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Du liebst ihn. Du vertraust ihm. Du hast keine Ahnung, wer er wirklich ist.
In der Hoffnung auf einen Neuanfang zieht Nancy mit ihrem Mann Calder auf eine kleine Insel vor der Westküste Schottlands. Es fällt ihr jedoch schwer, sich in der kargen Landschaft mit den verschlossenen Bewohnern einzuleben. Und dann wird auch noch ihr größter Alptraum wahr: Sie findet Calders umgestürztes Boot in einer Bucht, sein Körper treibt regungslos im eiskalten Wasser. Dass er überlebt, gleicht einem Wunder. Doch Calder ist nach diesem Vorfall nicht mehr derselbe. Nancy spürt, dass er etwas vor ihr verbirgt, und sein Verhalten macht ihr Angst. Und als eine Leiche an den Strand gespült wird, weiß Nancy: Ein Neubeginn kann die Vergangenheit niemals völlig auslöschen ...
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für einen Neuanfang zieht Nancy mit ihrem Ehemann Calder auf eine kleine Insel vor der Westküste Schottlands. Doch Nancy fällt es schwer, sich in der kargen Landschaft mit den verschlossenen Bewohnern einzuleben. Und dann wird Nancys größter Albtraum wahr: Eines Tages findet sie Calders umgestürztes Boot in einer Bucht, sein Körper treibt leblos im eiskalten Wasser. Dass er überlebt, ist ein Wunder. Nancy ist überglücklich, doch stellt schnell fest, dass ihr Mann nach diesem Vorfall nicht mehr derselbe ist. Er verbirgt etwas vor ihr, und er macht ihr Angst. Und als eine Leiche an den Strand gespült wird, wird Nancy klar: Ein Neubeginn kann die Vergangenheit niemals völlig auslöschen …
Weitere Informationen zu Liz Webb
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Liz Webb
Du liebst ihn. Du vertraust ihm. Du hast keine Ahnung, wer er wirklich ist.
Roman
Aus dem Englischen von Sabine Thiele
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Deutsche Erstveröffentlichung April 2025
Copyright © 2024 by Elizabeth Anne Linden
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Covergestaltung: Uno Werbeagentur, München
Covermotive: © Ann Cutting / Trevillion Images; FinePic®, München
Redaktion: Christine Neumann
LK · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-32217-5V001
www.goldmann-verlag.de
Für meine brillanten Autorenfreunde.
Vor allem meine Schreibgruppe: Jo Pritchard, Katherine Tansley, Marija Maher-Diffenthal und Sarah Lawton.
Und meine Schreibmentorin Sarah Clayton.
»In meiner Seele ist etwas am Werk, was ich nicht verstehe.«
Mary Shelley, Frankenstein
Schottland hat 94 bewohnte Inseln. Ich habe eine 95. erfunden und sie Langer genannt.
Vorbild für alle positiven Seiten an Langer sind die wunderbaren schottischen Slate Islands Seil, Luing und Easdale, die mit dem dort abgebauten Schiefer »die Welt gedeckt haben«. Alle negativen Seiten meiner Insel oder ihrer Bewohner sind rein fiktiv und meiner verdrehten Fantasie entsprungen. Die Realität war zwar mein Vorbild, doch bei den Landschaften, Gebäuden, Fähren, dem Wetter, Strudeln, religiösen Aspekten und der Kirche habe ich mir kreative Freiheiten erlaubt.
Ich beuge mich über die eiskalte Reling der Fähre, während sich die weißen Nebelschwaden vor uns langsam lichten.
Und … da ist sie. Die Insel, die unser neues Zuhause sein wird. Langer.
Die anderen Passagiere der kleinen Fähre sind alle in ihren Autos geblieben. Calder und ich sind als Einzige so dumm, die Anfahrt zur Insel an Deck und in der beißenden Kälte zu verfolgen, womit wir sofort als Neuankömmlinge zu erkennen sind. Was zumindest auf mich auch zutrifft. Calder ist hier geboren, hat die Insel aber vor über zwanzig Jahren verlassen. Ich sehe zu ihm hoch, seine langen schwarzen Haare flattern im Wind, seine Wangen sind gerötet, die Stirn gerunzelt, die Augen leicht zusammengekniffen. Wegen der Kälte? Oder holen ihn Erinnerungen an seine Kindheit ein?
»Alles okay?«, frage ich ihn mit erhobener Stimme, um den Wind zu übertönen.
Er nickt, wendet den Blick aber nicht von der Insel.
Ich sehe aufs Wasser, unter uns wippt eine fette Möwe auf den Wellen. Frieren dem Vogel nicht die Füße ein? Offenbar nicht, er wirkt völlig gelassen und selbstzufrieden.
Laut dem Aushang am Kai soll die Fahrt zu der Schieferinsel an der Westküste von Schottland vierzehn Minuten dauern. Das klang sehr kurz, doch es fühlt sich viel länger an. Wie kann die Sonne scheinen und es gleichzeitig so bitterkalt sein?
Unser Mietwagen steht bei den anderen fünf Autos, die der untersetzte Mann im dicken braunen Pullover eingewiesen hat. Ich habe jedoch darauf gedrängt, dass wir aussteigen und uns an den Bug stellen, weil ich jeden Moment unserer Anreise genießen will, egal wie eisig.
Die fette Möwe verschwindet abrupt unter Wasser und wird sofort von den grauen Tiefen verschluckt. Ich warte, dass sie wieder hochkommt, doch sie taucht nicht mehr auf.
»Wo ist der Vogel?«
»Welcher Vogel?«, fragt Calder abwesend.
