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Zwei Schwestern, die alles füreinander tun würden ... Ein grausamer Fund, der die Zeit überdauert.
Der Londoner Oliver Gordon hat von seiner Mutter ein herrschaftliches Sommerhaus an der nordspanischen Steilküste geerbt. Doch sein Plan, es in ein Hotel zu verwandeln, gerät schnell ins Stocken: Bei Umbauarbeiten wird ein Skelett in den Mauern des Hauses gefunden. Ein Relikt aus der Zeit des Bürgerkriegs? Die Spur führt die Polizei zu der Witwe eines wohlhabenden Industriellen, die das Haus einst ihren Dienstboten schenkte. Als mehrere Menschen im Ort ermordet werden, ist klar, dass der düstere Fund die Geister der Vergangenheit wachgerüttelt hat – und dass jemand versucht, sie für immer zum Schweigen zu bringen ...
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Seitenzahl: 576
Buch
Oliver Gordon hat eine schwere Zeit hinter sich: Seine Mutter ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, der Bruder wie vom Erdboden verschluckt, und seine Freundin hat ihn verlassen. In der nordspanischen Heimat seiner Mutter will der Mittdreißiger nun noch einmal ganz von vorne anfangen. Und er weiß auch schon wie: Im kantabrischen Küstenstädtchen Suances soll die Villa, die er geerbt hat, in ein kleines Hotel umfunktioniert werden. Beim Umbau dann der grausige Fund – in einer Zwischenwand im Keller kommt die mumifizierte Leiche eines neugeborenen Säuglings zum Vorschein. Die Polizei ermittelt und gelangt auf die Spur eines Geheimnisses, das weit in die Vergangenheit zurückreicht …
Autorin
María Oruña, Jahrgang 1976, lebt im nordspanischen Galizien. Bevor sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte, arbeitete sie jahrelang als Anwältin. Schon seit Kindertagen reist sie regelmäßig durch Kantabrien, die Heimatregion ihres Vaters, wo auch ihr aktueller Roman spielt. Das Versprechen der Schwestern ist das Debüt der Autorin auf dem deutschen Markt.
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María Oruña
Das Versprechen der Schwestern
Roman
Deutsch von Sonja Hagemann
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Puerto escondido«
bei Ediciones Destino, Barcelona.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2015 by María Oruña
Published by arrangement with Cristina Mora Literary & Film Agency (Barcelona, Spain)
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © www.buerosued.de
kw · Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-17210-7V002www.blanvalet.de
Für dich, meine große Liebe, auch wenn dudieses Buch niemals lesen wirst.
Und für all die jungen Leute, die im Park auf einer Bank sitzen und in sich uralte Geheimnisse und wunderbare Geschichten tragen.
Sommer, in der Gegenwart
Nach und nach umfing ihn die Landschaft mit lauer Sommerluft. Beinahe konnte er schon das geschäftige Treiben des Küstendorfes erahnen, das jeden Sommer neu zum Leben erwachte, wenn freudige Urlauber aus den Städten des Inlandes herbeiströmten. Für kurze Zeit würden sie hier die Arbeit und jegliche Routine vergessen, die nicht in Meer und Sonnenschein gebadet war.
Oliver entspannte sich ein wenig, obwohl sich das Fahren auf der rechten Seite für einen Londoner, der an Linksverkehr gewöhnt war, alles andere als erholsam gestaltete. Zu seiner Rechten ließ er langsam den Berg Masera de Castío hinter sich, dessen Nordwand auf das Örtchen Cortiguera hinabblickte, während auf der Südseite das Dorf Hinojedo lag. Das ungewöhnliche Hochplateau erwuchs wie ein Vorgebirge aus der Erde, riesig genug für jegliche Götter, die dort leben mochten.
Als Oliver weiterfuhr, wurde die Bebauung langsam dichter.
Auch der Verkehr wurde zäher, und als er schließlich das Schild »Willkommen in Suances« erblickte, ahnte er, dass sich hier in Küstennähe ein Stau anbahnte, ein langer, schwitziger Lindwurm aus Autos voller Sonnencreme und -schirme, Handtücher in leuchtenden Farben und Eimerchen mit Schaufeln zum Erschaffen von kindlichen, wenig soliden Sandburgen.
Oliver seufzte und stellte sich auf eine lange Wartezeit am Steuer ein. Mit der Hand fuhr er sich durch das dichte dunkle Haar, während er die Nase kräuselte und die Landschaft zu seiner Rechten betrachtete: die Ria von San Martín de la Arena wuchs auf ihrem Weg zum Meer an und verlief in sanften Biegungen, die er von der Straße aus gut erkennen konnte. Das Flussbett fiel zum Meer hin ein wenig ab und bildete mehrere Mündungen. Um sich die Zeit zu vertreiben, schaltete Oliver das Radio seines Mietwagens ein. Man hatte ihm einen schwarzen Fiat 500L gegeben, den er unglaublich feminin fand. Wie aus dem Nichts erklangen aus den Lautsprechern die sanften Töne einer spanischen Gitarre und eines Klaviers. Dazu gesellte sich eine entschlossene, melodische und männliche Stimme, die bald den Innenraum des Wagens erfüllte.
Die traurige Melodie erkannte Oliver sofort, es war das Lied Let Her Go von Passenger. Es war eine sanfte Erinnerung daran, dass die Menschen Dinge oft erst zu schätzen wissen, wenn sie ihnen fehlen.
Er brauchte nun wirklich kein Lied, um sich an Anna zu erinnern oder an ihre lange rote Mähne. Er trug Anna immer bei sich, sie war ein Teil von ihm und das würde auch immer so bleiben, eine unsichtbare Wunde, die sich niemals ganz schloss, obwohl Annas Gesichtszüge in seinem Kopf inzwischen unweigerlich zu verblassen begannen. Aber jetzt versetzte ihn die Musik in jene letzten Tage ihrer Zweisamkeit zurück.
»Na, komm her. Alles klar bei dir?«
»Natürlich, was für eine Frage! Entscheidend ist doch, ob es dir gut geht«, hatte ihr Oliver geantwortet, und in seinen Worten hatte so viel unterdrückte Zärtlichkeit gelegen.
»Wir müssen reden.« Sie schaute ihn mit der Weisheit dessen an, der nichts mehr zu verlieren hat. »Ich möchte gern, dass du ausgehst, unter Leute kommst, jemanden kennenlernst. Und das ist jetzt nicht nur so dahingesagt. Es ist mir ganz egal, ob da erst eine Woche oder eine Stunde verstrichen ist, seit … Das schert mich nicht, okay?«
»Jetzt erzähl doch keinen Unsinn. Wenn du nicht wärst, würde ich sicher nicht mit einer Frau pro Woche ausgehen, sondern eher mit zwanzig«, behauptete er großspurig. »Außerdem wird ja alles gut werden, und damit basta! Falls nicht, stürze ich mich augenblicklich ins Nachtleben, wirst schon sehen!«, erklärte er und zwinkerte ihr zu.
»Oliver, du und ich, wir wissen doch beide …« Müde seufzte sie, es war beinahe ein Schnauben, und sah ihm in die Augen. »Oliver«, wiederholte sie, »das wahre Glück können wir nur erreichen, wenn wir es mit jemandem teilen.«
»Tu mir das nicht an.«
»Was soll ich …?«
Aber er fiel ihr ins Wort: »Nimm bitte nicht von mir Abschied.«
STOP. Passenderweise entdeckte er direkt vor sich rechts am Straßenrand das Verkehrsschild mit den vier weißen Buchstaben auf einem roten Achteck, obwohl ihm das bei seinem derzeitigen Tempo fast wie ein Witz vorkam. Oliver kehrte aus der Vergangenheit und dem verschlungenen Labyrinth seiner Gedanken zurück, weil nicht nur die Straße und die Landschaft um seine Aufmerksamkeit buhlten, sondern auch das unablässige Piep-Piep seines Handys.
»Ja, hallo? Bitte?«, sagte er, während er das Gespräch entgegennahm, die Stirn gerunzelt und die Augen zusammengekniffen, als würde das den Empfang verbessern.
»Oliver Gordon?«, fragte eine männliche Stimme, die weit entfernt klang. Begleitet wurde sie von einem Orchester aus Hämmern, Bohrgeräuschen und dem Kreischen einer Säge auf Hochtouren.
»Ja, am Apparat. Mit wem spreche ich denn?«
»Hier ist Rafael Bernárdez, der Geschäftspartner von Antonio aus der Baufirma … Erinnern Sie sich noch? Wir haben vor ein paar Wochen bereits miteinander telefoniert.«
»Ah, ja, natürlich. Selbstverständlich erinnere ich mich an Sie, Sie sind der Bauleiter, oder? Wie läuft es denn so?«, fragte Oliver.
Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Schweigen.
»Gut …«, wieder Stille, »… ehrlich gesagt bin ich jetzt gerade bei Ihnen zu Hause, mit den Maurern und Schreinern, dem ganzen Trupp. Aber ich muss mit Ihnen noch dringend etwas besprechen … Können Sie reden?«
»Ja, ich sitze zwar am Steuer, stecke aber im Stau. Also schießen Sie los.«
Der Mann am anderen Ende räusperte sich, als suche er nach den passenden Worten.
»Äähh … kommen Sie eigentlich bald aus England zurück?«
So langsam wurde Oliver ungeduldig, er ließ sich jedoch nichts anmerken und antwortete: »Na ja, das kommt darauf an, was Sie unter ›bald‹ verstehen. Ich bin heute Morgen ganz früh in Bilbao gelandet und befinde mich eine Viertelstunde von Suances entfernt. Also ja – ich bin ziemlich bald wieder da, vorausgesetzt, ich entkomme jemals diesem Stau der Sommerfrischler. Darf ich denn erfahren, was eigentlich los ist? Gibt es mit dem Umbau irgendein Problem?«
»Gott, bin ich froh, dass Sie hier sind. Ich hatte Sie nämlich eigentlich erst in ein oder zwei Wochen erwartet.«
»Aha. Jetzt kommen Sie doch bitte mal zum Punkt, Rafael. Worum geht es denn?«
»Na ja, wir haben da zwischen den Trennwänden im Keller etwas gefunden … da, wo wir das Spielzimmer für die Kinder einrichten sollen.«
Oliver blies die Backen auf und zog die Augenbrauen hoch, während er in den ersten Gang schaltete, um sich an die Geschwindigkeit des Staus anzugleichen, der wie im Schneckentempo vorankroch.
»In Ordnung, und worum handelt es sich? Um Felsen, den Sie nicht perforieren können, verrostete Rohre, eine versteckte dunkle Kammer? Was ist denn nur so wichtig?« Und so geheimnisvoll, dachte er, während er skeptisch und mit müdem Lächeln auf irgendeine absurde Antwort des Bauleiters wartete. Im Radio spielten sie immer noch den gleichen Song.
»Tja, wissen Sie, bei manchen Dingen muss man wirklich vorsichtig sein, sonst stoppen die womöglich noch den ganzen Umbau, und, na ja, deshalb müssten Sie eben entscheiden, ob Sie die Behörden verständigen wollen oder was wir sonst damit machen. Würde ich mal sagen.«
Langsam wurde Oliver sauer.
»Darf ich vielleicht erst einmal erfahren, was da im Keller eingemauert war? Wenn es sich um römische Amphoren handelt, dann behalten wir die einfach«, sagte er. »Oder sind Sie auf den schlafenden Graf Dracula gestoßen?«, fragte er ironisch und zog unwillkürlich die Augenbrauen hoch.
»Nein.« Der Bauleiter hatte wohl beschlossen, Olivers sarkastischen Tonfall zu ignorieren. Und dann herrschte wieder Stille im Hörer, mal abgesehen vom steten Hämmern im Hintergrund. »Es handelt sich um … einen toten Säugling, Señor Gordon. Um eine verdammte Babyleiche.« Der Mann stieß die Luft aus, so als habe die Information schwer auf seinen Schultern gelastet. Oliver wies den Bauleiter an, auf ihn zu warten, und legte auf.
Genau in diesem Moment war der Song im Radio zu Ende, und es wurden die neuesten Charthits kommentiert. Aber davon bekam Oliver längst nichts mehr mit. Stattdessen umfing ihn eine machtvolle Stille, die ihm in den Ohren dröhnte, und er fuhr wie ein Schlafwandler ganz mechanisch weiter. Dabei nahm er wenig mehr als seinen Herzschlag wahr, bis er nach fünfzehn quälend langsamen Minuten endlich die Villa erreichte. Ziemlich mitgenommen ließ er sich von Rafael bis zur letzten Ruhestätte des Kindes führen und war sich dabei zum ersten Mal dessen bewusst, dass er beim Hinabsteigen in seinen Keller eine Grabstätte betrat.
Der Einsatzwagen war nicht mit Symbolen der Guardia Civil ausgestattet und stattdessen als einfacher Pkw getarnt. Sargento Riveiro parkte ihn vor dem Haus, über dessen Namen ein kleines Schildchen an der Steinmauer davor Aufschluss gab: Villa Marina.
Jeden Tag kamen Dutzende von Personen an der Villa vorbei, und ausgerechnet jetzt war dort ein Leichnam aufgetaucht? Wie merkwürdig! Das Gebäude stand in der letzten Kurve des Concha-Strandes direkt am Eingang der engen Landzunge, und wer zum Leuchtturm von Suances oder an die Playa de los Locos wollte, passierte es zwangsläufig.
Er selbst war mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern schon häufig hier entlangspaziert und hatte immer angenommen, dass das Haus leer stünde, vielleicht weil die ursprünglichen Besitzer verstorben waren und die Instandhaltung des Gebäudes heutzutage außerhalb der finanziellen Möglichkeiten von Normalsterblichen lag. Aber es sah wohl so aus, als habe es inzwischen einen Besitzer gefunden. Wie paradox, dass ausgerechnet jemand, der dem alten Kasten durch Renovierung und Umbau nun endlich Leben einhauchen wollte, dort eine Leiche gefunden hatte.
Der Sargento arbeitete in der Kommandantur von Kantabrien in Santander für die Ermittlungsabteilung der Guardia Civil. Losgeschickt hatte ihn seine Vorgesetzte, Teniente Redondo, nach dem Leichenfund, weil er nicht nur Erfahrung mit Tötungsdelikten hatte, sondern vor einiger Zeit auch in der Kaserne von Suances stationiert gewesen war und daher die Gegend gut kannte.
Riveiro stieg aus dem Auto und sah sich um. Im Garten des beeindruckenden Hauses, das von Hortensien, Feigenbäumen, Myrtenbüschen und tropischen Bäumen umgeben war, marschierte ein gut gekleideter jüngerer Mann auf und ab. Der Sargento tippte darauf, dass dies der Hausbesitzer sein musste, Oliver Gordon. Der wiederum hatte den Neuankömmling bei seinem Hin und Her gar nicht bemerkt.
Ein rascher Blick zeigte Riveiro, dass auch Cabo Antonio Maza von der Kaserne in Suances bereits eingetroffen war, gemeinsam mit einem Beamten der Guardia Civil. Riveiro erwischte seinen Kollegen dabei, wie er versonnen den herrlichen Concha-Strand betrachtete, auf dem sich selbst unter der Woche die bunten Sonnenschirme drängten. Der Cabo, ein fröhlicher, dünner Mann mit roten Haaren und den Augen eines Kindes, hinter denen sich ein Mittdreißiger verbarg, schien einen ganz bestimmten Bikini im Blick zu behalten.
»Mensch, Maza, aufwachen!«
»Entschuldigen Sie bitte, Sargento, ich hab gerade zum Wasser rübergeschaut. Manche haben es ja wirklich gut. Sehen Sie doch mal, das Haus hat sogar einen direkten Zugang zum Strand.« Ein abfallender Pfad verlor sich zwischen Gestrüpp, Bäumen und Büschen, um die sich vermutlich seit Jahren niemand mehr gekümmert hatte.
Riveiro folgte Mazas Finger mit dem Blick und entdeckte tatsächlich ein nur schwer zu erkennendes schmales Türchen aus schwarzem Eisen, das am Ende dieses ungepflegten Urwalds Zugang zum feinen, hellbraunen Sand der Playa de la Concha gewährte.
Rechts neben dem Pfad befand sich auf dem Grundstück der Villa eine große Hütte mit merkwürdig undefinierter Architektur. Mit seiner Struktur aus Stein und großen Bohlen lag das Gebilde irgendwo zwischen einer kanadischen Blockhütte und einem kantabrischen Berghäuschen. Dem Sargento kam es seltsam und irgendwie unzeitgemäß vor. Vermutlich war es nicht in derselben Epoche gebaut worden wie das Haupthaus, in dem man die Leiche gefunden hatte. Einen Moment ließ er den Blick auf der beeindruckenden Villa ruhen: Sie lag auf dem Gelände weiter oben und hatte große Fenster, um die herum matte braune Farbe aufgetragen worden war, während die Außenwände ansonsten in makellosem Weiß erstrahlten. Das Gebäude vereinte Elemente der typischen Amerikaheimkehrer-Häuser mit französischem Kolonialstil und schien mindestens ein Jahrhundert auf dem Buckel zu haben.
