Das wahre Wesen der Dinge - Ted Chiang - E-Book

Das wahre Wesen der Dinge E-Book

Ted Chiang

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Beschreibung

Der Grafiker Leon erwacht nach einem Unfall, und nichts ist, wie es vorher war: Von Albträumen geplagt, muss er erkennen, dass die Ärzte ein neuartiges Medikament erprobt haben, um sein beschädigtes Gehirn zu retten − für Leon beginnt eine Reise über alle Grenzen menschlicher Erfahrung hinaus. Die Tierpflegerin Ana erhält einen ungewöhnlichen Auftrag: Sie soll digitale Wesen, die über Bewusstsein und Empfindungen verfügen, als Erzieherin betreuen. Zunächst sind die Menschen entzückt von den süßen "Digis", doch dann stellt ihre Existenz die Menschen vor immer komplexere Fragen. Ein Knopf und ein Lämpchen − aus nicht viel mehr besteht das neue technische Spielzeug. Doch wer den Knopf drückt, für den gerät die Welt aus den Fugen. Denn nichts ist so tödlich wie ein Gedanke, den es eigentlich nicht geben dürfte ... Mit seinen Geschichten eröffnet uns Ted Chiang Welten, die in ihrer Konsequenz verblüffend neu und zutiefst beunruhigend sind. Was passiert, wenn die Logik uns im Stich lässt? Wenn Schönheit nichts mehr bedeutet? Sind nichtmenschliche Gefühle weniger wert als menschliche? Nach Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes macht der zweite Storyband des vielfach preisgekrönten US-amerikanischen Autors weitere Kostbarkeiten der SF endlich auch deutschen Lesern zugänglich.

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TED CHIANG

DAS

WAHRE

WESEN

DER

DINGE

DEUTSCH VON KARIN WILL

[GOLKONDA]

Ted Chiang · Das wahre Wesen der Dinge

Originalzusammenstellung; bitte beachten Sie das ­Quellenverzeichnis am Ende.

Herausgegeben von Hannes Riffel & Karlheinz Schlögl

Die Erzählung »Die Wahrheit vor Augen« wurde von Michael Plogmann übersetzt.

© 2014 by Ted Chiang

vermittelt durch die Agentur Fritz + Fritz, Zürich

Titelbild: © 2014 by Elena Helfrecht

© dieser Ausgabe 2014 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Birgit Herden

Redaktion: Hannes Riffel

Korrektorat: Robert Schekulin & Anne-Minou Fengler

Titelbild: Elena Helfrecht

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]

E-Book_Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36 | 12683 Berlin

[email protected] | www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-944720-17-3 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-944720-18-0 (E-Book)

Inhalt

Verstehen

Geteilt durch null

Zweiundsiebzig Buchstaben

Die Evolution menschlicher Wissenschaft

Die Wahrheit vor Augen

Was von uns erwartet wird

Der Lebenszyklus von Softwareobjekten

Daceys vollautomatisches Kindermädchen

Quellenverzeichnis

Weitere Bücher bei Golkonda

Phantastik im Golkonda Verlag

Verstehen

Eine Eisschicht; sie fühlt sich rau an auf meinem Gesicht, aber nicht kalt. Da ist nichts, an dem ich mich festhalten könnte, meine Handschuhe rutschen immer wieder ab. Über mir sehe ich Menschen herumrennen, aber sie können nichts tun. Ich versuche, mit den Fäusten gegen das Eis zu hämmern, aber meine Arme bewegen sich wie in Zeitlupe, und meine Lunge ist offenbar geplatzt, und mir wird schwindlig, und es ist, als würde ich mich auflösen …

Mit einem Schrei erwache ich. Mein Herz rast wie verrückt. Herr im Himmel. Ich schlage die Decke zurück und setze mich auf den Bettrand.

Daran habe ich mich bislang nicht erinnern können. Ich wusste nur noch, wie ich durch das Eis gebrochen war; der Arzt sagt, mein Verstand habe den Rest verdrängt. Jetzt kann ich mich erinnern, und es ist der schlimmste Albtraum, den ich je hatte.

Zitternd umklammere ich die Daunendecke. Ich versuche, mich zu beruhigen, langsam zu atmen, doch ich schluchze fortwährend. Es war so real, ich habe es wirklich gefühlt, habe erlebt, wie sich Sterben anfühlt.

Fast eine Stunde war ich dort im Wasser; als sie mich herausholten, war ich beinahe hirntot. Bin ich wieder gesund? Es ist das erste Mal, dass man hier im Krankenhaus das neue Medikament jemandem mit so schwerem Hirnschaden gegeben hat. Hat es gewirkt?

Immer wieder derselbe Albtraum. Nach dem dritten Mal weiß ich, dass ich nicht mehr schlafen werde. Die Stunden bis zum Morgengrauen grüble ich unablässig. Ist das nun das Ergebnis? Verliere ich den Verstand?

Morgen ist meine wöchentliche Untersuchung beim Stationsarzt. Hoffentlich hat er ein paar Antworten für mich.

Ich fahre in die City von Boston, und nach einer halben Stunde bin ich bei Dr. Hooper. Hinter einem gelben Vorhang sitze ich auf einer Liege im Behandlungszimmer. Aus der Wand ragt auf halber Höhe ein Breitbildschirm, der auf Tunnelblick eingestellt ist, sodass ich aus meinem Blickwinkel nichts darauf sehen kann. Der Arzt tippt auf der Tastatur herum – wahrscheinlich ruft er meine Patientendatei auf – und beginnt dann mit der Untersuchung. Als er mit einer Stablampe in meine Pupillen hineinleuchtet, berichte ich ihm von den Albträumen.

»Hatten Sie vor dem Unfall schon Albträume?« Er holt sein kleines Hämmerchen heraus und klopft mir gegen Ellbogen, Knie und Fußknöchel.

»Nein, nie. Ist das eine Nebenwirkung des Medikaments?«

»Nein. Durch die Hormon-K-Therapie haben sich viele beschädigte Neuronen regeneriert, und das ist eine gewaltige Veränderung, an die sich Ihr Gehirn erst gewöhnen muss. Die Albträume sind vermutlich ein Symptom davon.«

»Bleibt das so?«

»Eher nicht«, sagt er. »Sobald Ihr Gehirn sich daran gewöhnt hat, dass ihm wieder alle Nervenbahnen zur Verfügung stehen, werden die Träume aufhören. Jetzt berühren Sie mit dem Zeigefinger Ihre Nasenspitze und danach meinen Finger hier.«

Ich tue, was er mich geheißen hat. Als Nächstes lässt er mich mit einem Finger nach dem anderen rasch meinen Daumen berühren. Anschließend soll ich wie bei einem Alkoholtest eine gerade Linie gehen. Danach beginnt er mit seinen Fragen.

»Zählen Sie auf, woraus ein Schuh besteht.«

»Die Sohle, der Absatz, die Schnürsenkel. Ähm, die Löcher, durch die man die Schnürsenkel führt, heißen Ösen, und dann gibt es unter den Schnürsenkeln noch die Zunge …«

»Okay. Wiederholen Sie diese Ziffern: drei neun eins sieben vier …«

»… sechs zwei.«

Das hat Dr. Hooper nicht erwartet. »Was?«

»Drei neun eins sieben vier sechs zwei. Diese Zahlen haben Sie schon bei meiner Einlieferung benutzt, als Sie mich zum ersten Mal untersucht haben. Wahrscheinlich verwenden Sie sie oft bei Patienten.«

»Sie hätten sie nicht auswendig lernen müssen. Damit testen wir das Ultrakurzzeitgedächtnis.«

»Ich habe sie nicht auswendig gelernt, ich habe sie mir nur zufällig gemerkt.«

»Wissen Sie noch die Ziffern von der zweiten Untersuchung?«

Ich schweige kurz. »Vier null acht eins fünf neun zwei.«

Er ist überrascht. »Die meisten Menschen können sich so viele Ziffern nach einmaligem Hören nicht merken. Benutzen Sie irgendwelche Eselsbrücken?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein. Telefonnummern speichere ich immer im Telefon.«

Er geht zum Terminal und tippt auf dem Nummernblock herum. »Versuchen Sie es damit.« Er liest eine aus vierzehn Ziffern bestehende Zahl vor, und ich wiederhole sie. »Meinen Sie, Sie können das auch rückwärts?« Ich sage die Ziffern in umgekehrter Reihenfolge auf. Er runzelt die Stirn und beginnt, etwas in meine Patientendatei zu tippen.

Ich sitze auf der psychiatrischen Station in einem der Untersuchungszimmer vor einem Terminal; das ist der nächstgelegene Ort, an dem Dr. Hooper ein paar Intelligenztests auftreiben konnte. In einer Wand ist ein kleiner Spiegel eingelassen, vermutlich befindet sich dahinter eine Videokamera. Für den Fall, dass sie gerade aufnimmt, lächele ich in ihre Richtung und winke kurz. Bei den versteckten Kameras in den Geldautomaten mache ich das auch immer.

