Das Wagnis - Hartmut Brümmer - E-Book

Das Wagnis E-Book

Hartmut Brümmer

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Beschreibung

"Minutenlang betrachtete sie die Hülle, die ihre Mutter war, suchte nach Regungen, nach Schmerz irgendwo in ihrem Innern: in der Herzgegend, in der Brust, warum nicht auch in der Magengegend, an den Schlägen? Da war nichts. Auch kein Gefühl der Erleichterung. Keine Trauer, nur Stummheit." Sprachlosigkeit und Schweigen sind die stummen Begleiter im Elternhaus der Ernestine Weiger. Alle Ansätze, sich aus dem unseligen Teufelskreis von Verdrängen und Vertuschen zu lösen, münden für sie in der Erkenntnis: "Die Vergangenheit ist das Kreuz, das wir ein Leben lang mit uns herumschleppen müssen." Kurze Männerbekanntschaften endeten für sie im Desaster. Eine Liebe aus jungen Jahren zerstob im Nebelhaften. Der Gedanke an das Verschwinden ihrer Jugendliebe Franz will sie nicht loslassen. Sind möglicherweise Menschen aus dem Umfeld ihrer Eltern in sein Wegbleiben verwickelt?

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Seitenzahl: 170

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Zu diesem Buch

„Minutenlang betrachtete sie die Hülle, die ihre Mutter war, suchte nach Regungen, nach Schmerz irgendwo in ihrem Innern: in der Herzgegend, in der Brust, warum nicht auch in der Magengegend, an den Schläfen? Da war nichts. Auch kein Gefühl der Erleichterung. Keine Trauer, nur Stummheit.“

Sprachlosigkeit und Schweigen sind die stummen Begleiter im Elternhaus der Ernestine Weiger. Alle Ansätze, sich aus dem unseligen Teufelskreis von Verdrängen und Vertuschen zu lösen, münden für sie in der Erkenntnis: „Die Vergangenheit ist das Kreuz, das wir ein Leben lang mit uns herumschleppen müssen.“ Kurze Männerbekanntschaften endeten für sie im Desaster. Eine Liebe aus jungen Jahren zerstob im Nebelhaften. Der Gedanke an das Verschwinden ihrer Jugendliebe Franz will sie nicht loslassen. Sind möglicherweise Menschen aus dem Umfeld ihrer Eltern in sein Wegbleiben verwickelt?

Der Autor

Hartmut Brümmer studierte in Berlin Russisch und Tschechisch. Viele Jahre übte er den Beruf des Dolmetschers und Übersetzers aus. Brümmers Leben nahm seinen Anfang in der Gegend, wo Oder und Neiße zusammenfließen. Berlin, Frankfurt a.M. und Hamburg waren prägende Stationen in seinem beruflichen und auch privaten Leben. Heute lebt und arbeitet er in Bienenbüttel, einer Gemeinde zwischen Lüneburg und Uelzen. Mit seinem Roman „Unkenstimmen“ war Brümmer 2019 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gegangen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

1

Das Aufregendste an Wallnitz war der Fluss mit seinen schilfigen Buchten, in die man sich vor der restlichen Welt unsichtbar machen konnte. Die Dommeln verrieten, wo das Schilf am dichtesten war. Näherte man sich ihnen, verstummten sie, huschten ins Dickicht und harrten dort aus, bis wieder Ruhe einkehrte, um mit ihrem eintönigen Trommelgesang erneut einzusetzen.

Durch das glucksende Wasser stakten die Kinder aufgeregt mit offenen Mündern. Es hieß, Soldaten hätten sich in ihrer Angst vor dem herannahenden Feind in den letzten Kriegstagen im wispernden Schilf versteckt. Sie seien, so jedenfalls raunten die Dorfbewohner, nicht vom Feind getötet, sondern vom Morast verschlungen worden. Keines der Kinder wollte in den Verruf der Feigheit geraten, der Morast, der zwischen den Zehen als dicke Pampe hindurchglitschte, weckte Assoziationen, ganz zu schweigen von den schrecklichen Schlingpflanzen. Mit einem Feigling spielt man nicht, mit dem will man nichts zu tun haben, feige sein hieß: ausgegrenzt sein. Feigling war noch schlimmer als Petze. Angstschauer liefen über ihre Rücken, doch niemand wäre bereit gewesen, dies vor den anderen einzugestehen.