»Eine Möwe. Gerade war sie noch da.« Ich deute in die Richtung. »Ich habe sie beobachtet, und dann ist sie plötzlich abgetaucht und verschwunden.«
»Ach, Nancy, es geht ihr bestimmt gut.«
»Aber wie lange kann sie da unten überleben? Das Wasser ist doch eiskalt.«
Er sieht mich an und hebt eine Augenbraue. »Ich bezweifle ernsthaft, dass irgendein Vogel sich umgebracht hat, weil du ihn angestarrt hast. Andererseits ist dein Blick auch wirklich einschüchternd …«
»Jaja.« Ich lache. Doch als er zurück zur Insel sieht, ziehe ich die Ärmel meiner dünnen Jacke über meine Finger mit den abgekauten Nägeln, um mich an der Reling festzuhalten, dann beuge ich mich so weit darüber, wie ich es wage, um die Wasseroberfläche zu beobachten.
»He, pass auf«, ruft Calder und zieht mich zurück.
»Schon gut.« Ich lache wieder. Aber wo ist jetzt der arme Vogel? Mittlerweile muss er doch erfroren sein? Warum treibt er dann nicht leblos an der Oberfläche? Ich atme die kalte salzige Luft ein, während ich auf das sich ständig ändernde Muster der Wellen starre. Könnte die Möwe bis unter die Fähre getaucht sein? Ich laufe hin und her. Sie ist nirgends zu sehen. Nur das weiß schäumende Wasser, das die Fähre hinter sich herzieht, so wie wir unser altes Leben hinter uns lassen, einschließlich aller Menschen darin.
Bitte, komm wieder hoch, du dummer Vogel. Das ist doch sicher ein schlechtes Zeichen für unseren Umzug.
Doch das Vieh ist nirgends zu sehen. Es ist tot, ganz sicher. Das Leben ist so zerbrechlich. Wenn man nicht aufpasst und es festhält, ist es, zack, einfach vorbei.
Plötzlich taucht der Vogel direkt vor mir auf und lässt das Wasser an sich abperlen. Dem Himmel sei Dank. Die Möwe legt den Kopf schräg und wirft mir einen überheblichen Blick aus ihren Knopfaugen zu. Dann treibt sie auf den Wellen davon. Alles ist in Ordnung.
Ich stoße eine weiße Atemwolke aus und richte den Blick wieder auf die Insel vor uns. Der Nebel ist an uns vorbeigezogen und hüllt nun alles hinter uns ein, löscht aus, woher wir gekommen sind. Die Insel präsentiert sich uns in ihrer ganzen Pracht. Vor Calder hatte ich von den Hebriden gehört, von Skye und Mull, aber immer gedacht, es handele sich um gerade mal zwanzig oder dreißig Inseln vor der schottischen Küste. Jetzt weiß ich jedoch, dass es über 900 gibt. 95 davon sind bewohnt. Manche von ein paar Tausend Menschen, andere von weniger als hundert, wie diese windumtoste Schönheit. Sie ist lang und zugespitzt, mit endlosen Buchten und Plateaus in allen Grau-, Grün- und Braunschattierungen, die man sich nur vorstellen kann. Sie sieht aus wie ein geflecktes schlafendes Ungeheuer, halb in der grauen See versunken, halb in der Sonne badend. Rechts von dem kleinen gemauerten Hafen erstreckt sich ein Strand aus Schiefer, den man eigentlich kaum als solchen bezeichnen kann. Kantige graue Splitter glitzern in der Sonne, als ob sich die Wassermassen um uns erhoben hätten, gefroren und dann an der Küste zersprungen wären.
»Wunderschön«, flüstere ich.
Calder holt abrupt Luft, als er aus seiner seltsamen Trance gerissen wird und sich zu mir dreht. »Aufgeregt?«
»Total.« Ich lache. »Keine Hypothek, kein Chef, kein Pendeln zur Arbeit. Nur … das alles hier.« Ich deute auf die schroffe Schönheit vor uns. »Das muss man doch einfach lieben.«
»Wir werden von jetzt an unsere eigenen Chefs sein. Ich hoffe, mit uns kann man locker arbeiten.«
»Oh, ich habe vor, sehr locker zu sein.«
Er lacht. Nachdem er jahrelang in einer Firma für Dachbodenausbau gearbeitet hat, macht er sich jetzt mit seinem eigenen Unternehmen selbstständig. Ich tausche das hektische Leben als BBC-Radioproducerin gegen das einfache Dasein als Script Doctor. Calder hat mich unzählige Male gefragt, ob ich diese Veränderung wirklich will, und ja, ich will sie. Mehr, als ihm bewusst ist.
Die Fähre vibriert, und mich überläuft ein Schauder. Mir war nicht klar gewesen, wie seltsam es sich anfühlen würde, ein aufgewühltes Meer zu unserem neuen Heim zu überqueren. Davon zu träumen, auf eine Insel zu ziehen, ist das eine, es dann auch tatsächlich zu tun, etwas völlig anderes. Ich begreife jetzt erst, dass wir abends, wenn die Fähren nicht mehr fahren, komplett von der Außenwelt abgeschnitten sein werden. Wie aufregend! Als würden wir uns in ein magisches, abgeschirmtes Reich begeben.
Ich atme tief ein, und die kalte Luft lässt mich schwindeln. Vermutlich bin ich auch deshalb so überdreht, weil ich seit 24 Stunden wach bin. Siebeneinhalb Stunden im Nachtzug von London nach Glasgow, dann drei Stunden Zugfahrt von Glasgow nach Oban, wo wir unseren Mietwagen geholt haben, dann eine halbe Stunde auf der Fahrt von Oban an die Küste, alles ohne Schlaf. Jetzt befinden wir uns auf dem letzten Abschnitt unserer Reise, und bei dieser arktischen Kälte könnte wahrscheinlich niemand schlafen. Es war spannend, für alle Reiseabschnitte nur einfache Fahrkarten zu kaufen. Zuerst fand ich die Option gar nicht auf der Buchungsseite, nur Hin- und Rückfahrttickets, als ob das Portal sagen wollte: Einfache Fahrkarten nach Schottland, noch dazu auf eine einsame Insel, sind Sie sich da ganz sicher? Ja, das war ich. Und bin es immer noch. Das hier ist ein völlig neuer Anfang, mit dem einzigen Menschen, der mir noch etwas bedeutet.