Dr. Hooper kommt mit einem Ausdruck meiner Testergebnisse herein. »Also, Leon. Ihr Ergebnis ist … sehr gut. Bei beiden Tests lagen Sie auf dem neunundneunzigsten Perzentil.«

Mir bleibt der Mund offen stehen. »Das ist doch wohl ein Witz.«

»Nein.« Er kann es selbst kaum glauben. »Also, diese Zahl sagt nichts darüber aus, wie viele Fragen Sie richtig beantwortet haben. Es bedeutet, dass Sie im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung …«

»Ich weiß, was es bedeutet«, sage ich zerstreut. »Beim Test an der Highschool war ich auf dem siebzigsten Perzentil.« Neunundneunzigstes Perzentil. Innerlich suche ich nach irgendwelchen Anzeichen. Wie fühlt sich so etwas an?

Er setzt sich an den Tisch und betrachtet dabei immer noch den Ausdruck. »Sie waren nie auf dem College, oder?«

Ich konzentriere mich wieder auf ihn. »Doch, schon, aber ich habe abgebrochen. Ich hatte von Bildung eine andere Vorstellung als die Dozenten.«

»Aha.« Wahrscheinlich denkt er, dass ich durchgefallen bin. »Nun, offensichtlich haben Sie gewaltige Fortschritte gemacht. Zu einem kleinen Teil kann das vielleicht von allein geschehen sein, während Sie älter wurden, aber größtenteils dürfte es ein Ergebnis der Hormon-K-Therapie sein.«

»Das ist ja eine tolle Nebenwirkung.«

»Freuen Sie sich nicht zu früh. Die Testergebnisse sagen nichts über Ihre Leistungen im realen Leben.« Ich verdrehe die Augen, als Dr. Hooper gerade nicht hinsieht. Da passiert etwas Unglaubliches, und alles, was ihm dazu einfällt, sind Binsenweisheiten. »Ich würde gern noch ein paar Tests durchführen. Können Sie morgen herkommen?«

Ich bin gerade dabei, eine Holografie zu retuschieren, als das Telefon klingelt. Ich schwanke zwischen Telefon und Konsole und entscheide mich widerwillig für das Telefon. Während der Bildbearbeitung lasse ich normalerweise den Anrufbeantworter rangehen, aber die Leute sollen erfahren, dass ich wieder arbeite. Durch meinen Krankenhausaufenthalt habe ich viele Kunden verloren – eines der Risiken, wenn man Freiberufler ist. Ich berühre das Telefon und sage: »Holografie Greco, Leon Greco am Apparat.«

»Hey Leon, hier ist Jerry.«

»Hi Jerry. Was gibt’s?« Ich betrachte immer noch das Bild auf dem Monitor: zwei ineinander verzahnte, spiralförmige Gebilde. Eine abgedroschene Metapher für konstruktive Zusammenarbeit, aber genau das wollte der Kunde für die Anzeige.

»Hast du Lust, heute Abend ins Kino zu gehen? Sue, Tori und ich schauen uns Metal Eyes an.«

»Heute Abend? Da kann ich nicht. Heute ist die letzte Vorstellung dieser Eine-Frau-Show im Hanning-Theater.« Die Zahnräder sehen zerkratzt und schmierig aus. Mit dem Cursor markiere ich sie und gebe die Werte ein, die ich anpassen will.

»Was ist das?«

»Es heißt Symplektisch und ist ein in Versen gehaltener Monolog.« Jetzt verändere ich die Helligkeit, damit die Schatten dort, wo die Zahnräder ineinandergreifen, ein bisschen heller werden. »Wollt ihr nicht mitkommen?«

»Ist das so was wie die Monologe bei Shakespeare?«

Zu stark: Mit diesem Helligkeitsgrad wird der äußere Rand zu grell. Ich lege eine Obergrenze für die Intensität der Lichtreflexe fest. »Nein, es ist als Bewusstseinsstrom geschrieben und wechselt zwischen vier verschiedenen Metren hin und her. Das jambische Versmaß ist nur eines davon. Die Kritiker sagen, es sei eine Tour de Force.«

»Ich wusste gar nicht, dass du auf Gedichte stehst.«

Nachdem ich alle Zahlen noch einmal überprüft habe, lasse ich den Computer das Interferenzmuster neu berechnen. »Sonst eher nicht, aber das scheint wirklich interessant zu sein. Wie wär’s?«

»Danke, aber ich glaube, wir bleiben bei dem Film.«

»Okay, dann viel Spaß. Vielleicht können wir uns ja nächste Woche mal treffen.« Wir verabschieden uns, legen auf, und ich warte darauf, dass der Computer zu Ende rechnet.

Plötzlich geht mir auf, was gerade passiert ist. Ich habe bei der Bildbearbeitung noch nie viel zustande gebracht, wenn ich gleichzeitig telefoniert habe. Aber dieses Mal konnte ich mich mühelos auf beides gleichzeitig konzentrieren. Nehmen die Überraschungen denn gar kein Ende mehr? Nachdem die Albträume aufgehört haben und ich ruhiger geworden bin, ist mir als Erstes aufgefallen, dass ich inzwischen viel schneller lesen und Texte verstehen kann. Ich bin nun tatsächlich in der Lage, die Bücher in meinem Regal zu lesen, die ich mir immer vorgenommen hatte, für die dann aber stets die Zeit fehlte – sogar die schwierigeren, technischen Sachen. Damals auf dem College hatte ich mich damit abgefunden, dass ich nicht alles lernen konnte, was mich interessierte. Die Feststellung, dass ich das vielleicht doch kann, ist berauschend; als ich neulich ein paar Bücher gekauft habe, war ich geradezu aufgekratzt.

Und jetzt stellt sich heraus, dass ich mich auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren kann, was ich nie gedacht hätte. Ich stehe vom Schreibtisch auf und stoße einen Jauchzer aus, als hätte meine Lieblings-Baseballmannschaft einen Triple hingelegt. Denn genau so fühlt es sich an.

Dr. Shea, der Leiter der Neurologie, hat meinen Fall übernommen, vermutlich, weil er die Lorbeeren dafür einheimsen möchte. Ich kenne ihn kaum, aber er führt sich auf, als wäre ich schon seit Jahren bei ihm in Behandlung.

Er bittet mich zum Gespräch in sein Büro, verschränkt die Finger und stützt die Ellenbogen auf den Schreibtisch. »Was halten Sie von der Zunahme Ihrer Intelligenz?«, fragt er.

Was für eine idiotische Frage. »Ich freue mich sehr darüber.«

»Gut«, sagt Dr. Shea. »Bisher haben wir bei der Hormon-K-Therapie keine nachteiligen Nebenwirkungen festgestellt. Wegen der Hirnschädigung durch Ihren Unfall brauchen Sie nicht mehr behandelt zu werden.« Ich nicke. »Wir führen jedoch eine Studie durch, weil wir mehr darüber erfahren wollen, wie das Hormon sich auf die Intelligenz auswirkt. Wenn Sie einverstanden sind, würden wir Ihnen gerne eine weitere Dosis des Hormons spritzen und die Wirkung protokollieren.«

Mit einem Mal bin ich hellwach. Endlich etwas, bei dem sich das Zuhören lohnt. »Einverstanden.«

»Sie verstehen doch, dass dies nur wissenschaftlichen Zwecken dient und keine medizinische Behandlung ist. Möglicherweise profitieren Sie davon durch eine weitere Zunahme Ihrer Intelligenz, aber in medizinischer Hinsicht ist es nicht notwendig.«

»Das ist mir klar. Sicherlich muss ich eine Einverständniserklärung unterschreiben.«

»Ja. Außerdem können wir Ihnen für die Teilnahme an der Studie eine Aufwandsentschädigung anbieten.« Er nennt eine Summe, aber ich höre kaum zu.

»In Ordnung.« Ich versuche mir vorzustellen, wo das hinführt, was es möglicherweise für mich bedeutet, und werde ganz aufgeregt.

»Wir möchten Sie außerdem bitten, eine Verschwiegenheitsverpflichtung zu unterschreiben. Dieses Medikament ist natürlich höchst interessant, aber wir möchten nicht zu früh damit an die Öffentlichkeit gehen.«

»Natürlich. Hat schon einmal jemand zusätzliche Injektionen bekommen?«

»Selbstverständlich, Sie sind hier kein Versuchskaninchen. Ich versichere Ihnen, bisher gab es keinerlei schädliche Nebenwirkungen.«

»Wie war die Wirkung bei den anderen?«

»Wir möchten lieber keine Erwartungen bei Ihnen wecken, sonst könnte es sein, dass Sie genau die Symptome entwickeln, von denen ich Ihnen erzähle.«

Shea gefällt sich wohl in der Rolle des allwissenden Arztes. Ich bleibe hartnäckig. »Können Sie mir wenigstens sagen, wie stark die Intelligenz bei den anderen gewachsen ist?«

»Jeder Mensch ist anders. Sie sollten nicht von dem ausgehen, was andere erlebt haben.«

Ich lasse mir meine Frustration nicht anmerken. »Also gut.«

Wenn Shea mir nichts über die Hormon-K-Therapie verraten will, finde ich es eben auf eigene Faust heraus. Vom Terminal in meiner Wohnung aus klicke ich mich zur öffentlich zugänglichen Datenbank der Arzneimittelbehörde durch und durchforste die Anträge für klinische Studien.

