Der dunkle Grund des Sees - Stefanie Kasper - E-Book

Der dunkle Grund des Sees E-Book

Stefanie Kasper

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  • Herausgeber: Goldmann
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Als ihre Adoptivmutter Elisa stirbt, zieht die Grafikerin Isabel Radspieler wieder zu ihrem Adoptivvater ans Ufer des Forggensees, wo sie sich um den alten Mann kümmern möchte. Doch in ihrem ehemaligen Kinderzimmer findet sie einen Brief von Elisa mit einer ungewöhnlichen Bitte: Isabel soll das Schicksal von Elisas Eltern und Schwester aufklären, die 1954 spurlos verschwanden, als der Forggensee aufgestaut und ihr Dorf geflutet wurde. Isabel taucht tief in Elisas Geschichte ein und kommt einem dunklen Familiengeheimnis auf die Spur. Was sie nicht ahnt, ist, dass sie damit sich selbst in große Gefahr bringt ...

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Seitenzahl: 449

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Buch

Als ihre Adoptivmutter Elisa stirbt, zieht die junge Grafikdesignerin Isabel Radspieler wieder zu ihrem Adoptivvater Quirin an den Forggensee. Der Tod seiner geliebten Frau betrübt ihn schwer, und Isabel möchte Quirin im Alltag unterstützen. Doch in ihrem alten Kinderzimmer entdeckt sie einen Brief von Elisa mit einer ungewöhnlichen Bitte: Isabel soll das Schicksal ihrer Familie aufklären. Elisas Eltern und ihre Schwester sind verschwunden, als der Forggensee in den Fünfzigerjahren aufgestaut und das Dorf geflutet wurde. Keiner weiß, was damals passiert ist. Elisas Bitte lässt Isabel nicht los; sie will unbedingt die Wahrheit erfahren. Außerdem begegnet Isabel Tom wieder, ihrer Jugendliebe, und die Leidenschaft zwischen ihnen flammt erneut auf. Sie kennen sich und vertrauen einander. Das glaubt Isabel jedenfalls – bis Tom vehement fordert, dass sie ihre Nachforschungen einstellt. Aber Isabel gibt nicht auf. Damit gerät sie jedoch in große Gefahr. Denn was auch immer mit Elisas Familie geschehen ist – es scheint Isabel zu verfolgen …

Informationen zu Stefanie Kaspersowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

STEFANIE KASPER

Derdunkle Grunddes Sees

Roman

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

1. AuflageOriginalausgabe August 2016Copyright © 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag,München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagfoto: gettyimages/Manuel SulzerRedaktion: Regine WeisbrodBH · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-17680-8V001www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Gewidmet allender Heimat Geflohenen,der Heimat Beraubten.

Dieser Roman basiert auf der Entstehung des Forggensees. Mit einer Fläche von 15,2 Quadratkilometern ist er der größte Stausee Deutschlands. Darüber hinaus ist die vorliegende Geschichte eine fiktive und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie realen Geschehnissen rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Doch wenn die Nacht ihr Bahrtuch warfAuf diese Stelle und auf mich,Und mystisch durch die Wellen strichDer Wind, bald klagend und bald scharf,Dann – ja – erschreckte mich oft jähDie Einsamkeit am dunklen See.

Auszug aus »Der See« von Edgar Allan Poe

Er kommt nur an finsteren Tagen hierher. Wenn Regenwasser den Grund des abgelassenen Sees in Schlacke verwandelt, die seine Fußabdrücke aufsaugt und glättet. Nur dann gibt es die beruhigende Gewissheit, keiner lebenden Seele zu begegnen.

Mit den Toten ist das etwas anderes. Er hält keine Zwiesprache mit ihnen, das nicht, aber er nimmt doch an, dass sie ihn spüren. Wie er sie.

Dieses Mal findet er ein rostiges Sensenblatt bei den Ruinen. Eines, wie man es früher zur Grasmahd benutzt hat. Er fährt mit dem Finger daran entlang. Die Jahre und das Wasser haben es stumpf werden lassen. Stumpf wie das Geheimnis, das seinen Körper vom Innersten her durchwurzelt. Die feinspinnigen Wurzelausläufer liegen auf den bleichen Monden seiner Nägel, durchdringen seine Ohrläppchen wie schlecht gestochene Löcher, jedes Fleckchen Haut und die Härchen seiner Brauen. Manchmal, wenn er nach dem Kämmen die Haare zwischen den Bürstenzinken hervorzieht und sie die Toilette hinunterspült, überkommt ihn die irrationale Angst, sie könnten ihn verraten.

Schwarze Wolken ballen sich über den Ruinen. Wo der Himmel durchschimmert, sieht er fahl aus, wächsern beinahe. Der Mann schiebt das Sensenblatt unter einen Steinblock. Er hat keine Verwendung dafür, doch irgendein Dahergelaufener braucht es auch nicht zu finden. Die Leute haben ja keine Ahnung. Keine Ahnung von dem Dorf, das 1954 in den Fluten versunken ist und dem großen Stausee seinen Namen gegeben hat. Zwölf Kilometer in die Länge, drei Kilometer in die Breite. Der Forggensee.

Forggen.

Einst Heimat seiner Familie.

Schauplatz des Grauenvollen, das in den tiefsten Stunden der Nacht an seine Tür pocht und ungebeten eintritt. Dann stehen sie bei ihm im Zimmer, umstehen sein Bett, als bräuchte er nur die Hand auszustrecken und nach ihnen zu greifen. Nie hat er es gewagt, die Hand unter der Decke hervorzuschieben, sich überhaupt zu rühren. Der Vorwurf in den toten Gesichtern webt ihm eine unsichtbare Maske über Nase und Mund, die ihn schier zu ersticken droht.

Doch es ist besser geworden. Inzwischen schneidet er sich seltener an den scharfen Kanten der Vergangenheit. Die Qual steht längst nicht mehr im Zenit.

Das wenigstens glaubte der Mann lange Zeit. Bis eine Maus begann, an den Wurzeln des bösartigen Gewächses zu nagen, das in ihm wucherte. Der Tod und das Leben schmiedeten eine Allianz, um sein dunkles Geheimnis zu offenbaren.

