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Zwei Frauen in einem gefährlichen Kräftemessen zwischen Engeln, Dämonen und Drachen kämpfen um das Schicksal ihrer Liebe! Tris erfährt auf tragische Weise, dass ihr bisheriges Leben eine einzige Lüge war und es sie eigentlich gar nicht geben dürfte. Warum hat man sie vor Engeln und Dämonen gleichermaßen versteckt, ihre Existenz geheim gehalten? Und wer steckt dahinter? Während sie sich auf eine verzweifelte Suche nach Antworten begibt, droht ein längst totgeglaubter Widersacher, das Machtgefüge zwischen Himmel und Hölle empfindlich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Plötzlich befindet sich Tris mitten im Kräftemessen von Mächten, die sie sich bis vor kurzem nicht einmal hat vorstellen können. Schafft sie es, sich von den widersprüchlichen Einflüssen zu befreien und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen?
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Seitenzahl: 228
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Ich widme dieses Buch all denen, die glauben,
ihre Träume nicht verwirklichen zu können.
Die das Gefühl haben, von Anderen
im Stich gelassen zu werden.
Ihr könnt das schaffen!
Glaubt an euch!
Ich widme dieses Buch allen,
die den Glauben noch nicht verloren haben. Allen,
die noch kämpfen. Und allen,
die vielleicht schon am Rande des Aufgebens sind
aber dennoch um diesen Stock bitten.
Einen einfachen Stock, mit dem sie sich durch das
unwegsamste aller Gelände kämpfen, welches
Leben heißt.
Ihr seid nicht alleine.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Glossar
***
Nein. Nein, nein, nein, nein! Sie durften nicht … Sie konnten nicht … Er war noch nie in seinem Leben derart schnell gerannt oder geflogen. Das konnten sie nicht tun! Die Stimmen wurden lauter. Er hörte das Klirren von Waffen, von Rüstungen, die aneinander schlugen. Unbarmherzig gebrüllte Befehle.
Der Auflauf an Leuten auf dem Richtplatz war überwältigend. Und das nicht auf eine gute Art und Weise. Er schob sich durch die Menge, Ellbogenstöße links und rechts in die umstehende Masse verteilend, bis er die vorderste Reihe erreichte. Was er sah, nahm ihm den letzten noch verbliebenen Atem.
Der Seraphim auf dem Richtplatz war an Armen und Beinen angekettet. Die Glieder gespreizt, an jedem seiner sechs Flügel ein himmlischer Wächter. Seine ehemaligen Kollegen. Gefühllos standen sie da, eisig und entschlossen in die Menge blickend.
»DANJAL!«
Seine Stimme war ein Verzweiflungsschrei. Sie konnten das nicht tun, nicht deswegen … Nicht seinen besten Freund! Einer der Wächter ruckte mit dem Kopf, ein anderer nickte und kam mit seinem Kollegen auf ihn zu. Er musste zu ihm! Er musste ihm helfen, was es ihm auch abverlangte. Die wenige Zeit, die er mit der Erfüllung seiner eigenen Wünsche zugebracht hatte, durfte Danjal jetzt nicht das Leben kosten! Wenn sie ihn doch nur zu einem Menschen machen würden … Wenn es nur das wäre! Er schob sich weiter nach vorne – und Plattenhandschuhe schlossen ihren Griff um seine Arme.
»Zurück.«
»Lasst mich los!«
Die Wächter beachteten ihn gar nicht erst. Ihre Waffenbrüder griffen nach den Flügeln des Seraphim in Ketten. Packten die Flügelansätze an seinem Rücken und zogen. Sein Schrei zerriss die Himmel. Blut strömte golden auf den Marmorboden und ein Sturm aus Federn schwebte hinab. Der Seraphim hing in seinen Ketten. Blutend. Atemlos. Dem Tode geweiht.