Der Antrag für Hormon K wurde von Sorensen Pharma eingereicht, einer Firma, die für die Regeneration von Nervenzellen im zentralen Nervensystem synthetische Hormone entwickelt. Ich überfliege die Ergebnisse der Tests, die man an Hunden nach Sauerstoffentzug durchgeführt hat, dann die Versuche mit Pavianen. Alle Tiere wurden vollständig wiederhergestellt. Die Toxizität war gering, und in der Langzeitstudie zeigten sich keinerlei schädliche Nebenwirkungen.

Die Untersuchung des Hirngewebes hat widersprüchliche Ergebnisse gebracht. Bei den hirngeschädigten Tieren sind neue Nervenzellen mit wesentlich mehr Dendriten gewachsen, doch bei den gesunden Versuchstieren hat sich durch das Medikament nichts verändert. Die Forscher schließen daraus, dass durch Hormon K nur die geschädigten Neuronen ersetzt werden, nicht jedoch die gesunden. Für die hirngeschädigten Tiere scheinen die neuen Dendriten ungefährlich zu sein: Bei der Computertomografie hat man keine Auswirkungen auf den Hirnstoffwechsel feststellen können, und bei den Intelligenztests gab es keine Veränderungen.

Laut ihren Anträgen für klinische Studien wollen die Forscher von Sorensen das Medikament zunächst an gesunden Probanden testen und dann an unterschiedlichen Patienten: an Menschen, die einen Schlaganfall hatten, die unter Alzheimer leiden, oder an solchen wie mir, die im Koma liegen. Die vorläufigen Ergebnisse dieser Studien sind mir nicht zugänglich – selbst nach Anonymisierung der Patientendaten haben auf diese Informationen nur die beteiligten Ärzte Zugriff.

Aus den Tierversuchen erfahre ich nichts über den Intelligenzzuwachs bei Menschen. Es scheint plausibel, dass die Intelligenz proportional zur Anzahl der Nervenzellen wächst, die durch das Hormon ersetzt wurden, und das wiederum hängt davon ab, wie groß der Schaden zu Beginn war. Das bedeutet, die größten Fortschritte gibt es bei den stark hirngeschädigten Patienten. Natürlich muss ich erst etwas über den Verlauf bei anderen Patienten erfahren, um diese Theorie zu belegen; das wird noch eine Weile dauern.

Die nächste Frage lautet: Gibt es ein Plateau, oder bewirken zusätzliche Dosen des Hormons eine weitere Steigerung? Die Antwort darauf werde ich noch vor den Ärzten herausfinden.

Ich bin nicht nervös; eigentlich sogar ziemlich entspannt. Ich liege einfach nur auf dem Bauch und atme ganz langsam. Mein Rücken fühlt sich taub an, man hat mir ein lokales Anästhetikum gespritzt und dann Hormon K ins Rückenmark injiziert. Intravenös würde es nicht wirken, weil das Hormon die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann. Es ist die erste derartige Injektion, an die ich mich erinnern kann, allerdings hat man mir gesagt, dass ich früher schon zwei erhalten habe – die erste noch im Koma, die zweite, als ich zwar schon wieder bei Bewusstsein war, aber noch ohne kognitive Fähigkeiten.

Erneut Albträume. Eigentlich geht es darin nicht immer um gewaltsame Ereignisse, aber es sind die bizarrsten, irrsten Träume, die ich je hatte; oft gibt es darin nichts, was mir bekannt vorkommt. Häufig wache ich schreiend auf und schlage in meinem Bett um mich. Aber dieses Mal weiß ich, dass es vorübergehen wird.

Inzwischen untersuchen mich am Krankenhaus gleich mehrere Psychologen. Es ist interessant, wie sie meine Intelligenz analysieren. Ein Arzt bewertet meine Fähigkeiten, indem er sie in ihre Komponenten zerlegt, wie zum Beispiel Erfassen, Behalten, Umsetzen und Übertragen. Ein anderer unterscheidet zwischen mathematischem und logischem Denken, sprachlichen Fähigkeiten und räumlichem Vorstellungsvermögen.

Diese Fachspezialisten erinnern mich an meine Zeit auf dem College – jeder hat seine Lieblingstheorie, sie alle biegen die Fakten so zurecht, dass es passt. Sie überzeugen mich jetzt sogar noch weniger als damals; noch immer gibt es nichts, was sie mir beibringen könnten. Keines ihrer Schemata taugt dazu, meine Leistungen zu analysieren, denn – es hat keinen Sinn, das zu leugnen – ich bin einfach in allem gleich gut.

Egal, ob ich eine neue Art mathematischer Gleichungen, die Grammatik einer Fremdsprache oder die Funktionsweise einer Maschine erlerne, immer fügt sich alles zusammen und alle Teilbereiche greifen nahtlos ineinander. Nie muss ich gezielt etwas auswendig lernen und dann mechanisch anwenden. Ich erfasse vielmehr, wie sich ein System als Ganzes verhält. Natürlich nehme ich auch die Details und einzelnen Schritte wahr, aber das geschieht beinahe intuitiv, weil es so wenig Konzentration erfordert.

Die Sicherheitssysteme von Computern zu knacken ist wirklich eine stumpfsinnige Aufgabe. Ich kann zwar verstehen, dass sich Leute davon angezogen fühlen, die unbedingt ihre Gerissenheit unter Beweis stellen wollen, aber es liegt keinerlei intellektuelle Schönheit darin. Eigentlich ist es nicht anders, als würde man bei einem verschlossenen Haus überall an den Türen rütteln, bis man ein schadhaftes Schloss findet – durchaus nützlich, aber nicht besonders interessant.

In die private Datenbank der Arzneimittelbehörde einzudringen, war einfach. Ich habe an einem der Terminals in den Wänden des Klinikums herumgespielt und das Informationsprogramm für die Besucher ablaufen lassen, in dem Übersichtskarten des Klinikums und ein Mitarbeiterverzeichnis zu finden sind. Von dort aus bin ich auf Betriebssystemebene gegangen und habe ein Phishing-Programm geschrieben, das den Eröffnungsbildschirm vortäuscht, von dem aus man sich einloggt. Danach habe ich das Terminal einfach sich selbst überlassen. Irgendwann ist eine meiner Ärztinnen dorthin gekommen, um eine Patientendatei einzusehen. Das Phishing-Programm hat ihr Passwort abgelehnt und danach den echten Eröffnungsbildschirm wiederhergestellt. Die Ärztin hat erneut versucht sich einzuloggen, dieses Mal mit Erfolg, aber mein Phishing-Programm hatte ihr Passwort abgespeichert.

Mit dem Benutzerkonto der Ärztin habe ich Zugriff auf die Patientendatenbank der Arzneimittelbehörde. Bei den Medikamententests der Phase eins – gesunde Probanden – hatte das Hormon keinerlei Wirkung. Bei den noch laufenden Tests der Phase zwei sieht es anders aus. Hier gibt es wöchentliche Berichte über zweiundachtzig durchnummerierte Patienten, die alle Hormon K erhalten haben. Die meisten von ihnen hatten einen Schlaganfall oder haben Alzheimer, einige lagen im Koma. Die neuesten Daten bestätigen meine These: Bei den Patienten mit größerem Hirnschaden nimmt auch die Intelligenz stärker zu. In den PET-Scans sieht man einen gesteigerten Hirnstoffwechsel.

Warum gab es bei den Tierversuchen keine Hinweise auf diesen Effekt? Ich denke, das Konzept der kritischen Masse kann als Analogie dienen. Was die Zahl der Synapsen betrifft, liegen Tiere unterhalb einer kritischen Masse; ihre Gehirne sind kaum zur Abstraktion fähig, und zusätzliche Synapsen ändern daran nichts. Menschen dagegen überschreiten diese kritische Masse. Durch ihre Gehirne sind sie sich ihrer selbst voll bewusst, und – so legen es diese Daten nahe – sie schöpfen alle zusätzlichen Synapsen voll aus.

Am spannendsten sind die Unterlagen eines reinen Forschungsprojekts, das gerade begonnen hat und an dem einige Patienten freiwillig teilnehmen. Zusätzliche Injektionen steigern ihre Intelligenz noch weiter, aber auch hier hängt das Ausmaß vom ursprünglichen Hirnschaden ab. Die Patienten mit leichten Schlaganfällen haben noch nicht einmal das Niveau von Genies erreicht, die mit größerem Schaden sind weiter gekommen.