Die Aussicht auf den Strand, die Flussmündung und sogar auf die Felseninsel Isla de los Conejos war beeindruckend.
»Maza, setzen Sie mich doch kurz ins Bild. Was haben wir hier?«
»Was ich schon per Funk erklärt habe, Sargento. Offenbar eine Säuglingsleiche, eingewickelt in alte vergilbte Tücher wie eine Mumie. Der Körper ist wohl älter als Methusalem.«
»Aha«, machte Riveiro und nickte. »Ich nehme mal an, Sie haben den Bereich abgesperrt und veranlasst, dass keiner irgendwas anfasst«, fuhr er fort und sah Maza in die Augen.
»Selbstverständlich. Ich habe nicht nur in der Kommandantur Bescheid gesagt, sondern auch schon die SpuSi bestellt.«
»Die Spurensicherung ist also auf dem Weg? Wunderbar, gut gemacht. Wie sieht es mit Richter und Gerichtsmediziner aus?«
»Verständigt und unterwegs, da hab ich extra noch mal nachgefragt«, antwortete Maza und musste über seine Effektivität selbst lächeln.
»Mann, Mann, Maza – heute haben Sie sich echt einen Orden verdient. Wer ist denn im Haus … Martín?«, fragte er. Dieser Guardia Civil war genau wie der Cabo ein Bekannter des Sargento und gehörte zur Kaserne von Suances.
»Ja, der befragt die Handwerker und behält sie im Auge, die haben ja den Leichnam gefunden.«
»Was haben die denn im Haus gemacht? Renovierungsarbeiten, nehm ich mal an, oder?«, murmelte Riveiro vor sich hin und schaute zum Gerüst, der Betonmischmaschine und den Baumaterialien vor einer der Außenwände hinüber.
»Ja, damit sind die schon seit zwei Monaten beschäftigt. Der Hausbesitzer ist der Typ da drüben, der nicht einen Moment still steht«, erklärte Maza und deutete auf Oliver, der sich genau in diesem Moment zu ihnen umdrehte, als hätte er sie reden gehört.
»Haben Sie den schon befragt?«, erkundigte sich der Sargento, während er sich in Bewegung setzte und aufs Haus zuging.
»Nein, ich hab nur seine Daten aufgenommen, mit dem Rest wollte ich lieber auf Sie warten, Riveiro.«
»In Ordnung. Ich möchte mir zunächst mal die Leiche ansehen. Sagen Sie dem Typen doch bitte, dass ich dann gleich komme, um ihm ein paar Fragen zu stellen.«
»Natürlich, Sargento.«
Riveiro lächelte.
»Na, dann mal los zur Datenaufnahme.«
Cabo Maza quittierte den Befehl mit einem Nicken und ging dann zu Oliver hinüber, während sich Riveiro dem Haupthaus näherte. Dort wartete schon sein Kollege Martín auf ihn, der den Fundort bewachte, damit keine Spuren zerstört wurden, falls es denn welche geben sollte.
Das Innere des Gebäudes fand Riveiro eher enttäuschend: Er hatte sich eine Art Geisterhaus vorgestellt, voll von alten, mit Spinnweben bedeckten Möbeln, stattdessen fand er in Weiß gehaltene, offene helle Räume mit jeder Menge Werkzeug und Baumaterialien vor.
Martín zeigte Riveiro den Eingang zum Keller und ging dann mit großen Schritten voraus. Unten angelangt, deutete er zwischen Schreinerwerkzeug, frischem Zement und Rohren auf die Zwischenwände, mit deren Abriss man heute Morgen begonnen hatte, um einen offenen Raum zu schaffen. Daher war die Decke auch an anderen Stellen abgestützt. Und im Zwischenraum dieser Wände war nun dieses kleine Wesen aufgetaucht, das man ohne große Ehrerbietungen hier aufgebahrt hatte.
Riveiro hatte das Gefühl, in eine uralte Kammer eingedrungen zu sein, die ihm irgendwie wie etwas Privates, ganz Intimes vorkam. Die Luft war stickig und voller Staubkörnchen, die im Licht tanzten. Auf einem Holzklotz neben der Zwischenwand, die ihm als Grab gedient hatte, lag ein Bündel. Man konnte darin eine Form erahnen, die vage an einen Totenschädel erinnerte. Zwischen den Falten des Leichentuches schauten ihn zwei verwaiste Augenhöhlen an.
»Sie sehen ja, Sargento, dass da nicht viel mehr als Knochen übrig sind«, sagte Martín und deutete auf die vergilbten Knochenfragmente, die im zerfallenden Stoff zu sehen waren.
»Ja, so scheint es wohl. Ich hoffe doch, dass ihr nichts angefasst habt«, sagte Riveiro zum Guardia Civil, den er dabei nur aus dem Augenwinkel ansah. Er war viel zu sehr in den Anblick des toten Kindes, dieses verblichenen Bündels, versunken. »Natürlich nicht, Riveiro.«
»Gut. Hier brauchen wir wahrscheinlich einen Anthropologen, der Gerichtsmediziner wird uns da wenig sagen können.«
»Stimmt.«
»Und einen Biologen.«
»Wegen der DNA?«, fragte Martín überrascht. »Aber Sargento, wer weiß, vielleicht stammt dieses Baby sogar noch aus dem Bürgerkrieg.«
Riveiro schaute den Guardia Civil an, der eins neunzig groß war und einen Bart so schwarz wie die Nacht trug.
»Wer weiß, Martín, wer weiß. Außerdem sieht das zwar aus wie ein menschliches Wesen, könnte aber auch etwas anderes sein.«
»Ein Tier, Sargento?«, entgegnete der Guardia Civil und ließ den Blick noch einmal über den Fund wandern. »Das würd ich schon für einen menschlichen Schädel halten. Aber gut, warten wir ab, was der Arzt sagt.«
»Ja, wir werden sehen«, stimmte Riveiro zu. »Ich gehe mal raus und spreche mit dem Hausbesitzer. Sie sind doch hier aus dem Dorf. Kennen Sie den, vielleicht wenigstens vom Sehen?«
»Nein, ich glaube, der kommt nicht von hier. Das ist vielleicht ein Dandy! So ’n ganz Hübscher mit Markenklamotten und einer Frisur wie ein italienisches Model. Haben Sie das Auto gesehen?«
»Welches? Den schwarzen Fiat, der draußen parkt?«
»Ja, den meine ich. Bei dem Auto und den Klamotten ist das mit Sicherheit ’ne Schwuchtel.«
»Martín, jetzt reiß dich mal zusammen. Da spricht ja der reine Neid, und wer weiß, vielleicht stehst du sogar auf den Typen«, entgegnete Riveiro grinsend. Er gab seinem Kollegen nicht einmal Zeit für eine Antwort, sondern drehte sich einfach um und stieg die Treppe ins Erdgeschoss hoch. Der Guardia Civil folgte ihm.
Als Riveiro nach draußen trat, verspürte er trotz der Hitze die Erleichterung, und ihm war, als träte er nach einer ihm offiziell verordneten Teilnahme an einer Beerdigung aus der Familiengruft. Zu seinem Erstaunen entdeckte er links vom Haus auf einem etwas höher liegenden Bereich des Grundstücks einen Tennisplatz. Bei genauerem Hinsehen erblickte er auf dem Spielfeld zahlreiche Risse, durch die sich Dutzende von Pflänzchen ihren Weg gebahnt hatten. Man hatte auf dem Grundstück Terrassen angelegt und den zum Strand hinunterführenden Hang optimal genutzt – auf der oberen Ebene lag der Tennisplatz, etwas tiefer stand das Haus. Noch weiter unten gab es einen Swimmingpool, an dem der halb verwilderte Pfad vorbeiführte, welcher zunächst die Hütte erreichte und schließlich am Sandstrand endete.
