13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €
Nur wenn du lügst, kommt die Wahrheit ans Licht ...
Als die 37-jährige Hannah in ihr Elternhaus nach London zurückkehrt, um ihren schwer dementen Vater zu versorgen, erwartet sie eine Überraschung. Er hält sie fälschlicherweise für ihre Mutter, die vor Jahren unter mysteriösen Umständen starb. Hannah steht unter Schock, vor allem weil ihr Vater sie immer wieder um Verzeihung bittet. Weiß er doch mehr über den Tod ihrer Mutter, als er damals zugeben wollte? Ist er vielleicht sogar schuld daran? Um die Wahrheit herauszufinden, schlüpft Hannah mehr und mehr in die Rolle ihrer Mutter und ahnt nicht, dass sie damit die düsteren Ereignisse der Vergangenheit unabwendbar heraufbeschwört …
Lieferbarkeit in zwei Versionen (mit und ohne Farbschnitt). Es wird je nach Verfügbarkeit geliefert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Buch
Als die 37-jährige Hannah in ihr Elternhaus nach London zurückkehrt, um sich um ihren schwer dementen Vater zu kümmern, erwartet sie eine Überraschung. Er hält sie fälschlicherweise für ihre Mutter, die vor Jahren unter mysteriösen Umständen starb. Hannah steht unter Schock, vor allem weil ihr Vater sie immer wieder um Verzeihung bittet. Weiß er doch mehr über den Tod ihrer Mutter, als er damals zugeben wollte? Ist er vielleicht sogar schuld daran? Um die Wahrheit herauszufinden, schlüpft Hannah mehr und mehr in die Rolle ihrer Mutter und ahnt nicht, dass sie damit die düsteren Ereignisse der Vergangenheit unabwendbar heraufbeschwört …
Weitere Informationen zu Liz Webb finden Sie am Ende des Buches.
Liz Webb
Das Waldhaus
Jede Lüge führt dich näher an die Wahrheit
Roman
Aus dem Englischen von Ivana Marinović
Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Daughter« bei Allison & Busby, London.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2023 by Elizabeth Anne Linden
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Quitten: FinePic®, München; Motte: FinePic®, München, Gartentor: © Irene Lamprakou / Trevillion Images (ILU117447.jpg) RM
Redaktion: Christine Neumann
LK · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-29455-7V002
www.goldmann-verlag.de
Für Andy und Archie
Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.
Genesis 2, 16 – 17
Normale Menschen essen keine rohen Quitten. Doch ich versenke die Zähne in der pelzigen Haut eines prallen gelben Exemplars, und sofort zieht die Bitternis des Fruchtfleischs mir Gaumen und Gesicht zusammen. Die Quitte habe ich gestern Nacht, gegen zwei Uhr früh, vom Baum im Vorgarten meines Vaters gepflückt, als ich seiner Trage zum Rettungswagen folgte. Er befand sich auf Messers Schneide, aber heute Vormittag ist Dad wieder stabil und dämmert in seinem hohen, akkurat bezogenen Krankenhausbett vor sich hin. Der Ausblick hier oben, aus dem neunten Stock des University College Hospital, ist spektakulär, aber Dad bekommt davon nichts mit. Ich lehne die Stirn gegen das große umlaufende Eckfenster und bedampfe das Glas mit einem Kreis meines Quittenatems.
»Wo ist Feynman?«, meldet sich Dad plötzlich.
Ich setze ein Lächeln auf und drehe mich zu ihm um. »Er ist zu Hause«, antworte ich.
»Warst du mit ihm Gassi?«
»Ja, ich bin heute früh mit ihm um den Block.«
Dad nickt.
Ich nehme den zerkratzten Plastikbecher von Dads Tablett mit dem unangerührten Mittagessen und hebe den biegbaren Trinkhalm an seinen Mund.
»Wo ist Feynman?«, wiederholt Dad.
»Er ist tot«, murmle ich.
»Wann ist er gestorben?«
»Vor dreiundzwanzig Jahren.«
Dad nickt erneut.
Als ich den Becher auf dem wischfesten Tisch über dem Bett abstelle, schweift mein Blick zu dem reglosen alten Mann im Bett gegenüber und der neben ihm sitzenden schwitzenden Frau, die in dicken Wollstrümpfen steckt, obwohl es für September recht mild ist.
»Wo ist Feynman?«, fragt Dad schon wieder.
»Wer ist Feynman?«, entgegne ich unwirsch.
»Unser Hund!«
»Hab noch nie von ihm gehört.«
Bei dieser letzten Entgegnung sehe ich Panik in Dads wässrigen Augen aufflackern. Herrje. Was soll’s, dass wir dieses Gespräch heute schon zehnmal geführt haben. Immerhin bringt sich mein gebrechlicher, zerschlagener Vater die fünfzehn Sekunden, die es dauert, aktiv ein. Als ich mir mit dem Unterarm übers Gesicht wische, bleibt eine feuchte Schneckenspur meiner Tränen darauf zurück.
Feynman war ein wunderschöner goldener Labrador, der mir und meinem Bruder Reece gehörte, als wir noch Kinder waren. Er war nach Dads persönlichem Helden, dem schrulligen Quantenphysiker Richard Feynman, benannt. Beide Feynmans sind schon lange tot. Und wie der Zufall es will, erlagen sie beide einem Nierenleiden. Feynman der Physiker starb 1988, und seine letzten Worte lauteten angeblich, dass Sterben langweilig sei. In Anbetracht von Dads schleichendem Verfall die letzten sechs Monate, seit ich bei ihm eingezogen bin, kann ich ihm nur von ganzem Herzen beipflichten. Zumindest aus meiner Warte. Da Dad mittlerweile über das Gedächtnis eines Goldfischs verfügt, ist er sich seines nahenden Todes entweder völlig unbewusst, oder aber die Erkenntnis holt ihn wie ein fürchterlicher Schock tagtäglich immer wieder von Neuem ein. Ich hoffe aufrichtig, dass Ersteres der Fall ist. Reece, der schon immer mein genaues Gegenteil war, würde auf Letzteres hoffen.
Feynman der Hund starb 1996 infolge einer Niereninsuffizienz. Laut unserer Tierärztin, der blöden Kuh, war diese durch »eine mangelhafte Mundhygiene« herbeigeführt worden, und das trotz des fast schon religiösen Eifers, mit dem ich ihm seine besabberten Beißerchen schrubbte. Nachdem Feynman von der Tierärztin friedlich eingeschläfert worden war, hielten wir eine Familienbestattung im Garten ab. Ich hatte eines meiner schwarzen knielangen Schlabber-T-Shirts an, die ich mit vierzehn vornehmlich trug, als ich Feynman sein liebstes (und offenbar unnützes) Kauspielzeug mit ins Grab warf. Reece, der in seinem neuen Designeranzug steckte, den Mum ihm gerade erst zu seinem Achtzehnten gekauft hatte, warf ein Snoop-Dogg-Album hinterher. Dad, die Hände in den Taschen seiner kastanienbraunen Strickjacke vergraben, beweinte den herzzerreißenden Verlust seines langjährigen Gefährten offen. Und meine schöne Mutter, hinreißend in ihrem engen schwarzen Etuikleid, lehnte sich Halt suchend an meinen Vater, da ihre schwindelerregend hohen Stilettos mit den knallroten Sohlen im Gras versanken. Damals erschien mir das Ganze furchtbar traumatisch – aber ich hatte ja keine Ahnung von dem Orkan aus Hass und Schuldzuweisungen, der sich, nur drei Wochen später, um das Begräbnis meiner Mutter entfesseln würde.
»Wie geht es ihm denn?«, ruft die Wollstrumpffrau von der anderen Seite der makellosen Krankenstation rüber, wobei sie auf Dad zeigt.
»Mhmm«, brumme ich in der Hoffnung, dass sie mich, wenn ich jeglichen Blickkontakt vermeide, in Ruhe lassen wird. Ganz mein Glück wieder mal, dass Dad gegenüber dem einzigen anderen Patienten der voll besetzten Achtbettenstation liegen muss, der ebenfalls Besuch hat.
»Ihr Vater?«, erkundigt sie sich.
»Mhm.«
»Demenz?«
»Mhm.«
»Genau wie mein Vater«, sagt sie, auf den Bettlägerigen deutend. Sie spricht mit einem harten Akzent, den ich nicht einordnen kann. Ihr Vater unter der recht unkonventionellen gelb, grün und rot gestreiften Tagesdecke, die grell unter den anderen sieben blauen Bettbezügen hervorsticht, reagiert nicht.
Wie konnte mein einst so dynamischer, sportlicher Dad nur in diesem Kloster dämmernder Erinnerungen landen?
»Ist schlimme Sache, diese Demenz«, fährt sie fort. »Kappt die Menschen ab.«
»Mhm.«
Wie viele »Mhms« wird es wohl brauchen, um ihren Redefluss zu stoppen?
Sie wäre sicher entsetzt, sollte mir rausrutschen, dass Demenz nicht nur was Schlechtes ist. Aber für Dad hat sie nun mal einen makabren Vorteil: Er erinnert sich an praktisch nichts mehr aus den letzten dreiundzwanzig Jahren. Seine Zeitreisen führen ihn meist weit in die Vergangenheit zurück, als Mum noch lebte, als ich interessante Kieselsteine sammelte statt nervöser Ticks, und als Reece Dad nur »komplett daneben« nannte, wenn der behauptete, dass die Tottenham Hotspurs die Champions League gewinnen könnten.