Von den Patienten, die ursprünglich in einem tiefen Koma lagen, bin ich bislang der Einzige, der eine dritte Injektion erhalten hat. Keiner der bisherigen Probanden hat so viele neue Synapsen hinzugewonnen wie ich; es ist völlig offen, welches Niveau meine Intelligenz erreichen wird. Ich fühle mein Herz pochen, während ich darüber nachdenke.

Die Spielerei mit den Ärzten wird von Woche zu Woche nervtötender. Sie behandeln mich, als ob ich eine Art Inselbegabter wäre, wie einen Patienten mit bestimmten Anzeichen für hohe Intelligenz, der aber trotzdem nur ein Patient ist. Für die Neurologen bin ich lediglich das Rohmaterial für PET-Scans und von Zeit zu Zeit die Quelle für ein Röhrchen Rückenmarksflüssigkeit. Die Psychologen erforschen in ihren Interviews mein Denken, aber sie können sich nicht von dem Vorurteil freimachen, dass diese ganze Sache eigentlich meinen Horizont übersteigt, dass ich ein gewöhnlicher Mensch bin, dem seine neuen Gaben unbegreiflich sind.

Dabei sind es die Ärzte, die nicht verstehen, was hier vorgeht. Sie sind davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit in der normalen Welt durch das Medikament nicht gesteigert werden kann, dass meine Fähigkeiten nur gemäß der künstlichen Messlatte der Intelligenztests existieren, und so verschwenden sie damit ihre Zeit. Aber die Messlatte ist nicht nur zu beschränkt, sie ist auch zu kurz: Meine perfekten Ergebnisse verraten ihnen gar nichts, denn so weit außerhalb der Normalverteilung haben sie einfach keine Vergleichsmöglichkeiten.

Natürlich erfassen die Tests nur einen Bruchteil der eigentlichen Veränderungen. Wenn die Ärzte nur fühlen könnten, was in meinem Kopf vergeht: wie sehr mir nun klar wird, was mir zuvor entgangen ist, und auf welch vielfältige Weise ich diese neuen Informationen einsetzen kann. Meine Intelligenz ist alles andere als ein Phänomen in einem Labor, sie ist vielmehr äußerst nützlich. Mit meinem beinahe perfekten Erinnerungsvermögen und meiner Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, kann ich eine Situation blitzschnell erfassen und mich für das Vorgehen entscheiden, das am besten meinen Interessen dient; niemals bin ich unentschlossen. Die einzige Herausforderung besteht in theoretischen Fragen.

Womit auch immer ich mich beschäftige, überall kann ich Muster sehen. Überall erkenne ich die Gestalt, die Melodie in den Tönen – in der Mathematik und den Naturwissenschaften, in Kunst und Musik, Psychologie und Soziologie. Beim Lesen von Texten kommt es mir so vor, als hangelten sich deren Verfasser mühsam von einem Punkt zum nächsten, blind nach den Verbindungen tastend, die sie nicht sehen können. Sie sind wie Menschen, die in Noten keine Musik erkennen können, die verzweifelt auf die Abschrift einer Bach-Sonate starren und zu erklären versuchen, warum auf die eine Note die nächste folgen muss.

So herrlich diese Muster auch sind, sie wecken meinen Appetit auf mehr. Sicherlich gibt es noch weitere Gestalten von völlig anderen Ausmaßen und Dimensionen. Ihnen gegenüber bin auch ich blind; verglichen damit sind alle meine Sonaten nur isolierte Punkte im Raum. Ich habe keine Ahnung, wie solche Gestalten aussehen könnten, aber das wird sich noch zeigen. Ich möchte sie finden, sie begreifen. Noch nie zuvor habe ich etwas so sehr gewollt wie das.

Der Arzt, der mich heute untersucht, heißt Clausen, und er verhält sich anders als die anderen Ärzte. Aus seinen Umgangsformen schließe ich, dass er seinen Patienten gegenüber für gewöhnlich eine ausdruckslose Maske trägt, aber heute fühlt er sich ein wenig unbehaglich. Er ist bemüht, Freundlichkeit auszustrahlen, aber das gelingt ihm nicht so gut wie den anderen Ärzten mit ihrer nichtssagenden Betriebsamkeit.

»Der Test funktioniert so: Sie werden die Schilderungen verschiedener Situationen lesen, und jede von ihnen stellt ein Problem dar. Nach jedem Text sagen Sie mir bitte, was Sie tun würden, um das Problem zu lösen.«

Ich nicke. »So einen Test hab ich schon einmal gemacht.«

»Sehr schön.« Er tippt einen Befehl ein, und auf dem Bildschirm vor mir erscheint ein Text. Ich lese mir das Szenario durch: Es handelt sich um ein Problem, bei dem es darum geht, einen Zeitplan zu erstellen und Prioritäten zu setzen. Es ist ein realistisches Problem, was ungewöhnlich ist. Für den Geschmack der meisten Wissenschaftler hängt es zu sehr vom Zufall ab, ob man bei einem solchen Test gute Resultate erzielt. Ich zögere meine Antwort ein bisschen hinaus, und trotzdem ist Clausen von meiner Schnelligkeit überrascht.

»Das ist sehr gut, Leon.« Er drückt eine Taste an seinem Computer. »Versuchen Sie es hiermit.«

Wir gehen weitere Szenarien durch. Während ich den vierten Text lese, gibt sich Clausen große Mühe, gleichgültige Professionalität auszustrahlen. Mein Vorgehen bei diesem Problem ist für ihn von besonderer Bedeutung, aber er will nicht, dass ich davon etwas merke. Bei dem Szenario geht es um Hierarchien in einem Büro und um die heftige Konkurrenz wegen einer möglichen Beförderung.

Ich verstehe nun, wer Clausen ist: ein Psychologe von der Regierung, vielleicht vom Militär, vermutlich aus der Forschungsabteilung der CIA. Mit dem Test wollen sie herausfinden, ob Hormon K das Potenzial hat, Strategen hervorzubringen. Aus diesem Grund fühlt er sich in meiner Anwesenheit unbehaglich: Er ist an den Umgang mit Soldaten und Regierungsangestellten gewöhnt, an Menschen, die ganz selbstverständlich Befehle befolgen.

Vermutlich will die CIA mich haben, um weitere Versuche durchzuführen, bei entsprechenden Testergebnissen vielleicht auch an anderen Patienten. Danach werden sie dann Freiwillige aus ihren eigenen Reihen rekrutieren, deren Gehirne einem Sauerstoffmangel aussetzen und sie mit Hormon K behandeln. Ganz sicher möchte ich nicht zur CIA, aber mit meinen Testergebnissen habe ich bereits ihr Interesse geweckt. Jetzt kann ich nur noch meine Fähigkeiten herunterspielen und bei dieser Frage eine falsche Antwort geben.

Ich schlage also eine eher dumme Vorgehensweise vor, und Clausen ist enttäuscht. Trotzdem machen wir weiter. Ich brauche nun mehr Zeit für die Szenarien und gebe schwächere Antworten. Zwischen den harmlosen Fragen sind die wirklich entscheidenden versteckt: Einmal geht es darum, die feindliche Übernahme eines Konzerns abzuwenden, einmal soll man Menschen dazu bewegen, den Bau eines Kohlekraftwerks zu verhindern. Bei all diesen Fragen schneide ich schlecht ab.

Nach dem letzten Test entlässt mich Clausen; er ist bereits damit beschäftigt, seine Empfehlung zu formulieren. Hätte ich meine wahren Fähigkeiten offenbart, würde mich die CIA sofort rekrutieren. Meine schwankenden Ergebnisse werden ihren Eifer etwas dämpfen, ihre Meinung aber nicht grundsätzlich ändern; der potenzielle Nutzen ist für sie viel zu groß, um Hormon K zu ignorieren.

Meine Situation hat sich grundlegend verändert; wenn die CIA mich als Testkandidaten haben will, wird mein Einverständnis eine reine Formsache sein. Ich brauche einen Plan.

Vier Tage sind vergangen, und Shea ist überrascht: »Sie wollen die Studie abbrechen?«

»Ja, und zwar sofort. Ich mache mich wieder an meine Arbeit.«

»Wenn es Ihnen um die Bezahlung geht, dann bin ich sicher, dass wir ...«

»Nein, Geld ist nicht das Problem. Ich habe einfach nur genug von diesen Tests.«

»Ich weiß, die Tests können mit der Zeit ermüdend sein, aber wir lernen eine Menge dadurch. Und wir legen wirklich großen Wert darauf, dass Sie teilnehmen. Es ist nicht einfach nur ...«

»Ich weiß, wie viele Erkenntnisse Sie aus den Tests gewinnen. Aber das ändert nichts an meiner Entscheidung: Ich möchte nicht mehr mitmachen.«

Shea will noch etwas sagen, aber ich schneide ihm das Wort ab. »Ich weiß, dass ich immer noch durch die Verschwiegenheitserklärung gebunden bin; wenn Sie wollen, dass ich etwas unterschreibe, um das zu bestätigen, schicken Sie es mir zu.« Ich stehe auf und gehe zur Tür. »Leben Sie wohl, Dr. Shea.«

Zwei Tage später klingelt das Telefon, und Shea ist am Apparat.