In den Hochsommertagen wagten sie sich weiter in den Fluss hinein, der Wasserstand war niedrig, die Strömung hatte an Bedrohlichkeit verloren, das Wasser war warm. Die Kinder trafen sich ohne Verabredung, wie von einem Instinkt geleitet liefen sie hinunter zum Fluss, flogen von zu Hause aus fort wie die Vögel, die, scheinbar unmotiviert, aber doch alle auf einmal, wie auf ein geheimes Kommando hin aufflatterten, um sich, als hätten sie es so miteinander ausgemacht, auf einem offenbar vorherbestimmten Baum niederzulassen.

Erni spielte sich immer als die Mutige auf. Niemand sonst wagte sich soweit in die Flussmitte vor, wenngleich es verboten war. Am jenseitigen Ufer verlief die Grenze, dort lauerte der Gegner. Jede Gestalt, die dort auftauchte, schürte Ängste, erzeugte gruselige Bilder, trat eine Lawine von Ahnungen los, die nichts Gutes verhießen. Erni trotzte allen Warnungen. „Macht euch bloß nicht in die Hose!“, rief sie den anderen von der Flussmitte aus zu und ließ ihre blanken Pobacken aufblitzen. Ihr voller Name war Ernestine, doch so wurde sie nur dann gerufen, wenn man es sich mit ihr offen angelegt hatte, was selten vorkam. Erni kannte keine Scheu, geschweige denn Scham. Als jedoch ihre Brüste begannen, sich deutlich in Form und Größe von denen der Jungen abzuheben, war es mit Ernis Schamlosigkeit vorbei. An den ersten Wölbungen ließ sie die Jungen noch teilhaben, bot voller Stolz dar, was sich unter ihrer Bluse ereignete, selbst die eine oder andere Berührung ließ sie anfangs noch zu, doch dann war mit einem Mal Schluss. Auch die Beine spreizte sie nicht mehr. Kein Blick mehr auf das nicht immer fleckenfreie Höschen, das sich in ihren Schamlippen verfangen hatte. Von nun an trug Erni einen Badeanzug, in den sie sich, im Gebüsch versteckt, mit ihrer neuerlichen Schamhaftigkeit zwängte.

Fast schien es unmerklich, aber doch stellten die mittlerweile zu milchbärtigen Jungen und prallbusigen Mädchen herangewachsenen Kinder eines Tages fest, wie sich ihre Reihen gelichtet hatten. Die jungen Männer und Mädchen stoben in sämtliche Himmelsrichtungen auseinander. Im Fluss wurde schon lange nicht mehr gebadet, auch Erni tat es nicht mehr. Erni fuhr an die See. Sie verreise, sagte sie. Auch andere fuhren irgendwohin, manche gingen weg und kamen nie wieder. Nie mehr. Nur wer verreist, der kommt wieder.

2

Jahre später kehrte sie eines Tages von einer ihrer Seereisen zurück, milchschokoladenbraun und mit von der Sonne gebleichtem Haar, das ihr Gesicht wie eine Botschaft vom Meer umwellte und sie wie ein Segel im Wind umflatterte. Sie kam nicht allein. Der junge Mann, mit dem sie auf den Bahnhofsvorplatz hinaustrat, trug zwei seesackartige Taschen. Erni blieb für einen Augenblick am Ausgang stehen, ließ ihre Augen über den Bahnhofsvorplatz schweifen, sagte „hach!“ und gab den Weg in Richtung Bogenwalder Straße vor. Sie hatte ihren Eltern auf einer Postkarte signalisiert, dass sie nicht alleine käme. Jetzt plötzlich kamen ihr Zweifel, ob die Karte auch rechtzeitig angekommen sei. Und überhaupt, wie würden sie reagieren? War doch nur für kurze Zeit, sie wollte es ganz einfach wagen, ihn mitzunehmen, auf der Durchreise sozusagen, für drei Tage, oder auch zwei. Vorerst jedenfalls für zwei Nächte. Was war schon dabei. Unvorstellbar, dass jemand etwas dagegen einzuwenden haben könnte. Platz genug war ja vorhanden, ein Zimmer war immer frei, das von Oskar, der sich so oder so kaum noch zu Hause blicken ließ. Und wenn er mal kam, hatte er immer eine Freundin dabei, und das tolerierten die Eltern schließlich auch.

„Das ist Wolf“, stellte sie ihre männliche Begleitung vor.