Wie auch immer, Dad hat jetzt größere Probleme. Als die Notfallsanitäter gestern Nacht eintrafen, lag er, kaum noch atmend, am Fuß der Treppe, den linken Arm in einem unnatürlichen Winkel unter sich vergraben. Heute früh dann bekam ich mitgeteilt, dass er sich das Schlüsselbein gebrochen habe, aber so alt sei, dass man es nur sporadisch zusammenwachsen lassen würde; außerdem, dass es zu früh sei, um zu sagen, ob seine gegenwärtige Verwirrung der Gehirnerschütterung oder doch seiner normalen Demenz anzulasten sei. Das Schlimmste jedoch, auch wenn es nichts mit dem Sturz zu tun hat, war die Überraschung des Arztes, dass ich, als Dads Pflegerin, nichts von seinem fortgeschrittenen Prostatakrebs wusste. Jegliche Hoffnung auf Heilung sei vergebens, aber man habe ihm Morphin verabreicht, da man davon ausgehen muss, dass er beträchtliche Schmerzen leidet.
»Gute Birne?«, erkundigt sich Wollstrumpf und deutet auf die Quitte, an der ich mümmle. Sie hat die gleiche spitze Nase wie ihr nicht ansprechbarer Vater – ein bisschen wie Papa Spitznase und Tochter Spitznase aus einem lustigen Zeichentrickfilm über eine glückliche Spitznasenfamilie. Ich selbst bin kein erkennbares Teil einer Familie. Ich habe zwar Dads früher mal braunes Haar geerbt, jedoch nicht seine einst feinen Gesichtszüge oder seinen strammen Fahrradfahrerkörper. Überhaupt habe ich meinen Eltern nie geähnelt, weder meinem attraktiven, drahtigen Vater, noch meiner wunderschönen, gertenschlanken Mutter – obwohl der ganze Stress, meine beschämenden Geheimnisse zu verbergen, mich dieses Jahr um gefühlt die Hälfte meines Körpergewichts gebracht hat und ich gelegentlich mit Befremden meine, in einer spiegelnden Schaufensterscheibe Mums Silhouette in meiner zu erhaschen.
»Die Birne?«, wiederholt Wollstrumpf. Ihre zierlichen weißen Stiefeletten quietschen auf dem hellgrauen Linoleum, als sie sich zu mir umdreht. »Ist sie saftig? Ich kaufe mein Obst immer auf dem Markt. So kann ich anfassen, bevor ich kaufe.«
»Mhm«, erwidere ich.
»Haben Sie noch eine?«, fragt sie trotz meiner Mauer aus »Mhms« unverdrossen optimistisch.
»Ah-ahmm«, verneine ich kopfschüttelnd.
Ich habe noch vier in meiner Tasche, aber wozu ihr den Tag noch mehr vermiesen? Es handelt sich nun mal nicht um süße, saftige Birnen; das hier sind harte, fiese Quitten. Quitten werden normalerweise nur gegart verzehrt. Zu schlotziger blassrosa Marmelade verkocht, die niemand, der bei rechtem Verstand ist, essen würde, wenn es als Alternative Erdbeere, Himbeere oder eigentlich egal welche Kackbeere gäbe. Rohe Quitten sind sogar noch widerlicher. Und diese hier sind ganz besonders ungenießbar, da sie weit vor ihrer Zeit sind. Trotzdem, ich habe ihnen die letzten sechs Monate im Vorgarten meines Vaters ungeduldig beim Wachsen zugesehen und verzweifelt darauf gewartet, dass sie reiften, da sie mich so sehr an Mum erinnern. Sie war eine fürchterliche Köchin, aber jeden Herbst wieder verkündete sie: »Die Früchte sind reif«, schlang sich theatralisch ein Tuch um den Kopf und veranstaltete ein Riesenschauspiel daraus, unsere Quitten mit einem hübschen Weidenkorb zu »ernten«. Danach lagerte sie die Früchte behutsam für ein paar Wochen ein, damit sie schön weich wurden, wobei sie sie immer wieder einzeln überprüfte wie kostbare Schätze. Und dann, endlich – eine alberne Rüschenschürze umgeknotet und zum Radio mitträllernd –, verbrachte sie Stunden damit, sie mit bergeweise Zucker einzukochen, um kübelweise Marmelade herzustellen.
Ich verspüre nicht den Wunsch, die schleimige Pampe selbst zu fabrizieren, aber um mich mit meiner lebhaften, unerreichbaren Mutter zu verbinden, genieße ich es, diese Quitte roh zu verspeisen. Es gibt mir das Gefühl, hier zu sein – ganz in diesem Moment. Die pralle, holzige Schale, die sich unter meinen Zähnen spaltet; das mürbe Fruchtfleisch, das zerbröselt, während es in meinem Mund herumgewälzt wird wie in einem Zementmischer; der bittere Saft, der in meinen rissigen Lippen brennt und meine trockene Kehle verätzt. Ich sollte diese Gesamterfahrung als Abkürzung zu diesem ganzen Achtsamkeits-Quatsch vermarkten.
»Dschinn«, ächzt Dad, wobei seine rechte Hand ausschlägt und gegen den Tisch knallt, sodass die Brühe aus dem Becher schwappt und etwas, das aussieht wie Erbsenpartikel, in alle Richtungen davonfliegt.
»Vorsicht, Dad. Keine Dschinns hier, nur ich«, sage ich, während ich den Tisch Richtung Fußende rolle, damit er sich nicht wehtut.
»Ähnn!«, fährt er fort und sieht mich eindringlich an.
»Ich verstehe nicht, Dad. Was sagtest du?« Ich beuge mich vor, wobei ich Seife und Brühe einatme.
»Jen.«
Oh. Das ist jetzt neu. Ich schätze, mein abgespeckter Körper hat seinen schlechten Augen einen Streich gespielt.
»Nein, Dad, nicht Jen. Ich bin nicht Mum. Ich bin Hannah. Han-nah.«
»Tut mir leid«, krächzt er.
»Ist schon gut, du musst dich nicht …«
»Es tut mir so leid, Jen«, unterbricht er mich und greift nach meinem Arm.
Ich reiße mich los, verstört, weil er mich so berührt, als wäre ich Mum. Als mir dabei eine lose Strähne ins Gesicht fällt, wird mir bewusst, dass mein Haar noch nie so lang war. Mums Länge. Ich hatte als Kind einen braunen Bob, schnippelte ihn nach Mums Tod raspelkurz ab und wechselte dann wild zwischen kahl rasiert und dauergewellt ab, zwischen Grün, Blau und spitzen Tigerstreifen – alles, um mein mir entgleitendes Leben mit drastischen Neufindungsversuchen in den Griff zu bekommen. Doch seit ich mich auf den Weg des geringsten Widerstands verlegt habe, ist mein Haar zu einer faden braunen Version von Mums langer blonder Mähne ausgewachsen. In Kombination mit meinem krassen Gewichtsverlust hat es offenbar die Wirkung von einem Mentos-Kaubonbon, das man in das Cola-Light-Hirn meines Vaters geworfen hat und das nun einen Schwall abgekapselter Erinnerungen aufschäumen lässt.
»Was tut dir leid?«, frage ich leise.
Geschmeichelt, dass Dad meine nervöse, aufgekratzte Wenigkeit überhaupt mit meiner selbstbewussten, charismatischen Mutter verwechseln könnte, gebe ich mich für einen Moment dieser völlig absonderlichen Vorstellung hin, und meine sonst so gebückte Haltung entspannt sich zu ihrer Nonchalance. Mich mit ihrer Lockerheit zu bewegen, während ich gleichzeitig den exotischen Quittenduft einatme, der aus meiner Tasche dringt, lässt den Funken einer tief sitzenden Erinnerung in mir aufflackern: Mum, wie sie Dad mit einem ihrer schnörkelig verzierten Löffelchen mit Quittenmarmelade füttert. Er musste lachen, sodass er versehentlich ein bisschen davon ausspuckte, woraufhin sie mit einem Schwung ihres Haars den Kopf in den Nacken warf und ihr hohes Lachen ausstieß, das wie ein jaulender kleiner Fuchs klang. Reece und ich verdrehten die Augen über ihre Albernheiten, aber sie fuhr nur damit fort, die Marmelade in unseren Dad hineinzulöffeln, als wäre sie eine dickbusige, missbilligende Matrone, die einem Kind Medizin einflößt. Bald schon kugelten wir uns alle vor Lachen, hielten uns die Bäuche und flehten sie an aufzuhören.
Ich vermisse ihre Albernheiten. Vermisse es, wie sie einen ganzen Raum damit anstecken konnte. Vermisse es, wer ich in ihrer Gegenwart war. Die Zeit hat mich nicht geheilt. Sie hat mich nur verhärten lassen.
»Aaargh!«, schreit Dad. Seine schmalen Lippen teilen sich, seine winzigen Pupillen weiten sich zu schwarzen Scheiben, und die Spur von Farbe in seinen Wangen verwischt zu einem klammen Grau.
Ich tätschle sanft seine heile Schulter, wobei ich das vogelgleiche Gerippe unter dem Krankenhaushemd spüren kann. »Ist schon gut, Dad, alles gut.«
Sein Mund öffnet sich zu einem breiten Lächeln.
Nur dass es kein Lächeln ist.
Sondern eine Grimasse. Seine dünne Haut spannt sich straff um den klaffenden Mund – das gelbe Gebiss entblößt, die Zunge spitz und reptilienhaft rausgestreckt.
Die Erinnerung an Mum hat scheinbar einen Herzanfall ausgelöst.
»Hilfe, bitte helfen Sie uns!«, rufe ich.