»Leon, Sie müssen für eine Untersuchung herkommen. Ich bin gerade darüber informiert worden, dass es an einem anderen Krankenhaus bei einem Patienten, der mit Hormon K behandelt wurde, Nebenwirkungen gegeben hat.«

Er lügt; so etwas würde er mir niemals am Telefon erzählen. »Was für Nebenwirkungen?«

»Verlust der Sehfähigkeit. Zuerst kommt es zu einem gesteigerten Zellwachstum im Sehnerv, dann zum Verfall.«

Die CIA muss das angeordnet haben, als sie dort erfahren haben, dass ich die Studie abgebrochen habe. Sobald ich wieder im Krankenhaus bin, wird Shea mich für unzurechnungsfähig erklären und ihrer Obhut übergeben. Dann werden sie mich in eine Forschungseinrichtung der Regierung überführen.

Ich tue so, als wäre ich erschrocken. »Ich komme sofort.«

»Gut.« Shea ist erleichtert, dass seine Farce überzeugend war. »Wir untersuchen Sie, sobald Sie hier sind.«

Ich lege auf und überprüfe dann an meinem Terminal die neuesten Eintragungen in der Datenbank der Arzneimittelbehörde. Es gibt keine Hinweise auf Nebenwirkungen, weder am Sehnerv noch anderswo. Ich schließe nicht aus, dass solche Nebenwirkungen in der Zukunft auftreten könnten, aber das werde ich selbst herausfinden.

Es ist an der Zeit, Boston zu verlassen. Ich fange an zu packen. Meine Bankkonten werde ich leeren, wenn ich gehe. Für die Ausrüstung in meinem Studio würde ich noch mehr Geld bekommen, aber die meisten Geräte sind zu groß, um sie zu transportieren; ich nehme nur einige der kleineren mit. Nachdem ich damit zwei Stunden zugebracht habe, klingelt das Telefon wieder: Shea wundert sich, wo ich bleibe. Dieses Mal lasse ich den Anrufbeantworter rangehen.

»Leon, wo stecken Sie? Hier ist Dr. Shea. Wir warten schon eine ganze Weile auf Sie.«

Er wird noch ein weiteres Mal versuchen, mich zu erreichen, und dann wird er die Krankenpfleger in weißen Kitteln oder vielleicht die richtige Polizei schicken, um mich abzuholen.

Halb acht Uhr abends. Shea ist immer noch im Krankenhaus und wartet auf Nachrichten von mir. Ich drehe den Zündschlüssel um und fahre aus meinem Parkplatz gegenüber dem Krankenhaus heraus. Jeden Moment wird ihm nun der Briefumschlag auffallen, den ich unter der Tür zu seinem Büro hindurchgeschoben habe. Sobald er ihn öffnet, wird ihm klarwerden, dass er von mir stammt.

Hallo, Dr. Shea,

ich nehme an, Sie suchen nach mir.

Ein Moment lang wird er perplex sein, aber nur kurz; rasch wird er seine Fassung wiedererlangen und dann den Sicherheitsdienst alarmieren, damit dieser das Gebäude nach mir durchsucht und alle wegfahrenden Fahrzeuge überprüft. Dann wird er weiterlesen.

Sie können diese muskelbepackten Krankenpfleger zurückrufen, die in meiner Wohnung warten; ich möchte nicht ihre kostbare Zeit verschwenden. Allerdings werden Sie mir dann vermutlich die Polizei auf den Hals hetzen. Daher war ich so frei, in die Datenbanken der KFZ-Zulassungen einen Virus einzuschleusen; wann immer jemand das Kennzeichen meines Autos aufrufen will, wird die Information ausgetauscht. Natürlich könnten Sie auch eine Beschreibung meines Autos weitergeben, aber Sie haben ja keine Ahnung, wie es aussieht, nicht wahr?

Leon

Er wird die Polizei anrufen, damit deren Programmierer sich den Virus vornehmen. Er wird annehmen, dass ich an Größenwahn leide – wegen des arroganten Tonfalls des Briefes und des unnötigen Risikos, das ich bei seiner Hinterlegung im Krankenhaus eingegangen bin, und wegen der sinnlosen Ankündigung eines Virus, der ansonsten nie bemerkt worden wäre.

Doch Shea irrt sich. Dieses Vorgehen dient nur dazu, dass die Polizei und die CIA mich unterschätzen und keine entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Nachdem die Programmierer meinen Virus aus der Datenbank der KFZ-Zulassungen eliminiert haben, werden sie meine Programmierkünste als gut, aber nicht überragend einstufen und dann die Backups aufspielen, um mein tatsächliches Kennzeichen zu erhalten. Das wird einen zweiten, weit raffinierteren Virus aktivieren. Dieser wird sowohl in die Backups als auch in die aktive Datenbank eingreifen. Die Polizei wird sich damit zufriedengeben, nun das richtige Kennzeichen zu haben, und von da an auf der falschen Fährte sein.

Mein nächstes Ziel besteht darin, eine weitere Ampulle mit Hormon K zu bekommen. Allerdings wird die CIA dadurch leider auch eine genaue Vorstellung von meinen wahren Fähigkeiten erhalten. Wenn ich diese Nachricht nicht geschickt hätte, hätte die Polizei meinen Virus später entdeckt, und dann wäre ihnen klar gewesen, dass sie extrem gründlich vorgehen müssen, um ihn zu entfernen. In diesem Fall hätte ich es nie geschafft, mein Kennzeichen aus ihren Dateien zu löschen.

Inzwischen habe ich in einem Hotel eingecheckt und kann vom Terminal meines Zimmers aus auf das Datanet zugreifen.

Ich bin in die Datenbank der Arzneimittelbehörde eingebrochen. Ich habe die Adressen der Hormon-K-Patienten ausfindig gemacht und Einblick in die interne Kommunikation der Behörden erhalten. Die klinischen Studien zu Hormon K sind gestoppt worden, vorerst sind keine weiteren Versuche mehr erlaubt. Die CIA besteht darauf, dass sie mich erst wieder einfangen und analysieren müssen, welche Bedrohung von mir ausgeht, bevor die Ärzte weitermachen.

Die Arzneimittelbehörde hat alle Krankenhäuser aufgefordert, die übrigen Ampullen per Kurier zurückzuschicken. Bevor das geschieht, muss ich mir eine Ampulle verschaffen. Der nächstgelegene Patient lebt in Pittsburgh; ich buche einen Flug, der früh am nächsten Morgen geht. Dann schaue ich mir eine Karte von Pittsburgh an und gebe beim Kurierdienst von Pennsylvania einen Auftrag auf, dem zufolge etwas in einer Investmentfirma in der Innenstadt abgeholt werden soll. Schließlich buche ich einige Stunden Rechenzeit auf einem Supercomputer.

Ich habe meinen Leihwagen an der Ecke eines Wolkenkratzers von Pittsburgh geparkt. In meiner Jackentasche steckt eine kleine Platine mit einer Tastatur. Ich schaue die Straße hinunter in die Richtung, aus der der Kurier kommen wird; die Hälfte der Fußgänger trägt weiße Atemfilter über dem Mund, aber die Sicht ist gut.

Ich entdecke ihn, als er noch zwei Kreuzungen entfernt ist; ein normaler Transporter, ein älteres Modell, der Schriftzug auf der Seite lautet Pennsylvania Courier. Es handelt sich nicht um einen Hochsicherheitstransport; so besorgt ist die Behörde wegen mir nicht. Ich steige aus meinem Auto und gehe auf den Wolkenkratzer zu. Der Transporter trifft kurz danach ein, parkt, und der Fahrer steigt aus. Sobald er im Gebäude ist, steige ich in seinen Wagen.

Er ist gerade vom Krankenhaus gekommen. Nun ist der Fahrer auf dem Weg zum vierzigsten Stockwerk; dort will er eine Sendung bei einer Investmentfirma abholen. Er wird frühstens in vier Minuten zurückkehren.

In den Boden des Transporters ist ein Schließfach eingelassen, dessen Tür und Wände aus doppelten Stahlplatten bestehen. Auf der Tür befindet sich eine polierte Platte; das Schließfach öffnet sich, wenn der Fahrer seine Hand darauflegt. Die Platte hat außerdem an der Seite eine Anschlussbuchse, über die man sie programmieren kann.

Letzte Nacht bin ich in die Service-Datenbank von Lucas Security Systems eingebrochen, der Firma, die Handflächenschlösser an Pennsylvania Courier verkauft. Dort habe ich eine verschlüsselte Datei gefunden, welche die Codes enthält, um die Schlösser auch ohne Handabdruck zu öffnen.