Wolf sagte: „Hallo!“ Ihr Vater sagte: „Tach“ und ihre Mutter: „Unverhofft kommt oft.“

„Na los, kommt schon, nur nicht so förmlich,“ sagte Erni und zog Wolf dichter an sich heran. „Ihr habt doch meine Karte bekommen?“

Die Eltern hatten die Karte bekommen, doch das verschwiegen sie. Sie sagten auch nicht, dass sie sie nicht bekommen hätten. Doch Ernestine tat so, als erwarte sie gar keine Antwort, als interessiere sie das überhaupt nicht mehr, als hätte sie die stumme Reaktion ihrer Eltern übersehen. Sie brachte Wolf zu seinem Zimmer.

„Dein Reich“, sagte sie und ließ sich in seine Arme fallen. Sie drückte ihr Gesicht in seinen wirbligen Haarschopf und atmete tief ein. „Mein Vater, der ist manchmal so komisch“, sagte sie, als wollte sie ihn beschwichtigen. „Aber das meint der nicht so.“ Sie ließ das Buch „Stumme Liebe“, die Nachtlektüre ihres Bruders, schnell im Schrank verschwinden. „Besonders wenn er einen schweren Tag hinter sich hat. Eigentlich sind alle Tage für ihn schwer, meint er. Die arbeiten gerade an einem neuen Projekt. Und eigentlich arbeiten sie immer gerade an einem neuen Projekt, mit Kalkulation und Statik und all diesem Zeugs, aber davon verstehe ich sowieso nichts.“

Als sie in die Küche kam, stand ihr Vater am Spültisch. Er wusch ab, wo es kaum etwas abzuwaschen gab. Er ließ die Teegläser hart und aufreizend aneinanderschlagen und knallte sie auf die Abtropfvorrichtung, als wären sie aus Metall.

„Zwei Tage, sagtest du. Na ja, soll das Zimmer von deinem Bruder nehmen, von mir aus. Wer ist das überhaupt, dein Neuer?“

„Wolf ist kein Neuer, das weißt du genau.“

„Also gut, vielleicht ist er ganz nett.“

Ganz nett, darauf legen sie sich fest. Nett und freundlich und hilfsbereit. Treu machte aus diesem Trio ein maßgeschneidertes Quartett. Üb immer Treu und Redlichkeit – ist es nicht das, was ihre Welt zusammenhält?

Als ihre Mutter wie aus dem Boden gewachsen plötzlich neben ihr stand, redete sie, als setzte sie die Worte ihres Mannes übergangslos fort:

„Sieht etwas abgerissen aus, aber sagt man was “ Sie rubbelte mit dem Geschirrtuch die Geschirrteile spiegelblank. „Guck dich doch mal hier um, bist doch jung und siehst aus. Trappschuhs Horst, der Hotte, ein feiner Kerl, bald schon der Letzte aus deinem Jahrgang, studiert, und was er vor allem hat: Manieren.“

Ein netter Junge, ja doch, das ist der Horst. Nett und adrett, das ist es, was sie für mich möchten. Herrgottnochmal, als ginge das einfach so: Sich umschaun. Studium, ein Mann mit Manieren, und ab zum Standesamt. Sie sollten wissen, dass ich auf solch einen Typ wie den Hotte nicht reinfallen werde, tun aber so, als wüssten sie es besser als ich. Männer wie dieser sind ihre Altersversicherung, nicht meine, an so einen werde ich mich nicht hängen. Ich brauche keine Versicherung, und eine wie den Hotte schon ganz und gar nicht. Im Grunde genommen wollen sie mich gar nicht loswerden, jedenfalls nicht so richtig. Männer wie Horst sind eher die Garantie dafür, dass ich ihnen erhalten bleibe. Die Tochter immer in der Nähe, immer greifbar, Horst als Lebensversicherung und ich, später, ihre Pflegeversicherung. In Dankbarkeit auf immer und ewig.