ERSTER TEIL

1

Jugendliebe

ISABEL – März 2004

»Vorsicht!« Die junge Frau balancierte auf einem schmalen Streifen Teer, der von der alten Straße übriggeblieben war, in Richtung ihres Begleiters. Sie war braunhaarig, schmal in den Schultern, etwas breiter in den Hüften. »Die Stangen halten sicher nicht mehr richtig.«

Die Rede war von den fünf Klangspielen, die in einer Reihe im abgelassenen Bett des Forggensees staken. Jedes bestand aus drei hölzernen Stangen. Wie bunte, überdimensionierte Mikadostäbchen ragten sie aus der Erde. An den oberen Enden zusammengenommen erinnerten sie an die nackten Skelette von Indianerzelten; an dreibeinige Grillgestänge über offenem Feuer. Mittig an den Holzstäben hingen, mit dicken Drahtschnüren befestigt, die schweren Metallstangen.

»Ach was!« Tom Radspieler setzte sein Spiel mit den Klängen fort, ließ Stange an Stange stoßen und bewegte sich von einem Klangspiel zum nächsten, bis ihr Lied weit über den stillen Forggensee trug. Zu dieser Jahreszeit war der große Stausee abgelassen und führte kaum Wasser. Nur in einigen Senken und Mulden schimmerte matt ein Rest Nass, der träge auf die Flutung im nächsten Mai wartete, um sich wieder mit dem Wasser des Flusses Lech zu vereinen. »Du bist ein Angsthase, Isabel Radspieler.«

»Und wenn schon. Irgendwann treffen sie dich.« Auch ihre Augen waren braun. Ohne einen Klecks Grau, ohne einen grünen oder blauen Ring um die Iris. Einfach nur braun. Durch eine Reihe zufälliger Begebenheiten war sie Toms Adoptivcousine. Der Nachname, den sie früher einmal getragen hatte, war der Dämmerung in ihrem Kopf zum Opfer gefallen. Genau wie die Eltern, die ihr diesen Namen gegeben hatten.

»Lass gut sein. Die halten bombenfest.«

Statt einer Antwort nickte Isabel in Richtung zweier rostiger Stangen, die vergessen zwischen Sand, Steinen und Schilf lagen und seine Behauptung Lüge straften.

»Schon gut.« Tom gab sich geschlagen. »Ich höre gleich auf.« Ein letztes Mal ließ er die metallenen Stangen klingen, und Isabel bekam eine Gänsehaut. Gespenstisch und wunderschön – so empfand sie den Ruf der Klangspiele immer. Sie hockte sich auf einen Baumstumpf, das Holz unter den Fingern grau und glatt vom Wasser, die Wurzeln fast vollständig freigelegt.

Tom ging vor ihr in die Hocke. Ihr Herz klopfte schneller. Manchmal vergaß sie, dass sie keine Kinder mehr waren, so vertraut war er ihr. Wenn es ihr dann wieder einfiel, brachte die Erkenntnis ihren Körper zum Vibrieren.

Seine Lippen suchten ihren Mund. Er schmeckte nach dem Wind über dem See, nach Lehm und Sand. Und nach Heimat. Forsch schlüpften seine kalten Hände unter ihre Jacke, ihren Pullover, ihr Shirt, bis sie auf nackte Haut trafen. Isabel sog die Luft ein. Hielt sie an.

In einiger Entfernung – zu weit weg, um die jungen Leute zu stören – bewegte sich jemand in größer werdenden Kreisen über das Seebett. Kein einfacher Spaziergänger, denn die Person trug Kopfhörer, die zu erkennen waren, weil das Licht auf ihnen reflektierte.

»Wieder einer«, sagte Tom an Isabels Mund. »Anscheinend hat er was gefunden.« Die Gestalt war in die Hocke gegangen und fing an zu graben.

»Irgendwann birgt noch jemand den Schatz des Jahrhunderts.«

»Eher Menschenknochen.« Tom war überzeugt, dass auf den uralten Opferplätzen im See nicht nur Tiere rituell getötet worden waren.

»Meinst du, der kommt hierher?«

»Der Schatzsucher? Glaube ich nicht. Der zieht da drüben bestimmt noch länger seine Kreise. Wir sind ungestört, Isi.«

»Wenn du jetzt erst damit angefangen hättest, mich so zu nennen … Ich schätze, es würde mich stören. Du bist der Einzige, der das darf.«

»Klar. Da ich dich Isi nenne, seit du mit elf Tag und Nacht geflennt hast, magst du es.« Er küsste sie, und Isabel erwiderte seinen Kuss. Manchmal erschien es ihr geradezu unverschämt, mehr von ihm haben zu wollen. Vom liebsten Spielkameraden ihrer Kindertage. Von dem Jungen, der sie gerettet und ihr Wurzeln geschenkt hatte, als sie bloß ein dürrer Keimling gewesen war. Dabei wollte er es genau wie sie, oder nicht?

»Tom?«

»Hm?«

»Wir sollten es ihnen endlich sagen. Deinem Vater. Onkel Quirin und Tante Elisa. Wir sind seit bald drei Monaten zusammen.«

»Du bist siebzehn, fast volljährig. Was braucht es dich zu kümmern, ob sie von uns wissen oder was sie dazu sagen.«

»Es kümmert mich eben.« Sie sah ihn an. »Du willst nicht, dass dein Vater von uns erfährt, richtig? Weshalb nicht?«

»Er hat doch ohnehin nichts dagegen. Es ist ihm piepegal, mit wem ich zusammen bin.« Seine Miene war düster. Der Mund – sonst zu groß und weich für ein Gesicht, das schon die markanten Züge des Mannes trug, der zu werden er im Begriff war – ein schmaler Strich.

»Sagen wir es ihm trotzdem. Und Onkel und Tante. Bitte.«

»Von mir aus.« Er löste sich von ihr und zog sie hoch. »Komm mit.« Sie liefen zu der Mulde im Seebett, nicht einzusehen von drei Seiten, auch nicht für die Gestalt mit dem Detektor, dafür mit herrlichem Blick auf das gegenüberliegende Ufer, auf die Berge mit ihren weißen Schneehauben und auf die Königsschlösser Neuschwanstein und Hohenschwangau. Der verrückte König hatte Monumente für die Ewigkeit geschaffen. Für eine menschliche Ewigkeit zumindest.

Tom zog zwei Wolldecken aus seinem Rucksack. Eine breiteten sie in der Mulde aus, mit der anderen deckten sie sich zu. Der Boden war feucht, klamme Nässe kroch durch die Decke, aber das störte sie nicht.