»NEIN!« Unbändiger Zorn ergriff von ihm Besitz. Verzweifelt wehrte er sich mit Händen und Flügeln gegen den eisigen Griff der Wachen, die ihn immer noch niederzwangen. In goldenen Bächen floss Danjals Blut über dessen Rücken auf den weiß schimmernden Marmor unter ihm, während der heilige Funke des Lebens in seinen Augen erlosch. »Ihr Bastarde!«, knurrte er und verpasste dem Wächter zu seiner Linken einen heftigen Schlag gegen die Kehle. Dieser zuckte vom plötzlichen Schmerz gepeinigt zusammen und ließ ihn nur für einen kurzen Augenblick los. Er nutzte seine Chance und legte noch einmal all seine Kraft in einen weiteren Angriff gegen den zweiten Wächter. Niemand tötete seinen Freund und kam ungeschoren davon. Nicht, wenn er es verhindern konnte! Entschlossen griff er nach dem goldenen Schwert des Wächters, zog es aus seiner Scheide am Gürtel und hob es in die Luft. Mit einer himmlischen Klinge könnte er Danjals Fesseln zerschmettern. Seinen Freund befreien und mit ihm fliehen. Bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, hob Danjal den Kopf und blickte seinen Freund aus trüben Augen warnend an. Kopfschüttelnd ließ dieser das Schwert sinken, als er die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens erkannte. Er wusste, was Danjal ihm mit diesem Blick sagen wollte und er erinnerte sich an das Versprechen, welches er seinem Freund gegeben hatte. Was nicht bedeutete, dass ihm dieser Schritt leicht fallen würde. Alles in ihm sträubte sich dagegen, Danjal seinem Schicksal zu überlassen, während er sich selbst in Sicherheit brachte. Auch wenn er erkannte, dass er für Danjal nichts mehr tun konnte. Für dessen Kind jedoch schon. Er hob das Schwert ein weiteres Mal und sein Herz brach entzwei. Zersplitterte wie die Rüstungen der Wächter, die er mit der Kraft der Verzweiflung einfach aus seinem Weg schlug. Diesmal jedoch nicht um Danjal zu befreien, sondern um sich selbst einen Weg an den Wächtern vorbei, aus dem Himmel heraus zu erkämpfen. Mit einem erschöpften Lächeln auf den Lippen holte Danjal ein letztes Mal Luft, bevor er endgültig zusammenbrach.
Gierig wie ein verhungernder Wolf fraß sich der Schmerz durch ihre Eingeweide. Selbst durch die energetische Barriere des Himmels hindurch, spürte Dialen die Schmerzen ihres leidenden Gefährten in ihrem Herzen. Seine körperliche Qual und die schleichende Kälte, die in seine Glieder kroch, fanden ihren Weg bis hinunter in die Hölle und brachten Dialen die traurige Gewissheit, dass er sterben würde. Ihr Gefährte. Die Liebe ihres Lebens, von der sie geglaubt hatte, ihrer nie würdig zu sein. Nicht einmal die Hitze hier unten vermochte ihre innere Kälte zu lindern. Blutrote Tränen rannen über Dialens Wangen und tropften auf die sanfte, kaum erkennbare Wölbung ihres Bauches. Wo sollte sie hin? Hier konnte sie auf keinen Fall bleiben. Was, wenn Luzifer ihre Schwangerschaft bemerkte? Er würde nicht zögern sie zu töten. Entweder um schon jetzt an das Kind heranzukommen oder kurz nach der Geburt. So oder so war sie des Todes – und das Kind verloren. Es sei denn … Es sei denn, sie fände einen Weg, unbemerkt aus der Hölle heraus zu kommen um sich in der Welt der Menschen zu verstecken. Wenigstens so lange, bis ihr Kind geboren war. Denk nach, Dialen. Wen könntest du um Hilfe bitten? Hier unten durfte sie niemandem vertrauen. Grübelnd schritt sie durch ihre privaten Gemächer auf den großen, offenen Balkon und ließ ihren Blick über die rot glühenden Lavaflüsse gleiten, die sich wie pulsierende Adern über die weite Ebene unter ihr erstreckten. Seit sie denken konnte, lebte sie hier unten. Ihre Eltern waren stolze Dämonen gewesen. Obwohl ihre Mutter nur eine einfach gehörnte Dunkle gewesen war, hatte ihr Vater sie in sein Bett genommen und ihr gestattet, seinen Samen auszutragen. Es kam nicht oft vor, dass ein mehrfach gehörnter Schwarzer eine einfache Dunkle in sein Bett nahm. Oft überlebten diese Frauen eine Nacht mit einem schwarzen Dämon nicht. Und wenn doch, starben sie unter den Strapazen der Geburt des kleinen Dämons. Ihre Mutter war anders gewesen. Rhaja hatte bei ihm gelegen und nicht nur die Paarung überlebt, sondern ihm sogar eine Tochter geboren. Und genau diese Tochter trug jetzt das Ungeborene eines Seraphim unter ihrem Herzen.