»Fünf Pfund!«, ertönt eine laute Stimme. Der untersetzte Mann im dicken braunen Pullover nähert sich uns mit einer schwarzen Schultertasche und einem Kartenlesegerät in der Hand.
»Natürlich«, sagt Calder und zieht einen Geldschein aus seiner vollgestopften Geldbörse.
»Calder, richtig?«, fragt der Mann.
»Ja. Hi, Mr Mullins, ich wusste nicht, dass Sie mich erkennen.«
Der Mann schnaubt. »Aber klar habe ich dich erkannt. Dich kleinen Scheißer würde ich doch nie vergessen.«
Ich versteife mich, doch Calder lacht.
»Außerdem hat man uns vorgewarnt, wir sollten Ausschau nach dir halten. Auf der Insel redet man über nichts anderes als deine Rückkehr und dass du in das Haus deiner Mum einziehst. Nicht viele unserer verlorenen Kinder kommen zurück. Willkommen zu Hause.«
Sie nicken einander wissend zu.
»Oh, und das hier ist meine Freundin Nancy.«
»Schön, Sie kennenzulernen«, murmelt der Mann und stapft davon.
»Verlorene Kinder?«, frage ich, sobald er außer Hörweite ist.
»Das klingt düsterer, als es ist. Man drückt sich hier nur gern dramatisch aus. Viele der Jungen auf der Insel langweilen sich spätestens als Teenager und gehen so bald wie möglich fort. Doch die Leute hier müssen uns Schuldgefühle einreden und lassen deshalb alles gleich viel trauriger und mysteriöser klingen als nötig.«
Eine eiskalte Windböe bringt mich zum Schaudern.
»Alles in Ordnung?«, fragt Calder.
»Ja, ich bin nur aufgeregt – und ich friere.«
Er zieht seinen schwarzen Mantel aus und legt ihn mir um die Schultern. »Wir müssen dir eine dickere Jacke besorgen.«
»Aber jetzt ist dir kalt.«
»Pah, ich bin aus härterem Holz geschnitzt.«
»Pah?«
»Ja, pah!«
Bisher war ich erst einmal hier, im Sommer und nur eine Nacht, um endlich Calders Mutter Isla kennenzulernen, von der ich schon so viel gehört hatte. An dem Tag brannte die Sonne vom blauen Himmel, und als wir uns für den Umzug entschieden, habe ich nicht einkalkuliert, wie extrem das Wetter im Winter werden würde. Doch die Kälte ist auch irgendwie aufregend, sie unterstreicht, wie neu und anders unser Leben hier sein wird. Als Isla vor einigen Monaten unerwartet an einem Herzinfarkt starb, wurde sie gemäß den Anweisungen in ihrem Testament kremiert, das Cottage hinterließ sie Calder. Zu dem Zeitpunkt waren wir erschöpft von unseren anstrengenden Jobs in London, kämpften mit der hohen Miete und den sich anhäufenden Rechnungen und fragten uns, ob es im Leben nicht noch mehr geben könnte als dieses unerbittliche Hamsterrad. Deshalb beschlossen wir spontan – worauf uns alle unsere Freunde für verrückt erklärten –, auf diese spärlich besiedelte, unzugängliche Insel vor der Westküste Schottlands zu ziehen, mit ihren 83 Einwohnern, einem Pub und einem Laden.
»Ich kann es gar nicht erwarten, wieder rauszufahren«, sagt Calder und deutet auf ein kleines Segelboot, das die Wellen durchschneidet und sich von uns entfernt. »Früher bin ich so gern gesegelt, war aber nicht mehr draußen, seit ich sechzehn war.«
Oh. Ich hatte nicht daran gedacht, dass er auf dem Wasser unterwegs sein könnte. Wie dumm.
»Keine Angst«, er tätschelt meine Schulter, »Segeln ist wie Autofahren für mich.«
Nachdem ich meine Eltern bei einem schrecklichen Autounfall verloren habe und mich daher hinter kein Lenkrad setze, ist das nicht gerade beruhigend, aber ich halte Calder für einen ausgezeichneten Fahrer, insofern … ist es wohl Zeit für einen meiner Vorsätze für diesen Umzug. Ich habe mir nämlich vorgenommen, mir nicht ständig das Schlimmste auszumalen. Hier werde ich ein neuer, besserer Mensch sein: Ich werde meditieren und gesund essen, joggen gehen, entspannt sein und Brot backen, wahrscheinlich mit einem Tuch um den Kopf.
Calder sieht zu mir hinunter und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Nancy, ich …«
»Ja?«
Er schüttelt den Kopf. »Nichts. Ich habe nur dieses komische Gefühl, das man hat, wenn man an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt.«
»Ich weiß, was du meinst.« Ich lasse meine Hand an der Reling entlanggleiten und schiebe meine Finger zwischen seine.
Er runzelt die Stirn. »Glaubst du, dass ich wirklich genug Kunden finde?«
»Definitiv. Du hast doch gesagt, dass viele Häuser hier ebenerdig sind und genug Potenzial für Loft- und Dachbodenausbauten da ist. Du wirst quasi der Hahn im Korb sein.« In London war er nur ein Rädchen in einer großen Firma mit Hochglanzbroschüren gewesen. Sein bester Freund Hamish, der mit ihm von der Insel weggezogen war, hatte das Unternehmen – »Lofty Ambitions«, ein bisschen zu viel Wortspiel für meinen Geschmack – gegründet und war für die Kundenakquise und -betreuung zuständig. Nein, ich darf nicht über die Vergangenheit nachdenken. Calders ruppige Ehrlichkeit wird hier sehr gut funktionieren. Seine etwas nüchterner »Loft Rooms« getaufte Firma wird Erfolg haben. Ich knabbere an einem widerspenstigen Stück Haut neben dem Daumennagel. Das ist die Kehrseite der Liebe. Jetzt sind Calders Sorgen auch meine Sorgen, und sie wiegen viel schwerer. Wenn ihn etwas belastet, belastet es auch mich, und ich versuche alles, um ihm zu helfen und an der Situation etwas zu ändern.