»Ich muss dich fühlen«, raunte er an ihrem Ohr. »Nachts kann ich nicht einschlafen beim Gedanken daran, wie es ist, dich so zu halten. So dicht bei mir, dass es schon fast wehtut.«

Sie zogen an Kleidern aus, was sie in der Märzkälte wagten. Schmutzig gelb kämpfte über ihnen die Sonne darum, aus den Wolken zu brechen. Isabels Körper brannte. Das Sehnen war gewaltig und vernebelte ihr Denken. Ihre Augen waren geschlossen – wann hatte sie sie zugemacht? Sie hörte Tom in seinem Rucksack nach den Kondomen kramen. Dann der Druck seines Gewichts auf ihrem Körper, endlich. Steine bohrten sich in ihren Rücken, seine Küsse hingen an ihren Lippen, zwischen Weinen und Lachen und Ekstase. Wieder war es zu viel. Zu viel Gefühl zwischen ihnen und zu groß der Wunsch, sich vor Verlangen aufzulösen.

Isabel ahnte, dass sie es auskosten mussten. Dass es früher oder später nicht mehr so sein würde und hernach niemals wieder. Nur, dass es so bald zu Ende gehen würde, damit rechnete sie nicht.

*

Pikiert, dachte Isabel. Damit war Tante Elisas Gesichtsausdruck am besten umschrieben, obgleich sie sich redlich mühte, die Offenbarung von Ziehtochter und Neffe gelassen zu nehmen.

»Was soll man dazu auch sagen.« Onkel Quirin trug eine Brille mit dickem rotem Rahmen, die ihn wie einen geschäftigen Apotheker aussehen ließ. Grauweiße Locken umstanden wirr seinen Kopf, der Blick war mild-vergeistigt. Isabels Adoptivvater wirkte wie ein Künstler, stammte aber aus einer Wirtsfamilie und war ein äußerst pragmatischer Mensch, der bis zu seiner Pensionierung in der Gemeindeverwaltung gearbeitet hatte. Vielleicht sammelte er deshalb Nudeln in jedweder Form und Variation – um im Fall einer Hungersnot gleich auf seine Sammlung zurückgreifen zu können.

»Schön, dass ihr euch, äh, gernhabt.« Auf Tante Elisas Wangen zeigten sich rote Flecken. Ihre Zungenspitze pendelte zwischen den Mundwinkeln hin und her wie eine Schiffsschaukel auf dem Rummel. Sie nahm es weniger leicht als der Onkel. Dabei war Isabel auch bei ihm nicht ganz sicher, ob er sich wirklich freute. Der Gedanke, dass die beiden sich jetzt zwangsläufig vorstellten, wie Tom und sie miteinander … Ihr Gesicht glühte.

»Also, ihr achtet auf Verhütung. Sicher tut ihr das.« Onkel Quirins Hüsteln verdeckte nur unzulänglich seine Verlegenheit.

»Selbstverständlich.« Tom lächelte Tante Elisa beschwichtigend zu und ruckte für den Onkel zustimmend mit dem Kinn, eine Geste von Mann zu Mann.

»Beruhige dich. Wenn Onkel und Tante uns bisher nicht den Kopf abgerissen haben, werden sie es vermutlich auch nicht mehr tun.« Zwar war Isabel die Adoptivtochter von Elisa und Quirin Radspieler, doch genau wie Tom nannte sie die beiden Onkel und Tante. Als sie ihm diese Worte ins Ohr wisperte, streiften ihre Lippen sein Ohrläppchen. Es fühlte sich heiß an – als hätte es jemand zwischen Daumen und Zeigefinger zu lange und kräftig gerieben. Natürlich versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, doch sie kannte ihn und ließ sich von seinem erwachsenen Getue nicht täuschen. Gelegentlich zuckten seine Füße, als hielte er sie nur mit Mühe vom Zappeln ab. Außerdem zupfte er mit den Fingern unablässig an einer Packung Papiertaschentücher in seiner Hosentasche.

»Wer wird denn hier vom Kopfabreißen flüstern, Kinder. Wir freuen uns doch für euch und wünschen euch alles Glück der Welt. Tom kann natürlich hier übernachten, hier bei dir, jetzt, wo ihr …«

»Gar keine Frage«, sprang Elisa ihrem Mann bei. »Aber bitte vergesst nicht, wie jung ihr seid.«

»Ihr wollt sagen, unsere Liebe wird nicht halten?«, hakte Isabel ein.

»Das hat niemand behaupt…«

»Wohl eher nicht«, bestätigte Quirin und legte die Hand auf den Arm seiner Frau.

»Das wissen wir nicht«, meinte Elisa. »Das ist Teil des Abenteuers, nicht wahr? Es nicht zu wissen.«

Isabel funkelte den Onkel der Form halber böse an. Dabei dachte sie im Grunde ihres Herzens genau wie er.

Sie waren zu jung.

Sie kannten einander zu gut.

Und sie riskierten ihre Freundschaft.

*

»Das war peinlich.«

»Entsetzlich peinlich«, prustete Isabel. »Ich glaube, den beiden noch mehr als uns. Schnell ins Auto, ehe ihnen noch etwas dazu einfällt.«

»Oder Tante Elisa uns eine Jahrespackung Kondome besorgt. Ich sehe sie damit schon an der Kasse stehen …« Tom war ein Jahr älter als Isabel und stolzer Besitzer eines Führerscheins. Sein Vater hatte ihm nach der bestandenen Prüfung einen nagelneuen Kleinwagen vor die Tür gestellt. Ohne großes Brimborium, ohne Schleife um das Fahrzeug oder den Schlüssel. Vermutlich wollte er nicht ins Gerede kommen, weil er seinen einzigen Sohn mit einem klapprigen Vehikel durch die Gegend fahren ließ. Wenigstens hatte Tom das zu ihr gesagt.

Das Auto ermöglichte ihnen spontane Kinobesuche, Ausflüge nach Füssen und Kurztrips nach Österreich. Nicht zuletzt auch die Fahrten nach Osterreinen, wo sie parkten, wenn sie zu den Klangspielen wandern wollten. An diesem Tag kutschierte Tom sie vom Schwangauer Ortsteil Waltenhofen, wo Elisa und Quirin mit Isabel wohnten, zum lediglich zweieinhalb Kilometer entfernten Ortskern von Schwangau. Nachdem sie das Gespräch mit Elisa und Quirin erfolgreich hinter sich gebracht hatten, wollten sie im Anschluss gleich die zweite Hürde nehmen.