Doch als ich einen Schritt vom Bett wegmache, schießt seine rechte Hand vor, und er packt meinen Oberarm mit verblüffender Kraft. Seine spröden Fingernägel schrammen über meine Haut, als er sich mit speicheltriefendem Kinn hochzerrt; und wie er sich so abrupt aufsetzt, werde ich gleichzeitig nach vorne gerissen und unsere Stirnen knallen aneinander. Der einschießende Schmerz lässt mich den Halt verlieren, und ich falle vornüber aufs Bett, wobei ich mir den Ellbogen an der Bettkante prelle. Ich versuche, mich aufzurichten, aber Dad drückt mich weiter runter, wobei seine Fingernägel meine Haut aufreißen.
»Jen!«, fleht er.
»Hör auf, Dad«, bitte ich, während ich mich abmühe, auf die Füße zu kommen und mich aus seinem Griff zu winden.
»Ist was passiert?« Wollstrumpf springt erschrocken von ihrem Stuhl auf.
»Holen Sie Hilfe!«, rufe ich, und sie eilt über den Gang davon.
Als ich mich hochstemme, hebe ich Dad mit mir hoch. Ich zwänge meine Finger unter seine, versuche, ihm dabei nicht wehzutun, doch er klammert sie sofort wieder um meinen Arm.
»Es tut mir so leid, Jen«, flüstert er, wobei seine Lippen mein Ohr streifen, sein warmer Atem säuerlich an meinem Hals. »Ich wollte das nicht.« Er dreht den Kopf so, dass ich ihm unmittelbar in die aufgerissenen, starren Augäpfel blicke.
»Wolltest was nicht?«, keuche ich, immer noch herumfummelnd, um seinen unnachgiebigen Griff zu lösen.
»Dich …«
Doch bevor er noch ein weiteres Wort sagen kann, gelingt es mir endlich, alle seine Finger gleichzeitig abzuschälen, und er bricht auf dem Bett zusammen. Um Atem ringend, taumle ich zurück und umklammere meinen pulsierenden Arm, an dem das Blut unter meiner Hand hervorsickert.
»Ich bin Hannah, Dad«, schluchze ich. »Ich bin deine Tochter. Mum ist … nicht hier.«
Wollstrumpf ruft etwas in der Ferne.
Dad liegt reglos auf dem Bett und starrt an die Decke, als sei die letzte Minute nie passiert.
Aber sie ist passiert.
Er dachte, er würde mit Mum reden, und er hat sie um Verzeihung gebeten. Seine Entschuldigung könnte sich auf so gut wie alles beziehen – den Müll nicht rausgebracht zu haben, einen Streit, sogar eine Affäre. Doch der Damm in meinem Kopf bekommt Risse, und die Erinnerungen schießen nur so durch den bröckelnden Schutzwall. Als ich Dads Beine betrachte, erinnere ich mich an die Zeit, als sie noch muskulös und flink waren; als ich seine altersfleckigen, knotigen Hände anstarre, sehe ich die kraftvollen, breiten Pranken von einst; und als ich meinen tränenvernebelten Blick zu der blassvioletten Ader an seiner Schläfe hebe, erinnere ich mich an ihr heftiges Pulsieren in Momenten der Anstrengung – oder des Zorns.
Ich beuge mich vor und flüstere die Frage, von der ich seit dreiundzwanzig Jahren nicht zugelassen habe, dass ich sie ausspreche.
»Dad, hast du Mum ermordet?«
»Hannah Davidson?«, ertönt eine schneidende Stimme hinter mir.
»Ja?« Ich drehe mich um. Es ist eine schlanke Frau mittleren Alters mit einem blonden Bob und dieser gewissen unmerklichen, aber doch vorhandenen Make-up-Schicht auf dem Gesicht. Wollstrumpf muss sie zu Hilfe gerufen haben. Nur sieht sie nicht aus wie eine Pflegerin, mit dem beigen Bleistiftrock und der gleichfarbigen Seidenbluse, die förmlich wirken soll, jedoch in der Art, wie sie sich locker um ihre Oberweite schmiegt, auch unaufdringlich sexy ist. Vielleicht ist sie die Oberärztin.
»Danke, aber es geht ihm schon wieder gut«, sage ich und versuche, meine Atmung zu verlangsamen.
»Dürfte ich wohl ein Wort mit Ihnen sprechen, Miss Davidson?« Ihr Blick huscht zu Dad, der halb vom Bett hängt.
»Wir kommen klar, wirklich«, versichere ich, während ich Dad wieder auf seine Kissen bette. Wie viel von der ganzen Sache hat sie mitangesehen?
»Ich muss mich unter vier Augen mit Ihnen unterhalten«, fährt sie unbeirrt fort, und ihre Augen zucken zu meinem blutenden Arm. »Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Keine Frage – ein Befehl.
»Aber weswegen?«
Sie bedenkt mich mit einem milden Halblächeln, wie zu einem Baby auf dem Töpfchen. »Da entlang«, sagt sie und geht voran.
Ich bin siebenunddreißig, fühle mich jedoch wie ein Schulkind, das zur Direktorin zitiert wurde. Ich ziehe mir meinen formlosen grauen Pulli über, um meinen Arm zu bedecken, rücke den Bund meiner absurd locker sitzenden Hose höher und schlüpfe in meine Turnschuhe, wobei ich die Fersen auf Anhieb nicht ganz reinkriege, sodass ich unbeholfen hinter ihren klackernden beigefarbenen Pumps herschlurfen muss.
Ich werfe einen Blick zu meinem armen Vater zurück. Warum habe ich nur plötzlich an ihm gezweifelt? Er ist auf seinem Kissenberg bereits eingeschlafen, wobei er wie eine verschrobene Version der Prinzessin auf der Erbse aussieht. Im Gegensatz zu jener sensiblen Königstochter habe ich jedoch noch nicht einmal ein Korn des Zweifels, das mich quält. Dads wirre Entschuldigung an »Mum« hat zwar kurz mein verkatertes Hirn ins Schlingern gebracht, aber ich weiß, dass Dad unschuldig ist – jede Zelle, jedes Atom, jedes noch so kleine Partikelchen in mir surrt vor Gewissheit.
Miss Beige-Pumps hat bereits einen Raum neben der Schwesternstation betreten. Der ist mir zuvor schon aufgefallen – ganz klar ein »Schlechte Neuigkeiten«-Zimmer. O Gott, ja, sie ist die Oberärztin hier … mit furchtbaren Neuigkeiten. Es ist Freitag, der Dreizehnte, natürlich passiert es heute. Ich folge ihr in das penibel aufgeräumte kleine Büro. Sie lässt sich hinter dem Schreibtisch nieder.
»Setzen Sie sich«, sagt sie knapp, auf einen grauen Plastikstuhl deutend. Die Tür hinter uns ist zugefallen, doch sie streckt den Arm aus und zieht sie fester heran, um auch den Schnapper einrasten zu lassen.
»Philip Davidson ist Ihr Vater, ja?«
Ich nicke. Jetzt kommt’s. Und es geht nicht mehr nur um das Sterben auf Raten, das Dad die letzten Monate betrieben hat. Das hier ist die knallharte Version. Nun werden Dad und seine braunen Augen, seine betretenen Blicke beim Küssen und seine ausgelassene Art zu tanzen, bei der er immer Kastagnettenbewegungen vollführte, in einer Kiste verbrannt. So wie Mum. Alles um mich herum erscheint auf einmal krass scharf umrissen: der Monitor und die präzise ausgerichtete Tastatur, das Zickzack-gelenk der weißen Schreibtischlampe, die Furchen zwischen den strapazierfähigen grauen Teppichfliesen. Das ist der letzte Moment, danach gibt es kein Zurück. Fünf, vier, drei …
»Nun, Miss Davidson, im Falle einer Verletzung wie der Ihres Vaters, wenn die begründete Sorge vorliegt …«
Mein Kopf schnellt hoch. »Wie bitte?«
Ihr Gesicht ist eine reaktionslose Maske. »… sieht das Krankenhausprotokoll vor, die häusliche Situation zu überprüfen. Die Sanitäter, die Ihren Vater abholten, haben hier vermerkt, dass Sie einen«, sie blickt in ihre Notizen, »konfusen Eindruck machten.« Ihre mattbeigen Lippen teilen sich leicht, während sie den Kopf schräg legt.
»Ich? Nein.«
»Konfus und«, sie schaut noch mal nach, »desorientiert.«
»Na ja, es war mitten in der Nacht, also war ich wohl etwas neben der Spur.«
Sie notiert mit ihrem glänzenden bordeauxroten Füllfederhalter etwas in ihrer Akte. Ich rücke auf meinem harten Sitz hin und her.
»Und hier steht, dass Sie nach Alkohol rochen?«
»Nein! Ich meine, ja, ich hatte am Abend was getrunken.«
Sie notiert etwas.
»Aber das ist ja nicht verboten.« Meine Stimme ist zu laut.
»Und Sie sagten den Sanitätern, dass Sie Ihren Vater am Fuß der Treppe ›gefunden‹ hätten.«
Ich muss husten und schlage mir gegen die Brust.
»Möchten Sie etwas Wasser?«
Ich nicke, und sie gießt mir ein Glas ein. Ich kippe es runter und nehme einen tiefen Atemzug.
»Ich habe meinen Vater nicht ›gefunden‹ – ich habe ihn gefunden. Am Fuß der Treppe. Wo er hingefallen war.« Aufwachen, Hannah, das hier ist offiziell, mit echten Konsequenzen!