Oliver wartete auf Riveiro neben dem leeren Schwimmbecken, dem nicht nur das Wasser fehlte, sondern offensichtlich auch eine gründliche Reinigung. Auf dem trockenen Grund hatte sich jede Menge Grünzeug angesammelt, selbst dort unten schienen Pflanzen zu sprießen. Während er sich näherte, betrachtete der Sargento den Mann unverhohlen: Es handelte sich tatsächlich um einen attraktiven Typen mit sportlicher Figur, auch wenn er weder übermäßige Schönheit noch offensichtliche Muskelpakete aufzuweisen hatte. Sein Gegenüber wirkte auf ihn wie einer jener Menschen, die gut aussahen, ohne dass sie dafür irgendwelche besonderen Anstrengungen auf sich nehmen mussten, und die selbst in Jeans und T-Shirt so elegant wie Richard Gere in Ein Offizier und Gentleman rüberkamen. Sargento Riveiro hatte die vierzig längst überschritten, und obwohl er selbst noch beneidenswert gut in Form war, überkam ihn eine gewisse Wehmut, als er in das Gesicht dieses vitalen, jungen Mannes blickte.
»Guten Tag, ich bin Sargento Jacobo Riveiro von der Ermittlungsabteilung der Guardia Civil«, stellte er sich vor und reichte dem Hausbesitzer die Hand.
»Oliver Gordon, mir gehört die Villa.«
»Sind Sie Engländer?«, fragte Riveiro wegen des Namens.
»Ja, aber auch Spanier, ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft. Meine Mutter stammte aus Spanien, mein Vater aus England«, antwortete Oliver in einem Atemzug. Es klang, als hätte er diese Erklärung schon ziemlich oft abgegeben.
»Aha«, sagte Riveiro, während er einen Notizblock aus der Jackentasche holte. »Und leben Sie normalerweise hier oder in Großbritannien?«
Oliver sah den Sargento aus blauen Augen aufmerksam an und lächelte freundlich.
»Ich hab hier oft den Sommer verbracht, zum Teil auch in diesem Haus«, erklärte er und deutete mit einer Kopfbewegung zur Villa hinüber. »Geboren bin ich allerdings in London, und dort habe ich bisher auch überwiegend gelebt. Einige Zeit habe ich in Schottland gewohnt. Aber eigentlich wollte ich jetzt hierherziehen.«
»Mir kommen Sie so ganz ohne Akzent, aber wie ein waschechter Spanier vor, also wie einer, der hier aufgewachsen ist.«
Oliver nickte zufrieden.
»Ja, meine Mutter hat immer Spanisch mit mir geredet. Und ich hab am University College in London Hispanistik studiert.«
»Ah«, machte Riveiro und bemerkte die komplett andere Aussprache seines Gegenübers beim Namen seiner Hochschule. Er fand es bemerkenswert, mit welchem Nachdruck der junge Mann sprach und mit welcher Direktheit er ihm dabei in die Augen sah. Gordon war ihm sympathisch.
»Gut, dann wollen wir mal sehen … Offenbar haben Ihre Handwerker da unten einen Leichnam gefunden, und wie Sie sich vorstellen können, müssen wir natürlich Herkunft und Todesursache untersuchen. Seit wann gehört Ihnen denn das Haus? Ich meine, Ihnen oder Ihrer Familie«, stellte er klar, da Oliver wohl kaum älter als fünfunddreißig sein konnte.
»Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung. Meine Mutter hat es geerbt, und nach ihrem Tod dann ich. Deshalb wollte ich es jetzt herrichten lassen und daraus ein kleines Hotel mit Meerblick machen.«
»Aha … Sie wollen also in Suances bleiben und arbeiten? Ich meine … werden Sie England definitiv den Rücken kehren?«, fragte Riveiro, ehe er sich bremsen konnte.
Oliver seufzte.
»Das von meiner Mutter geerbte Haus bietet mir die Gelegenheit, hier in Spanien noch einmal ganz neu anzufangen.«
Der junge Mann hatte wohl schwere Zeiten hinter sich, dachte Riveiro bei sich. »Verstehe. Und sind Sie verheiratet? Haben Sie hier Familie?«
»Nein, verheiratet bin ich nicht. Ich glaube, ich habe hier in Suances noch irgendwo einen Cousin zweiten Grades, aber zu dem habe ich keinen Kontakt.«
»Aha … Ihre ganze Familie befindet sich also in England? Kann man das so sagen?«
»Genau, mein Vater, Onkel und Tanten und mein Bruder. Na ja, obwohl ich ehrlich gesagt gar nicht weiß, wo der im Moment steckt.«
»Wer, ihr Bruder?«
»Ja, Guillermo.«
»Wird er etwa vermisst?«, fragte Riveiro überrascht. Das schien ja doch noch interessant zu werden.
»So kann man das eigentlich nicht sagen. Aber er setzt sich manchmal für eine gewisse Zeit einfach ab, und das kann sich ziemlich lange hinziehen. Seit Operation Telic ist er nicht mehr derselbe, sondern ein wenig … durcheinander«, stellte Oliver Gordon klar und senkte den Blick, als sei er nicht sicher, ob er die richtigen Worte gefunden hatte.
»Operation Telic?«, fragte der Sargento verwundert und sah von seinem Block auf.
Langsam wandte Oliver sich ihm wieder zu und hielt seinem fragenden Blick einen Moment stand, bis er begriff und zu lächeln begann.
»Ach ja, entschuldigen Sie bitte, dieser Begriff wird hier ja nicht verwendet. Ich meinte den Irakkrieg, Sie wissen schon.«
»Natürlich«, bestätigte Riveiro und nahm sich insgeheim vor, sich am Abend im Internet noch einmal in das Thema zu vertiefen. »Und seit wann haben Sie schon nichts mehr von Ihrem Bruder gehört?«, fragte er mit echtem Interesse, obwohl die Sache mit der Ermittlung wohl wenig oder gar nichts zu tun hatte.
»Seit eineinhalb Jahren«, antwortete Oliver ernst, ohne zu zögern oder ihn anzusehen.
»Ach, das tut mir leid. Und Sie haben keine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte?«
Oliver lächelte müde. »Bei meinem Bruder kann man das nie wissen: auf Ibiza, in Australien oder Südamerika … Das hängt von der Hilfsorganisation ab, für die er gerade tätig ist. Wir haben schon Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, wohin er verschwunden ist. Aber beim letzten Mal war er auch neun Monate weg und ist dann an Weihnachten ganz plötzlich bei meinem Großvater in Stirling aufgetaucht, als wäre nichts passiert.«
»Das muss Ihren Eltern ja ziemlich nahegehen.«
»Meine Mutter ist vor einem Jahr gestorben.«
Riveiro hätte sich selbst in den Hintern beißen können – der junge Mann hatte doch gesagt, dass er das Haus von ihr geerbt hatte.
»Stimmt, das haben Sie ja eben erwähnt«, sagte er und zögerte kurz. »Dann … weiß Ihr Bruder gar nichts vom Tod Ihrer Mutter?«
»Vermutlich nicht. Wir konnten ihn jedenfalls nicht ausfindig machen, und er hat auch weder meinen Vater noch mich angerufen. Aber das hat ja wohl nichts mit dem Fund im Keller zu tun, oder?«, fragte Oliver müde.
»Man kann nie wissen, mein Junge«, versetzte Riveiro väterlich. Aber Gordon hatte schon recht, sie sollten sich auf das konzentrieren, was da im Haus entdeckt worden war. »Dann erzählen Sie mir doch mal, warum Sie die Zwischenwände überhaupt herausreißen wollten.«
»Ich wollte dort ein Spielzimmer einrichten, für die Kinder der Gäste. Die muss man schließlich irgendwie bei Laune halten. Vor allem, wenn es mal regnet«, erklärte Oliver freundlich.
»Ich will ja nichts vorwegnehmen, aber sobald wir den Bericht unseres Anthropologen haben, werde ich alle Ihnen zur Verfügung stehenden Daten zum Haus benötigen. Wir müssen herausfinden, wem die Villa zu dem Zeitpunkt gehört hat, als der Körper dort versteckt wurde«, führte Riveiro aus und deutete zum Herrenhaus hinüber. »Natürlich werden wir diesbezüglich auch eigene Ermittlungen anstellen, aber jegliche Dokumente, die Sie uns hierzu zur Verfügung stellen können, wären hilfreich.«
»Natürlich, allerdings kann das ein paar Tage dauern, weil mein Anwalt alle Papiere hat, und ich glaube, dass er zurzeit auf Reisen ist. Aber ich rufe ihn auf jeden Fall heute noch an, und sobald er mir Kopien der Unterlagen zukommen lässt, gebe ich die an Sie weiter.«
»In Ordnung. Außerdem muss ich Sie vorwarnen – wir werden die Bauarbeiten wohl bis auf Weiteres unterbrechen müssen. Wir müssen alles untersuchen und auch sichergehen, dass nicht noch weitere Leichen zwischen den Wänden oder Decken versteckt wurden. Sagen Sie mir doch bitte, wo ich Sie am besten erreichen kann. Sie wohnen vermutlich im Ort?«
»Na ja, schon, und zwar hier.«
»Wie, hier?«, fragte Riveiro überrascht, immerhin war die Villa das Reich von Maurern, Schreinern, Klempnern und Elektrikern.