Sie reagierte nicht auf die Worte ihrer Mutter. Die zeigte sich leicht pikiert. „Das so Knall auf Fall, das mag ich wirklich nicht. Ein fremder Mann, einfach so. Auch wir müssen uns darauf einstellen. Gott, Erni, hoffentlich geht das gut, pass bloß auf!“

Es ging nicht gut. Wolf setzte nach zwei Nächten seine Reise fort. Erni spürte auf Schritt und Tritt, wie ihre Mutter sie beide beobachtete, ihnen nachspionierte, hinterherschnüffelte im wahrsten Sinne des Wortes: Sie roch an den Kopfkissen, den Laken, beschnupperte die Handtücher, Wolfs nachlässig hingeworfene Wäsche, selbst dessen Socken; sie ließ sie beide nicht aus den Augen. Ernestine sah ihre Trauermiene, als litte sie unter der Last des Besuchs. Sie vernahm ihr geräuschvolles Seufzen, bemerkte, wie sie unruhig von einem Raum zum anderen hin- und hertrippelte, so als hätte sie es eilig, als müsse sie in letzter Sekunde vor einer Abreise schnell noch dieses und jenes erledigen. Wieder und wieder rief sie ihre Tochter zu sich wegen irgendeiner Handreichung. „Du kannst mal Zwiebeln schneiden“. „Der Mülleimer.“ „Die Tischdecke muss gebügelt werden.“ „Wir brauchen für den Kuchen noch ein paar frische Eier.“ „Der Geschirrspüler müsste ausgeräumt werden.“ „Muss ich denn in diesem Hause alles alleine tun.“ Immerzu fehlte etwas, blieb noch ein Rest an Unerledigtem. Ernestine glaubte, nachts vor dem Zimmer, in dem Wolf untergekommen und sie zu später Stunde heimlich zu ihm reingeschlichen war, den Atem ihrer Mutter zu vernehmen. Dass da draußen jemand stand, dessen war sie sich sicher. Die Dielen knarren nicht von alleine. Sie hatte sich danach gesehnt, mit ihm unter eine Bettdecke zu kriechen, diesem Wolfsjungen, ihn ohne jede Verhüllung zu spüren, blank, wie die Natur ihn und sie geschaffen hatte.

In ihren Tagträumen spürte sie das Verlangen nach seinem schmalen Körper, der ihr etwas Zerbrechliches signalisierte, eine Zartheit, die in ihr Empfindungen wachrief, die eine verschüttete Sehnsucht aufleben ließen. Sie glaubte, sie fände erst wieder dann zu ihrer zuvor mühselig erarbeiteten Nüchternheit zurück, wenn sie diese neuerliche Sehnsucht gestillt haben würde. Wolf anstelle von Franz. Sie hatte gehofft, dass es ginge. Es gab für sie keine Austauschbarkeit

Als sie am darauffolgenden Morgen das Wohnzimmer betrat, waren die Augen ihrer Mutter ostentativ auf die überdimensionierte Uhr auf der Anrichte gerichtet. „Wie spät das schon ist. Ich war schon so gut wie weg“, sagte sie. „Wo was ist – du weißt ja Bescheid. Ich muss denn mal!“ Was sie denn mal müsse, ließ sie, wie stets, offen.

Irgendetwas gab es für sie immer noch zu erledigen, nicht nur in der Küche, in ihrem Haushalt, auch in der Stadt. Sie hatte dort das eine oder andere zu besorgen, suchte den Discounter auf, über den sie sich am Tage zuvor im Sonderangebotsfaltblatt über die preisgesenkten Restposten informiert hatte; und sie hatte Termine: Fußpflege, Zahnarzt, eine Freundin mit dem Geschäft Fünfzig-plus-Mode. Eine Zeitlang ging sie sogar zur Gymnastik, auch für Fünfzig plus. Manchmal fiel ihr aus heiterem Himmel ein, dass die Schränke ausgewischt werden müssten, das habe sie von ihrem Zuhause, ihrer Mutter, so übernommen, das steckt so in einem drin, das kriegt man nicht weg, rechtfertigte sie ihren Tatendrang.

Ernestine registrierte ihren trippelnden Schritt im Hausflur, registrierte den Knacklaut des Türverschlusses und sah sie übers Küchenfenster ins Auto steigen und in Richtung Stadt davonfahren.

So versucht sie, mich zu deckeln, als wäre ich noch immer das kleine Dummerchen, als ginge ich nicht meinem Beruf nach, als verdiente ich nicht mein eigenes Geld, sogar mehr als sie gern sähe, es wäre ihr lieber, ich bliebe mit meinen Einnahmen unter meinem Niveau. Wie lange geht das noch gut? Das ist die falsche Frage. Gut geht es schon lange nicht mehr. Wie lange kann das noch so weitergehen, wäre die richtige Frage. Das warme Nest wärmt nicht mehr. Hat es jemals gewärmt? Das vierte Gebot. Überall haben sie es angeheftet, an jede Tür, an jede Wand, an jeden Schrank, auf allen Kissen ist es draufgestickt, kein Schondeckchen ohne es. Weg von hier? Doch wohin? Bei diesen Gedanken erahnte sie sein Nahen.

