht angreifbar, indem du weiter so verloren dastehst wie heute vor mir. In Ordnung?«

Rosalie nickte. Die Waisenhausmutter hatte recht, denn genau das tat sie. Sie stand verloren da und schämte sich. Für ihre Augen, die helle Haut und das weiße Haar. Für sich selbst.

»Jetzt geh in deine Kammer, erfrische dich, und dann an die Arbeit.«

Die Köchin hieß Cäcilia, wie die heilige Cäcilia von Rom, nach der ihre Eltern sie benannt hatten. Was sie nicht müde wurde zu betonen. Selbst nach sechzig Lebensjahren schien sie noch sehr stolz darauf. Sie war eine große Frau, die etwas von einer Königin an sich hatte. Mit breiten Schultern und energischem Mund, der bei Ärger sehr schmal werden konnte. Ihre Schneide­zähne standen leicht vor, was dem imposanten Gesamteindruck nicht schadete. Anfangs wirkte Cäcilia wenig angetan von ihrer neuen Beihilfsköchin, konnte sie sich doch jederzeit die Waisenkinder zu Hilfe holen. Da Cäcilia aber für ihr Leben gerne redete und in Rosalie eine geduldige Zuhörerin fand, die noch das zehnte Mal zur gleichen Erzählung nickte, legten sich die Ressentiments der Köchin bald.

»Kennst du ihre Legende? Die der heiligen Cäcilia von Rom? Sie bestattete hingerichtete Christen.« Cäcilia senkte die Stimme zu einem dramatischen Flüstern. »Heimlich. Was zur damaligen Zeit strengstens verboten war.«

»Ich habe von ihr gehört.« Rosalie sah aus dem Fenster über weites Land. Dort, wo Felder brachlagen, war die Erde trocken und rissig. Wie aufgeplatzte Wunden. »Ich kenne ihre Geschichte.« Es gab in einem katholischen Waisenhaus ganz sicher vieles, was die elternlosen Kinder vermissten. Die Heiligenerziehung gehörte nicht dazu.

Arbeit. Gebet. Unterricht.

Sie hatte sich manchmal gefragt, ob sie diese drei Worte je wieder vergessen würde. Wie mit heißem Eisen waren sie ihr ins Fleisch gebrannt.

»Sechshundert Jahre nach Cäcilias Hinrichtung – und der Leichnam war unverwest. Sechshundert Jahre! Man stelle sich vor, die öffneten das Grab, blickten der Toten ins Gesicht und sahen ein Antlitz vor sich, das zu Lebzeiten genauso ausgesehen haben muss. Ist das zu fassen?«

»Ich kann es mir nicht vorstellen.«

»Eben«, bestätigte Cäcilia, zufrieden mit Rosalies Antwort. »Ich nämlich auch nicht. Wo wir dich jetzt bei uns haben«, sagte sie unvermittelt, »ziehe ich mich vermutlich bald aufs Altenteil zurück.«

Rosalie schwieg, denn ihr fiel nichts zu sagen ein. So erging es ihr häufig. Unterhaltungen strengten sie an. Worte wollten ihr nicht über die Lippen, und Gedanken hüpften einfach davon.

»Ich habe nie darüber gesprochen – auch Schwester Dora weiß es nicht –, spiele aber schon mit der Vorstellung. Keine Sorge, ich bringe dir vorher bei, was du wissen musst.«

Was im Grunde nichts anderes war als das, was die Waisenhausmutter Rosalie schon am ersten Tag gesagt hatte. Nur eben viel ausführlicher, da es von Cäcilia kam.

»Ich glaube, sie würden mich als Köchin nicht akzeptieren.« Rosalie hatte sich seit jenem Gespräch mit Schwester Dora vorgenommen, in Zukunft anderen gegenüber offener zu sein. Genau das, was Agnes ihr schon im Alter von neun Jahren so dringlich ans Herz gelegt hatte. Sie hatte begriffen, dass sie niemals fest und sicher im Leben stehen würde, wenn sie die Chance auf einen neuen Anfang jetzt nicht ergriff. Es war nicht leicht, aber Cäcilias Gegenwart gestand es ihr ohnehin nicht zu, völlig in der Deckung zu bleiben.