»Na ja, eher dort«, sagte Oliver belustigt und zeigte auf die Hütte.
»Ach, da drin kann man wohnen?«
»Und ob! Lassen Sie sich von diesem wuchernden Urwald nicht täuschen. Den Garten spare ich mir bis ganz zum Schluss auf.«
»Verstehe. Da haben Sie ja noch einiges an Arbeit vor sich.«
»Ja, das kann man wohl sagen.« Wieder lächelte Oliver und ließ den Blick über das Grundstück schweifen. »Ganz zu schweigen vom Pool, der Garage und den Mauern … Ich hab als Erstes dieses Häuschen renovieren lassen«, er deutete auf die Hütte, »weil ich dort das ganze Jahr über leben werde. Das Haupthaus lasse ich wie gesagt in ein Strandhotel verwandeln. Vielleicht kann ich hier auch Veranstaltungen für Spanisch- oder Englischschüler organisieren, kommt darauf an, wie das Geschäft läuft. Meine Marktstudien der Gegend sind ziemlich erfolgversprechend, ich arbeite schon an meiner Webseite und bereite außerdem eine Werbekampagne und ein Austauschprogramm für Studenten vor. Ich will mit alldem so schnell wie möglich loslegen.«
Riveiro war beeindruckt. Dieser junge Mann hatte alles genau durchdacht und kalkuliert. Und nun war ihm unverhofft eine Leiche in die Quere gekommen.
»Sie wohnen also tatsächlich in dieser Hütte?«
»Hütte? Wenn Sie es so nennen wollen … dabei ist das Haus ziemlich groß und hat sogar zwei Stockwerke, auch wenn das durch den Höhenunterschied nicht offensichtlich ist. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es von innen wie eine ziemlich große Version dieser typischen IKEA-Apartments aussieht. Wollen Sie sich das vielleicht gern mal ansehen?«
Riveiro hätte das am liebsten bejaht, doch in diesem Moment fuhren drei Fahrzeuge vor der Villa vor. Riveiro erkannte die Insassen sofort: In einem der Autos entdeckte er den beleibten und gutmütigen Jorge Talavera, einen Richter Mitte fünfzig, zusammen mit der blonden Gerichtsmedizinerin Clara Múgica, die so winzig und dünn war, dass er bei ihrem Anblick immer unwillkürlich Angst hatte, ein Windhauch könnte sie umwehen. Im zweiten Wagen saß der Rechtsreferent, der wie immer allein unterwegs war, weil er ständig etwas außerhalb des Gerichts zu tun hatte. Mit ihm war die Abordnung der Personen komplett, die einen Leichnam gesehen haben mussten, bevor er abtransportiert werden konnte. Im dritten Fahrzeug erkannte Riveiro das Team der Spurensicherung, das man ihnen aus Santander geschickt hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Neuankömmlinge zu begrüßen und auf einen Einblick in das Leben Oliver Gordons zu verzichten.
Für den Fall, dass die Zeit einst das Echo der Vergangenheit tilgt, seine Energie und sein Licht, die Gesichter unserer eigenen Herkunft verschwimmen lässt, will ich hier schriftlich Zeugnis von allem ablegen, was geschehen ist. Und was immer noch geschieht – ich weiß ja, dass jemand dieses kleine Stück Unrat in der Villa Marina gefunden hat. Ich hatte schon fast vergessen, dass es dort seine letzte Ruhe gefunden hatte. Aber alle Geschichten haben einen Anfang, und diese zwingt uns dazu, durch die Zeit zu reisen und den Ursprung der Bestie heraufzubeschwören.
Um ihr Wesen zu begreifen, musst du unter meiner Führung in die Vergangenheit zurückkehren.
Na, erreichen sie dich schon? Der Geruch von Salpeter und die fröhliche Sorglosigkeit der Menschen? Es ist Sommer, und wir schreiben das Jahr 1936.
In Nordspanien wurde in der damaligen Provinz Santander ein Strand unablässig von den Wellen gebadet. Die Sonne verbrannte den Sand, in dem glücklich mehrere Dutzend Kinder spielten. Mütterlich hatte der Concha-Strand im Küstendörfchen Suances mehrere Familien willkommen geheißen. Er bot ihnen durch den kräftigen Arm aus Erde und Fels Schutz vor den mächtigen Titanen der kantabrischen Wellen, die sich stattdessen lieber auf den wilderen Strand auf der anderen Seite der Landzunge stürzten.
Suances’ Lage ließ es eigentlich mehr wie zwei Ortschaften aussehen: Am Hang, der sich von der Hochebene aus zum Meer hin erstreckt, lag der kompakte Dorfkern mit Rathaus, Marktplatz und der Polizeistation der Guardia Civil. Unten in der Nähe des Hafens und des weiten Concha-Strandes, an der Mündung des Flusses und neben anderen kleineren Stränden entwickelte sich jedoch jeden Sommer ein ganz anderes Leben, und es wuchsen neue Hotels und Ferienwohnungen aus dem Boden, ganz in der Nähe von Fischmarkt, Fischerbooten und Sand.
Suances … dieses Dorf kann ich euch selbst mit geschlossenen Augen beschreiben. Im Norden liegt das Kantabrische Meer, im Süden der Ort Torrelavega, im Osten Miengo, im Westen Santillana del Mar. Aber lasst uns zu den Kindern zurückkehren, die da auf dem ruhigen Sand spielten, in den sanften Dünen, welche am Rand des Strandes mit grünen Knospen übersät waren.
Durch ihren Blick und ihre Art, sich zu bewegen, erkannte man sie sofort. Sie war gerade mal acht: so unbedeutend, dünn und winzig. Sie hatte langes dunkles Haar, glänzend und ein wenig gewellt. Die anderen folgten ihr mit Blicken, so als habe sie etwas magisch Anziehendes an sich. Dabei war sie nun wirklich nicht atemberaubend schön, aber ihr Lächeln und ihr Blick waren hypnotisch.
Sie hieß Jana, und ich bin mir sicher, dass du diesen Namen nie wieder vergessen wirst.
Sie war ein bescheidenes Mädchen, das mit seinen drei Geschwistern in den Wellen spielte, während die Sonne ihre Haut golden erglühen ließ. Und sie verfügte über natürliche Eleganz, eine geheime Art von Schönheit, die andere still bewunderten, während sie sich fragten, was wohl hinter ihren grünen Katzenaugen vor sich ging.
Es war ein besonderer Tag, ihr Vater wollte ihnen eine Freude machen und hatte sich freigenommen. Um sie hier zur Playa de la Concha zu bringen, war er fast eine Stunde lang die Flussmündung von San Martín de la Arena entlanggerudert, in der sich das Wasser der Saja und der Besaya vermischten. In ein paar Stunden würden sie nach Hinojedo zurückkehren, zur Arbeit im Schweiße ihres Angesichts, der täglichen Routine von Bauern und Arbeitern.
Aber jetzt war irgendetwas Merkwürdiges vorgefallen. Unter den Strandbesuchern kam Unruhe auf und breitete sich aus. Die Worte, die herübergeweht wurden, würden den Sandstrand schon bald in eine Wüste verwandeln. Lange würde er geduldig auf bessere Zeiten warten.
»Kinder, kommt her! Jetzt sofort!«, tönte die ungeduldige Stimme eines Mannes über den Strand.
Es war Janas Vater: groß, schlank und sehnig, mit Adlernase und noblem Blick aus braunen Augen. Sein Name war Benigno. Die Kinder hatten aufs Meer hinausgeschaut, zum Horizont hinüber, dessen Linie nur von den grauen Felsen der Isla de los Conejos, der Kanincheninsel, durchbrochen wurde. Jetzt drehten sie sich überrascht zu ihm um. Es war doch noch viel zu früh. Und zum Essen würde er sie in diesem Tonfall auch nicht rufen. Erschrocken standen sie da und rührten sich nicht.
»Ich hab gesagt, ihr sollt kommen! David, Clara, Antonio … Jana! Kommt sofort aus dem Wasser!«, rief der Mann, während er sich mit vor Wut rotem Gesicht dem Ufer näherte. »Schnell, wir müssen nach Hause! Auf geht’s! Und zwar jetzt! Na los, zieht euch an!«, brüllte er schließlich und deutete zu den Handtüchern hinüber, wo Carmen, ihre Mutter, hastig die Kleider zusammensuchte. Sie war eine kleine Frau mit blondem Haar, und ihre intensiven hellblauen Augen blickten stets ängstlich, ja misstrauisch in die Welt.