Zugegeben, auch wenn das Aushebeln von Computer-Sicherheitssystemen normalerweise wenig ästhetische Befriedigung bietet, sind doch manche Aspekte davon mit sehr interessanten mathematischen Problemen verwandt. Zum Beispiel braucht ein Supercomputer Jahre, um ein gängiges Verschlüsselungsverfahren zu knacken. Bei einem meiner Streifzüge in die Zahlentheorie bin ich jedoch auf eine sehr hübsche Methode gestoßen, um große Zahlen zu faktorisieren. Mit dieser Technik kann ein Supercomputer eine Verschlüsselung innerhalb von Stunden knacken.

Ich ziehe die Platine aus meiner Tasche und schließe sie mit einem Kabel an die Buchse an. Dann tippe ich zwölf Ziffern ein, und die Tür zum Schließfach schwingt auf.

Bis ich mit der Ampulle wieder in Boston eintreffe, hat die Arzneimittelbehörde auf den Diebstahl reagiert und alle relevanten Dateien von den über das Internet zugänglichen Computern entfernt – wie erwartet.

Mit der Ampulle und meinen Habseligkeiten im Gepäck fahre ich nach New York City.

Die schnellste Art für mich, an Geld zu kommen, sind, so seltsam es auch klingt, Sportwetten. Den Ausgang von Pferderennen vorherzusagen, ist eine simple Angelegenheit. Ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen, kann ich einen angemessenen Geldbetrag anhäufen und danach meinen Lebensunterhalt mit Börsenspekulationen bestreiten.

Ich bewohne ein Zimmer in der billigsten Wohnung mit Datanet-Zugang, die ich in New York finden konnte. Ich habe mehrere falsche Namen etabliert, unter denen ich meine Geschäfte tätige und die ich regelmäßig wechseln werde. Ich werde einige Zeit an der Wall Street verbringen, dort die Körpersprache der Börsenmakler studieren und so einige Möglichkeiten finden, in kurzer Zeit hohe Gewinne zu machen. Ich werde nicht häufiger als einmal in der Woche hingehen; es gibt für mich Wichtigeres zu tun, Gestalten, die es zu entdecken gilt.

Während mein Verstand sich weiterentwickelt, wächst auch die Kontrolle, die ich über meinen Körper habe. Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass die Menschen im Verlauf der Evolution ihre körperlichen Fähigkeiten der Intelligenz geopfert hätten: Jede körperliche Bewegung ist immer auch ein mentaler Akt. Ich habe zwar nicht mehr Muskelkraft, doch meine Koordination liegt jetzt weit über dem Durchschnitt; ich werde sogar gerade beidhändig. Darüber hinaus werden durch meine Konzentrationsfähigkeit Biofeedback-Techniken sehr effektiv. Nach vergleichsweise kurzem Üben bin ich in der Lage, meinen Herzschlag zu verlangsamen oder zu beschleunigen und meinen Blutdruck zu senken oder ansteigen zu lassen.

Ich schreibe ein Programm zur Mustererkennung, das in Bildern nach Übereinstimmungen mit meinem Gesicht sucht und außerdem nach meinem Namen scannt. Dann speise ich einen Virus ins Datanet ein, der alle aufgerufenen Dateien durchsucht. Die CIA wird in den nationalen Datanet-Nachrichten mein Foto veröffentlichen und mich als verrückten und gemeingefährlichen entflohenen Patienten darstellen, vielleicht auch als Mörder. Der Virus wird mein Bild durch weißes Rauschen ersetzen. Einen ähnlichen Virus schleuse ich auch in die Computer der Arzneimittelbehörde und der CIA ein, um in allen Downloads von Polizeibehörden nach meinem Bild zu suchen. Diese Viren dürften gegen alles immun sein, was ihre Programmierer sich einfallen lassen.

Zweifellos werden die Psychologen von der CIA Shea und die anderen Ärzte zu Rate ziehen, um Hinweise zu erhalten, wo ich hingegangen sein könnte. Meine Eltern sind tot, daher wird die CIA sich an meine Freunde wenden und nachfragen, ob ich mich bei ihnen gemeldet habe; man wird sie überwachen lassen, für den Fall, dass ich das tue. Ein bedauerlicher Eingriff in ihre Privatsphäre, aber kein dringliches Problem.

Es ist unwahrscheinlich, dass die CIA ihre eigenen Agenten mit Hormon K behandeln lässt, um mich aufzuspüren. Wie man an mir selbst sieht, ist ein hyperintelligenter Mensch zu schwierig zu kontrollieren. Allerdings werde ich ein Auge auf die anderen Patienten haben, für den Fall, dass sie von der Regierung rekrutiert werden.

Ohne das ich mich darum bemühe, nehme ich die alltäglichen Muster im menschlichen Miteinander wahr. Ich schlendere die Straße entlang und beobachte, wie die Leute ihren Geschäften nachgehen, und auch wenn niemand etwas sagt, sind die unterschwelligen Botschaften offenkundig. Ein junges Paar spaziert vorbei; die blinde Verehrung des einen wird vom anderen gerade so geduldet. Sorge flackert auf und verfestigt sich, als einem Geschäftsmann, der sich vor seinem Vorgesetzten fürchtet, Zweifel an einer Entscheidung kommen, die er heute getroffen hat. Eine Frau umgibt sich mit einer Aura vorgeblicher Perfektion, doch die Maske verrutscht, als sie wahrer Verfeinerung begegnet.

Wie immer durchschaut man nur bei größerer geistiger Reife die Rollen, die jemand spielt. Für mich wirken alle diese Menschen wie Kinder auf einem Spielplatz; ihr ernster Eifer amüsiert mich, und voller Scham erinnere ich mich daran, dass ich mich auch einmal so verhalten habe. Sie agieren völlig angemessen, aber ich selbst könnte es nicht ertragen, daran teilzuhaben; als ich zum Mann wurde, tat ich ab, was kindisch war. Mit der Welt der gewöhnlichen Menschen möchte ich mich nur befassen, soweit es für meinen Lebensunterhalt notwendig ist.

Mit jeder Woche eigne ich mir Jahre der Bildung an und setze dabei immer größere Muster zusammen. Aus einem weiteren Blickwinkel als je ein Mensch zuvor blicke ich auf das Geflecht menschlichen Wissens; ich kann Lücken darin schließen, die kein Gelehrter je wahrgenommen hat, und die Textur an Stellen bereichern, die zuvor als vollständig galten.

Die offensichtlichsten Muster findet man in den Naturwissenschaften. In der Physik bietet sich eine wunderbare Vereinheitlichung an; sie betrifft nicht nur die Ebene der fundamentalen Wechselwirkungen, sondern einfach alle Bereiche und Anwendungsmöglichkeiten. Fachgebiete wie »Optik« oder »Thermodynamik« sind nichts anderes als Zwangsjacken, die den Blick für die zahllosen Querverbindungen verstellen. Abgesehen von dem rein ästhetischen Vergnügen sind dadurch zahlreiche praktische Anwendungen nicht verwirklicht worden. Schon vor Jahren hätten Ingenieure künstliche, sphärisch-symmetrische Gravitationsfelder entwickeln können.

Nachdem mir das klar geworden ist, werde ich trotzdem kein solches oder auch ein anderes Gerät bauen. Man würde dafür viele eigens angefertigte Komponenten brauchen, die alle nur mit großer Mühe und großem Zeitaufwand zu beschaffen sind. Außerdem würde mir die Konstruktion einer solchen Vorrichtung keine besondere Befriedigung verschaffen, denn ich bin mir ohnehin sicher, dass sie funktionieren würde; es würden dadurch keine neuen Gestalten sichtbar werden.

Ich mache mich nun an eine ausgedehnte Dichtung. Es ist ein Experiment – wenn ich mit einem Gesang fertig bin, werde ich einen Ansatz haben, wie ich die Muster aller Kunstgattungen zu einem Ganzen verweben kann. Ich verwende sechs moderne und vier alte Sprachen; sie beinhalten mehr oder weniger die bedeutenden Weltanschauungen der menschlichen Zivilisation. Jede Sprache bringt andere Bedeutungsnuancen und poetische Wirkungen mit sich; manche der Gegenüberstellungen sind eine wahre Freude. In jeder Zeile des Gedichts entstehen Wortneuschöpfungen durch Deklination in anderen Sprachen. Wenn ich das ganze Stück vollenden würde, würde es als Finnegans Wake multipliziert mit Pounds Cantos gelten.

Meine Arbeit wird von der CIA unterbrochen; sie haben eine Falle mit einem Köder für mich ausgelegt. Nach zwei Monaten vergeblicher Versuche ist ihnen klargeworden, dass sie mich mit konventionellen Methoden nicht aufspüren können, also gehen sie nun zu drastischeren Mitteln über. In den Nachrichten wird berichtet, dass die Freundin eines geisteskranken Mörders angeklagt wurde, ihm bei seiner Flucht geholfen zu haben. Der Name, der genannt wird, lautet Connie Perritt, mit der ich im letzten Jahr zusammen war. Es gilt als ausgemacht, dass sie im Fall einer Verurteilung für längere Zeit ins Gefängnis kommen wird; die CIA hofft darauf, dass ich das nicht zulassen werde. Sie erwarten, dass ich irgendetwas unternehme, wodurch ich mich verrate und geschnappt werden kann.