Wolf kam mit bloßen Füßen in die Küche, mehr geschlichen, als dass er sie betrat. Ernestine wusste, dass sein Anblick ihren Vater vergnatzen würde. Wenigstens Socken hätte er sich überziehen können, und wenn er sich schon nicht rasierte, hätte er wenigstens sein struppiges Haar etwas bändigen können. Aber es war außer ihnen kein anderer im Haus, Wolf erspürte das. Wie witternd schlich er von der Küche ins Wohnzimmer, steckte seine Nase nach draußen auf die Terrasse und sagte: „gut, gut“ und zog dabei die Nase kraus. Ernestine ahnte, dass sein erster Auftritt im Hause ihrer Eltern auch sein letzter sein würde.

3

Sie hatte bei ihrer ersten Begegnung mit ihm das Empfinden, ein Wolfsjunges aufgelesen zu haben. Eigentlich hieß er Winfried, aber diesen Namen verwarf sie sofort. Wolf stand inmitten eines Rudels anderer Wölfe, aber doch nicht so richtig mittendrin. Fast erweckte er den Eindruck, von den anderen ausgestoßen zu sein. Aber er war nicht ausgestoßen, vielmehr folgte er dem Rudel im Schlepptau, vielleicht, weil er sich ohne die anderen einsam fühlte, vielleicht aber auch, weil ihm die robusteren Jungtiere eine Art Schutz boten. Schutz vor Anfeindungen, Angriffen, Ausgesetztsein. Das Rudel, dem sie entgegenlief, machte ihr nur widerwillig Platz, aber sie besann sich auf den Trick, der bisher immer gewirkt hatte: aufrechter Gang, flotter Schritt, die Augen auf eine einzelne Person fixiert, nur keine Anzeichen von Schüchternheit zeigen. Pfiffe, Anzüglichkeiten: „Geiler Arsch!“ „An deinen Titten möchte ich nippen.“ „Da geht dir schon vom Hingucken einer ab.“ Ihre Augen hatten sich in Wolfs Augen verfangen. Was er ihnen zurief, hörte sie kaum noch. Als sie sich außer Gefahr wähnte, wandte sie sich kurz um und erblickte ihn. Er war ihr gefolgt.

„Was ist?“, fragte sie.

„Die sind nicht so“, erwiderte er.

„Vielleicht.“

Wolf überlegte, kramte in seinem Gedächtnis nach den passenden Worten, wurde nicht so recht fündig, sagte dann aber nur lapidar: „Also denn.“

„Vielleicht sieht man sich, ich bin heute Abend in der Kalten Flunder“, warf sie ihm hin.

Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Was habe ich getan, was habe ich gesagt, was mag der von mir denken? Habe ich es nötig, solch einen Typen anzumachen, der garantiert um einige Jahre jünger ist als ich? Ich bin Journalistin, rechtfertigte sie sich. Ist unter diesem Aspekt nicht jede Begegnung mit einem anderen Menschen von Belang?

Sie traf ihn in der Kalten Flunder. Und von dort hatte sie ihn in ihr Elternhaus mitgeschleppt.

Als er nach zwei Nächten ihrem Elternhaus fernblieb, vermisste sie ihn zunächst schmerzhaft. Eine heftig zuckende Wunde, die aber, so heftig wie sie aufgebrochen war, sich verflüchtigte wie eine Kanne Wasser in einem ausgetrockneten Boden. Sie überließ sich der Melancholie, die sie in solchen Momenten der Leere überzog wie ein Schatten. Bis sie eines Tages feststellte, dass nichts, aber rein gar nichts von ihm an ihr haften geblieben war. Vielleicht doch die Erinnerungen, die sie mit ihm verknüpfte; seine Ungeschicklichkeit bei ihren ersten Intimitäten, über die sie hinweggelacht hatte; auch er hatte gelacht, verlegen, leicht verkrampft, wie ihr schien. Und als er sich wieder eingekriegt hatte, kippte sein Lachen um in eine egozentrische Grobheit, die sie über sich ergehen ließ im Wissen, dass es ja doch gleich vorbei sei. Doch immer auch in der Erwartung, er könne ihre Sehnsucht stillen, dies eine Mal wenigstens.