»Papá, was ist los? Was haben wir denn getan?«, fragte David, der Älteste, der jetzt das Wasser verließ und verschüchtert zu seinem Vater lief.
»Nichts, nichts ist los. Aber es geht jetzt nach Hause, und damit basta!«
»Aber Papá!«, wagte es Jana einzuwenden. »Wir sind doch gerade erst gekommen!«
»Und jetzt gehen wir eben wieder, na los!« Ihr Vater machte der Diskussion ein Ende, indem er Antonio und Jana am Arm packte und eilig mitzog, während er David und Clara mit eisigem Blick bedeutete, ihnen zu folgen. Entsetzt beobachteten die Kinder die unerklärliche Massenflucht all der anderen Familien, die doch bis vor einem Moment noch den Strand bevölkert hatten. Überall bot sich dasselbe Bild, alle schienen plötzlich fluchtartig den Strand zu verlassen.
»Papá, aber was ist denn …«
»Es hat einen Staatsstreich gegeben«, gestand Benigno seinen Kindern schließlich ein. »Die Republik ist gefallen. Wir befinden uns im Krieg, versteht ihr? Im Krieg. Das ist ein verdammter Bürgerkrieg. Verflucht seien Gott und die ganze Engelsschar!«, sagte er und verkniff sich alle weiteren Flüche, die ihm auf der Zunge lagen.
Von jenem Morgen des 18. Juli 1936 würde Jana nicht ihr Spiel mit den Wellen in Erinnerung bleiben, nicht der Salzduft des weichen Meeresschaums, der so frisch und lieblich war, sondern die Angst und Sorge auf den Zügen ihrer Eltern und die rasche Heimkehr in jenem geliehenen Boot, das sie nie wiedersehen würden.
An jenem Tag erfassten bedrücktes Schweigen, Not und Unruhe alles, einfach alles.
Als Gerichtsmedizinerin mit dem Spezialgebiet Anthropologie war Clara Múgica vom Fund der winzigen Leiche in Suances begeistert. Natürlich hatte sie ihr Mitgefühl für die Opfer von Verbrechen und anderen mehr oder weniger grauenhaften Ereignissen nicht verloren, aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man Gefühle bei der Arbeit am besten außen vor ließ, und versuchte das auch zu beherzigen.
Ihre Anthropologiekenntnisse konnte sie in ihrem Beruf nur selten einsetzen, da die menschlichen Überreste auf ihrem Seziertisch meistens jüngeren Datums und weitaus prosaisch waren: Opfer häuslicher Gewalt, von Drogenmissbrauch oder Streitereien auf offener Straße. Múgica wusste zwar, dass sie die Proben später fast alle ans Toxikologische Institut nach Madrid würde schicken müssen, aber wenigstens konnte sie zuvor persönlich untersuchen, was auf den ersten Blick wie die uralten, skelettierten Überreste eines Kindes aussah.
Nach mehr als einer Stunde in dem leeren, trostlosen Herrenhaus hatte der Richter die kleine Leiche freigegeben. Clara hatte Sargento Riveiro derweil ausweichend geantwortet, um eine vorschnelle Auskunft über das Alter des Fundes zu vermeiden. Sie wusste ganz genau, wie leicht sie mit ihrer Einschätzung danebenliegen konnte. Tadellos wie eh und je würde sie daher erst etwas dazu sagen, wenn sie auch wissenschaftliche Beweise vorlegen konnte.
Auf dem Rückweg ging Clara im Auto noch einmal in Gedanken die einzelnen Schritte durch, die sie später im Labor im Gerichtsmedizinischen Institut von Kantabrien befolgen würde. Dabei würden sich die Kenntnisse, die sie während ihres Besuchs beim ihrer Meinung nach besten Team im Bereich der forensischen Anthropologie im Vorjahr gesammelt hatte, als nützlich erweisen. Während jener Woche in Buenos Aires hatte Clara das Gefühl gehabt, mehr zu lernen als während ihres ganzen Studiums.
Das war während einer einmonatigen Amerikareise mit ihrem Mann gewesen. Ohne wirklich zu glauben, dass es ihr in beruflicher Hinsicht wirklich etwas bringen würde, hatte sie auf dem Weg zu den üblichen Touristenattraktionen in New York und Washington im Süden der USA auch noch einen Zwischenstopp in Tennessee eingelegt, um dort ein Zentrum für anthropologische Forschung zu besuchen, das im Volksmund als »Farm der Toten« bekannt war.
»Múgica, wenn du so still bist, dann führst du doch immer irgendwas im Schilde«, sagte Richter Jorge Talavera zu ihr, während er Santander ansteuerte.
»Tja, wir Frauen sind eben machiavellistisch.«
»Ja, das ist mir schon klar, schließlich hab ich zu Hause drei von der Sorte«, erwiderte er. Gemeint waren seine Frau und seine beiden Töchter, die sich mit großen Schritten dem Teenageralter näherten.
»Die Armen, von allen Männern auf dieser Erde mussten sie ausgerechnet bei dir landen«, stichelte Clara, die den Richter schon seit sieben Jahren kannte. Zwischen ihnen hatte sich eine Freundschaft entwickelt, sie luden sich hin und wieder gegenseitig mit den jeweiligen Partnern zum Abendessen bei sich zu Hause ein.
»Sehr witzig, Frau Gerichtsarchäologin.«
»Gerichtsanthropologin, wenn ich bitten darf.«
»Und ob du bitten darfst, schließlich bist du hier diejenige, die den ganzen Tag mit den Toten Monopoly spielt. Aber jetzt erzähl schon, worüber hast du gerade nachgedacht? Über das Alter der Reste? Ob die wohl aus dem Bürgerkrieg stammen?«
Zögerlich schüttelte Clara den Kopf.
»Keine Ahnung, für so alt halte ich sie allerdings nicht … Wir müssen noch auf die Laborergebnisse warten, aber es sieht so aus, als läge der Fund mindestens zwanzig Jahre in der Wand. Hoffentlich haben die Handwerker beim Auspacken nichts kaputt gemacht.«
»Was meinst du?«
»Ist dir das gar nicht aufgefallen? Der Leichnam war ursprünglich komplett in die Tücher eingewickelt gewesen, aber die haben ein paar Lagen entfernt, bis sie das Gesicht gesehen haben.«
»Den Schädel, wolltest du wohl sagen«, korrigierte sie Talavera mit übertriebenem Tonfall, so wie ein Lehrer seine Schülerin.
Das fand Clara lustig, und ihr Lachen erfüllte den Wagen.
»Stattgegeben, Euer Ehren: den Schädel.«
»In Ordnung, und kannst du denn das Alter exakt feststellen? Ich meine, wie groß können da die Abweichungen sein – ein Monat, ein Jahr oder zehn Jahre?«
»So einfach ist das nicht. Es ist doch immer das Gleiche, du stellst dieselben Fragen wie die Polizei: ›Wie lange liegt der schon da?‹ Wer das ist, interessiert sie weniger. Seine Geschichte und um wen es sich handelt. Eigentlich komisch, oder?«
Talavera ließ sich ihren Kommentar ein paar Sekunden durch den Kopf gehen.
»Das kommt dann später.«
»Ja, schon. Ich hab jedenfalls gerade an die Notizen von meinem Besuch letztes Jahr auf der Farm der Toten in Tennessee gedacht.«
»Wo? Hast du gerade ›Farm der Toten‹ gesagt? So was machst du also in deiner Freizeit? Mein Gott, ich hab wirklich keine Ahnung, wie Lucas es mit dir aushält. Der arme Mann muss ja ständig Angst haben, dass du ihn womöglich in Formalin einlegst«, meinte Talavera. Lucas war der Ehemann von Clara, die über den Scherz des Richters nur lächelnd den Kopf schüttelte.