Beim Anlegen verfehlt die kleine Fähre den Pier und wird mit stotterndem Motor langsamer. Wie ungeschickt. Doch dann wird mir klar, dass das Manöver Absicht ist, als das Boot in einer Art Tanz dreht und sich dann rückwärts dem Pier nähert. Jetzt erkenne ich, dass das Anlegemanöver tatsächlich sehr gekonnt ausgeführt wird und der Kapitän dabei Geschwindigkeit, Abstand zum Land und den Wellengang einberechnen muss. Während der letzten Monate in London habe ich einen ähnlich seltsamen Tanz aufgeführt und versucht, mein Leben trotz Arbeitsstress und wachsender Angst zusammenzuhalten. Ich knabbere weiter an dem harten Stück Haut und reiße es schließlich ab. Der brennende Riss füllt sich mit Blut.
Metall und Ketten klirren, und ich sehe, wie die breite Rampe abgesenkt wird. Scharrend kommt sie auf dem Beton auf, während wir uns wieder ins Auto setzen. Einer nach dem anderen werden die Wagen von der Fähre gewinkt, und schließlich rollen wir ebenfalls holpernd über die Rampe an Land.
»Geschafft«, verkündet Calder. »Willkommen in deinem neuen Zuhause.«
»Hurra!«, rufe ich und sehe mich eifrig um, als wir eine steile Anhöhe hinauffahren, die sich über dem Strand erhebt. Ich berühre Calders Hand am Lenkrad. »Können wir einen Moment anhalten, damit ich ein Stück Schiefer mitnehmen kann?«
Er lacht und schaltet den Motor aus. »Klar. Ist ja nicht so, als wäre der hier Mangelware, nachdem er jetzt in Wales abgebaut wird.«
Ich steige aus, stemme mich gegen den Wind und trete auf die Schieferstücke. Unter meinen unsicheren Füßen stoßen sie mit einem Geräusch aneinander, das mich an die Jenga-Holzklötze erinnert. Ich hebe einen langen Splitter auf, der eiskalt und scharf in meiner von der Kälte tauben Hand liegt, und werfe ihn zu Boden.
»Willst du ihn zerbrechen?«, fragt Calder beim Aussteigen.
»Nein. Das Zeug sieht unverwüstlich aus. Kein Wunder, dass man damit Dächer deckt.«
»Jedes Stück hat eine Schwachstelle, egal wie groß und stabil es zu sein scheint.« Er deutet auf die Felsen in der Biegung der Bucht. »So zerteilt man den Schiefer. Man zieht eine kleine Kerbe hinein und sucht mit Hammer und Meißel nach der Bruchlinie.« Er hebt mein Stück Schiefer auf und wirft es erneut zu Boden. Dieses Mal zerbricht es in zwei Teile. »Siehst du.«
Ich sammle die beiden Stücke auf und halte sie aneinander. »Zwei Hälften eines Ganzen. Wie wir.«
»Oh, das ist süß.« Er lacht. »An den Kanten ist aber etwas abgesplittert, schau. Man sagt, gebrochener Schiefer kann nicht repariert werden.«
»Wer ist man?«
»Sie.« Er hebt die Hände wie ein Geist. »Ooooh.«
Ich lache.
»Also, möchtest du dir den Strand noch näher ansehen, oder sollen wir direkt ins Cottage fahren?«
»Fahren wir zu unserem neuen Zuhause.«
Nachdem wir zehn Minuten lang den grandiosen Ausblick aufs Meer genossen haben, rollen wir knirschend über einen Schotterweg. Islas gedrungenes weißes Haus steht hoch über einer atemberaubenden Bucht mit einer Steilküste und einem dramatischen Schieferstrand. Hinter dem einsamen Haus ragt eine steile Anhöhe empor. Calder kämpft mit dem Schloss, doch schließlich stößt er die knarzende Tür auf, die direkt in die Küche führt. Es riecht muffig und ist gefühlt noch kälter als im Freien. Der Raum liegt nahezu im Dunkeln, da die kleinen Fenster in den dicken Mauern kaum Licht hereinlassen.
Plötzlich ertönt ein bedrohliches Knurren.
»Was ist das?« Ich weiche zurück.
Calder hebt einen Stuhl hoch und hält ihn in Richtung des Geräuschs.
Etwas knackt.
Ein Fauchen.
Eine große schwarze Katze schießt direkt an uns vorbei nach draußen.
»Himmel, habe ich mich erschrocken!«
»Schon okay, das ist ein gutes Omen.« Calder lacht. »Schwarze Katzen beschützen die Fischer auf dem Meer.«
Ich dachte eigentlich, es wäre ein schlechtes Omen, wenn eine schwarze Katze den Weg kreuzt.
Calder schaltet das Licht ein.
Wir schnappen beide nach Luft.
Es sieht aus wie in einem Horrorfilm. Stühle sind umgeworfen. Der alte Gasherd ist verdreckt. Alles ist von einer dicken Staubschicht bedeckt, Spinnen haben ihre Netze gewebt.
»Verdammt, schau dir das nur an«, sage ich und wage einen weiteren Schritt in den Raum.
»Schon okay, keine Panik. Hier muss nur mal ordentlich sauber gemacht werden. Wir wussten doch, dass es einiges zu tun geben würde, wenn das Haus eine Weile leer gestanden hat.«
»Ja, klar.« Ich versuche, meinen Abscheu zu verbergen. »Wir müssen einfach nur die Ärmel hochkrempeln.«
»Holen wir erst mal das Gepäck aus dem Wagen, dann kaufe ich im Dorf Putzzeug und Vorräte.«
»Okay.« Ich nicke unsicher.
»Und dann sehen wir, was wir noch alles hochkrempeln.« Er zwinkert mir zu.