»Das Krankenhaus ist bei gewissen Anzeichen rechtlich dazu verpflichtet, häuslichen Unfällen auf den Grund zu gehen«, erwidert sie, eine ihrer stilvoll gezupften Augenbrauen wölbend, »um eine Misshandlung hilfsbedürftiger Personen auszuschließen. Ich bin sicher, Sie verstehen, dass diesem Protokoll Folge geleistet werden muss.«
Ich nicke und muss mir Mühe geben, dass meine Augen vor lauter Panik nicht hervorglupschen.
»Ich bin hier, um mir ein Bild sowohl über die Sicherheit des Patienten als auch die Bedürfnisse der Betreuungsperson zu machen. Könnten Sie mir die Lebenssituation Ihres Vaters schildern?«
Meine Güte, sie hat diese »unverbindliche« Art echt verinnerlicht. Aber vielleicht hat sie recht damit, sich mit mir zu unterhalten. Vielleicht ist mein ureigenes Chaos in Dads Leben hinübergeschwappt. Sicher wäre nichts von alldem passiert, wenn der gute, alte Reece sich der Sache angenommen hätte. Und so schmerzhaft es auch ist, an meinen Bruder zu denken, versuche ich doch, seine unbeirrbare Coolness in mir zu mobilisieren, um diese beigefarbene Bedrohung abzuwehren.
»Ich lebe zurzeit bei meinem Vater«, beginne ich langsam. Seit ich nach London zurückgekehrt bin, fort von den verschreibungspflichtigen Antidepressiva meines Arztes in Brighton, ist mein Hirn bestenfalls am Rotieren, doch in Stresssituationen wie diesen befinde ich mich in einer regelrechten Achterbahn. Also erinnere ich mich an das, was Reece mir einmal gegen die Übelkeit beim Autofahren beigebracht hatte – nämlich einen Punkt in der Ferne zu fixieren –, und starre zwei Dellen in dem grauen Teppichboden an. »Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Letztes Jahr hatte ich zwei Pflegekräfte organisiert, aber er hatte generell Probleme damit … sich an Dinge zu erinnern, sich zurechtzufinden, sich um sich selbst zu kümmern.«
»Mhmm«, macht sie unverbindlich, um mir genug »Zeit zum Erklären« zu geben – beziehungsweise genug Stricke, um mich zu Fall zu bringen.
Reece meinte mal, er habe es bloß mit Blickkontakt und seiner Fähigkeit, sich zu verkaufen, an die Uni nach Cambridge geschafft. Also schaue ich ihr direkt in die Augen und filetiere innerlich meine jüngste Lebensgeschichte fein säuberlich, um ihr das beste Stück davon zu präsentieren.
»Mein Vater braucht mich. Also habe ich vor sechs Monaten meine Wohnung in Brighton aufgegeben, meinen Job an den Nagel gehängt und bin bei ihm eingezogen, um ihn Vollzeit zu pflegen«, erkläre ich, wobei ich zweckdienlich meine großzügigen Auslassungen umschiffe. »Mir ist bewusst, dass mein Vater sich um Arztbesuche gedrückt hat, aber er versicherte mir, dass alles in Ordnung sei. Ich kann nicht glauben, dass ich nichts von seinem Prostatakrebs gemerkt habe.«
»Dann schildern Sie mir doch bitte genau, was gestern Abend passiert ist.«
»Na ja, das Übliche. Wir gingen zur üblichen Uhrzeit nach oben. Er hat immer Wasser neben dem Bett stehen, einen Nachtstuhl, und er ruft mich, wenn er etwas braucht. Ich schlafe im Zimmer direkt darüber und lasse alle Türen auf. Er ist noch nie nachts herumgelaufen – ich habe keine Ahnung, warum er es gestern Nacht getan hat.«
Sie nickt, dann erwische ich sie dabei, wie ihr Blick zur Armbanduhr huscht. Sie will das hier hinter sich bringen. »Glaubwürdige Details«, flüsterte Reece mir damals zu, als wir es unserem Hund Feynman in die Schuhe schieben wollten, die Hälfte des Bananenkuchens gefressen zu haben, den Dad frisch gebacken hatte.
»Wahrscheinlich ist mein Vater über den Kater gestolpert«, sage ich. »Er hat diesen uralten Stubentiger namens Schro, der sich einem bei buchstäblich jedem Schritt um die Beine klebt – ich wäre schon zigmal beinahe über ihn gestürzt.«
Die Frau zeigt wieder das milde Halblächeln. Ist das beigefarbene Blatt etwa dabei, sich zu wenden?
»Ich bin in der Nacht runtergegangen, um mir Wasser zu holen, und habe Dad am Fuß der Treppe gefunden. Ich schätze mal, ich war ziemlich gestresst, als die Sanitäter kamen – ich dachte, er wäre tot.« Mein Bruder Reece konnte aufs Stichwort weinen, wenn er bei seinen Romeo und Julia-Aufführungen in der sechsten Klasse Julias leblosen Körper fand, indem er sich ein Nasenhaar rausriss. Als Miss Beige gerade in ihre Akte schaut, klammere ich rasch meine Fingernägel in ein Nasenloch und ziehe fest. Jesus, tut das weh.
»Brauchen Sie ein Taschentuch?«, fragt Miss Beige besorgt, als sie aufschaut, und reicht mir eine Schachtel Kleenex vom Tisch.
»Danke.« Was stimmt nur nicht mit mir, dass ich mich selbst quälen muss, um Emotionen zu zeigen, die ich tatsächlich fühle?
»Es kann schwer sein, in die Rolle des Betreuers hineinzuwachsen«, sagt sie. »Sie sollten sich Rat von unserem Pflegeteam holen – falls Ihr Vater nach Hause zurückkehrt.«
Falls?
»Ich kann Ihnen Broschüren zu Hilfsangeboten mitgeben.«
»Danke.« Die Stimmung hat sich definitiv gewendet. Ich bin für alles gewappnet, wenn sie auf Angriff gepolt bleiben sollte. Bald bin ich hier hoffentlich draußen.
»Haben Sie Familie?«, erkundigt sie sich. »Geschwister?«
»Nein.« Ich umklammere den metallenen Stuhlrahmen.
»Oh?«, macht sie und legt den Kopf schräg, als sich auch schon kräuselnde Falten auf der schuppig beigen Haut zwischen ihren Augen bündeln. Kann sie das womöglich überprüfen?
»Oh, doch, tut mir leid«, stoße ich ein ersticktes Lachen hervor, »rein theoretisch habe ich einen Bruder. Will sagen, ich habe einen Bruder – aber wir stehen uns nicht nahe.« Untertreibung des Jahrtausends.
»Das alles ist viel Druck für einen allein. Ihr Bruder würde Ihnen unter diesen Umständen doch sicher unter die Arme greifen?«
»Das würde er sicher, ja.« Ha, von wegen.
»Falls Ihr Vater nach Hause zurückkehrt, wird er eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung benötigen. Und irgendwann …« Wir halten beide gewichtig inne – zwei Erwachsene, die wortlos die unausgesprochene, drohende Möglichkeit zur Kenntnis nehmen. »Ich sehe hier, dass niemand die Vorsorgevollmacht für ihn hat?«, bemerkt sie, ihre Notizen überfliegend. »Das Krankenhaus hat für die gestrige Notfallbehandlung keine Erlaubnis benötigt, aber es werden weitere Entscheidungen anstehen …« Erneut legt sie ihre kunstvolle Pause ein, und ich möchte ihr am liebsten einen Klaps auf den Hinterkopf geben, damit sie die Worte ausspuckt. »Unter anderem, ob in Zukunft medizinische Maßnahmen ergriffen werden sollen. In Anbetracht seines sich rapid verschlechternden Zustands wäre es nur umsichtig von Ihnen und Ihrem Bruder, sich darum zu kümmern.«
Sie reicht mir ein Faltblatt mit der Überschrift Vorsorgevollmacht über dem Foto einer Frau, die gütig auf ihren älteren Verwandten hinablächelt, während sie ihm eine Tasse Tee reicht. Wenn auch mit einem Funkeln in den Augen, als würde sie sagen: »Nipp ja vorsichtig an dem Tee, denn ab sofort treffe ich alle medizinischen und finanziellen Entscheidungen, und wenn du dich verschluckst, lasse ich dich daran abkratzen, um an deine ganze Kohle zu kommen.«
»Sie sollten mit Ihrem Bruder reden.«
Hab ihn ja bloß seit fünfzehn Jahren nicht mehr leibhaftig gesehen.
»Und mit Ihrer sonstigen Familie.«
Keine da.
»Und Ihrem breiteren sozialen Umfeld.«
Soziales wie bitte was?
»Die Leute sagen, es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen, aber es braucht auch ein ganzes Dorf, um einem Menschen beim Sterben zu helfen.«
Ja, aber was, wenn dein Vater der Bösewicht ist, der aus dem Dorf gejagt wurde?
»Sie müssen das nicht allein stemmen, wissen Sie. Die meisten Menschen meinen es von Grund auf gut.«
Ach, wirklich! Tja, Sie Glückspilz, das Leben muss es echt gut mit Ihnen gemeint haben, dass Sie so etwas als Tatsache in den Raum stellen.
»Haben Sie einen Partner, der Ihnen helfen kann?«
»O ja.« Gelogen. »Und Freunde.« Gelogen. »Wirklich, mir geht’s gut.« Gelogen. »Ich schätze, ich muss meine Bedürfnisse mehr nach außen kommunizieren.« Würg.
Sie lächelt. Meine Worte scheinen genau die richtige Form für die Löcher in ihrem Klotz aus Erwartungen zu haben.