»Das wird schon.«

»Mir egal, ob das wird.«

»Es kümmert dich herzlich wenig, was dein Vater über uns denkt, schon klar.«

»Exakt.« Tom grinste und parkte vor dem Haus. Die gepflegte Anlage mit Eigentumswohnungen stand in zweiter Reihe an der Schwangauer Hauptstraße. Michael Radspieler bewohnte mit seinem Sohn das Dachgeschoss. Es bot einen phantastischen Blick auf die Königsschlösser, und Isabel mochte sich nicht ausmalen, was diese Aussicht gekostet hatte. Sie war lange nicht mehr hier gewesen, weil Tom sich praktisch nur dann in der Gegenwart seines Vaters aufhielt, wenn es sich nicht umgehen ließ. Er nutzte die Wohnung eigentlich nur zum Essen und Schlafen und wollte baldmöglichst ausziehen. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er Probleme in der Schule gehabt und war nur ums Haar versetzt worden, doch im Juni standen endlich die Abschlussprüfungen an.

Sie trafen Michael Radspieler bei der Lektüre eines dicken Ordners, der vor ihm auf dem gläsernen Wohnzimmertisch lag. Toms Vater ähnelte seinem jüngeren Bruder Quirin kaum. Die Haare trug er so kurz, dass die Kopfhaut durchschimmerte und die Familienlocken keine Chance hatten, zum Vorschein zu kommen. Alles an ihm wirkte ein wenig steif.

»Es freut mich, Isabel, dich einmal wiederzusehen.« Toms Vater schüttelte ihr die Hand. »Kommt mit hinaus auf die Dachterrasse.« Er war sehr höflich, mit einem permanent in den Mundwinkeln lauernden Lächeln, das wohl Nettigkeit signalisieren sollte. Doch seine Augen tasteten über ihr Gesicht, als hätte er dort eine Warze entdeckt.

»Freut mich auch, Herr Radspieler.« Sie wurde nicht schlau aus dem Mann. Im einen Moment fast überfreundlich, meinte sie einen Lidschlag später Aggression unter der Oberfläche zu fühlen.

»Nimm bitte Platz. Thomas, würdest du für Getränke sorgen?«

Tom brummte etwas und verschwand.

»Es muss annähernd vier Jahre her sein, seit wir uns zuletzt begegnet sind. Deinen Eltern geht es gut?«

»Onkel und Tante sind wohlauf«, bestätigte Isabel. Es wunderte sie, dass er überhaupt fragte, pflegte er doch zu ihrer Familie keinerlei Kontakt. Nicht mehr, seit Tom selbstständig genug war, alleine zu Quirin und Elisa zu radeln und dahingehende Absprachen unnötig geworden waren. Es war allein das Verdienst seiner Mutter gewesen, dass die Brüder Radspieler in früheren Jahren noch gelegentlich miteinander am Tisch gesessen hatten. Welche Differenzen auch immer zwischen Michael Radspieler und Onkel Quirin gärten – weder Isabel noch Tom hatten je in Erfahrung bringen können, welche das sein mochten –, sie hatten es schlussendlich unmöglich gemacht, die Brüder zu versöhnen. Zum Zeitpunkt ihrer Adoption hatte sich jeder Austausch zwischen ihnen längst bloß noch um Tom gedreht.

»So nennst du sie? Ihr seid nicht irgendwann zu Mama und Papa übergegangen?« Michael Radspielers Augen wurden bei der Frage eine Winzigkeit enger.

»Ich war ja schon elf, als sie mich adoptierten. Mit Onkel und Tante fühlen wir uns alle wohler.« Isabel blickte in die Sonne, die an diesem Tag ihr Bestes gab, um winterklamme Knochen zu wärmen. Wo blieb Tom so lange? Sie ließ den Blick über die Terrassendielen in Holzoptik schweifen, die eigentlich aus sündteurem Kunststoff waren; über unechte Pflanzen in großen Keramiktöpfen und ein wetterfestes Outdoor-Gemälde, das eine toskanische Landschaft mit Zypressen und Pinien zeigte. Tom machte sich gelegentlich darüber lustig, wie wenig Sinn sein Vater für Gestaltung hatte. Der Anbau der Dachterrasse war von der groben Erstplanung bis hin zur Auswahl der Untertöpfe für die Kunstpflanzen in fremde Hände gegeben worden. Ebenso die Sauberkeit der Wohnung, für die eine Zugehfrau zweimal die Woche sorgte. Tom beteuerte allerdings, kaum häufig genug daheim zu sein, um irgendetwas dreckig zu machen.

»Verstehe«, sagte Michael Radspieler nach einer gefühlten Ewigkeit, als Isabel den Faden fast verloren hatte.

Tom kam zurück und stellte drei Dosen mit süßer Brause auf den Tisch.

»Gibt es einen bestimmten Anlass für euren Besuch? Nicht, dass ich nicht begeistert wäre, euch beide hier zu sehen – aber wo Thomas euer Erscheinen schon im Vorfeld angekündigt hat …«

»Wir sind ein Paar, Isabel und ich.« Es war eine reine Informationsübermittlung, da war kein Gefühl in Toms Stimme. Doch Isabel sah das kurze Zucken seiner Hand.

»So. Ihr beiden, ein Pärchen also. Das ist … eine Überraschung.« Radspieler lächelte diplomatisch. Als amtierender Landrat und ehemaliges Mitglied des Bundestags beherrschte er diese Kunst wahrscheinlich in allen möglichen und unmöglichen Situationen. »Hätte jede andere sein können, aber mein Sohn wählt sich ausgerechnet die Adoptivtochter meines Bruders.« Die väterliche Hand legte sich auf den Nacken des Sohnes. Tom wurde ganz steif, schüttelte sie jedoch nicht ab. »Dann werden wir uns in Zukunft sicher wieder öfter sehen, Isabel. Ich muss mich leider verabschieden. Bestellt ihr beide euch einen Happen, wenn ihr mögt. Den neuen indischen Lieferservice in Füssen kann ich empfehlen.« Er zückte seinen Geldbeutel und steckte Tom fünfzig Euro zu. »Richte schöne Grüße aus daheim, Isabel, ja?« Schon war er weg.

»Siehst du, offenbar nimmt er die Neuigkeit gelassen.« Isabel schmiegte sich an Tom, kaum, dass sie seinen Vater außer Reichweite wusste. »So wie er geredet hat, könnte man meinen, er wäre überhaupt nicht mit Onkel Quirin zerstritten.«

»Was weiß ich.«

»Alles in Ordnung?«

»Schon.« Tom fasste sie bei den Händen und lächelte. »Ich habe dir gleich gesagt, er würde kein Drama daraus machen.«

Plötzlich waren sie beide aufgekratzt, erfüllt von einem überraschenden Gefühl der Erleichterung, und drehten Pirouetten über die unechten Holzdielen der Terrasse.