Ich lache und schraube meine Erwartungen an unsere ersten Tage in unserem neuen Heim herunter, während ich meine Schultertasche auf den Küchentisch lege. Neben eine unscheinbare Holzkiste. »Was ist das?«
Calder wischt den Staub vom Schieferdeckel, verengt die Augen und zuckt zurück. »Verdammt noch mal.«
»Was?«
Er schüttelt den Kopf. »Das ist Mum.«
»Was meinst du damit?« Ich lehne mich zu ihm, um die Gravur zu lesen, die er freigelegt hat.
ISLACAMPBELL 1956 – 2022
Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.
Matthäus 11,28
»Ist das ihre Asche?«, frage ich.
Er starrt die Kiste an.
»Calder?«
»Ich glaube schon.«
»Das Zitat ist ganz schön düster. Wer …«
Er nimmt die Kiste hoch. »Ich räume … sie mal weg«, murmelt er, schiebt die Asche seiner Mutter in einen Küchenschrank und schlägt die Tür zu.
»Dahin? Sollten wir sie nicht an einen etwas würdevolleren Ort stellen?«
»Wenn wir uns eingerichtet haben«, gibt er knapp zurück. »Dann suche ich ihr einen ordentlichen Platz.«
Ich berühre ihn am Arm, doch er schüttelt mich ab. »Es geht mir gut, Nance. Lass uns das Gepäck ins Haus bringen. Wir haben viel zu tun.«
Immer wieder sehe ich zu dem Schrank, während wir auspacken. Ich weiß, dass hinter der Lamellentür nur Islas Asche steht. Eine Kiste voll Staub. Trotzdem merke ich, wie Calder sich unbewusst von ihr abwendet, als er unsere Sachen ins Haus trägt.
Aber es ist natürlich auch ein Schock, so auf die Überreste seiner Mutter zu stoßen. Welcher Sadist hat die Kiste hier in die Küche gestellt, damit er sie findet? Natürlich hat ihn das erschüttert, aber er erholt sich bestimmt schnell davon. Außerdem muss ich unser neues Leben organisieren. Ich gehe zur Tür und stolpere prompt über einen gusseisernen Schuhabkratzer, der fest im Boden verankert ist. Himmel. Auf das Ding muss ich aufpassen, das kann einen umbringen. Ich gehe ins Freie und schüttele meine alberne Vorahnung drohenden Unheils ab. Wie üblich male ich mir wieder das Schlimmste aus.
Oder? Spielt doch nur meine Fantasie verrückt?
O mein Gott. Ehrfürchtig betrachte ich den blauen Himmel, der mit dem silbrigen Meeresteppich zu verschmelzen scheint. Drei Tage lang haben wir das Cottage geputzt, dann hat Calder beim ersten Tageslicht, also etwa um halb neun Uhr morgens, das Haus verlassen, um eine Segeltour im kleinen Boot seiner Mutter zu machen. Vom Klippenrand aus halte ich nach ihm Ausschau. Doch ich sehe nur diese umwerfenden Farben, die am Horizont eine Verbindung eingehen.
Der Anblick ist atemberaubend, doch die Kälte kriecht mir in die Knochen, und ich stehe auch nicht gern so nahe an dem pyramidenförmigen Schieferturm, der die Stelle kennzeichnet, an der Calder Islas Asche beigesetzt hat. Um seiner willen bin ich froh, dass sie nicht mehr in der Küche ist.
Ich gehe zurück zum Haus seiner Mutter – unserem Haus, in die Wärme unserer neuen Heizlüfter, die Calder gekauft hat, um die Lieferung von Ölkanistern für die Heizung zu überbrücken. Die Küche sieht jetzt sauber und einigermaßen bewohnbar aus. Und wir haben noch einen halb vollen Benzinkanister für den Herd, bis wir Nachschub besorgen können. Bis auf Strom wird hier alles an Energiequellen geliefert, daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Aber das schaffe ich.
Ich sehe zu meinem aufgeklappten Laptop. In weiser Voraussicht habe ich in London alles Notwendige aus der Cloud auf der Festplatte gespeichert, nachdem ich nicht wusste, wann wir hier einen Internetanschluss bekommen würden. Und zum Glück habe ich auch einen eselsohrigen Papierausdruck meines aktuellen Skripts, der auf dem alten Küchentisch liegt. Mein erster Auftrag als Freelancerin ist das Lektorat eines Drehbuchs zu einer modernen Verfilmung des Frankenstein-Stoffs. Gähn. Warum muss alles neu interpretiert werden? Dieses wunderbare Buch war eine Metapher für Wissenschaft, die zu weit gegangen ist, und darüber hinaus auch eine wirklich gruselige Geschichte. Doch in dieser abgedroschenen Neuerzählung namens Keine Firewall ist die Menschheit bei Social Media zu weit gegangen. Ein hübsches Tech-Genie namens Victoria (eine junge, moderne, weibliche Version von Dr. Victor Frankenstein) hat eine Onlineversion von sich selbst geschaffen, die außer Kontrolle geraten ist und ihres und das Leben ihrer Nächsten zerstört. Die moderne Parallele ist durchaus nachvollziehbar, doch das Skript ist oberflächlich und albern. Nachdem das Monster nur im Internet existiert, verfügt es nicht über die grausige Faszination der zum Leben erweckten Körperteile aus dem Original. Aber hey, man bezahlt mir einen Haufen Kohle, um dieses pseudocoole Machwerk aufzupolieren, also los. Ich öffne die Datei bei Kapitel drei, in dem Dr. Frankensteins Mutter stirbt. Ich bin bestrebt, mich frohen Mutes dem Tod zu ergeben, und hoffe auf ein Wiedersehen in einer anderen Welt. Seufz. Wer ergibt sich dem Tod schon frohen Mutes?
Ich sehe durch das kleine Küchenfenster zur Bucht und werde von plötzlicher Panik erfasst. Wo ist Calder? Sind wir hier in diesem isolierten Cottage in Sicherheit? Bin ich diesem einfachen Leben mit den Ölkanistern gewachsen? Werde ich hier wirklich leichter schwanger werden? Und wie werde ich damit klarkommen, den ganzen Tag allein an meinem Computer zu sitzen? Was, wenn ich zu einem unscheinbaren, unfruchtbaren Mehlsack werde, der an den Laptop gekettet ist, während sein attraktiver, windzerzauster Mann wie ein schneidiger Pirat übers Meer kreuzt?