Er wusste, was zu tun war. Zu bleiben kam nicht infrage. Für einen Engel gab es nicht viel zu packen. Alles, was er besaß, waren er selbst und seine Wohnung im Himmel – und in die würde er niemals mehr zurückkehren. Ihm blieb nur ein Weg, das auszuführen, worum ihn Danjal gebeten hatte, bevor er sterben würde. Seine Macht zu behalten, um es zu tun. Seine eigene Herrin hatte ihm gesagt, er könnte gehen – wenn er gehen musste. Wenn sie wüsste, wohin er wollte, hätte sie ihn sicherlich nicht so leicht ziehen lassen. Niemals hätte er sich träumen lassen, eines Tages vor den Toren zur Hölle zu stehen, geschweige denn sie freiwillig zu durchschreiten. Und doch war er hier. Ein Meer aus Rot und Scharlach hüllte ihn ein. Die Hitze versengte ihm die blendend weißen Flügel und die Asche färbte sie schwarz. Es gab kein Zurück mehr. Nicht von hier.
***
Endlich war die Nacht über dem großen Haus hereingebrochen und hüllte das herrschaftliche Anwesen in eine schützende Aura aus Dunkelheit. Weder Mond noch Sterne erhellten den Himmel; selbst die Tiere und Geister, die hier lebten, schwiegen still. Sie alle warteten gespannt auf den ersten Schrei des neuen Lebens, das sich bereits vor Stunden auf den Weg gemacht hatte. Einhundert Kerzen erhellten den kleinen Raum im ersten Stock des Hauses und malten lange Schatten an die Wände. Als plötzlich ein Schrei die trügerische Idylle zerriss und alles Leben bis ins Mark erschauern ließ.
Dunkelheit umfing auch Dialens müden Geist, während sie ein letztes Mal ihren Schmerz heraus schrie und das klägliche Wimmern eines Neugeborenen den Raum erfüllte. Erschöpft und blass, doch mit einem schwachen Lächeln auf den aufgesprungenen Lippen, sank sie in die Kissen zurück und streckte ihre zitternden Hände nach dem kleinen blutverschmierten Bündel aus.
»Bitte, gib sie mir. Meine kleine Tochter.«
Das kleine Mädchen war alles, was ihr von ihrer Liebe geblieben war. Alles, wofür sie in den letzten Monaten gelebt, überlebt und gekämpft hatte. Jetzt forderten all diese Strapazen ihren Tribut und verlangten das größte Opfer, das sie zu geben bereit war. »Achte gut auf sie«, bat Dialen ihren einzigen Freund und treuen Helfer, der an ihrer Seite geblieben war. »Versprich es mir! Sie darf NIEMALS erfahren, wer sie wirklich ist! Sie soll ein unbeschwertes, glückliches Leben fernab der Welt der Magie, des Himmels und der Hölle haben.« Sanft küsste sie das kleine schwarzhaarige Mädchen auf die rosige Wange, als eine Träne in das schwarze, flauschige Haar des neugeborenen Mädchens tropfte. Einmal noch holte Dialen tief Luft und sog den Duft ihrer kleinen Tochter in sich auf, bevor ihr Kopf zur Seite kippte und sie für immer die Augen schloss.
Er sagte kein Wort. Er hatte geahnt, was kommen würde, je weiter ihre Schwangerschaft fortgeschritten war. Behutsam nahm er das Neugeborene von der Brust seiner Mutter und wickelte es in ein Tuch. Es blieb keine Zeit, die Riten durchzuführen. Nicht jetzt. Der dunkle Engel trat aus dem Haus, das kleine Bündel sicher im Arm, und breitete die Flügel aus. Es gab nur einen Ort, an dem dieses Kind sicher sein würde. Für eine gewisse Zeit jedenfalls. Verborgen vor den Augen der Engel und der Dämonen. Die Gegend, in der er landete, war nicht sonderlich einladend, aber das Sicherste, was er ihr bieten konnte. In menschlicher Gestalt, als hochgewachsener Mann in einem dunklen Mantel, klopfte er an eine Tür. Eine Frau öffnete sie, ihn bereits erwartend.