»Das haben wir heute meisterlich über die Bühne gebracht. Ich bin froh, dass unsere Beziehung jetzt kein Geheimnis mehr sein muss.«

»Du hattest recht. Es war gut, es allen zu sagen.«

»Lass uns eine Pizza bestellen«, schlug Isabel vor. Sie fühlte sich so rundum heiter, frohgemut und zufrieden, wie es ihr nicht allzu häufig vergönnt war.

»Keine Lust auf Papas Inder?« Tom drückte ihr grinsend einen langen Kuss auf den Mund.

Heiter, frohgemut und zufrieden – bis Isabel am Tag darauf in den Mahlstrom der Vergangenheit geriet und ihre Welt sich mit einem Ruck drehte.

2

Der Teufel unter der Maske

TOM – März 2004

Tom warf seine Autoschlüssel in die Luft und fing sie schwungvoll wieder auf. Er hatte Isabel (seine erste offizielle Freundin!) nach Hause gefahren, und ihr Abschiedskuss schmeckte noch in ihm nach. Isi und er. Er und Isi. Es gab viele Dinge, die er an ihr liebte. Unter anderem ihre Küsse, die wie süßer Krokant auf warmen Zwetschgenknödeln schmeckten. Lang streckte Tom die Arme über den Kopf, der kühlen Nachtluft entgegen, und gestattete sich das Aufatmen darüber, wie leicht es gewesen war. Ein Mädchen zu seinem Vater nach Hause zu bringen, ihm offiziell seine Freundin vorzustellen – es hatte ihm davor gegraut. Michael Radspieler war kein einfacher Mensch. Nicht leicht zu durchschauen, selbst für seinen Sohn nicht; aalglatt und schlüpfrig wie frisch gefangener Fisch. Oder wütend und aufbrausend, das auch. Die Öffentlichkeit kannte nur das Bild des kompetenten, erfolgreichen Geschäftsmanns und alleinerziehenden Vaters. Den Sohn des legendären Forggenwirts und vertrauenswürdigen Politiker, der sich für die Belange der Bevölkerung einsetzte und in zahlreichen Vorständen saß.

Daher hatte Tom Isabel im Vorfeld lieber angeschwindelt und ihr weisgemacht, sein Vater würde ihnen gewiss keine Steine in den Weg legen. In Wahrheit war er sich da ganz und gar nicht sicher gewesen.

Er pfiff vor sich hin, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. »Lemon Tree« von Fools Garden. Dass seine heimliche Sorge sich als unbegründet erwiesen hatte, machte sein Herz leicht wie eine Feder.

Die väterliche Wohnung war dunkel. Tom schlüpfte aus den Schuhen, ohne Licht zu machen. Auf Socken tappte er durchs Wohnzimmer. Sein Vater mochte es nicht, von etwas anderem als der Mozartsonate Nummer 16 aus dem Schlaf geholt zu werden. Michael Radspieler war nie, selbst nicht in früheren Jahren, der Typ gewesen, der besorgt auf die Heimkehr seines Sprösslings wartete. Vielleicht lag es an seiner späten Vaterschaft – er war bei Toms Geburt schon Ende vierzig gewesen –, dass er nie so recht Zugang zu seinem einzigen Sohn gefunden hatte.

In dem Bemühen, leise zu sein und nirgendwo anzurempeln, rechnete Tom nicht mit der Hand, die aus dem Fernsehsessel schoss und ihn so fest packte, dass die feinen Härchen auf seinem Unterarm ziepten.

Er quiekte erschrocken auf.

»Du hörst dich ja an wie ein junges Schwein. Wusste gar nichts von den hohen Tönen in deinem Repertoire.«

»Papa? Was soll das?«

»Tut mir leid. Wollte dich nicht erschrecken.« Der Anflug von Belustigung verschwand aus Michael Radspielers Stimme. »Setz dich. Wir müssen reden.«

»In Ordnung.« Tom schwante nichts Gutes. »Wenn du reden willst, mache ich das Licht an. Du brauchst ja nicht wie ein Wegelagerer im Dunkeln zu hocken.«

»Lass es aus.«

»Weshalb …«

»Lass es aus.«

»Wie du meinst. Worum geht es?«

»Es geht um das Mädchen. Isabel.« Michael räusperte sich, griff sich kurz an den Hals. Tom konnte die Bewegung des Vaters im Dunkeln erahnen.

»Du warst nett zu ihr.« Aggression schlich sich in Toms Stimme. Das Bild in der Seifenblase – Isabel und sein Vater, lachend am Kaffeetisch, während er den Kuchen schnitt – war zu schön gewesen.

»Du musst das Mädchen verlassen, Thomas. Unverzüglich.«

Ehe Tom nach dem Warum fragen konnte, begann sein Vater zu erzählen. Der Sohn erfuhr Dinge, die er – hätte er in dieser Sache eine Wahl gehabt – lieber mit Blei beschwert auf dem tiefsten Grund des Forggensees belassen hätte; dort, im letzten Rest Nass, wo die Fische sich sammeln, wenn der See abgelassen wird.

*

Der Tag war windig und grau. Tom fror auf der Holzbank am Rand des Sees, in die sie als Kinder ein Herz mit ihren beiden Namen geritzt hatten. Er erinnerte sich an das rote Schweizer Taschenmesser in seinen Händen, an die nagelneue Bank und das Gefühl der Lächerlichkeit (wegen des Herzens), vermengt mit einem gehörigen Schuss Aufregung (wegen der Sachbeschädigung).

Er hatte es getan. Hatte Isabel angerufen und sich mit ihr verabredet. Isi war auf dem Weg.

Eigentlich hatte er immer gewusst, dass etwas nicht stimmte. Man hätte schon blind und taub sein müssen, um die Missstimmung zwischen seinem Vater und Onkel Quirin für eine Lappalie zu halten. Da hatte etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein müssen, wonach er wohlweislich zu fragen aufgehört hatte, nachdem ihm ohnehin nie einer etwas dazu sagte. Dass es aber so schlimm sein würde, damit hätte er in seinen grausigsten Träumen nicht gerechnet.

»Tom!« Mit wehendem Tuch um den Hals rannte Isabel auf ihn zu. Wenn er sich einer Sache im Leben gewiss war, dann ihrer Zuneigung, seit er zum ersten Mal in ihr Kinderzimmer gekommen war und ihren bis dahin steten Tränenfluss gestoppt hatte. »Was ist passiert, Tom?« Sie gab ihm einen Kuss, den er erwidern wollte, aber nicht konnte.

»Nichts.« Es schnürte ihm die Kehle zu.