Connies vorläufige Anhörung ist für morgen angesetzt. Sie werden dafür sorgen, dass sie auf Kaution freikommt, wenn nötig durch einen Bürgen, sodass ich die Gelegenheit habe, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Dann werden sie rund um ihre Wohnung jede Menge verdeckte Ermittler postieren und auf mich warten.

Ich beginne damit, am Terminal das erste Bild zu bearbeiten. Im Vergleich zu Holos sind diese digitalen Fotos geradezu minimalistisch, aber sie erfüllen ihren Zweck. Die Aufnahmen vom gestrigen Tag zeigen die Gegend um Connies Wohnblock, die Straße vor dem Haus und die nahegelegene Kreuzung. Ich bewege den Cursor über den Bildschirm und zeichne kleine Fadenkreuze an bestimmten Punkten der Bilder ein. Ein Fenster, die Lichter ausgeschaltet, aber der Vorhang offen, in dem Gebäude schräg gegenüber. Ein Straßenverkäufer, zwei Blocks von der Rückseite des Hauses entfernt.

Insgesamt sechs Stellen markiere ich. Sie zeigen an, wo gestern Abend CIA-Agenten gewartet haben, als Connie in ihre Wohnung heimgekehrt ist. Anhand der Videoaufnahmen von mir im Krankenhaus hat man den Agenten klargemacht, wonach sie bei allen männlichen oder nicht näher zu identifizierenden Passanten Ausschau halten sollen: auf den selbstbewussten, aufrechten Gang. Diese Erwartungen machen sie nun blind; ich muss nur ein wenig meine Schritte verlängern, den Kopf etwas wackeliger halten, die Armbewegungen reduzieren. Das und die ein wenig untypische Kleidung waren genug, sodass ich unbehelligt durch die Gegend spazieren konnte.

Auf den unteren Rand eines der Bilder schreibe ich die Funkfrequenz, die einer der Ermittler für die Kommunikation benutzt, und eine Gleichung, die den Verschlüsselungsalgorithmus wiedergibt. Als ich fertig bin, schicke ich die Bilder dem Leiter der CIA. Die Botschaft ist klar: Ich könnte jeden dieser Agenten töten, zu jeder Zeit, wenn sie sich nicht zurückziehen.

Damit sie aber die Anklage gegen Connie fallen lassen, und um mich vor weiteren Störmanövern der CIA dauerhaft zu schützen, muss ich noch weitergehen.

Wieder einmal Mustererkennung, aber dieses Mal von der banalen Sorte. Tausende Seiten Berichte, Memos, Schriftverkehr; jede ist ein Farbtupfer in einem pointillistischen Gemälde. Ich trete von diesem Panorama einen Schritt zurück und halte nach Linien und Kanten Ausschau, die ein Muster bilden. Die Megabytes, die ich durchgesehen habe, sind nur ein Bruchteil aller Aufzeichnungen aus der Zeitspanne, um die es mir geht, aber das genügt.

Was ich gefunden habe, ist ziemlich gewöhnlich, viel simpler als die Handlung eines Spionageromans. Der Chef der CIA hat gewusst, dass eine Gruppe von Terroristen einen Bombenanschlag auf die U-Bahn in Washington D.C. plante. Er hat den Anschlag nicht verhindert, damit der Kongress extreme Maßnahmen gegen diese Gruppe bewilligt. Der Sohn eines Kongressabgeordneten war unter den Opfern, und von da an hatte der CIA-Chef freie Hand beim Umgang mit den Terroristen. Auch wenn seine Pläne nicht ausdrücklich in den Unterlagen der CIA festgehalten wurden, sind die Implikationen ziemlich offensichtlich. Die relevanten Memos enthalten nur vage Andeutungen und sind unter einem Berg von unverdächtigen Dokumenten begraben; wenn ein Untersuchungsausschuss all diese Unterlagen lesen würde, würden die Beweise von diesem Hintergrundrauschen verschluckt werden. Ein Destillat der belastenden Memos würde allerdings die Presse überzeugen.

Ich schicke die Liste der Memos an den Chef der CIA, zusammen mit einer Notiz: Lassen Sie mich in Ruhe, dann lasse ich Sie in Ruhe. Er wird kapieren, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt.

Diese kleine Geschichte hat mich in meiner Meinung bestärkt, was die Angelegenheiten dieser Welt betrifft; würde ich die täglichen Nachrichten verfolgen, dann könnte ich überall krumme Machenschaften aufdecken, die aber allesamt gänzlich uninteressant wären. Ich werde meine Studien wiederaufnehmen.

Meine Körperbeherrschung wird immer besser. Inzwischen könnte ich über heiße Kohlen laufen oder mir Nadeln in den Arm stecken, wenn mir danach wäre. Mein Interesse an fernöstlichen Meditationstechniken beschränkt sich allerdings auf ihre Anwendung bei der Kontrolle von Körperfunktionen; keine meditative Trance, die ich erlangen kann, ist für mich auch nur annähernd so reizvoll wie mein mentaler Zustand, wenn ich Gestalten aus den elementaren Daten forme.

Ich entwerfe eine neue Sprache. Ich bin an die Grenzen der konventionellen Sprachen gelangt, und sie behindern mich nun bei meinen Versuchen weiterzukommen. Sie sind ungeeignet, um die Konzepte auszudrücken, die ich benötige, und selbst auf ihren eigenen Gebieten sind sie unpräzise und unergiebig. Sie taugen kaum für die gesprochene Sprache, ganz zu schweigen für das Denken.

Die gegenwärtige Sprachwissenschaft ist nutzlos; ich werde die Logik von Grund auf evaluieren, um die benötigten Basisbestandteile für meine Sprache zu bestimmen. Diese Sprache wird einen Dialekt ermöglichen, der die gesamte Mathematik beinhaltet, sodass jede Gleichung, die ich niederschreibe, eine linguistische Entsprechung haben wird.

Doch die Mathematik wird nur ein kleiner Teil der Sprache sein, nicht das Ganze; im Gegensatz zu Leibniz bin ich mir über die Grenzen der formalen Logik im Klaren. In andere Dialekte, die mir vorschweben, sollen meine Aufzeichnungen im Bereich der Ästhetik und Kognition integriert werden. Das wird ein sehr zeitaufwendiges Projekt, aber das Ergebnis wird es mir ermöglichen, meine Gedanken viel klarer zu formulieren. Wenn ich all mein Wissen in diese Sprache übersetzt habe, müssten die von mir gesuchten Muster sichtbar werden.

Ich unterbreche meine Arbeit. Bevor meine Sprache eine Ästhetik vermitteln kann, brauche ich erst ein Vokabular für alle nur vorstellbaren Emotionen.

Ich kenne viele Gefühle, die über die der normalen Menschen hinausgehen; ich begreife, wie begrenzt ihr Spektrum ist. Die Liebe und die Angst, die ich früher empfand, haben sicher weiterhin Gültigkeit, aber ich sehe sie als das, was sie sind: Wie die Schwärmerei und Depressionen der Kindheit waren sie nur die Vorläufer dessen, was ich nun erlebe. Meine jetzigen Leidenschaften sind viel facettenreicher; in dem Maß, in dem mein Bewusstsein meiner selbst sich ausweitet, nehmen alle Gefühle an Komplexität exponentiell zu. Wenn ich mich an die vor mir liegenden schöpferischen Aufgaben wagen will, muss ich sie vollständig beschreiben können.

Natürlich erlebe ich eigentlich viel weniger Emotionen, als es mir möglich wäre; meine Entwicklung wird durch die Intelligenz der Menschen um mich herum und den wenigen Umgang mit ihnen, den ich mir erlaube, eingeschränkt. Ich fühle mich an den konfuzianischen Begriff des Ren erinnert: Unzureichend durch »Wohlwollen« übersetzt, bezeichnet er jene zutiefst menschliche Eigenschaft, die sich nur im Umgang mit anderen Menschen entwickelt und die einem isolierten Menschen fehlt. Es gibt mehrere solcher Eigenschaften. Und da bin ich nun, von so vielen Menschen umgeben, und doch ist niemand da, mit dem ich mich austauschen kann. Ich bin nur ein Bruchteil dessen, was ein Individuum mit meiner Intelligenz sein könnte.

Ich lasse mich weder durch Selbstmitleid noch durch Selbstüberschätzung täuschen: Meinen psychischen Zustand kann ich vollkommen objektiv und den Tatsachen entsprechend einschätzen. Ich weiß genau, welche Emotionen ich erleben kann und welche nicht, und welchen Wert ich ihnen jeweils beimesse. Ich empfinde kein Bedauern.