»Ist das…?«
Ein Nicken. Sie streckte die Arme aus und er überreichte ihr sorgsam das Kind.
»Und… ihre Mutter…?«
Ein Kopfschütteln.
Die Frau senkte den Kopf und er beugte sich vor, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Du bist ihre Wächterin. Enttäusche mich nicht.«
***
»Hey, schau mal einer an! Wen haben wir denn da?«, tönte die fiepsige Stimme eines jungen Kerls mit kastanienbraunem Haar, schiefer Nase und blasser Haut, den Tris nie zuvor gesehen hatte. Mina und sie waren nach ihrem Stadtbummel mit der Hochbahn unterwegs nach Hause, als eine Gruppe jugendlicher Unruhestifter ihr Abteil betrat. Dummerweise saßen die beiden Frauen direkt neben der Tür zum Übergang in das nächste Abteil, so dass die Kerle gleich auf sie aufmerksam wurden. »Zuerst nehm’ ich die Rothaarige. Und wenn ich mit ihr fertig bin, ist die da dran.« Er zeigte auf Mina und anschließend auf Tris. »Verpisst euch!«, schimpfte Tris.
»Halt’s Maul, du Schlampe.«, mischte sich der linke der beiden anderen Kerle ein, der nicht minder unsympatisch wirkte. Er hatte lohblondes Haar und große blaue Augen, die hinter den dicken Gläsern seiner Brille eher an Glupschaugen erinnerten. Nur der rechte von den Dreien war einigermaßen ansehnlich mit seinem pechschwarzen Haar, den kornblumenblauen Augen und einem sinnlich geschwungenen Mund. »Ja, du kommst auch noch dran«, fiel der Dritte mit ein. Tris’ Wut brodelte gefährlich dicht unter ihrer Haut, was für sie eigentlich ungewöhnlich war. Tris ging selten aus sich heraus. Wirkte nach außen hin eher schüchtern und harmoniebedürftig. »Ich sagte, verpisst euch!«, knurrte sie regelrecht, als das Licht im Zug zu flackern begann. Mina wurde unruhig. »Tris, lass das. Sicher gehen sie einfach weiter, wenn wir sie nicht beachten.« Zumindest hoffte Mina das. Auch, wenn sie sich kaum Chancen ausrechnete, dass es tatsächlich so war. Ehe sie es sich versah, packte der Wortführer Mina an der Schulter, drückte sie tiefer in den Sitz und kam ihrem Gesicht mit seinem viel zu nah. Seine eklige, feucht schimmernde Zunge schnellte hervor, dann leckte er Mina über die Wange. »Mhmm, schmeckt nach mehr«, prahlte er mit hörbarer Vorfreude in der Stimme. Mina schrie entsetzt auf, konnte sich jedoch nicht gegen den festen Griff ihres Peinigers wehren. Tris erhob sich, warf ihr hüftlanges schwarzes Haar über die Schulter und funkelte den Mistkerl aus ihren eisblauen Augen an. Im nächsten Augenblick ließ sie ihrer Wut freien Lauf. Tris’ Gesicht glühte, als sei sie fiebrig. In ihren Augen funkelte die pure Mordlust. »Ich sagte – VERPISST EUCH!«, brüllte sie und schubste das Ekelpaket von ihrer Freundin weg. Gleichzeitig explodierten alle Fenster im Zugabteil. Das Licht flackerte erneut, dann erlosch es und der Zug legte eine Notbremsung ein. »Was zum Teufel! Das is’ die, die da!«, stammelte einer der Jungs und deutete mit Entsetzen auf Tris. »Die is’ nicht normal! Lasst uns abhauen!«, fluchte der Anführer der Bande und stürzte allen voran aus dem Abteil. Tris bekam von all dem nichts mehr mit. Auch nicht, als zersplittertes Glas durch die Luft flog und auf sie alle nieder regnete. Ein seltsamer Schimmer lag auf Tris’ Körper und ihr Haar tanzte wie von Geisterhand getragen in der Luft. »Tris, komm! Wir müssen hier verschwinden!«, rief Mina ihrer Freundin zu und versuchte sich hinter eine Sitzbank zu ducken. Tris jedoch stand wie betäubt inmitten des Scherbenregens und starrte aus rot glühenden Augen ins Leere. »Verdammt, Tris. Komm schon!«, flehte Mina verzweifelt. Rasch schlüpfte sie aus ihrem Versteck und trat auf ihre Freundin zu, ohne auf deren verändertes Aussehen zu achten. »Komm jetzt!«, schimpfte sie, griff nach ihrer Hand, zuckte erschrocken zusammen und flog zwei Meter quer durch das Abteil zurück.