»Sollen wir vielleicht einen Ausflug machen? Du hast andauernd gelernt in den letzten Tagen. Wie wäre es mit ein wenig Ablenkung, um den Kopf freizubekommen?«

»Ich habe nicht gelernt, Isabel.«

»Nicht? Ich dachte, weil du …«

»Das war gelogen. Eigentlich habe ich nur nachgedacht.«

»Du hast mich angelogen? Und deshalb musstest du mich jetzt so dringend sehen?«

»Ja. Um dir etwas Wichtiges zu sagen.«

»Was denn? Mach es nicht so spannend, Tom.« Sie wollte seine Hand greifen, doch er trat einen Schritt zurück. Sein Vater stand unsichtbar hinter ihm und zog den Draht um seinen Hals enger.

»Du bist mir richtiggehend unheimlich heute.«

»Wir sind Freunde, Isabel. Die besten Freunde. Mehr empfinde ich nicht für dich.« Tom blickte zum trostlosen Himmel, zu Boden, zum aufgewühlten See: bloß ihr nicht eine Sekunde in die Augen sehen. »Wir können nicht länger ein Paar sein.«

»Das ist nicht wahr. Das glaube ich dir nicht.« Sie starrte ihn an, als wären ihm eben Tentakel aus den Ohren gewachsen.

»Ich werde für eine Weile weggehen, das macht es leichter für uns beide.«

»Das ist ein saublöder Witz, Tom. Der schlechteste, den ich überhaupt je gehört habe.«

»Ich habe meine Sachen gepackt. Es geht gleich los.« Der Wind riss ihr das Tuch vom Hals. Er fing es auf und hielt sich daran fest, weil er sonst nichts hatte.

»Was ist mit der Schule? Mit deinen Prüfungen?«

»Die kann ich da auch schreiben.«

»Wo ist da?« Isabel schrie gegen den zunehmenden Sturm an. »Wo gehst du hin, Tom?«

»Ins Ausland. Mein Vater hat das als Überraschung für mich arrangiert. Du weißt ja, wie dringend ich weg will von ihm.« Tom wartete darauf, dass Isabel seine schlechte Show entlarvte, aber das tat sie nicht. Sie glaubte ihm.

»Du mieser Hund.« Der Wind trug ihre Worte an sein Ohr.

»Ich hätte mir darüber früher klarwerden müssen. Es tut mir leid.«

Ihr Gesicht begann zu glühen wie ein rot glasierter Kirmesapfel. »Du dreckiges, elendes Stück Scheiße!«

»Hör auf. Ich habe es verdient, schon klar, aber ich will das nicht hören. Beschimpfe mich halt in Gedanken.« Er sah sie mit den Tränen kämpfen und fühlte sich erbärmlich. Heulend wie ein verletztes Tier warf sie sich ihm an die Brust.

»Nicht.« Er schob sie fort und weinte dabei. Anscheinend merkte sie es nicht. »Lass das bitte.«

»Arschloch!« Isabel schluckte, schluchzte, schniefte. Dann schlug sie ihm ins Gesicht, so fest sie konnte.

Tom holte aus, mehr ein Reflex als alles andere, doch auch seine Ohrfeige saß. »Das wollte ich nicht! Es tut mir leid!« Hinterher hätte er sich am liebsten an Ort und Stelle umgebracht.

Isabel starrte ihn entgeistert an. Als wartete sie darauf, dass er sich die Maske vom Gesicht riss und den Teufel darunter offenbarte, der ihren Tom in Besitz genommen hatte. »Isi …«

Sie riss ihm das Tuch aus den Händen und rannte davon.

So gingen sie auseinander. Waren weder länger Liebende noch Freunde. Wussten nicht, wie viel Zeit bis zu ihrem Wiedersehen vergehen würde. Mehr als ein Jahrzehnt.

Dabei hätten sie einander gebraucht.

3

Feindesland

ISABEL – Oktober 2015

Isabel war wach, mochte aber nicht aufstehen. Stattdessen starrte sie unversöhnlich in den hässlich kahlen Raum, der ihr Schlafzimmer war, als wartete sie darauf, er möge die Herausforderung annehmen und endlich zurückstarren. An der Decke klebten die Überreste von Mücken.

Zwischen der Matratze und dem Bettrahmen steckten Block und Stift. Isabel griff danach und betrachtete ihre jämmerlichen Versuche vom Vorabend, etwas in Worte zu fassen, das nicht in Worte zu fassen war.

Liebe Tante Elisa, lieber Onkel Quirin,

ihr fragt euch zu Recht, weshalb ich nicht längst zu Hause bin bei euch. Es tut mir leid. Die Wahrheit ist: Schon seit Jahren kämpfe ich mit

Geliebte Tante, geliebter Onkel,

es fällt mir nicht leicht, dies zu schreiben, doch es gibt etwas, das ich euch nie sagen konnte.

Hallo ihr lieben beiden,

im Moment hält die Arbeit mich hier noch fest, aber ich bin zuversichtlich, in der nächsten, spätestens übernächsten Woche bei euch sein zu können.

Ich belüge euch. Schon seit Jahren.

Frustriert strich Isabel die Zeilen mit dem Kugelschreiber durch, bis die Mine sich zum Blatt darunter durchgefressen hatte. Sie konnte das nicht.

Nicht jetzt, da die Tante sterbenskrank war und sie es schon zuvor nie gewagt hatte, sich mit ihrem hässlichen Geheimnis den Adoptiveltern anzuvertrauen.

Nicht jetzt, da die Ärzte Elisa nur noch einige Monate gaben. Oder Wochen.

Nicht jetzt, da sie ihre Wohnung seit Tagen nicht mehr verlassen hatte und das Haus am Ufer des Forggensees genauso gut auf dem Mond hätte liegen können.

*

Er spürte ihre zunehmende Schwäche wie einen Dämon, der mit ihnen im Raum saß. Ihre Atmung hatte sich verändert, war zu einem geräuschvollen Rasseln geworden. Zwischendurch setzte sie ganz aus, zusammen mit seinem Herzen. Das Schlimmste war, dass ihn selbst das alles noch viel mehr erschreckte als seine sterbende Frau. Er war lange nicht so stark, wie er sein müsste.

*

Von draußen drang das empörte Lärmen eines Hupkonzerts. Schrill setzte das erste Autohupen ein, dicht gefolgt von einem zweiten und dritten. Isabels Schlafzimmerfenster ging auf eine belebte Verkehrsstraße hinaus, mittlerweile glaubte sie, die Hupgeräusche blind den verschiedenen Autotypen zuordnen zu können. Genau das Richtige für »Wetten, dass …?« – hätte es die Show noch gegeben und wäre sie ein anderer Mensch gewesen.