Dann höre ich Schritte vor dem Haus und sehe, wie Calder sich nähert und dabei seine schwarzen Locken zurückwirft.
»Hallo«, sagt er fröhlich, als er durch die Tür tritt.
»Hallo«, erwidere ich und hämmere gespielt eifrig auf die Tastatur ein. Alles ist in Ordnung. Wie üblich gehe ich nur wieder vom Schlimmsten aus. Nichts ist je so schrecklich wie meine Fantasie.
»Die Tour um die Bucht herum war schön«, sagt er, während er die Brotdose öffnet und das schwere Sodabrot herausholt, das ich gestern gebacken habe, als ich meinen Vorsatz, mehr in der Küche selbst zu machen, in die Tat umsetzen wollte. Doch Islas Ofen ist unberechenbar und das Brot steinhart.
»Du musst das nicht essen«, meine ich lachend.
»Oh, ich möchte aber.« Er grinst und schneidet zwei dicke Scheiben ab. »Ich bin Manns genug für diese Herausforderung.« Mit einer kleinen Gewehrsalve springt der Gasgrill seiner Mutter an, Calder legt die Brotscheiben darauf und öffnet den Kühlschrank. »Dieses Ding hier ist so riesig, viermal so groß wie unser alter. Und das Gefrierfach. Mein Gott. Ohne die Fächer könnte ich darin stehen. Siehst du?«
»Meine Kochkünste sind also eine Herausforderung? Sag das noch mal, und du kommst nie wieder aus diesem Gefrierschrank heraus.«
»Eigentlich wollte ich sagen, deine Kochkünste sind …«
Ich sehe ihn gespielt aufgebracht an.
»Eine wahre Gaumenfreude!«
»Hmm.«
Als sein Toast fertig ist, streicht er dick Butter darauf.
»Hey, du bekommst noch einen Herzinfarkt. Denk an deinen Dad. Stell die wieder zurück in unseren Eissarg.« Ich will die Butter nehmen, doch er packt meine Hand.
»Lass mich los«, protestiere ich lachend.
Er drückt meine Handfläche in die Butter.
»Dann werde ich die Kalorien wohl einfach abarbeiten müssen«, murmelt er, zieht meine Hand hoch und leckt grinsend die Butter von meiner Haut. »Außerdem müssen wir den Tisch einweihen.« Er hebt mich hoch. Ich atme seinen Geruch ein, als er sich über mich beugt, mein Kleid aufknöpft und seine Hände über meinen Körper gleiten lässt, während ich sein Shirt hochziehe und mich an ihn klammere. Wir küssen uns stürmisch, ziehen uns zurück, bis sich unsere Lippen nur noch leicht berühren, dann fallen wir erneut übereinander her. Mit der Hüfte stoße ich eine halb volle Tasse Tee um, und die karamellfarbene Flüssigkeit ergießt sich über die Tischplatte, sickert in die Kerben und Ritzen.
Danach sind wir benommen und erschöpft. Calder klappt seine von der geschmolzenen Butter durchweichten Brotscheiben zusammen und beißt herzhaft hinein.
»Schau, du hast es in die Zeitung geschafft«, sage ich und hebe das teefleckige Exemplar der Langer Times hoch, das er gestern aus dem Laden mitgebracht hat. »Sogar in die Schlagzeile: VERLORENEKINDERKEHRENZURÜCK.«
Calder streckt die Hand nach der Zeitung aus, doch ich ziehe sie zurück und lese vor. »›Langer hat schon immer unter dem Fortgang seiner jungen Einwohner gelitten und uns damit die Herzen gebrochen.‹ Ganz schön dick aufgetragen, das würde ich anstreichen. Aber es geht noch weiter: ›Jetzt werden hier nicht nur Häuser von Zugezogenen aufgekauft, sondern einige unserer verlorenen Kinder‹«, ich deute theatralisch auf Calder, »›die als Teenager aufs Festland gezogen sind, verführt von den hellen Lichtern der Großstadt, kehren auf die Insel zurück. Als Erwachsene schätzen sie die stille Schönheit und das Gemeinschaftsgefühl. Kurz vor Weihnachten heißen wir voller Dankbarkeit und mit offenen Armen Martin Ferguson, Jean Connolly und‹ – Trommelwirbel – ›Calder Campbell willkommen.‹«
»Was für ein Mist, wir haben Langer alle aus unterschiedlichen Gründen verlassen«, sagt er und sieht zum Meer.
»Zum Beispiel?«
Er winkt ab. »Jeder hat seine eigenen Dämonen.«
Ich erstarre. Warum hat er das gesagt? Er kann doch unmöglich etwas von meinen Dämonen wissen.
Oder?
»Eine seltsame Wortwahl«, bemerke ich leichthin und stelle seinen Teller in die Spüle, damit er meinen Gesichtsausdruck nicht sieht.
»Du weißt doch, was ich meine. Teenager sind starrköpfig, voller Hormone und Geheimnisse.«
»Sehr mysteriös«, sage ich und spüle den Teller übertrieben sorgfältig ab. »Was war gleich noch mal dein Grund?«
»Ein kultiviertes Stadtmädchen zu finden, um es für die Bauerntrampel mitzunehmen, natürlich.«
»Und dann hast du nur mich bekommen.«
»Tja, damit muss ich mich wohl zufriedengeben.« Lachend knöpft er seine Jeans zu und schlüpft in seine Jacke. »Ich muss los, ich habe heute noch drei Besprechungstermine wegen Dachausbauten. Warum gehst du nicht in die ›Metropole‹ und lernst die Einheimischen kennen? Soll ich dich mitnehmen?«
Ich lächele über unseren albernen Namen für das winzige Dorf auf der anderen Seite des Hügels. »Ich glaube, ich mache einen Strandspaziergang.« Nach seiner Erwähnung der »Dämonen« muss ich allein sein, wieder zur Ruhe kommen.