»Du wirst dich behaupten. Wirst du müssen.« Die Lippen der alten Köchin wurden streng und schmal. »Wer wollte dich denn nicht akzeptieren? Die Erwachsenen? Die Kinder?«

»Alle.«

»Vor etwa zweihundertfünfzig Jahren haben sie hier Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Hast du das gewusst? Über sechzig Frauen sind gestorben. Als Mädchen hat mich diese Sache sehr beschäftigt. Ich habe mir vorgestellt, wie es sein mag, wenn man an einen Pfahl gebunden wird und sich nicht rühren kann, nicht fortkann, bis man den Rauch riecht und das Holz zu knacken und bersten beginnt. Wenn man seine Familie schreien und die Leute johlen hört. Wenn man gefangen ist, bis die Flammen hoch zu den Beinen steigen, die Fußsohlen versengen und die Zehen, und man einfach … nichts tun kann. Nur leiden. Nur sterben.«

»Ich will das nicht hören«, sagte Rosalie. »Weshalb erzählst du mir das?«

»Weil sie genau solche Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt haben, die aus irgendeinem Grund anders waren oder sich anders verhielten, als die Allgemeinheit das gerne sah. Damals hättest du mit deinem Aussehen nicht überlebt.«

»Heutzutage verbrennen sie mich nicht mehr, und du findest, dafür sollte ich dankbar sein? Willst du das damit sagen?« Rosalie erschrak ein wenig über den eigenen beißenden Tonfall. Sie hörte ihn an sich selbst zum ersten Mal. Natürlich hatte sie auch noch nie so viel mit anderen Menschen gesprochen wie dieser Tage mit Cäcilia.

»Was ich finde, darum kümmere dich mal nicht, Kindchen. Ich habe mir dich jetzt eine Weile angesehen und meine bloß: Hör auf damit, dein Äußeres als Vorwand zu benutzen, um dich von der Welt abzuschotten. Das ist es, was du tust, oder?«

Rosalie schwieg.

»Du brauchst mir nicht zu antworten. Jedenfalls: Meine Schwester und mein Schwager leben drüben in Huttenried. Ein kleiner Weiler, von dem du mit Sicherheit nie gehört hast. Die beiden sind anständige Leute, sie werden mich aufnehmen. Eine lauschige Bank in der Sonne – mehr kann ich mir für meine alten Tage schwerlich erwarten, ohne Ehemann und Kinder. Glaub mir, ich habe mir mein Leben auch einmal anders erträumt. Statt eigenen Söhnen und Töchtern bekam ich nur jede Menge Waisen. Es wird einen Grund haben, schätze ich. Immer muss man den Herrgott im Himmel ja nicht verstehen.« Cäcilia verfiel in einen langen Monolog, zu dem Rosalie nichts beitragen musste. So blieb ihr Zeit, sich zu sammeln. Nach einem Weilchen ging die Köchin von ihren ungeborenen Kindern zu ihren vielfältigen Leiden über. Von Rheuma über Gicht und einem schwachen Herzen schien alles dabei. Wenn man ihren Worten Glauben schenkte, war Cäcilia eine überaus kranke und gebrechliche Frau. Dabei sah man ihr die sechzig Jahre nicht an. Mit kaum ergrautem Haar und Wangen, die rot wie frische Hagebutten glänzten, wirkte sie viele Jahre jünger.

»Genug geschwafelt.« Nachdem Cäcilia auch ihr letztes und geringstes Weh – einen verwachsenen Zehennagel – bis ins Kleinste geschildert hatte, kam sie endlich zum Ende. »Hast du mich verstanden, Rosalie? Was ich dir vorhin sagen wollte?«

»Ich denke schon.« Rosalie klang ein wenig wie ein bockiges Kind. Tatsächlich fühlte sie sich an so manches Gespräch mit Agnes erinnert, bei dem sie eigensinnig auf ihrer Meinung beharrt hatte. »Wenn ich mich gut anstelle, werde ich hier Köchin sein und mein Auskommen haben.«

»So ist es.« Cäcilia nickte energisch, in der Überzeugung, ein gutes Werk getan zu haben. »Dann lass uns wieder an die Arbeit gehen. Hungrige Mägen füllen sich nicht von allein. Holst du bitte die Eier? Du findest sie in der hinteren Vorratskammer. Die habe ich dir schon gezeigt, ja? Die Kinder legen dort ab, was sie morgens im Hühnerverschlag finden. Nimm den Flechtkorb von der Anrichte und mach ihn voll.«

»In Ordnung.« Rosalie hätte ihrer Dankbarkeit gern Ausdruck verliehen. Denn dankbar war sie. Für die Selbstverständlichkeit, mit der Cäcilia sie trotz ihrer Andersartigkeit akzeptierte. Dafür, dass sie es anscheinend gut mit ihr meinte, und für die kurze Erinnerung an Schwester Agnes. Schließlich gelang ihr ein kleines Lächeln. Zaghaft und aufrichtig.

»He. Pst.« Ein naseweises Gesicht mit Zähnen, die wie Kraut und Rüben durcheinanderstanden, lugte um die Ecke.

Rosalie hatte den Korb mit Eiern befüllt und sah zu dem kleinen Mädchen hin, das sich an der offenen Speisekammertür herumdrückte.