Unter dem Fenster stand der massive Eichenschreibtisch, den Isabel Onkel Quirin vor vielen Jahren mit Engelszungen abgeschwatzt hatte. Im ganzen Raum – der ganzen Wohnung – das einzig schöne Stück. Das eierschalenfarbene Fensterbrett darüber war voll mit kleinen schwarzen Tupfen, die sich bei genauem Hinsehen als tote Fruchtfliegen entpuppten. Auf dem in die Jahre gekommenen Laminatboden – an mehreren Stellen von Feuchtigkeit aufgequollen – lag ein angegrauter Läufer mit orangenen Wachsflecken. An der Wand stand ein altes Zweisitzer-Sofa mit einem Glastisch davor – das Schlafzimmer war zugleich Wohnzimmer. Einen Schrank suchte man vergebens. Hinter der Tür stapelten sich Umzugskisten, aus denen Isabel lebte. Sonst gab es nichts in dem Zimmer, das auf seine Bewohnerin schließen ließ.

Müde hob sie die Beine aus dem Bett und ging hinüber in die kleine Küche, die noch vom Vormieter stammte. Der Mann, dessen Küchenzeile sie abgelöst hatte, war starker Raucher gewesen und hatte nicht zuletzt auf den Schränken leichtes Nikotingelb hinterlassen. Auch in diesem Raum fanden sich Fruchtfliegen auf dem Fensterbrett, doch keinerlei persönliche Gegenstände.

Isabel brühte sich einen Instant-Kaffee und dachte darüber nach, wie lange sie nun schon hier wohnte. Beinahe vier Monate. Hundertsiebzehn Tage, ganz genau. Eine Schande. Noch immer sah keiner der Räume so aus, als wäre es ihrer. Dabei hatte sie anfangs hochfliegende Pläne mit der Wohnung gehabt, hatte sich mit knappen Mitteln ein wohnliches Nest bauen wollen; vielleicht sogar ein Blog über den Fortgang der Renovierungsarbeiten schreiben.

Hundertsiebzehn Tage seit ihrem Einzug. Isabel stellte die benutzte Tasse in die Spüle. Seufzte. Sechsundsechzig Tage, seit sie zuletzt bei Elisa und Quirin gewesen war. Es half nichts. Sie musste endlich nach draußen.

*

»Wann kommt sie?« Trotz ihrer fortschreitenden Schwäche setzte Elisa sich im Bett auf, schob den eingefallenen Körper Stück für Stück nach oben. Quirin zog die Bettdecke zurecht, tupfte ihr den Mund mit einem Tuch ab, in das ihrer beider Initialen gestickt waren. Sie hatten einen ganzen Satz dieser Tücher zur Hochzeit bekommen. Vor langer Zeit. In einem anderen Leben.

Wann kommt sie? Diese Frage, immer die gleiche, auf die er keine Antwort hatte. Elisa blickte ihn an, ihre Augen seit Jahrzehnten sein warmer, sicherer Ort der Verheißung. Wie sollte er leben ohne diese Zuflucht?

Die Farbe ihrer Augen war wie immer. Blaugrün wie der See an einem stillen Tag. Das Einzige an ihrem von der Krankheit geschändeten Körper, das sich nicht verändert hatte. Das ihm noch Sicherheit vermittelte.

»Ich weiß es nicht.« Er griff die Hand seiner Frau, die zu leicht war und zu trocken. Tatsächlich hatte er den Glauben daran, dass sie noch kam, längst verloren. Zu häufig und immer verzweifelter hatte er an sie appelliert, doch seine Ziehtochter täuschte Arbeit vor und vertröstete ihn und ihre sterbende Tante auf später.

Später, das hatte Quirin begriffen, würde zu spät sein.

*

Isabels Wohnung lag in einem Gebäude, das die Farbe von zu lange im Kühlschrank belassenem Fleisch hatte. Nahtlos schlossen sich die Häuser links und rechts an. Es gab eine zweite Wohnung im Haus und ein Ladengeschäft im Erdgeschoss. Beide Räumlichkeiten standen leer. Wenn Isabel durch die schmutzigen Fensterfronten ins Innere des Ladens spähte (was sie nur ein einziges Mal getan hatte), sah sie vergessene Kartonreste auf dem Boden und eingetrocknete Malerkübel. Trostbringer. Bestattungen in und um Bamberg. Die scharlachroten Lettern schrien noch von der Hauswand, dabei war der Bestatter längst ausgezogen.

Sie ließ das Haus mit hämmerndem Herzen hinter sich und wandte sich nach links, vorbei an Taubenkot auf einer Bank; einem überquellenden Mülleimer, dem jemand eine umgedrehte Eiswaffel obenauf gestülpt hatte. Es waren nur dreihundert Meter bis zu dem kleinen Lebensmittelgeschäft. Die Anonymität eines großen Discounters wäre ihr lieber gewesen, aber dafür hätte sie eine viel weitere Strecke durch Feindesland in Kauf nehmen müssen. Feindesland – so nannte sie die Welt vor ihrer Wohnungstür inzwischen. Während die Passanten an Isabel vorüberzogen, meinte sie deren Blicke auf sich zu fühlen. Bohrend, stechend, verächtlich. Obgleich kaum einer Notiz von der jungen Frau nahm, jagten ihr die gewohnten Fragen durch den Kopf. Ging sie zu schnell? Zu langsam? Zu schwankend? Waren die Schweißflecken unter ihren Achseln schon so groß, dass sich alle abgestoßen fühlten? Ihr Blut, ihr Herz, ihr Puls – alles wummerte. In ihrer Hast, den Einkauf hinter sich zu bringen, knickte sie zweimal fast mit dem Knöchel um, was ihr glühende Wangen und einen starken Druck im Kopf bescherte. Diese Peinlichkeit! Sie weinte fast, als sie den Laden erreichte, alle Muskeln im Körper bis zum Gehtnichtmehr angespannt. Das Bemühen, ihre Panik vor all diesen Fremden zu verbergen, kostete sie unendlich viel Kraft.

Isabel belud ihren Einkaufswagen. Sie kaufte Dinge, die sie nicht brauchte oder die ihr nicht schmeckten, einfach nur, weil sie das Richtige auf Anhieb nicht fand. Sauerkraut mit Kümmel (donnerstags hatte es in einer ihrer Pflegefamilien Kassler mit Sauerkraut und viel Kümmel gegeben. Sie hasste Kümmel!) und Schinken mit daumendickem Fettrand (den Tante Elisa früher immer abgeschnitten und für Quirin aufgehoben hatte). An der Kasse beobachtete sie eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn, der nach allem griff, was er nicht haben durfte. Pralinen, Überraschungseier und kleine, bauchige Schnapsflaschen, die schon beim flüchtigen Hinsehen giftig aussahen. Früher einmal war Alkohol ihr wie die Lösung erschienen. Inzwischen nicht mehr.