»Und Sie haben vor, bei Ihrem Vater zu bleiben?«
»Natürlich.« Wohin soll ich auch sonst gehen nach dem Desaster, das ich aus meinem Leben gemacht habe. »So lange, wie er … mich braucht.«
Unsere Augen begegnen sich. Scheiß auf diesen wissenden Blick. Ich bin noch ein Kind, will ich schreien, können Sie nicht sehen, dass ich diese ach so erwachsene Gefasstheit nur vortäusche? Wie können Sie mir das nur ernsthaft abkaufen? Aber die Blubberblase ihres geistigen Niveaus hat sich schon gesetzt. Sie kann ein Häkchen an ihr Kästchen machen, die Akte ablegen und mit mir abschließen.
»In Ordnung«, sagt sie nach einer letzten Notiz. »In Anbetracht dessen, dass es keine früheren Vorfälle gab und Sie über ein Bewusstsein Ihrer Lage zu verfügen scheinen, werde ich hier nicht weiter ausgreifen, solange es keine weiteren Bedenken gibt.«
»Wird es nicht geben. Ehrlich. Das hier war auch ein Weckruf für mich, um mir Hilfe zu holen«, sage ich mit aufgesetzter Demut.
Wir schütteln die Hände.
Ich hoffe, sie wird von einem Lkw umgenietet, wenn sie nachher auf diesen beigen Mörderabsätzen viel zu langsam über die Straße stöckelt.
Ich nehme den Aufzug zum Krankenhausladen im Erdgeschoss, wo ich mir eine Vorratspackung atemneutralisierender, extrastarker Minzpastillen hole.
»Und hoch mit uns!«
Als ich zu Dad zurückkehre, wird er gerade von einer jungen Pflegerin mit kurzen schwarzen Zöpfchen voller Elan dazu ermuntert, sich aus dem Bett zu begeben. Auf ihrem Namensschild steht Valeria. Sie hat die Decke zurückgeschlagen und hebt seine Beine an, um sie auf dem Boden abzustellen.
»Das machen wir aber ganz toll, Mr Davidson«, trällert sie.
Ich habe das Gefühl, irgendwas beitragen zu sollen, aber ich kann nur hilflos zuschauen, so, als spielten die beiden eine Filmszene nach: Valeria vollführt eine schwungvolle Geste mit ihrem Arm, als würde sie ihren Geliebten zu einer Schlittenfahrt einladen, doch Dad starrt an ihr vorbei, unergründlich wie Dr. Schiwago, dessen Blick sich in der weiten, wogenden russischen Landschaft verliert. Dann zappen sie weiter zu Laurel und Hardy: Sie hievt ihn in eine sitzende Position hoch, doch kaum dass sie ihn loslässt, fällt er mit wedelnden Armen zurück, und sie zieht ein »Nanu«-Gesicht. Und von vorne: Sie hievt ihn hoch, lässt los, er fällt zurück – »Nanu!«. Ein letztes Mal Umschalten zu einem Ingmar-Bergman-Film: Valeria seufzt und blickt an die Wand, Dad ignorierend, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett zusammengesunken ist, wobei seine knochige Blöße durch die Rückseite seines locker gebundenen Flügelhemds sichtbar wird; auf seinem linken Schenkel eine verkrustete Kotspur. Herrje.
»Wir versuchen es später noch mal«, verkündet sie heiter, hilft ihm zurück ins Bett und schreitet von dannen.
Das weiße Plastik quietscht, als ich mich, meine Minzpastillen kauend, auf den Patientenstuhl mit der hohen Lehne setze, wobei ich gleich zwei der nasenreinigenden, kreidigen Dinger auf einmal zermalme. Seit Dad mich vorhin mit Mum verwechselt hat, habe ich das Gefühl, als würde sie irgendwo in meinem Inneren lauern und ihn durch mich hindurch anschauen – mit einem tadelnden Schnauben, weil er sich so hat gehen lassen: Das Haar zu lang und zu strähnig, und diese unregelmäßigen weißen Stoppeln auf dem Kinn gehören ebenfalls rasiert. Mum legte großen Wert auf Kleidung und liebte es, sich herauszuputzen; sie kaufte ständig modische neue Sachen für Dad und bastelte an ihm herum. Ich bezweifle, dass er sich seit ihrem Tod überhaupt ein neues Kleidungsstück gekauft hat. Friseurbesuche hat er seither generell gemieden und sich das Haar lieber selbst geschnitten; auch die professionellen Nassrasuren, die er früher so liebte, ließ er bleiben.
»Alles gut, Dad?«
Er schaut mich an, aber wen sieht er? Seine befremdliche Reaktion auf mich, so, als wäre ich Mum, war wirklich verstörend. Das war doch bestimmt nur eine einmalige synaptische Fehlfunktion, oder? Ich kann mich nicht erinnern, dass Dad uns je zuvor verwechselt hätte, aber unsere Koexistenz gestaltet sich generell so trüb und verschwommen. Hilflos habe ich dabei zusehen müssen, wie er die letzten sechs zähen Monate, seit ich bei ihm in das einstige Heim unserer Familie (als wir noch eine Familie waren) eingezogen bin, immer mehr der Gegenwart entglitt. Da er nur noch kleine Mahlzeiten wie Dosenravioli oder Frühstücksflocken aß, gab ich es auf, ihm irgendwas anderes vorzusetzen. Ich versuchte, ihn zu Spaziergängen zu animieren, aber er weigerte sich rundheraus. Ich versuchte, ihn zum Arzt zu bringen, aber er meinte, ihm ginge es gut, und erwähnte mir gegenüber nie etwas von Schmerzen. Ich hatte mich einfach gefügt und getrunken, um es auszublenden. Ich bin eine wandelnde Witzfigur, aber auf keinen Fall eine reife Erwachsene, die für solch eine Verantwortung gewappnet ist. Ich bin meinem lieben, zeitreisenden, kotverschmierten, sterbenden Dad so was von nicht gewachsen. Es ermüdet mich selbst, zu was für einem erbärmlichen Klischee ich verkommen bin – meine Wut auf Miss Beige war so offensichtlich nichts weiter als meine eigene nach außen gekehrte Angst. Sie hat recht. Ich brauche Hilfe. Aber ich kenne niemanden hier in London, schon seit Jahren nicht mehr.
Außer Reece.
Die letzten sechs Monate habe ich innerlich mit mir gerungen, ob ich wieder mit ihm in Kontakt treten sollte, damit er Dad sehen könnte, bevor er starb. Womöglich war Reece’ Abscheu unserem Vater gegenüber mittlerweile verblasst, überlegte ich und gab mich ein Weilchen der albernen Illusion hin, eine Netflix-würdige Versöhnung am Sterbebett inszenieren zu können. Zumindest aber, so schloss ich, würde ich ihn dazu bringen müssen, zur Bestattung zu kommen, damit wir Seite an Seite an beiden elterlichen Einäscherungen teilgenommen hätten. Bisher jedoch habe ich bloß gezaudert, mich gedrückt und den Gedanken in Alkohol und endlosen Netflix- und Amazon-Prime-Sessions versenkt.
Ist die Zeit nun doch gekommen, mich ihm zu stellen?
Da gibt es noch das winzige Problem, dass ich weder Reece’ Telefonnummer noch seine E-Mail-Adresse oder Anschrift habe. Seit nunmehr fünfzehn Jahren verfüge ich über keine Wege oder Mittel, ihn zu kontaktieren. Immer wenn meine Neugier doch die Oberhand gewann, konnte ich problemlos über Twitter, Instagram, Facebook, die Presse oder Fanseiten herausfinden, was er gerade trieb. Denn mein Bruder, den ich vierzehn Jahre meines Lebens Reece Davidson genannt habe, ist tatsächlich niemand anderes als der Schauspieler Ryan Patterson. – Bisher ist er nicht berühmt genug gewesen, damit jemand die Verknüpfung hergestellt hätte. Zu Beginn seines Studiums ließ er amtlich seinen Namen ändern und erklärte mir, dass es ein besserer Bühnenname wäre, aber mir war klar, dass er sich neu erfinden wollte, um jegliche Verbindung zu unserer verrufenen Familie zu kappen. Ich kenne seine Morgenroutine (heißes Zitronenwasser, Laufen, grüner Proteinsaft), seine politischen Glaubenssätze (sozialdemokratische Mitte) und das Körperteil, das er am wenigsten an sich mag (die behaarten Füße), aber ihn selbst kenne ich im Grunde nicht mehr. Dabei pflegt er eine ständig wachsende Wikipedia-Seite mit den ausführlichen Eckdaten seiner Karriere. Normalerweise ärgert mich das Weglassen von privaten Fakten auf Wiki – die unbefriedigende Abwesenheit sämtlicher pikanten Details von Affären, gescheiterten Ehen, finanziellen Pleiten und skurrilen Verbrechen –, doch im Fall von Reece bin ich erleichtert.
Aber eines Tages, kurz nachdem ich bei Dad eingezogen war, stand ich gerade an der Supermarktkasse, um unsere Frühstücksflocken und Dosenravioli zu bezahlen, als mir in der Zeitung auf dem Ständer daneben ein kleiner Artikel samt Reece’ Foto ins Auge fiel. Das Schundblatt druckte offenbar die Fortsetzungsbiografie meines Bruders, in der er beschrieb, wie herrlich es doch war, er zu sein. Der Titel lautete Solving Me – ganz so als wäre er irgendein faszinierendes Rätsel, das es zu lösen galt. Ich selbst hegte einen tief sitzenden Abscheu gegen die Klatschpresse nach dem, wie man uns behandelt hatte. Und nun veröffentliche Reece sein Promigeseier in genau dem Blatt, das Dad auf grässliche Art und Weise als Mörder gezeichnet hatte. Ich wollte mein Geld nicht dafür verschwenden und gelobte mir, sämtlichen medialen Verweisen auf meinen Bruder aus dem Weg zu gehen. Was nicht schwer war, da Dad und ich vollkommen in unserer einsiedlerischen häuslichen Routine abtauchten. Doch während ich den heutigen »Ryan« bisher gut ausblenden konnte, wälzt der vergangene Reece ständig in meinem Kopf herum, egal wie viel ich trinke.