»Was…?«, krächzte sie und fand sich mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand des Abteils auf dem Boden wieder. Der Aufprall war heftig gewesen. Was verdammt noch mal war gerade passiert? Was ging mit ihrer Freundin Tris vor sich, fragte Mina sich benommen. Totenstille lag über dem Zugabteil, als Mina sich mühsam aufrappelte. Sie schmeckte Blut. Tris hingegen sackte völlig entkräftet auf die Knie. Kippte vornüber und war bewusstlos, noch bevor ihr Gesicht den Boden berührte. Erschrocken krabbelte Mina zu ihrer Freundin. Glasscherben schnitten in ihre Handflächen und trieben ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen, doch sie ignorierte es tapfer.
»Wach auf! Bitte, Tris«, flehte Mina ihre bewusstlose Freundin an. Rüttelte an ihrer Schulter und versuchte, sie auf den Rücken zu drehen. Beim zweiten Versuch gelang es ihr endlich. Doch Tris war immer noch bewusstlos. Seitlich über ihrer linken Augenbraue klaffte eine kleine Wunde. Dunkelrotes Blut klebte in Tris’ schwarzem Haar. Etwas davon sickerte sogar auf den Boden. Mina wurde unruhig. Warum kam niemand, um ihnen zu helfen? Um sie herum herrschte absolute Stille. Weder Feuerwehr noch die Polizei waren in der Ferne zu hören. Wo blieb die Schar von neugierigen Menschen, die sich für gewöhnlich um den Unglücksort scharten? Heute hätte Mina ausnahmsweise nichts gegen ein wenig Normalität einzuwenden. Sie wusste nicht warum, aber diese ganze Sache, dieser Ort, fühlte sich unwirklich an. So sehr, dass sie am liebsten auf der Stelle aus dem Zug geflüchtet wäre. Sie wollte diesen schrecklichen Ort verlassen – und Tris. Die ihr ehrlich gesagt eine Scheißangst einjagte. Vielleicht war das gar keine so dumme Idee. Aber konnte sie Tris einfach hier liegen lassen? Wer wusste schon, wann sie wieder zu sich kommen würde? Immerhin war sie verletzt. Und dann auch noch am Kopf. Kurzentschlossen rappelte sich Mina auf und klopfte ihre Kleider ab. Glassplitter und Staub rieselten aus den Falten ihrer Jacke.
»Ich gehe und hole Hilfe, hörst du? Ich komme wieder«, versprach sie feierlich. Warf einen letzten Blick auf die bewusstlose Tris und stürzte davon.
***
Es hätte eine normale, für gewöhnlich unspektakuläre Patrouille werden sollen. Als Tyne aufgestanden war, hatte er damit gerechnet sich wieder den ganzen Tag die Beine in den Bauch zu stehen, um sich zu Tode zu langweilen – sofern das bei einem Engel eben möglich war. Aber es würde anders kommen. Die momentan unsichtbaren Flügel auf seinem Rücken zusammengefaltet, saß er auf einem der niedrigeren Häuserdächer Seattles und starrte nach unten in das rege Treiben. Hielt nach irgendetwas Ungewöhnlichem Ausschau. Die Auren der Menschen zogen an ihm vorbei, unauffällig und langweilig wie immer. Sicher, der ein oder andere potenzielle Verbrecher war darunter, aber sich darum zu kümmern, war nicht Tynes Aufgabe. Er suchte nach Nephilim. Den Kindern aus einer kurzfristigen Verbindung zwischen einem Engel und einem Menschen. Wie so oft ohne jeden Erfolg. Frustriert zuckten die Spitzen seiner Flügel. Tyne veränderte seine Position und machte es sich auf dem Dach bequem. Sollte der Tag nur so weiter gehen. Wenigstens nervten ihn hier weniger Leute als im Himmel. Der Gedanke war kaum zu Ende gedacht, als ein schrilles Quietschen, gefolgt von lautem Klirren, den Straßenlärm übertönte. Tyne zuckte zusammen und sprang auf, um sich nach der Ursache umzusehen. Unfälle waren nichts Besonderes, aber dieser Zug – er brauchte etwa zehn Sekunden die Feuerleiter hinab, um sich anschließend unauffällig durch das Chaos zu schieben. Diese plötzliche Energie – das war kein leichtes Aufflackern. Der Astralraum hatte gebebt, als der Zug kreischend zum Stehen kam und seine Glasfenster zerbarsten. Es war die Signatur eines Engels, die seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Die eines Dämons allerdings auch. Doch das konnte nicht sein! Das war schlicht und ergreifend unmöglich. Seine Schritte lenkten ihn weiter zum Zug. Zum allgemeinen Tumult dort, während er der Spur folgte. Sie ging von einer jungen Frau aus, über die sich gerade ein Fremder beugte.