»Darf ich dich vielleicht daran erinnern, dass Lucas selbst Arzt ist?«
»Ja, aber für Lebende, du weißt schon, Leute, die auf zwei Beinen stehen und so.«
Clara verzog das Gesicht und fuhr fort: »Also, ja, wir waren zwei Tage in Tennessee, und die Farm ist ein Zentrum für anthropologische Forschung, bei der man den Zerfall und die Zersetzung des menschlichen Körpers in verschiedenen Situationen untersucht.«
»In was für Situationen denn? Beim Kopfstand vielleicht? Oder während sie unter der Erde ein Tässchen Kaffee trinken?«
»Mein Gott, was bist du heute für ein Scherzkeks! Aber ganz falsch liegst du da nicht. Man ordnet die Verstorbenen in verschiedenen Körperhaltungen und an verschiedenen Orten an: in Tümpeln, Fahrzeugen, nackt, bekleidet, begraben, an der Luft … So kann die Kriminaltechnik eine unbezahlbare Fülle von Daten zur Altersbestimmung von Leichen erheben. Die Ergebnisse sind wirklich verblüffend, und man konnte durch diese Studien, die der Universität von Tennessee unterstehen, schon viele falsche Einschätzungen revidieren.«
»Das ist also ein Universitätsprojekt?«
»Du sagst es. Das einen Hektar große Gelände wurde von der University of Tennessee selbst zur Verfügung gestellt.«
»Oh Mann. Wer kommt bloß auf solche Ideen? Sicher irgendein Cousin von dir.«
»Bestimmt nicht, mein Cousin ist vermutlich noch nie aus Palencia rausgekommen. Das Konzept stammt von einem Gerichtsmediziner, der in den Achtzigerjahren bei der Altersbestimmung eines Skeletts gründlich danebengelegen hat, und zwar ungefähr um hundert Jahre. Es ging damals um einen Toten aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Deshalb hat sich mein Kollege überlegt, dass er vielleicht die Experimente mit Schweinen aufgeben und es lieber mit echten Menschen probieren sollte.«
»Wie jetzt, mit Schweinen? Du machst mich wirklich fertig!«
»Die ähneln vom Körperbau her den Menschen am meisten. Und wenn ich mir dich so ansehe, wundert mich das auch nicht«, sagte Clara und starrte ganz unverhohlen Talaveras Bierbauch an. Als der Richter es merkte, runzelte er die Stirn, lächelte aber.
»Okay, ich komme in Frieden, Frau Gerichtsmedizinerin. In fünf Minuten sind wir am Labor, sicher wartet da Frankenstein an der Tür auf dich«, sagte er und bog vom Kreisverkehr ab. »Erzähl doch mal, was haben sie denn auf dieser Farm gefunden? Oder liegen die Leichen da inzwischen einfach nur noch rum, wie bei Blutgericht in Texas?«
Clara seufzte und versuchte, die sarkastischen Kommentare des Richters wie so oft zu ignorieren.
»Es wurde schon viel entdeckt, und man rechnet mit weiteren Erkenntnissen. Dank dieser Studien wissen wir zum Beispiel, dass ein Körper im Sommer viel schneller zerfällt als im Winter und dass es dabei tatsächlich eine Rolle spielt, ob die Leiche bekleidet ist oder nicht.«
»Ach, echt? Darauf hätte selbst ich kommen können.«
Ohne auf Talaveras skeptische Bemerkung einzugehen, fuhr Clara fort: »Es hat sich auch herausgestellt, dass man tatsächlich jeden Tag an einem Toten vorbeikommen kann, ohne es mitzukriegen, weil der Gestank nur etwa eine Reichweite von zehn Metern hat.«
Bei dieser Erklärung wollte Talavera schon den Mund aufmachen, Clara schnitt ihm jedoch das Wort ab und fuhr fort: »Wir können jetzt sagen, Euer Ehren, dass ein Körper umso langsamer zersetzt wird, je tiefer er eingegraben ist. Und dass ein übergewichtiger Toter«, wieder starrte Clara unverhohlen die Wampe des Richters an, »sich schneller in ein Skelett verwandelt als ein dünner, wobei er bis zu achtzehn Kilo am Tag verlieren kann. Außerdem kann ein Leichnam einen ganzen Winter lang fast unversehrt bleiben, um dann innerhalb einer einzigen warmen Woche fast komplett zum Skelett zu werden … stell dir doch nur mal vor, wie sich die Tierchen da tummeln. Die Ersten, die sich an die Arbeit machen, sind übrigens …«
An dieser Stelle unterbrach sie Richter Jorge Talavera.
»Okay, okay, das reicht mir wirklich für heute, sonst hänge ich gleich noch über der Kloschüssel. Guck mal, wir sind ja schon da«, sagte er und parkte vor der Gerichtsmedizin in der zweiten Reihe, um Clara hinauszulassen.
»Du bist so ein Waschlappen«, erwiderte sie und stieg aus dem Wagen, ohne ihr Lächeln zu verbergen.
»Ja, ja. Ruf mich an, wenn du was hast, in Ordnung?«
»Alles klar, wir bleiben in Kontakt.«
Dann schloss Clara die Autotür und machte sich eilig auf den Weg zu ihrem Büro. Die Überreste aus der Villa würden gleich eintreffen, und sie musste vorher noch zu zwei Fällen Unterlagen fürs Gericht fertig machen. Da glaubten immer alle, dass sie wie bei CSI den ganzen Tag Obduktionen vornahm, dabei hockte sie die meiste Zeit im Büro, schrieb Berichte, analysierte Daten und kümmerte sich um die Organisation des Labors.
Zwei Stunden später hatte Clara gerade ein Thunfischsandwich mit undefinierbarer Soße aus der Cafeteria der Uniklinik Marqués de Valdecilla verspeist und betrat die Pathologie im Erdgeschoss eines Anbaus, der alten Leichenhalle des Krankenhauses, um dort die kleine Leiche aus Suances zu untersuchen. Als sie die Gänge entlanglief, wünschte sie sich insgeheim nicht zum ersten Mal, ihre Küche zu Hause wäre auch nur halb so sauber und hygienisch wie die Räumlichkeiten des Labors. Und das, obwohl die Säle mit Regalen vollgestopft waren, in denen sich Kiefer- und Oberschenkelknochen, Schienbeine und andere menschliche Überreste mit weitaus komplizierterer Beschreibung drängten, einige einfach so, andere in Glasbehältern. Lauter Studienobjekte, zum Teil sogar Beweise von Gerichtsverfahren.
Schließlich erreichte sie den Autopsietisch, auf dem bereits die sterblichen Überreste des Babys ruhten. Clara wurde von Pedro Míguez und Almudena Cardona erwartet, die ihr heute assistieren würden. Ulloa, der Vertreter der Guardia Civil hier im Kriminallabor, war ebenfalls anwesend. Da er aber wenig sprach und noch seltener eingriff, fiel seine Anwesenheit kaum auf, und man arbeitete hier im Autopsiesaal fast so, als wäre er gar nicht da. Dass er den Toten nicht von der Seite wich, machte ihn zu einer Art Schattengestalt aus Fleisch und Blut. Nach der üblichen Begrüßung bat Clara Pedro Míguez, im Labor alles vorzubereiten, um später die Knochen zu kochen. So würden sie die noch vorhandenen weichen Elemente ablösen und alles angemessen untersuchen können.
Während Míguez das Material zusammentrug, begann Clara mit Almudenas Hilfe, das vergilbte Bündel zu öffnen. Die Tücher rund um den winzigen Körper waren abgewetzt und vom Alter hart wie Pappe. Nachdem sie das erste große Stück Stoff entfernt hatten und mit dem zweiten begannen, erstarrten die beiden Gerichtsmedizinerinnen gleichzeitig. Almudena reagierte als Erste auf den unerwarteten Fund.
»Clara, siehst du auch, was ich da sehe?«
»Ich fasse es nicht«, entgegnete die Angesprochene verblüfft.
»Was zum Teufel ist das? Eine Mayafigur oder so was in der Art?«, fragte Almudena mit gerunzelter Stirn, während Clara die seltsame, winzige Statuette auf der Handfläche ruhen ließ. Sie war aus einem grünen Material, das abgewetzt und stumpf wirkte. Ulloa, der normalerweise in seiner Ecke blieb, trat ebenfalls heran, um einen genaueren Blick zu erhaschen. Das Objekt war nicht größer als ein Daumen und schien einen lateinamerikanischen Ureinwohner darzustellen. Kopf und Hüfte zierte etwas, das an Federn erinnerte, und aus dem übergroßen Mund kamen zwei Schlangen hervor, oder vielleicht schoben sie sich auch hinein.
»Also …«, begann Clara, »das sieht aus wie ein Symbol der Azteken oder Inkas … so etwas in der Art, aber das kann doch nicht sein, das ist doch einfach unmöglich. Der Leichnam stammt aus einem Haus am Concha-Strand in Suances, und diese Villa kann kaum älter als achtzig Jahre sein. Höchstens hundert. Da müsste mal jemand ins Grundbuch gucken«, sagte sie. Dabei dachte sie an die Guardia Civil und sah zum ausdruckslosen Ulloa hinüber und dann zu Almudena, um schließlich wieder zu der grotesken Figur zurückzukehren, die sich mit ihrer unbewegten Miene über sie lustig zu machen schien.