Meine neue Sprache nimmt allmählich Form an. Sie ist gestaltorientiert und wie geschaffen, um Gedanken auszudrücken, aber wenig geeignet zum Schreiben oder Sprechen. Würde man sie aufschreiben, dürfte man die Worte nicht linear aneinanderreihen; es müsste vielmehr ein gewaltiges, als Einheit wahrzunehmendes Ideogramm sein. Noch weit besser als ein Bild könnte ein solches Ideogramm vermitteln, was tausend Worte nicht vermögen. Die Komplexität jedes Ideogramms entspräche der Information, die es transportieren würde; ich ergötze mich an der Vorstellung eines gewaltigen Ideogramms, welches das gesamte Universum beschreibt.

Für diese Sprache ist Schrift zu schwerfällig und statisch; das einzig dafür taugliche Medium wäre ein Video oder ein Holo, das ein stetig wachsendes, anschauliches Bild zeigt. Zieht man die beschränkte Bandbreite des menschlichen Kehlkopfes in Betracht, wäre es völlig unmöglich, eine solche Sprache zu sprechen.

Schimpfwörter aus alten und modernen Sprachen wirbeln durch meinen Geist und verspotten mich mit ihrer primitiven Beschränktheit. Sie erinnern mich daran, wie viel geeigneter meine ideale Sprache wäre, um meiner gegenwärtigen Frustration mit ausreichend bösartigen Begriffen Ausdruck zu verleihen.

Es gelingt mir nicht, meine künstliche Sprache zu vollenden. Das Vorhaben ist für meine gegenwärtigen Fähigkeiten zu gewaltig. Nach wochenlangen konzentrierten Anstrengungen habe ich nichts Brauchbares zustande gebracht. Ich habe versucht, die Sprache aus bereits vorhandenen Mitteln zu formen, und dazu die von mir bereits früher erfundene, rudimentäre Sprache verwendet, um sie von Grund auf neu zu erschaffen und mit der Zeit immer mehr zu vervollständigen. Doch jede Version macht ihre Unzulänglichkeit nur noch deutlicher und zwingt mich, mein eigentliches Ziel immer weiter aufzuschieben. Das ist auch nicht besser, als wenn ich sie von Grund auf neu, aus dem Nichts heraus erschaffen würde.

Was tue ich mit meiner vierten Ampulle? Ich muss unablässig daran denken. Jede Enttäuschung während meines gegenwärtigen Stillstands erinnert mich daran, dass immer noch weitere Höhenflüge möglich sind.

Natürlich ist es äußerst riskant. Diese Injektion könnte diejenige sein, die zur Hirnschädigung oder zum Wahnsinn führt. Es mag eine Versuchung des Teufels sein, aber nichtsdestoweniger bleibt es eine Versuchung. Ich sehe keinen Grund, ihr zu widerstehen.

Ich hätte ein kleines Sicherheitsnetz, wenn ich mir die Spritze in einem Krankenhaus oder, falls das nicht ginge, mit jemandes Hilfe in meiner Wohnung setzen würde. Aber meiner Meinung nach wird die Injektion entweder erfolgreich sein oder irreparablen Schaden anrichten, daher verzichte ich auf diese Vorsichtsmaßnahmen.

Bei einem Hersteller für medizinischen Bedarf bestelle ich verschiedene Utensilien und konstruiere ein Gerät, mit dem ich mir die Flüssigkeit selbst ins Rückenmark spritzen kann. Vielleicht dauert es mehrere Tage, bis die Wirkung vollständig eintritt, also werde ich mich im Schlafzimmer einschließen. Womöglich kommt es zu einem Gewaltausbruch; daher räume ich alles Zerbrechliche aus dem Zimmer und befestige Riemen am Bett. Die Nachbarn werden das, was sie hören, als Geheul eines Süchtigen interpretieren.

Ich setze mir die Spritze und warte.

Mein Gehirn steht in Flammen. Es ist, als würde mein Rückgrat sich durch die Haut brennen; ich fühle mich wie kurz vor einem Schlaganfall. Ich bin blind, taub, empfindungslos.

Ich halluziniere. Ich sehe die Dinge mit solch übernatürlicher Klarheit und Deutlichkeit, dass es sich um Einbildung handeln muss. Um mich herum werden grauenerregende Dinge sichtbar: nicht physische Gewalt, sondern seelische Verstümmelung. Geistige Höllenqualen, Orgasmen. Tiefes Erschrecken, hysterisches Gelächter.

Für einen kurzen Augenblick komme ich wieder zu mir. Ich liege auf dem Boden, die Hände ins Haar gekrallt, um mich herum einige Haarbüschel, die ich mir ausgerissen habe. Meine Kleider sind schweißnass, ich habe mir auf die Zunge gebissen, und mein Hals ist wund, vermutlich vom Schreien. Nach all den Krämpfen ist mein Körper völlig zerschunden, und angesichts der Prellungen an meinem Hinterkopf habe ich vermutlich eine Gehirnerschütterung, aber ich spüre nichts. Sind zehn Stunden vergangen oder nur wenige Augenblicke?

Dann verschwimmt mir alles vor den Augen, und ich fange wieder an zu schreien.

Kritische Masse.

Offenbarung.

Ich begreife die Funktionsweise meines Denkens. Ich verstehe genau, wie ich weiß, und mein Verständnis ist rekursiv. Ich erfasse die unendliche Tiefe dieser Selbsterkenntnis, nicht durch stetigen Fortschritt, sondern indem ich die Grenze begreife. Mein Denken über mein Denken ist wie ein offenes Buch. Eine neue Bedeutung des Begriffs »Ich-Bewusstsein«. Fiat logos. Ich erkenne meinen Geist in Begriffen einer Sprache, die ausdrucksstärker ist als alles, was ich mir je habe träumen lassen. Wie Gott durch ein Wort Ordnung aus dem Chaos erschuf, erschaffe ich mich mithilfe dieser Sprache völlig neu. Sie beschreibt und erschafft sich selbst; diese Sprache kann nicht nur das Denken, sondern auch ihren eigenen Gebrauch beschreiben und modifizieren, und zwar auf allen Ebenen. Was hätte Gödel gegeben, um eine solche Sprache zu erleben, deren Grammatik sich anpasst, sobald man eine Aussage modifiziert.

Mithilfe dieser Sprache gelingt es mir zu verstehen, wie mein Geist arbeitet. Ich will nicht behaupten, ich könne meinen Neuronen beim Feuern zusehen – dergleichen passt eher zu John Lilly und den Experimenten, die er in den sechziger Jahren mit LSD gemacht hat. Aber ich kann tatsächlich die Gestalten erkennen; ich sehe, wie geistige Strukturen wachsen und interagieren. Ich sehe mich selbst denken und verstehe die Gleichungen, die mein Denken beschreiben, und ich sehe, wie ich selbst die Gleichungen begreife, und ich sehe, wie die Gleichungen das Verständnis ihrer selbst beschreiben.

Ich verstehe, wie daraus meine Gedanken entstehen.

Meine Gedanken jetzt in diesem Augenblick.

Anfangs bin ich von all dem Neuen überwältigt und von der Erkenntnis meiner selbst wie gelähmt. Es dauert Stunden, bevor ich die Flut sich selbst beschreibender Informationen kontrollieren kann. Ich habe sie nicht unterdrückt, ungefiltert werden sie nun Teil meiner Denkvorgänge, sodass ich im Alltag darauf zurückgreifen kann. Bis ich allerdings daraus Nutzen ziehen kann, leicht und mühelos, wie eine Tänzerin, die ihr kinästhetisches Wissen anwendet, wird es länger dauern.

Alles, was ich früher theoretisch über meinen Geist wusste, verstehe ich jetzt ganz genau und bis ins kleinste Detail. Die unterschwelligen Strömungen von Sex, Aggression, der Selbsterhaltungstrieb, durch die Konditionierung während meiner Kindheit in geregelte Bahnen gelenkt, kollidieren mit dem rationalen Denken, verkleiden sich manchmal selbst als Denken. Ich erkenne die tieferen Ursachen aller meiner Launen, die Beweggründe jeder einzelnen Entscheidung.

Was fange ich mit diesem ganzen Wissen an? Über das, was man üblicherweise als Persönlichkeit bezeichnet, kann ich frei verfügen – ich definiere mich jetzt durch die übergeordneten Aspekte meiner Psyche. Ich kann meinen Geist in eine Vielzahl mentaler oder emotionaler Zustände versetzen, bin mir dabei meiner Lage jedoch stets bewusst und immer fähig, meinen ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Nun, da ich die Mechanismen durchschaue, mit deren Hilfe ich früher versucht habe, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, kann ich mein Bewusstsein aufteilen und meine nahezu volle Konzentration, die Fähigkeit, Gestalten zu erkennen, auf zwei oder sogar mehr Probleme gleichzeitig richten, während sie mir auf einer übergeordneten Ebene alle bewusst sind. Gibt es überhaupt etwas, wozu ich nicht in der Lage bin?