Wolf ging, die Sehnsucht blieb. Doch nicht die Sehnsucht nach ihm.

Ach, der Franz. Wäre er nur nicht gewesen. Pläne, Illusionen, Verheißungen. Keine Versprechungen, goldene Berge schon gar nicht. Aber dass er wiederkäme, diese Gewissheit trug sie immer noch in sich; und käme er tatsächlich zurück, dann ginge es so richtig los. Mein Gott, achtzehn Jahre damals: Ein Nichts, und doch schon alles. In diesem Alter denkt man schnell, der Kopf ist voller hüpfender Ideen. Wirst sehn, hat er immer gesagt. Wenn das alles vorüber ist, dann legen wir los. Ein Kindskopf, er wollte alles mit einmal: Geld, Haus, Kinder, und vor allem mich, sagte er. Und wenn das hier nicht klappt, dann geht’s rauf aufs Schiff und ab nach Amerika. Da gibt es alles, gute Arbeit und gutes Geld. „Ich und Amerika“ – das konnte sie sich nun ganz und gar nicht vorstellen. Was würde sie da tun?

Allen Ernstes hatte sie sich dennoch Gedanken gemacht, hatte so ihre Vorstellungen. Man kommt dort an, verlässt das Schiff, hört die fremden Laute, die Anordnungen, die man nicht versteht. Steht vielleicht nur so rum, ratlos, müde von der Überfahrt, vielleicht sogar hungrig und durstig, in der einen Hand den Koffer mit den Papieren, dem Poesiealbum, der Brennschere, die sie auf jeden Fall mitzunehmen hatte, wie sonst sollte sie die Korkenzieherlocken wieder herrichten. Die in Amerika mögen ja alles haben – aber Brennscheren? In der anderen Hand das Bündel mit dem bisschen Wäsche. „Nur nicht zu viel mitnehmen“, hatte sie sich vorgenommen. „Wenn´s nur für die ersten paar Tage reicht, man kann sich dort alles neu kaufen. Wo es so viel Überfluss gibt, da wird ja wohl auch für uns etwas abfallen.“

Genauso hatte sie sich das damals zurechtgelegt. Mit Franz, da kann man alles anfangen, auf Franz ist Verlass. Wenn es doch nur nicht so weit wäre, dieses Amerika. Tausende Kilometer, und dazwischen nur Wasser, soweit das Auge reicht. Etwas beängstigend fand sie das schon.

Doch er kam nicht wieder. Vielleicht, dachte sie manchmal, hatte auch der Franz sich am Fluss im Schilf versteckt, hat ihn der Morast in die Tiefe gezogen, eine grausige Vorstellung. Ihre Trauer um Franz glitt über zu einem seelischen Dauerschwebezustand, Lange lebte sie mit dem offenen Hintertürchen, von dem sie sich erhoffte, dass er doch noch eines Tages über diese Schwelle treten würde.

Warum ist es bei allen anderen so einfach. Gehen zusammen ins Bett, so mir nichts dir nichts, kriegen Kinder. Machen ihr Ding.

„So ist nun mal das Leben“, hatte ihr Vater gesagt. „Sollte es denn anders sein? Man muss nur anfangen damit. Das überkommt jedem mal: Etwas Besonderes sein zu wollen, da bist du keine Ausnahme.“ Er winkte mit der Hand ab und lehnte sich zurück in seinen Schaukelstuhl Jeder muss sein Gleichgewicht finden, lautete eine seiner Lebensweisheiten. Und sich zu vergraben bringt ohnehin nichts. „Du nimmst alles viel zu ernst, Treue bis in den Tod, also wirklich.“

„Hör endlich auf!!“, hatte sie ihn angeschrien. „Woher willst du wissen, dass er tot ist! Ist der Tod deine einzige Antwort auf das Leben? Was war denn mit Friedrich?! Gleiche Brüder, gleiche Kappen?“ Sie erschrak über ihre heftigen Worte. Voller Verzweiflung und heulend war sie in ihr Zimmer geflüchtet, hatte sich aufs Bett geworfen und war für den Rest des Tages für niemanden ansprechbar geblieben.