»Zieh dich gut an, am besten mehrere Schichten. Du weißt ja, dass wir hier fünf verschiedene Wetter an einem Tag haben können.«
Ein lautes Miauen ertönt, und wir sehen uns stirnrunzelnd an. Calder öffnet vorsichtig die Haustür. Das schwarze Katzenbiest, das bei unserer Ankunft fauchend davongerannt ist, spaziert in die Küche, als wäre es der Besitzer.
»Komm her, Miez«, sage ich lockend.
»Geh zu Mum.« Calder lacht, als die Katze den Kopf an seinem Bein reibt.
Ich halte mich am Tisch fest. Er denkt sich nichts dabei, aber nach zwei Jahren voller vergeblicher Versuche, schwanger zu werden, schmerzt es, als »Mum« bezeichnet zu werden. Aber vielleicht haben wir ja jetzt gerade ein Kind gezeugt? Ein Butterkind? Ich sehne mich so sehr nach einer Familie. Meine Eltern waren gute, liebevolle Menschen. Sie waren sofort tot, als unser Auto bei dem Unfall zu einer Ziehharmonika wurde. Ich war damals vierzehn, ein Einzelkind, und danach vier Jahre in Pflegefamilien. Dann war ich eine verkorkste, schwer schuftende Sekretärin und arbeitete mich zur Producerin bei der BBC hoch, bis ich mit 32 Calder kennenlernte und er zu meiner Familie und meinem sicheren Hafen wurde.
»Na, wer bist denn du?« Ich nehme die sich sträubende Katze hoch und streichele sie beruhigend. Doch sie kratzt mich und springt zu Boden.
»Irgendwie muss ich gerade an Attila denken, den Hunnenkönig, auch wenn es ein Weibchen ist«, sagt Calder und deutet zum Hinterteil der Katze. Sie lässt sich von ihm streicheln, und ich reibe an dem Kratzer an meinem Hals. »Alles okay?«
»Ja. Fahr nur zu deinen Terminen.« Ich habe Angst, dass das Verhalten der Katze irgendwie unterstreicht, dass ich hier die Außenseiterin bin und Calder der wahre Insulaner.
»Okay, dann bin ich mal weg.« Er nimmt seine Tasche und marschiert aus dem Haus. »Bis später.«
»Bis später«, erwidere ich.
Ich höre, wie er mit unserem Mietwagen davonfährt. Nachdem ich mein ganzes Leben in London verbracht habe, musste ich nie fahren, doch hier werde ich in den sauren Apfel beißen müssen. Unseres ist das einzige Cottage in der Bucht. Wir haben noch kein Internet. Das Festnetztelefon ist abgestellt, und es gibt kaum Handynetz. Ohne Calder wäre ich hier völlig aufgeschmissen.
Ich gehe ins Schlafzimmer, es ist immer noch ungewohnt für mich, dass in diesen Häusern alle Räume ebenerdig sind. Während ich mir ein paar zusätzliche Schichten anziehe, spüre ich Calders Berührung noch auf meinem Körper. Der Sex mit ihm war schon immer intensiv gewesen, aber auch intuitiv und unkompliziert. Trotz unseres stürmischen Kennenlernens hatte er uns von Anfang an miteinander verbunden.
An einem heißen Nachmittag vor fünf Jahren am Regent’s Canal in London war ich betrunken auf eine grellgrüne Grasfläche getreten, die unter mir nachgegeben hatte. Ich versank im Wasser, wo ich wild um mich schlug und nach Luft schnappte. Als ich kurz davor war, ohnmächtig zu werden, wurde ich am Arm nach oben gerissen und mein schleimiger Kadaver ans Ufer gezogen, wo ich mich übergab.
»Das ist kein Gras, sondern Algen. Bist du dumm, oder was?«, schnauzte mich ein großer Mann an und wandte sich ab.
»Hey«, rief ich ihm hustend hinterher. »Wie heißt du?«
»Calder«, knurrte er.
»Was?«
»Calder. Das ist Schottisch und heißt ›wildes Wasser‹.«
»Wie das hier?« Ich hustete wieder und deutete zum Kanal.
Er schnaubte. »Das ist doch nicht wild. Du schon.«
Ich grinste. »Und wie wild bist du, Calder?«
Im Bett harmonierten wir sofort, als wir mit der gleichen hemmungslosen Leidenschaft übereinander herfielen. Wir waren zwar im selben Alter, aber sehr unterschiedlich – ich klein, gut ausgebildet und wortgewandt; er groß, mit sechzehn von der Schule abgegangen und praktisch veranlagt –, doch die körperliche Anziehung dauerte lange genug an, bis wir eine tiefere emotionale Verbindung aufgebaut hatten. Nach der Reihe selbstverliebter Schauspieler und Schriftsteller, bei denen ich mich nie gut genug gefühlt hatte, war ein Mann, der mich vergötterte, wie … zum ersten Mal auf festem Boden zu stehen. Ein Leben ohne ihn kann ich mir nicht mehr vorstellen. Und nach fünf gemeinsamen Jahren wohne ich jetzt mit ihm im Cottage seiner Mutter auf dieser winzigen Insel inmitten von wirklich wildem Wasser.
Ich erhasche einen Blick auf mich im Schrankspiegel. Mein akkurat geschnittener schwarzer Bob franst mit jedem Tag mehr aus, und am Seitenscheitel sind die braunen Ansätze zu sehen. Gut. Ich will diese ernste schwarzhaarige Version von mir zurücklassen. Werde nicht in der Vergangenheit verharren. Ein neuer Ort, ein neues Ich. Ich muss aus dem Haus und das wilde Wasser da draußen bewundern. Nachdem es hier Ende November um vier schon wieder dunkel wird, beeile ich mich besser. Ich ziehe Stiefel, Mantel und meine grellrosafarbene Wollmütze an, die in London cool gewirkt hat und hier eindeutig nach Tourist aussieht.