Das heruntergefallene Glas hatte dafür gesorgt, dass die unter der Hochbahn verlaufende Straße völlig verstopft war. Menschen liefen panisch umher, Autos parkten mitten auf der Straße. Splitter hatten Reifen zerstochen und für zahlreiche Unfälle gesorgt. Das Chaos war perfekt. Genau das richtige Umfeld, um einen, ja was eigentlich? Ein Nephilim war sie nicht, das konnte sie nicht sein. Ihre Aura war nicht reinweg die eines Engels, gemischt mit der eines Menschen. Da war etwas Dunkles in ihr. Etwas, das so nicht sein konnte. Allerdings musste Tyne um das herauszufinden ohnehin erst einmal auf die Gleise kommen, und die lagen von seinem momentanen Standort aus ungefähr fünf Meter über ihm. Natürlich könnte er fliegen. Aber dann konnte er auch gleich eine Leuchtrakete zünden, um auf sich aufmerksam zu machen. Also blieb ihm nur noch die Möglichkeit, einen der Betonpfeiler hinaufzuklettern.
Wenn er doch nur bis dorthin gekommen wäre. Aus der Masse löste sich eine ihm unbekannte Gestalt, die er jedoch als einen Diener des ehemaligen Lichtbringers erkannte. Er musste diese Frau erreichen, bevor der Andere es tat. Tyne beschleunigte seine Schritte. Er hätte den Pfeiler fast erreicht, als er mit einem heftigen Ruck zu Boden gestoßen wurde. Die Gestalt war ihm in den Rücken gesprungen. Ledrige, schwarze Flügel schlugen um sich. Die Krallen, die er selbst in seiner humanoiden Form besaß, bohrten sich tief in Tynes Fleisch, was ihm ein dunkles, schmerzvolles Knurren entlockte. Goldenes Blut tränkte seine Kleidung, aber der Dämon ließ nicht locker.
Seths Wächter grub seine Krallen tief in Tynes Fleisch. Goldenes Blut quoll aus unzähligen Wunden, benetzte jede einzelne seiner Krallen. Doch es schien ihm nicht das Geringste auszumachen. Verbissener denn je kämpfte er für seinen Herrn. Im Gegensatz zu Tyne scherten Seinesgleichen sich einen Dreck um menschliche Zuschauer. Sie hatten kein Interesse daran den Schleier der Engel zu wahren. Wozu auch. Lebten sie selbst doch in einer Welt, die vor tausenden von Jahren für die Menschheit verloren ging. Vom heutigen Tag an würde sein Herr Seattle mit Feuer und Asche überziehen und Engel genauso wie Dämonen den Preis dafür bezahlen.
Thyron, der erste und größte seiner Wächter, breitete schwungvoll seine riesigen Flügel aus, deren Wucht eine Gruppe unschuldiger Gaffer zurück schleuderte. »Heute nicht, Tyne!«, höhnte Thyron dem Engel, schloss seine wuchtigen Arme um Tynes Körper und stieß sich kraftvoll vom Boden ab. Innerhalb von Sekunden schossen die beiden in den Himmel hinauf und lieferten sich einen erbitterten Kampf. Unter ihnen schrien die Menschen voller Entsetzen auf. Stoben in alle Richtungen auseinander in dem Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, während andere wie gebannt dem Spektakel im Himmel folgten.
»Endlich!« Kühl und glatt, wie dunkle Seide floss Seth’ Stimme in die Gedanken seiner Wächter.