»Also, was soll ich sagen – mich erinnert das ganz stark an die Souvenirs, die in Tulum oder Playa del Carmen angeboten wurden, als wir mal in Mexiko an der Riviera Maya im Urlaub waren«, erklärte Almudena. Clara nickte, während sie eingehend betrachtete, was auf sie wie ein uraltes beunruhigendes Symbol wirkte.
»Guck mal«, sagte sie zu Cardona, »das sieht aus, als hätte es an dem Faden gehangen, der hier zwischen den Tüchern liegt. Vielleicht war das sogar ein Anhänger.«
»Mit einer ziemlich hässlichen Kette«, meinte Cardona und lächelte mit gerunzelter Stirn. Clara erwiderte die Geste.
»Ja, dieser grüne Schlumpf ist nun wirklich keine Schönheit«, sagte sie und nahm sich einen Moment Zeit, die Figur genauer anzusehen.
»Man müsste untersuchen, um was für ein Material es sich handelt … um Smaragd wohl eher nicht. Bei dieser grünen Farbe vielleicht … Olivin? Das sollte sich mal ein Experte ansehen«, fuhr Clara fort, so als spräche sie mit sich selbst. Sie konnte unmöglich sagen, was sie da vor sich hatte, aus welcher Zeit die Figur stammte, woraus sie hergestellt war, und noch viel weniger, was sie in Bezug auf diesen Leichnam bedeutete. Denn dass sie irgendetwas mit dem kleinen Toten zu tun hatte, war zumindest offensichtlich.
Auch Ulloa konzentrierte sich, schweigsam wie immer, auf den geheimnisvollen grünen Gegenstand.
Vorsichtig fuhren die beiden Gerichtsmedizinerinnen nun damit fort, das Leichentuch weiter abzuwickeln. Der winzige Körper sah aus, als hätte er einst kaum mehr als zweieinhalb Kilo gewogen, und es waren noch viele Hautreste vorhanden, die allerdings trocken, rissig und gegerbt waren.
»Schau dir das nur an«, sagte Almudena zu Clara, »der Körper ist fast komplett mumifiziert!«
»Ja«, nickte diese nachdenklich. »Weißt du, was ich vermute …?«
»… dass er in der Nähe einer Wärmequelle gelegen hat, oder?«, fiel ihr Almudena eifrig ins Wort, obwohl sie keine forensische Anthropologin wie Clara war, die über ihren Kommentar lächeln musste.
»Ja, das kann schon sein, aber das war es nicht, was mir in den Sinn gekommen ist. Es ist durchaus möglich, dass es sich entweder um eine Totgeburt handelt oder um ein Neugeborenes, das man durch Hunger und Kälte hat sterben lassen.«
»Warum?«
»Weil die Körper von Neugeborenen eine Ausnahme zum normalen Zersetzungsprozess darstellen. Sie verfügen noch nicht über die Bakterienflora, die ja überwiegend für den Zersetzungsprozess verantwortlich ist. Wenn ein Körper also noch nie Nahrung zu sich genommen hat und sich an einem halbwegs trockenen Ort befindet, tendiert er zur Mumifizierung.«
»Ah«, brachte Almudena hervor, die es ärgerte, dass sie nicht selbst darauf gekommen war.
»Aber wie du gesagt hast, war der Körper vermutlich auch einer Wärmequelle ausgesetzt«, fuhr Clara einlenkend fort. »Vielleicht gab es ja in der Nähe der Zwischenwand, in der man ihn gefunden hat, einen Kamin oder einen Boiler, obwohl ich eigentlich nichts in der Art gesehen habe.« Die Gerichtsmedizinerin machte eine Pause und betrachtete den Leichnam. »Armes kleines Ding«, flüsterte sie.
Clara Múgica war achtundvierzig und hatte keine Kinder. Wegen Myomen, die ihr vor zwanzig Jahren nach zwei Operationen den Uterus zerstört hatten, konnte sie keine bekommen. Sie hatte beschlossen, ihr Glück in sich selbst zu finden, im Leben mit ihrem Mann und ihren drei verrückten Nichten, da ihr Mutterinstinkt sich bis zu diesem Moment auch kaum gemeldet hatte. An jenem Nachmittag im Labor fühlte sie jedoch bedrückendes Mitleid für das Häufchen Knochen auf ihrem Obduktionstisch und begann die Arbeit mit so liebevollen und zarten Bewegungen, als wiege sie die Mumie im Arm.
In den Geschichtsbüchern steht, dass der Spanische Bürgerkrieg drei Jahre dauerte, seit er für Jana damals an jenem Strand von Suances zwischen Spielen im Sand ausbrach, bis zu seinem Ende Anfang April 1939. Vergiss es, das ist nur eine von den vielen Lügen, die wie Wellen auf unseren Stimmen und unserem Schweigen reiten und sich hinter winzigen Wahrheiten auf einem Stück Papier verstecken. Was Geschichtsbücher uns erzählen, ist nicht immer exakt, es sind die feinen Nuancen, die der Wirklichkeit ihre wahre Dimension verleihen. Aber es waren damals düstere Zeiten, und die Erinnerung daran ist schmerzhaft.
Zieh dich warm an: Wir kehren zurück in den Oktober 1936. Damals wütete der Krieg bereits seit drei Monaten. Es war früh am Morgen und kalt.
»Nimm die Decken und die beiden Laibe Maisbrot, den Rest lassen wir hier«, sagte ein Mann hastig zu seiner Frau und gab sich keine Mühe, seine Eile zu verbergen.
»Ich komme ja schon«, antwortete die Frau, ohne ihn anzusehen, und betrachtete aus blauen Augen die Kleidung, die sie bereits in der Hand hielt, bevor sie nach den Decken und dem Maisbrot griff, wie ihr Mann es gesagt hatte. Mit Blick auf die Dinge, die sie da in die Stofftasche schob, rief sie laut, aber ohne zu drängen, ihrem ältesten Sohn zu: »David, hilf Antonio mit der Jacke, wir müssen los.«
David war zwölf Jahre alt, hatte dunkle Augen wie Eichenblätter im Herbst und einen schlanken, wohlproportionierten Körper, welcher die Stärke und Entschlossenheit eines Charakters zeigte, der sich langsam zu entwickeln begann. Der Junge tat, wie ihm geheißen, und zog dem Kleinen die Jacke an. Sein Bruder war zwar schon dreieinhalb, blickte aus dem runden Gesichtchen aber immer noch mit der ewigen Unschuld eines Säuglings in die Welt, mit Augen, deren Farbe zwischen dem Grün der Wiesen und dem Gelb des Honigs lag. Augen, die jetzt, wie schon seit Wochen, wieder einmal erschrocken glänzten.
Jana und Clara waren schon dick eingepackt und fertig. Aber dort, wo sie hinwollten, wärmte oder schützte sie nichts genug, dort gab es nur Feuchtigkeit, Kälte und angehaltenen Atem.
Clara war zehn Jahre alt und hatte eine blasse, beinahe kränklich aussehende Haut und durchscheinend graue Augen. Es beunruhigte die Menschen manchmal, wenn Clara sie unverwandt ansah. Sie war von einzigartiger, charismatischer, wenn auch eigentümlicher Schönheit. Ihr Vater pflegte zu sagen, dass sie wie eine Porzellanprinzessin aussah, weiß, fein und zart. Ihr Haar war braun und gewellt wie das ihrer Schwester Jana, die doch so anders war, verträumt, warm und lebhaft.
Die beiden dunkelhaarigen Schönheiten saßen am Fußende des Bettes, das sich die vier Geschwister teilten. Ihr Schlafzimmer lag dem ihrer Eltern, Benigno und Carmen, gegenüber. Das Häuschen war klein: ein Erdgeschoss mit zwei Schlafzimmern, einem kleinen Flur zur Küche und hinten einem Hühnerhof, wo sich die Familienmitglieder erleichtern konnten. Es handelte sich um ein schlichtes Haus in der Nähe der asturischen Zinkwerke, in denen Benigno arbeitete, umgeben von Bananenstauden, die sich wie Wächter vor den Eingängen mehrerer Familiengärten in den Himmel reckten.
»Hast du Angst?«, fragte Clara ihre kleine Schwester.
»Nein, warum?«, antwortete Jana, ohne den Blick von ihren Schuhen zu lösen.
»Weil du so still bist.«
»Du doch auch.«