Die ersten vierzehn Jahre meines Lebens wuchs ich mit ihm an meiner Seite in einer stinknormalen, langweiligen Familie auf. Dann wurde Mum am 4. Oktober 1996 ermordet – einen Tag, bevor Reece, vier Jahre älter als ich, ausziehen sollte, um sein Studium in Cambridge aufzunehmen. In den darauffolgenden Wochen verwandelten Reece und ich uns von emotional verbandelten Geschwistern zu … Fremden. Ich selbst wusste, dass mein lieber Dad nichts mit Mums Tod zu tun hatte. Reece jedoch, befeuert von seinem bereits angespannten Verhältnis zu unserem Vater und vollgepumpt mit Teenagerhormonen und einer erschütternden Trauer um seine geliebte Mutter, ließ sich fatalerweise von den absonderlichen Anschuldigungen der Presse den Kopf verdrehen. Er beschloss, er »wüsste«, dass Dad schuldig sei. Weder er noch ich konnten unsere jeweilige Überzeugung beweisen. Dann, zwei Wochen später, am Tag nach Mums Beerdigung, zog Reece zum Studieren weg. Und kam nie wieder heim und sprach auch nie wieder ein Wort mit Dad.
Reece (ich kann ihn nicht Ryan nennen, weil es nun mal nicht sein Name ist und weil es ihn wie so einen amerikanischen Geheimagenten oder Bodyguard des Präsidenten klingen lässt) unterhielt losen Kontakt mit mir, während ich ihm bei seinem beruflichen Aufstieg zuschauen durfte: Er war bei den Cambridge Footlights (als überaus attraktive Witzfigur einer Gruppe angehender Comedy-Stars); er spielte im örtlichen Theater mit (Klassiker, Possen, provokante neue Stücke); ein Weilchen arbeitete er für die Royal Shakespeare Company (als hochgelobter Jago in einer auf einer israelischen Militärbasis angesiedelten Othello-Inszenierung); er ergatterte einen kleinen Part in der Soap Emmerdale (junger Bauer, der versucht, eine Frau zu finden) sowie eine Nebenrolle in einem skurrilen britischen Film, der unerwartet gut auf Netflix lief (Undercover-Polizist, der Öko-Terroristinnen verführt). Sein wachsender Ruhm bereitete mir Sorge.
In der gleichen Zeit schleifte ich mich schlafwandelnd durch vier Schuljahre bis zur Mittleren Reife und kratzte gerade noch die Kurve zum Abitur. Ich nahm drei Kleidergrößen zu, da ich meine Trauer sowie Reece’ Anschuldigungen mit Schaumküssen, Schokokeksen, Cremeschnitten, Kaubonbons und Eiskonfekt erstickte, und brannte ätzende Löcher in meine Polyesterklamotten, wenn ich mal wieder zu nah am Kaminfeuer saß, weil mir einfach nie warm wurde, ganz gleich wie dick die Fettschicht war, in der ich mich einmauerte. Dabei wurde ich permanent auf der familiären Streckbank gefoltert – an dem einen Ende mein völlig zerstörter Vater, von dem ich wusste, dass er unschuldig war, und auf der anderen Seite mein kampfeslustiger Bruder, wild überzeugt von Dads Verbrechen. Da ein Mensch, den ich liebte, ermordet worden war, und die anderen zwei Menschen, die ich liebte, sich hassten, wurde es mir unerträglich zu denken, zu fühlen oder überhaupt zu funktionieren. Ich war so eine Art abgefucktes Goldlöckchen: Mama Bär war tot, und der kleine Bär hasste Papa Bär wie die Pest. Nichts würde sich jemals wieder einfach nur »richtig« anfühlen.
Ich bewarb mich an der University of Brighton, weil Mum und Dad dort ihre Flitterwochen verbracht hatten und weil ich glaubte, an einem anderen Ort könnte es mir vielleicht gelingen, »mich selbst zu finden«. Natürlich konnte ich mir nicht entfliehen, aber dort fand ich heraus, dass Alkohol ein weitaus effizienteres Reinigungsmittel fürs Hirn war als Essen. Nicht nur eliminierte er den Schmerz – er vermittelte auch aktiv Vergnügen, selbst wenn es mit einem lästigen Kater erkauft wurde. Der Alk entpuppte das Studium als lachhaft sinnloses Unterfangen und verprellte meine sogenannten Freunde. Gleich im ersten Studienjahr schmiss ich alles hin, blieb jedoch in Brighton, an der rauen See, um meine frühmorgendlichen Schwimmrunden um den Pier fortzuführen, wo ich im Frieden der eisigen, lebensbedrohlichen Wogen schwelgte. Mein persönliches Narkoseprogramm aus Essen, Suff und riskanten Schwimmeinlagen rundete ich mit einem stressigen Job ab, indem ich die Leitung einer Schreibwarenhandlung namens Write to Life in den engen Gassen der Altstadt übernahm. Ich wohnte in der niedrigen Einzimmerwohnung darüber und etablierte eine feste Routine: sechs Tage die Woche Hektik im Geschäft, mit gemäßigtem Trinkverhalten am Feierabend, und einen Tag die Woche sternhagelvoll. So blieb ich effizient und betäubt zugleich. Es erschien mir sicher, fühlte sich aber auch unfassbar fragil an. Daher durfte ich auf keinen Fall zulassen, dass mein Muster gestört wurde – bis auf den einen Tag im Monat, wenn ich Dad in dem staubigen, erinnerungsgeschwängerten »Haus des Stillstands« in London besuchte. Mir als Ordnungsfanatikerin war es ein Graus, aber etwas daran zu ändern, wäre für Dad gewesen, wie ohne Mum weiterzumachen.
»Du siehst aber fit aus«, begrüßte mich Dad, wenn ich verkatert zu Besuch kam – meine Wangen noch gerötet vom heimlichen Kotzen im Garten. »Irgendwelche Neuigkeiten von Reece?«, schob er dann zaghaft hinterher, als wäre ihm der Gedanke ganz vage in den Sinn gekommen, doch ich sah die klägliche Hoffnung in seinen Augen.
»Ihm geht’s gut, Dad, er hat nur sehr viel um die Ohren.«
Darauf nickte er, während seine Augen bei der Erinnerung an den missratenen »verlorenen Sohn« aufblitzten. Was für ein unsägliches, bescheuertes Gleichnis – helle Freude bei der Rückkehr des sich herumtreibenden Sohnes, klar, aber den daheim gebliebenen Trottel kann man getrost ignorieren. Nur dass Dad nie dazu kam, das gemästete Kalb für Reece zu schlachten, weil mein Bruder – unerschütterlich in seiner Überzeugung von Dads Schuld – nie nach Hause zurückkehrte.
Die ersten acht Jahre nach Mums Tod hielten Reece und ich die dürftige Verbindung am Laufen: hin und wieder ein Treffen (keine Gespräche über Dad), gelegentlich ein Telefonat (kurz mit langen Pausen), SMS an den Geburtstagen (an meinem und Mums, nie an Dads) und Weihnachtsgeschenke (seine im Kaufhaus verpackt, mit einem Nullachtfünfzehnspruch in einer Nullachtfünfzehnkarte). Die Abstände zwischen unseren Treffen wurden immer länger, während ich mir die Zeit damit vertrieb, das subtile Machtgefüge zwischen uns zu analysieren.
Reece gewann für seine Nebenrolle in der TV-Serie Man On – über eine Zweitligisten-Fußballmannschaft, die vom Aufstieg in die erste Liga träumt – eine kleine, ergebene Schar von Anhängern. Er spielte den Part des Teambetreuers, bei dem er sein charmantes, sportliches Ich herauskehren durfte, wenn er auf den Rasen stürmte, um einen jungen Spieler wiederzubeleben, der einen Herzstillstand erlitten hatte; oder einen Spieler, der Angst vor seinem Coming-out hatte, in einen Schwulenclub begleitete; oder einem älteren Spieler dabei half, das Ende seiner aktiven Karriere und den Wechsel zu einem Dasein als TV-Experte zu akzeptieren. Die ersten Folgen waren gerade erst ausgestrahlt worden, als ich ihn, vor fünfzehn Jahren, das letzte Mal sah. Die Treffen mit Reece setzten mir immer zu. Mit jedem Jahr wurde ich nur noch dicker, noch trauriger und noch verschlossener, wohingegen er – ganz so, als säßen wir auf einer kosmischen Spielplatzwippe – immer schlanker, immer glücklicher und immer berühmter wurde.