Als Isabel an die Reihe kam, fiel ihr das Wechselgeld hinunter. Sie war zu sehr darauf konzentriert gewesen, ihrem Gegenüber nicht ins Gesicht zu sehen und gleichzeitig das Rückgeld in Empfang zu nehmen. »Verzeihung.« Ihr Blick flirrte nun doch zur Kassiererin.

»Kann passieren.« Den Ton ihres Nagellacks hatte die Frau perfekt auf ihre roten Haare abgestimmt. Sie bemühte sich nicht, ihre Gereiztheit zu verbergen. Insbesondere, da die Schlange hinter der Kundin rasant anwuchs.

In Panik klaubte Isabel ihr Rückgeld zusammen – und ließ das Kümmelkraut liegen.

»He, warten Sie!«, trötete die Rothaarige ihr hinterher.

Isabel fuhr zusammen, rempelte versehentlich gegen einen anderen Kunden und verlor erneut Geld.

»Jetzt warten Sie doch!«

Sie rannte aus dem Laden, rannte den halben Weg nach Hause, bis das Gedankenkarussell in ihrem Kopf langsamer wurde. Natürlich wusste sie um die Irrationalität ihrer Ängste. Dennoch kam sie nicht dagegen an.

Seit Toms Verlust hatte sie mit wechselhaftem Erfolg gegen die Symptome gekämpft. Das hieß, sie hatte noch bis vor vier Monaten dagegen angekämpft – als wieder eine ihrer Beziehungen gegen die Wand gefahren war; als immer klarer wurde, dass Tante Elisas tödliche Diagnose sich bewahrheiten würde. Dann hatte sie aufgegeben.

*

Ihre rasselnde Atmung war ein Zeichen des nahenden Todes. Die Ärzte hatten es ihm gesagt, mehrfach, so einfühlsam sie konnten. Er hatte gelernt, was er für sie tun musste, welche Handgriffe zu erledigen waren, damit sie zu Hause sterben konnte. Manchen Angehörigen, sagten die Ärzte, ging das über die Kräfte. Sie konnten es schlichtweg nicht. Quirin hätte dem sofort zugestimmt. Er konnte es ebenfalls nicht. Und tat es dennoch. Wenn er sie schon gehen lassen musste, dann nicht in der Anonymität eines Krankenzimmers.

»Hol sie nach Hause, versprich es mir.«

Quirin zuckte zusammen. Er hatte seine Frau in einer Phase der Bewusstlosigkeit gewähnt, die immer häufiger wurden.

»Natürlich, mein Herz.«

»Du bist böse, weil sie nicht hier bei uns ist. Aber du musst ihr vergeben. Isabel hat Probleme.«

»Das sagst du seit Jahren.« Quirin schnaubte. Wann immer sie nach Hause gekommen war, hatte die Ziehtochter auf ihn den Eindruck einer gesunden jungen Frau gemacht, die mit beiden Beinen im Leben stand. Ob sie glücklich war, gut, das konnte er nicht sagen. Aber so schwerwiegende Probleme, wie sie Elisa seit langem bei Isabel vermutete, vermochte er schwerlich auszumachen.

»Isabel liebt uns«, beharrte Elisa. »Sie wäre an unserer Seite, wenn sie könnte.«

»Ich werde mein Bestes geben, sie heimzuholen und ihr zu helfen. Das schwöre ich dir.« Quirin küsste die Kranke auf die Stirn, auf der kalter Schweiß stand. Er würde Isabel helfen, das schon. Ob er ihr jemals verzeihen würde, dass sie ihre Familie im Stich ließ, wusste er allerdings nicht.

*

In der Sicherheit ihrer vier schäbigen Wände zog Isabel die durchgeschwitzten Kleider aus und stellte sich unter die Dusche. Hinterher atmete sie freier. In einem zu großen Shirt setzte sie sich an den Schreibtisch. An den nackten Fußsohlen spürte sie Kekskrümel. Draußen, unter ihrem Fenster, ging das Leben weiter. Sie konnte die Bank sehen, an der ungerührt der Taubenkot haftete, den kommenden und gehenden Hinterteilen zum Trotz. Sie sah Geschäftsleute und Gruppen von Jugendlichen, Rastafaris und kleine Mädchen mit glitzernden Haarspangen. Sie sah Lachen und Streit, Emotionslosigkeit und sehr viel Eile. Das Leben in seinen matten und schillernden Facetten. Feindesland.

Sie war nie der Typ Mensch gewesen, den die Leute auf Anhieb mochten. Aber sie hatte sich um Offenheit bemüht, hatte darauf geachtet, die Arme im Gespräch nicht vor der Brust zu verschränken und den Blickkontakt zu ihrem Gegenüber zu halten, ohne zu starren. Inzwischen konnte sie das nicht mehr.

Bitte haben Sie Verständnis, dass ich momentan keine weiteren Aufträge annehmen kann. Ich bedaure dies sehr und hoffe auf eine Zusammenarbeit zu einem späteren Zeitpunkt.

Sie arbeitete als selbstständige Grafikdesignerin, schon seit Jahren. Doch die Auftragslage war – in Zeiten von Picasa, Photoshop und Co., wo jeder halbwegs talentierte Laie etwas Brauchbares zustande bringen konnte – schlecht. Ganz besonders für Isabel, die seit Wochen jeden potenziellen Auftrag von vornherein ablehnte, um nur keine persönlichen Planungsgespräche führen zu müssen. Schon Telefonate gingen über ihre Kraft.

Es klingelte an der Tür. Der Ton war laut und schrill. Isabel versteifte sich augenblicklich; ein Nager im Käfig, der die Schlange wittert. Wer konnte das sein? Der Vermieter, der nach dem Rechten sehen wollte? Neue Mieter, deren Einzug ihr entgangen war? Der Postbote möglicherweise? Vor einer Weile hatte sie darüber nachgedacht, ihre Lebensmittel nur noch über das Internet zu beziehen. Der Gedanke, was die Paketzusteller dann von ihr halten mochten – verrückte Verpackungsmüllproduzentin oder einfach ein faules Stück? –, hatte sie die Idee verwerfen lassen. Sowieso vermied sie es, die Tür zu öffnen.

ENDE DER LESEPROBE