»Es ist so weit. Meine Zeit ist gekommen und ich werde bekommen, was mir rechtmäßig zusteht.« Feuerschein spiegelte sich in Seth’ Augen, als er auf die beiden Wächter in ihrer Drachengestalt zuschritt. »Geht! Und wagt es ja nicht zu versagen! ER darf sie niemals in die Hände bekommen. Sorgt dafür, dass Sariels Schoßhund Tyne das Mädchen nicht bekommt.« Mit einem Lächeln schloss er seine Faust um einen unsichtbaren Gegenstand in der Ferne.
»Sariel«, hauchte er beinah andächtig. »Bald, schon sehr bald gehörst du mir.«
Gleichgültig hob Seth seine Schultern. Obgleich ihm das Spektakel des Engels da draußen gefiel. Dass ein Engel sich zeigte, in aller Öffentlichkeit, war eine Genugtuung für seine uralte Seele. Ein schwacher Trost für Jahrtausende des Exils. Das würde für Tyne nicht nur Ärger bedeuten, sondern im besten Fall sogar die Verbannung. Damit wäre Seth’ Objekt der Begierde zwar nicht gänzlich schutzlos, jedoch ohne Leibwächter. Und das war schon ein großer Gewinn. Engel waren schon immer selbstgefällig gewesen. Ihre Naivität jedoch übertraf dies bei Weitem. Das Lächeln, welches um seine Mundwinkel spielte, erreichte seine dunklen Augen nicht. Doch sah man deutlich die Funken seiner Feuerglut in ihnen lodern. Die Vorfreude auf den bevorstehenden Sieg versetzte Seth in Hochstimmung. Gebannt verfolgte er den Kampf zwischen seinen Wächtern und dem Engel.
Dieser Dämon war anders, als alles, was Tyne kannte. Tynes Blut hätte seine Haut nicht nur bis aufs Äußerste reizen, sondern ihm auch die Krallen vollständig wegätzen müssen. Doch nichts dergleichen geschah. Tyne unterdrückte einen Fluch. Er brauchte Hilfe. Nicht unbedingt um diesen Kampf für sich zu entscheiden, sondern vielmehr um die unwissenden Menschen vor dem Zerreißen des Schleiers zu schützen. Zuvor musste er aber seine Gestalt wechseln. In gleißendem Licht transformierte sich Tyne. Blauer Engelsstaub rieselte funkelnd auf die Menschen unter ihm und verwandelte diese abstrakte Szene in einen winzigen Augenblick voller Magie. Die großen, weißen Flügel mit den blauen Spitzen umhüllten ihn, als er sich von seinem Gegner abstieß. Als er sie öffnete, gaben sie den Blick auf eine schimmernde Rüstung frei – und seinen Bogen, dessen Sehne er bereits spannte.
Er hatte gar keine andere Möglichkeit, als sich zu zeigen. Einzig die Rüstung und seine Waffe konnten ihm jetzt noch helfen. Dass die Menschen dadurch erfuhren, dass es sowohl Engel als auch Dämonen gab, war nicht geplant. Dafür würde er mit Sicherheit noch teuer bezahlen. Vermutlich hätte er sich einfach töten lassen sollen. Aber nicht er. Nicht Tyne. Ihm war es egal, wie entsetzt dieser Dämon zu ihm aufsah. Dämonen fielen nicht unter die Gebote. Jeder einzelne von ihnen war des Todes, wenn jemand wie Tyne einen Dämon aufspürte. Er hatte nicht vor daran etwas zu ändern. Der Pfeil ließ die Sehne seines Bogens singen, als er sie verließ. Die Spitze auf das Herz des Dämons gerichtet. Und durchbohrte doch jemand anderen. Einen kurzen Moment lang verharrte Tyne. Überrascht. Verwirrt. Welcher Dämon warf sich schützend vor einen anderen? Welcher Dämon reagierte derart heftig auf ein solches Opfer? – Aber dafür war jetzt keine Zeit. Er spannte die Sehne ein zweites Mal. Dieses Mal würde er sein Ziel nicht verfehlen.