Ich hasste es, aus meinem gesicherten Murmelbahndasein auszubrechen, aber Reece hatte nur »ein kleines Zeitfenster«, also hockte ich mich in den Zug zur Victoria Station und folgte Google Maps zur Bar Italia in Soho. Wir saßen auf hohen Drehhockern an dem langen, schmalen Tresen, sämtliche Wände mit italienischen Fahrradzeitschriften gepflastert. Seine dunkelbraunen Augen strahlten, die braunen Locken ungewöhnlich lang wie bei so einem spanischen Gigolo; die Jeans affig hochgekrempelt, natürlich ohne Socken in den Slippern, was ihm das Aussehen eines dekadenten, verlotterten Mitteleuropäers verlieh, gleichzeitig aber auch das eines zu groß geratenen Kindes. Ich erhaschte einen Blick auf mein Spiegelbild: Schlupflider, schlaffe Hängebacken, fleischiges Kinn; meine üppigen Rundungen in knappe Lagen schwarzer Spitze gepresst, mein kurzes schwarzblaues Haar aus dem feisten Gesicht gegelt; schwarzes Kajal um die Augen, dunkellila Lippenstift vor einer ungesunden Blässe. Ich war nicht die melancholische, faszinierende Außenseiterin, als die ich mich imaginierte, sondern eine überreizte, fette Goth-Tussi, die sich in diesem Moment der Ironie von Reece’ Kindheitsspitznamen für mich – »Klitzekleines« – nur allzu bewusst war. Reece bestellte sich einen doppelten Espresso in einem kleinen weißen Tässchen, ich eine Latte Macchiato mit Schuss in einem großen Glas mit winzigem Henkel.
»Was macht das Leben in Brighton?«, fragte er, wobei er den Espresso in einem Schluck kippte und sich sichtlich Mühe gab, nicht auffällig zu glotzen, während er rätselte, wie viele Kilo ich mir seit unserem letzten Treffen draufgespachtelt hatte.
»Der Laden läuft gut.«
»Du bist da noch immer!«
»Jepp«, sagte ich und ordnete die Zuckerpäckchen so, dass sie alle in die gleiche Richtung schauten, »ich bin jetzt die Filialleiterin.«
»Hey, wenn du glücklich bist im Mekka der Buntstifte und Hello-Kitty-Radiergummis.«
»Wahnsinnig. Und du? Glüüücklich?«
»Schätze schon. Wir warten gerade noch ab, ob wir mit Man On eine zweite Staffel bekommen. Was wir angesichts der Kritiken definitiv sollten.«
Ich richtete die Servietten in dem silbernen Spender auf und wappnete mich. »Reece, wir müssen über Dad sprechen.«
»Nein.«
»Aber er ist mittlerweile mehr oder weniger ans Haus gefesselt.«
Er zuckte die Achseln. »Passt doch, wo er für den Mord an Mum nie eingesessen hat.«
»Dafür hast du keinerlei Beweise«, zischte ich, wobei ich meinen Kaffee verkleckerte.
»Ein Mangel an Beweisen bedeutet noch lange keine Unschuld. Er hat es getan, oder er hat sie mit seinen Wutausbrüchen dazu getrieben.«
»Das ist doch albern. Deine Beschreibung von ihm passt überhaupt nicht zu dem Bild, das ich von ihm habe.«
»Welchen Sinn hat es, das wieder und wieder durchzukauen? Fühlst du dich danach je besser?« Er glitt von seinem Barhocker, und ich dachte schon, er wolle gehen, doch er kam mit einem weiteren Espresso zurück. »Hat dir Man On gefallen?«, erkundigte er sich, als würden wir bloß ein Pläuschchen halten.
»Hab’s nicht gesehen«, log ich, um ihn zu ärgern.
»Nun, wir haben vier Sterne im Guardian bekommen«, sagte er pikiert.
»Nicht fünf?«, erwiderte ich gespielt entrüstet.
»Niemand bekommt fünf.«
»Warum haben sie dann fünf?«
»Um einen unmöglichen Anreiz zu schaffen? Nicht dass du …«
»Was?«
»Vergiss es.«
Wir saßen schweigend da.
»Weißt du was, ich sollte mir einen Kuchen genehmigen!«, verkündete ich und schwang auf dem Hocker herum, um finster das ›Aufgebot‹ von Desserts in der altmodischen Glastheke hinter uns zu betrachten: klebriger Käsekuchen, geschichtete Torten, gefüllte Cannoli. »Und wenn ich vor lauter Überfressen einen Herzinfarkt bekomme, kannst du mich wiederbeleben, so wie den Fußballer im Trailer!«
»Tatsächlich könnte ich dich wiederbeleben. Ich habe der Authentizität wegen Unterricht von einem richtigen Arzt bekommen.«
»Könntest du oder würdest du?« Ich betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen.
»Oh, bitte«, fuhr er mich an, »ich gebe mir hier Mühe.«
»Und ich gebe mir etwa keine Mühe?«, gab ich zurück und verlagerte meinen unförmigen Hintern auf der lächerlich kleinen Sitzfläche.
»Du bist einfach so …«
»Was?«
»Nichts.«
»Mach schon. Sag’s. Ich bin was?« Ich schnappte meinen Kaffeelöffel und verpasste ihm einen Schlag auf die Knöchel.
»Autsch«, rief er, sich die Finger reibend. »Na gut. Selbstbezogen. Du bist so selbstbezogen. Wenn du einmal über dich hinausschauen würdest, nur für zwei Sekunden, und am echten Leben teilnehmen, wärst du so viel glücklicher.«
»Echtes Leben!«, spie ich ihm entgegen. »Das ist echt amüsant aus deinem Mund – Ryan!«
Er verzog das Gesicht.
»Nicht nur, dass du einen falschen Namen hast, nein, dein Job besteht auch noch darin, so zu tun, als ob du jemand anders wärst.«
Er sog scharf die Luft ein, dann sammelte er sich wieder wie der Terminator 2-Cop, der sich aus einer Silberpfütze neu formiert. »Mach jetzt keine Szene.« Er sah sich um. »Das kann ich echt nicht gebrauchen. Du hast keine Ahnung, unter was für einem Druck ich stehe.«
»Entschuldige«, murmelte ich.
Und schon waren wir zurück in unseren Rollen. Er war der Star, ich war das Publikum, Zwischenrufe verboten. Ich drehte seine Tasse so, dass sein Henkel in einer Linie mit meinem Henkel und dem metallenen Serviettenspender war.
»Ja, genau so magst du die Dinge, nicht wahr«, sagte er. »Alles ganz ordentlich, alles immer gleich. Gott bewahre, dass das Leben weitergehen könnte.« Er schnappte sich einen meiner parallel ausgerichteten Kaffeelöffel, um mir auf die Finger zu klopfen, doch ich zog sie gerade rechtzeitig weg, also ließ er den Löffel einfach fallen und zerstörte damit meine Anordnung.
Und das war’s dann. Ich war so sauer, dass ich mich ein paar Monate gar nicht meldete. Danach hinterließ ich die eine oder andere übertrieben gut gelaunte Nachricht auf seiner Mailbox, die nie beantwortet wurde; dann sandte ich SMS, aber die verpufften unbeachtet in der Atmosphäre; dann gab sein Handy den Geist auf; dann kamen meine E-Mails automatisiert zurück. Schließlich, nachdem ich sorgsam mehrere Entwürfe aufgesetzt und jedes Wort abgewägt hatte, brachte ich einen altmodischen Brief zur Post. Er kam mit dem Vermerk Empfänger unbekannt verzogen zurück. Und da kapierte ich es endlich. Es gab gar kein sorgsam ausbalanciertes Machtgefüge zwischen uns. Ich war die Einzige hier, die unsere Beziehung endlos analysierte. Er dachte nicht einmal an mich. Er hatte alles hinter sich gelassen. Mums Tod. Unseren Dad, dem er die Schuld für Mums Tod gab. Und mich, seine letzte Erinnerung daran.
Ich habe mir die Jahre über Mühe gegeben, mich nicht darum zu scheren, was er so treibt – außer ich bin extrem betrunken –, doch die Beweise seiner Existenz sind allzu leicht zugänglich: seine Low-Budget-Filmtrailer; beim feierlichen Einschalten der Weihnachtsbeleuchtung in Slough; bei Das große Promibacken mit anderen C-Promis Muffins aus dem Ofen ziehend; bei Sketchen für die Comic Relief-Spendenaktion mit seinen berühmteren Comedy-Freunden; ja, sogar als Märchenvorleser im verdammten Kinderfernsehen. Ich weiß sogar, wo er heute Abend ist. Es gibt manchmal nichts Schrecklicheres, als an etwas zu denken und es dann überall zu sehen, und so hob ich, als ich das Inquisitionsbüro von Miss Beige verließ, eine liegen gelassene Ausgabe des Evening Standard von einem Besucherstuhl auf – und da war es auch schon, im Kulturteil: Solving Me – Reece’ Autobiografie, die zuvor als Fortsetzung in der Zeitung erschienen war. Sie wird nun der Welt in Buchform reingedrückt. Heute Abend, um 21:30 Uhr, hält er eine Lesung in der Foyles-Buchhandlung, ein Stück weiter die Straße des Krankenhauses runter. So nah und doch so fern. Ich überfliege den Zeitungsartikel, der sich darüber auslässt, wie fantastisch »Ryan« doch sei, und zucke zusammen, als ich die letzten Zeilen lese, ein direktes Zitat von Reece: »Wie ein Anfänger, der versucht, einen Zauberwürfel zu knacken, habe ich der Öffentlichkeit bisher nur eine vervollständigte Seite von mir gezeigt, aber in diesem Buch nehme ich meine Fans mit hinter die Kulissen, um das gesamte Rätsel zu lösen.« Diese diebische kleine Ratte. Ich war früher diejenige gewesen, die super im Lösen von Zauberwürfeln war, obwohl ich vier Jahre jünger war als er, und Reece machte sich über mein Können immer nur lustig.