»Ja?«

»Wir wollen Sie was fragen.«

»Was denn?« Rosalie trat auf den Gang hinaus, wo weitere Waisenmädchen warteten. Über die Köpfe der Kinder konnte sie die Küchentür am anderen Ende des Flurs sehen, die mit einem Mal sehr weit entfernt schien. Ihr war nicht wohl, sich unerwartet von einer Horde Kinder umringt zu sehen. Kaum eines reichte ihr bis zum Brustkorb, alle hatten sie geflochtene Zöpfe und trugen ordentliche blaugraue Baumwollkleidchen. Dennoch machten sie ihr Angst.

Es war der Ausdruck in den jungen Gesichtern. Neugierig und herausfordernd zugleich.

»Sind Sie krank?«, fragte die Kleine mit den schiefen Zähnen.

»Nein.«

»Weil Sie so bleich wie ein Laken sind.«

»Wie ein Geist. Die großen Jungen sagen, Sie haben rot glühende Augen. Der Sepp und der Fritz haben es selber gesehen, als Sie der alten Cilia das Holz brachten.«

Cäcilia mag es nicht, wenn man ihren Namen abkürzt. Sie ist so stolz darauf. Das dachte Rosalie und hätte es gerne ausgesprochen. Im Kopf hörte sie sich die Sätze zigfach sagen. Einmal laut, einmal leise. Einmal freundlich, beim nächsten Mal drohend. Aber sosehr sie sich auch mühte, die Worte wollten ihr nicht über die Lippen. Kein einziges.

Die Kinder erkannten ihre Not und begannen mit der Herzlosigkeit, wie sie Menschen manchmal zu eigen ist, im Kreis um Rosalie zu tanzen.

»Augen rot, siehst aus wie tot«, sang die kleine Wortführerin. Die anderen Mädchen fielen ein.

»Augen rot, siehst aus wie tot. Augen rot, siehst aus wie tot. Augen rot, siehst aus wie tot.«

Der Gesang brauste in Rosalies Ohren, schwoll an und schien immer lauter zu werden, bis der Korb mit den Eiern ihren Händen entglitt.

»Sie hat die Eier fallen lassen.« Die Mädchen lachten, als Rosalie taumelte. Ihre Baumwollkleider waren jetzt nicht mehr als hüpfende graue Flecken, denn die Bedrängnis verschlechterte ihr Sehen noch weiter.

Sie wollte fort. Nur fort.

Die Panik mit aller Kraft niederkämpfend, griff sie den Korb mit den zerbrochenen Eiern und stürzte hart an den Mädchen vorbei. Bei der Flucht stieß sie eines von ihnen zu Boden, ohne es recht zu bemerken.

Keuchend, mit hämmerndem Herzen, erreichte sie die Küche. Suchte Zuflucht bei der vertrauten Gestalt Cäcilias.

Doch mit der alten Köchin stimmte etwas nicht. Sie stand versunken am Fenster und wandte sich nicht um, als Rosalie in den Raum polterte. In den Händen hielt sie ein Spültuch, mit dem sie sich fortwährend die längst trockenen Finger abrieb.

Das Schongauer Waisenhaus war ursprünglich als Landsitz für eine Person von Adel erbaut worden, deren Namen heute niemand mehr kannte. Es lag außerhalb der Stadt auf einer Anhöhe. Einen Weg hinauf gab es sowohl in nördliche als auch in südliche Richtung. Während der südliche Weg eine ausgebaute Fahrstraße war und direkt vor das Waisenhaus führte, war der nördliche Weg lediglich ein Trampelpfad. Er begann an der Rückseite des Gebäudes, genau an der Küchentür, und führte steil und stufenlos den Hang hinab. Da es aber der schnellere Weg war, wurde er dem Fahrweg häufig vorgezogen.

Vor einem halben Jahrhundert hatte man dem steinernen Haupthaus einen langgezogenen Seitentrakt angefügt, in dem Küche und Vorratskammern lagen. Während man von den Unterrichtsräumen und dem Kontor der Waisenhausmutter das Städtchen Schongau hübsch überblicken konnte, sah man von der Küche über weite Felder, Dörfer und Weiler.

»Cäcilia?« Nachdem sie sich ein wenig beruhigt und vorsichtig hinaus in den Gang geäugt hatte (die kleinen Mädchen waren verschwunden), berührte Rosalie die Köchin zögerlich an der Schulter. »Ist dir nicht gut?«

Cäcilia schüttelte sich wie eine Katze, die versehentlich im Badetrog gelandet ist. Sie sah aus, als wäre sie mit den Gedanken noch immer anderswo. Erst als sie den Korb mit den zerbrochenen Eiern bemerkte, schenkte sie Rosalie ihre Aufmerksamkeit. »Was ist dir denn passiert?«

»Tut mir leid. Es war ein Versehen. Ich habe die Eier …«

»Du musst besser aufpassen.« Cäcilia sprach in jenem strengen Ton, den die Waisen oft zu hören bekamen. »Das geht so nicht. Sammle die Schalen heraus und sieh zu, was noch zu retten ist. Ich gehe neue Eier holen.«

ENDE DER LESEPROBE