Voller Entsetzten starrte Thyron auf den Engel über ihm. Er hatte es tatsächlich gewagt sich zu verwandeln. Vor aller Welt Augen. DAS würde seiner Herrin sicher nicht gefallen. Seth, Thyrons König, dafür um so mehr. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, sah er den Pfeil auf sich zujagen. Für ein Ausweichmanöver war es zu spät. Der Pfeil würde ihn treffen. Entweder seinen Flügel zerreißen, oder ihn schwer verletzen. Da konnte er sich dem Engel genauso gut auch entgegenstürzen. Doch bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, erschien Kyrill vor ihm und fing den Pfeil mit ihrem Körper ab. Er durchschlug den Flügel und drang tief in ihr weiches Fleisch. Kleine Funken schlugen aus der Wunde, die an der kühlen Luft sofort zu Asche zerfielen um vom Wind davon getragen zu werden. »KYRILL!«, brüllte Thyron voller Entsetzen, drehte von Tyne ab und stürzte Kyrills fallendem Körper hinterher. Doch er schaffte es nicht mehr rechtzeitig, sie abzufangen. Mit einem dumpfen Geräusch landete die kleine Drachenwächterin auf dem kalten Asphalt und blieb reglos liegen. Wut und Schmerz kämpften gleichermaßen in Thyrons Herz um die Oberhand. Seine Kyrill! Sicher, er hatte gewusst, dass sie jederzeit in einem Kampf verletzt werden, sogar sterben konnte. Doch davon zu wissen und es zu verdrängen oder mitansehen und fühlen zu müssen, wie seine Gefährtin zu Boden stürzte, waren zweierlei Dinge. »Kyrill…«, hauchte er ihren Namen, ließ sich neben ihr auf die Knie sinken und tastete mit zittrigen Händen nach dem Pfeil. Fest umschloss er den Schaft und brach ihn dicht an ihrem Körper ab. Er konnte die Wellen heißen Schmerzes beinah wie seine eigenen fühlen, die durch ihren Körper brandeten. Zögernd öffnete Kyrill ihre Augen und sah direkt in die ihres Gefährten. »Leb wohl, Thyron mein Herz. Wir sehen uns auf der anderen Seite«, flüsterte sie kraftlos. Ein Rinnsal rot glühenden Blutes rann seitlich aus ihrem Mund, verwandelte sich an der Luft zu Asche und verging. Die Wunde, in der immer noch Tynes Pfeil steckte, begann ebenfalls zu glühen. Kleine Funken stoben in alle Richtungen davon, nur um im selben Augenblick an der kalten Luft zu verglühen und zu Boden zu fallen. Kyrills Körper verwandelte sich unter Thyrons Händen in den Staub der Vergänglichkeit. Verzweifelt musste er mit ansehen, wie sie ihn verließ. Funke um Funke wich das Leben aus ihrem Körper, rieselte durch seine Finger, ohne dass er es hätte aufhalten können. Bis nur noch eine Spur aus schwarz funkelndem Puder von ihr übrig war und Thyron einen markerschütternden Schrei ausstieß.
Kyrill war fort. Alles, was ihm von ihr blieb, war Asche, die langsam durch seine Finger rann und vom Wind davongetragen wurde. Thyrons schmerzerfüllter Blick traf auf den des Engels. Und für einen kurzen Augenblick glaubte er so etwas wie Mitgefühl oder eine Art Verstehen darin zu erkennen. Doch dann sauste ein weiterer Pfeil auf ihn zu, bohrte sich dicht neben ihm in den Boden. Nicht einmal die Asche seiner geliebten Kyrill konnte Thyron einsammeln. Er musste fliehen, wenn er leben wollte. Wenn er sich an diesem Engel rächen wollte. Später würde der Engel dafür bluten!
Der zweite Pfeil flog los, kaum dass der Dämon seinen Schrei ausgestoßen hatte. Wenn Tyne es nicht besser gewusst hätte, hätte er gesagt, der Höllendiener dort unten trauerte um seine Geliebte, aber Dämonen konnten nicht lieben. Deswegen gab es unter ihnen auch keine Gnade. Keine Reue. Nichts dergleichen. Und doch musste es zumindest für ihn selbst so etwas gegeben haben. Denn der Pfeil traf nicht. Er konnte sich nicht erklären, warum er den Bogen in letzter Sekunde ein Stück nach oben gezogen hatte, so dass sich der Pfeil jetzt lediglich warnend neben dem Dämon in den Boden bohrte. Der dritte Pfeil lag bereits in seiner Hand. Schweigend sah er den anderen Mann an. Mit einer seltsamen Mischung aus Wut, Erbarmungslosigkeit und – Verständnis. Noch weniger konnte er glauben, was er sagte.