»Schau dir das an«, verkündete er einmal mit einem verschlagenen Grinsen und hielt den Würfel hoch, dessen Oberseite gelöst war, wobei er jedoch die bunt durcheinandergewürfelten Seiten mit seinen Händen verdeckte. »Hab’s geschafft.«
»Aber der Würfel ist gar nicht fertig«, motzte ich. »Du musst alle Schritte befolgen, um ihn zu lösen.«
Er lachte nur und warf ihn beiseite.
Reece war voller Spott, als er mich später dabei erwischte, wie ich den Würfel heimlich löste. »Du konntest es echt nicht aushalten, ihn unfertig zu lassen, oder? Musstest ›alle Schritte befolgen, um ihn zu lösen‹«, zog er mich auf. »Du bist eine klitzekleine Spinnerin.«
Als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre, werde ich in die makellos weiße Krankenstation zurückgerissen und schlage sie unwirsch weg.
»Entschuldigung – ich wollte nicht Sie erschrecken«, sagt Wollstrumpf zurückweichend. »Es ist Zeit zu gehen.«
Sie schaut mich an, als … sei ich gefährlich. Was stimmt nur nicht mit mir?
»Oh, okay.« Ich räuspere mich. Nach drei extrastarken Minzpastillen ist meine Kehle fürchterlich trocken.
Sie wendet sich ab, aber ich greife ihren Arm. Ihre Augen weiten sich erschrocken.
»Danke fürs Bescheidgeben«, bringe ich zögernd hervor.
Sie nickt stirnrunzelnd, und ich lasse sie los.
»Ich bin übrigens Hannah. Tut mir leid, dass ich so wortkarg war.« Meine Haut scheint unter der Anspannung einfachster Höflichkeitsfloskeln reißen zu müssen.
»Ist schon gut. Es ist so schwer. Ich verstehe.« Sie reicht mir ihre Hand. »Ich bin Loreta.«
»Hi, Loreta. Ich … mir gefällt übrigens, wie farbenfroh Sie es sich eingerichtet haben«, sage ich und deute auf die ungewöhnlich bunte Decke über ihrem Dad.
»Danke sehr. Das ist unsere litauische Flagge«, sagt sie, »um ihn zu erinnern an Heimat.«
Aber ja, natürlich. Das Laken ist eine einzige große Flagge in Senfgelb, Waldgrün und Backsteinrot.
»Schöne Idee.«
Sie lächelt, doch selbst diese simple menschliche Verbindung überfordert mich.
»Ich wollte Sie nicht wecken«, entschuldigt sie sich, »aber es ist zwanzig Uhr, Zeit für nach Hause gehen.«
»Oh, ach du liebe Güte, ich muss los.« Ich drücke Dad einen flüchtigen Kuss auf die Wange und hoffe inständig, dass er die Nacht überlebt.
»Ein Rendezvous?«, erkundigt sie sich.
»Nicht ganz. Ich treffe gleich einen Filmstar.«
Es ist fünfzehn Jahre her, aber die Tottenham Court Road ist immer noch eine einzige Ansammlung von Möbelgeschäften: dicke gemütliche Sessel, elegante minimalistische Schreibtische, schwarze balinesische Kommoden, stattliche Regency-Betten und riesige geometrische Leuchten – so viele Arten, ein Heim auszustatten, wenn ich denn eins hätte. Dads Zuhause ist nicht mehr meins; es ist ein historischer Ausstellungsraum, und ich bin die gruselige Wachspuppe, die inmitten der Überbleibsel von Reece’ und meiner Kindheit aufgestellt wurde.
Ich werde mich einfach ganz hinten in seine Lesung hocken und abwarten, ob ich mich überwinden kann, ihn um Hilfe zu bitten. Im Zweifelsfall wird er nie erfahren, dass ich dort war, und er würde mich ohnehin nicht erkennen. Ich bin fünfzehn Jahre älter und verbrauchter; er kennt mich nur mit kurzem Haar, und, was das Beste ist, ich bin versehentlich zu einer »Nachher«-Version eines »Vorher«-Fotos aus einer Diätzeitschrift abgespeckt. Aber ohne dieses nervige Zahnpastagrinsen, das die »Nachher«-Leute aufsetzen, da ich mich schlanker nicht besser fühle, sondern einfach nur schlechter verankert. Mein krasser Gewichtsverlust hat nicht nur meine Kleidergröße verändert, sondern auch die gesamte Struktur meines Gesichts, die Proportionen meiner Züge. Ich hatte das letzte halbe Jahr in Brighton durch all den Stress meiner kollabierenden Existenz und den erhöhten Alkoholkonsum schon fünfundzwanzig Kilo abgenommen. Und seit ich wieder in London bin, habe ich es Dad bei seiner kargen Kost gleichgetan und hatte oft Magenschmerzen und Durchfall von den Wagenladungen Obst, die ich in mich reinstopfe. Ich habe nämlich Mums Obstobsession übernommen, wenn auch auf meine eigene animalische Art. Sie machte gern eine Zeremonie daraus, wenn sie an ihren dünn aufgeschnittenen Granny-Smith-Äpfeln knabberte, sinnlich die gekonnt ausgelösten Orangenspalten hinunterschluckte und ihre zartrosa Quitten-Konfitüre von ihren winzigen Silberlöffelchen leckte.
Ich bin bei meiner Obstvernichtung weitaus weniger raffiniert und verputze bergeweise ungewaschene, ungeschnittene Früchte, aber zum ersten Mal in meinem Leben bin ich schlank – die perfekte Tarnung.
In einem Tesco-Supermarkt kaufe ich mir eine kleine Flasche Wodka. Im Schaufenster der Drogerie daneben erblicke ich eine Reihe abgetrennter Puppenköpfe mit bunten Perücken und kaufe mir ein blondes Exemplar samt einer dick gerahmten Sonnenbrille. Ich gehe ganz in meiner Rolle als Komparse Nr. 3 auf, ein Part ohne Text, für den die Regieanweisung lautet: In der Menge untertauchen und bloß nicht auffallen. Es ist eine Rolle, die ich jahrelang perfektioniert habe.
Als ich die Kreuzung zwischen der Tottenham Court Road und Oxford Road erreiche, schüttet es, als hätte man eine himmelgroße Badewanne umgekippt. Ich eile die Straße weiter, wobei ich Ausschau halte nach der vertrauten Eingangstür der Foyles-Buchhandlung. Aber als ich an der Ecke eintreffe, wo der Laden sein soll, bin ich in der Matrix gelandet. Er ist schlicht nicht da. Wie bitte soll Reece eine Lesung in einem nicht existenten Laden abhalten? Als ich durch den herabstürzenden Regen die Straße hoch- und runterschaue, erhasche ich dann doch die vertrauten rot leuchtenden Buchstaben des Foyles-Schriftzugs – wenn auch weiter die Straße hoch als gedacht. Das große, klotzige, schon immer da gewesene Gebäude, das ich als Kind besucht hatte, ist irgendwie die Straße hochgewandert. Benommen gehe ich weiter, bleibe jedoch nicht vor den alten, schweren Türen meiner Erinnerung stehen, sondern vor eleganten Schiebetüren aus Glas, die aufgleiten, um eine endlose, von Wänden befreite Bücherlandschaft zu enthüllen, die sich um einen gläsernen Kern zentriert. Es ist ein komplett neuer Verkaufsraum. Ich erwarte schon, dass das ganze Ding sich jeden Moment grün flimmernd in einem Meer aus binären Codes auflöst.
Ich trete einige Schritte zurück und sehe an dem regennassen Schaufenster hoch – und da ist Reece, keinen halben Meter entfernt, und lächelt mich mit seinem berühmten verschmitzten Grinsen an. Vor Schreck stolpere ich von der Bordsteinkante, und ein Auto kommt mit kreischenden Bremsen nur Zentimeter vor mir zu stehen. Ich springe wieder auf den Bürgersteig, aber Reece scheint völlig ungerührt. Wie kann es sein, dass er meine Existenz nicht mal zur Kenntnis nimmt?
Dann hebt eine junge Frau ihn hoch. Reece ist bloß ein lebensgroßer Pappaufsteller. Als sie ihn zurechtgerückt hat, trete ich näher. Nach fünfzehn Jahren sieht er immer noch unverändert aus, nur seine Züge sind definierter – die braunen spitzbübischen Augen, die schmale, gerade Nase, die dichten Augenbrauen und der dunkle Lockenschopf. Aber sein Lächeln ist zu einem eigentümlich schiefen Grinsen verewigt – als Kind hat er nie so gelächelt. Sein Körper wirkt gänzlich entspannt, so, als rauche er auf einem Madrider Platz einen eleganten Zigarillo. Er trägt einen weichen, locker sitzenden blauen Anzug, an den Knöcheln einen Tacken zu kurz, und ein blassrosa Hemd, die beiden obersten Knöpfe geöffnet. Er ist viel größer und breiter als Dad, nicht ganz so drahtig, aber mit ähnlich dunklem Haar. Sein eigentlicher Charme stammt von Mum – diese angeborene Lockerheit und Geschmeidigkeit, diese intensiv blickenden Augen. Doch es ist seine jungenhafte Haltung, die mich erschüttert: die sanfte Krümmung seiner Schultern, das leicht gereckte Kinn, das nach vorne gelagerte Gewicht … all das lässt unwillkürlich meine Erinnerungen lebendig werden. Im Bruchteil einer Sekunde bin ich wieder seine kleine Schwester, ein »Ich«, von dem ich dachte, es wäre völlig ausgelöscht worden....Ende der Leseprobe