Es geht mir besser, sobald ich draußen bin. Unter dem unendlichen blauen Himmel. In Bewegung. Als ich mit knirschenden Schritten den Weg entlanggehe und frische Luft meine Lunge füllt. Auf dem Schiefer am Strand bin ich ein neu geborenes Kalb, das unsicher trippelt, ausrutscht und sich an schleimig-grünen Felsen festhalten muss. Auf den Füßen zu bleiben, erfordert meine ganze Konzentration. Ich schnaube, als ich daran denke, wie ich in London 135 Pfund für ein Balance Board ausgegeben habe. Dieser schroffe Hindernisparcours ist viel besser. Die helleren, trockenen Schieferplatten sind einfacher, doch die dunkel glänzenden, nassen sind trügerisch, vor allem die von Seegras überzogenen.
»Hey«, ruft da plötzlich jemand.
Ich reiße den Kopf hoch und entdecke einen dunklen, flimmernden Umriss in einiger Entfernung. Als ich die Augen beschatte und in die Sonne spähe, erkenne ich eine große, geisterhafte Gestalt in langen grauen Gewändern, die sich gespenstisch schnell über den Schiefer bewegt. Als würde sie von einer unsichtbaren Kraft vorangetrieben. Doch dann sehe ich, dass es sich um einen großen, dünnen Mann in einem langen grauen Regenmantel handelt, mit Glatze, einem kantigen Gesicht und stechenden blauen Augen. Er muss fast einen Meter neunzig groß und etwa Mitte fünfzig sein und strahlt eine vibrierende Energie aus, wie ein ehemaliger Basketballer, der sich fit hält. Beunruhigt sehe ich mich um, schließlich bin ich ganz allein hier. Er hält mir die Hand entgegen. Auf dem Schiefer kann ich nicht weglaufen, weshalb ich angespannt lächele und ihm die Hand hinstrecke. Doch als ich einen Schritt nach vorn machen will, rutsche ich aus. Er packt meine Hand.
»Vorsicht, der Schiefer kann sehr glatt sein«, sagt er mit tiefer Stimme.
»Danke.« Ich befreie mich aus seinem verschwitzten Griff.
Er deutet nach oben. »Ich habe geklopft, aber niemand hat aufgemacht, dann habe ich Sie hier unten am Strand gesehen.«
»Kann ich … Ihnen irgendwie helfen?«
»Eher umgekehrt.« Er grinst, als müsste ich ihn verstehen.
»Oh?«
»Ja, Mrs Campbell.«
Er weiß, wer ich bin? Hatte man ihn wie den Mann auf der Fähre vorgewarnt? Calder und ich sind nicht verheiratet, aber das verrate ich diesem beunruhigend charismatischen Fremden nicht.
»Ich bin Arran«, sagt er und schüttelt mir stürmisch die Hand.
»Wie der Pullover?«, entfährt es mir.
»Wie der Pullover, aber mit zwei r«, antwortet er grinsend. Seine blauen Augen blitzen. »Es bedeutet ›Inselbewohner‹. Ich bin stolz auf meinen Namen. Ich liebe die Insel und ihre Gemeinschaft. Und Sie, Nancy, sind ihr neuester, überaus reizender Zuwachs.«
Okay, der Typ ist seltsam, weg hier. »Äh ja. Schön, Sie kennenzulernen, aber ich muss jetzt los.«
»Ich bin der Pastor der Insel.«
Oh. Ich bin eigentlich nicht religiös, aber ich weiß, dass Calders Eltern sehr gläubig waren. Sein Vater war ein Kirchenältester, seine Mutter hatte sich um den Blumenschmuck in der Kirche gekümmert und geputzt. Ich sollte besser respektvoll sein.
»Natürlich. Ich habe schon von Ihrer berühmten Kirche gehört.«
Er lächelt, sieht mir zu tief in die Augen.
»Sie hat einen Altar aus Schiefer, nicht wahr?«, plappere ich weiter. »Ich glaube, ich habe davon in einem Reiseführer gelesen.«
Er starrt mich an. Ich blinzele nervös, kann den Blick aber auch nicht abwenden.
»Das stimmt«, sagt er schließlich. »Eine bekannte Touristenattraktion. Aber ich hatte gehofft, dass ihr, Sie und Calder, uns bei der Messe Gesellschaft leistet. Wir freuen uns alle sehr, dass er zu uns zurückgekehrt ist.«
Was soll eigentlich diese komische besitzergreifende Art, die sie alle Calder gegenüber an den Tag legen?
»Oh, ja, nun, ich werde es ihm ausrichten.« Ich sehe uns nicht als Kirchgänger. Oder müssen wir das auf so einer kleinen Insel sein?
Er bemerkt meine Zurückhaltung.
»Calders Mutter Isla war der Kirche sehr verbunden«, sagt er. »Es war eine große Enttäuschung für sie, dass er ihr als Jugendlicher den Rücken gekehrt hat.«
Diese implizierte Kritik an Calder ärgert mich. »Haben Sie ihre Asche auf unserem Küchentisch abgestellt?«
Er holt abrupt Luft. »Es war Islas Wunsch, in ihr Cottage zurückzukehren.«
»Aber ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, wie verstörend es für Calder sein muss, sie dort zu finden? Ohne Vorwarnung?«
Er runzelt die Stirn. »Ach herrje, daran habe ich wirklich nicht gedacht. Geht es ihm gut?«, fragt er und berührt mich am Arm.
»Ja, alles in Ordnung.« Ich will einen Schritt zurücktreten, rutsche dann jedoch auf etwas Seegras aus, und er fängt mich wieder auf.
»Vorsicht.« Er zieht mich zu sich. »Ist er später zu Hause? Ich sollte mich bei ihm wegen Islas Asche entschuldigen. Das war wirklich gedankenlos.«
»Ich sage ihm, dass Sie vorbeigeschaut haben.« Ich trete einen Schritt zurück.
Er bückt sich, hebt ein Stück moosüberzogenen Schiefer auf und hält es mir hin. »Befreie mich von dieser Schuld, Gott, damit wir den Tag neu beginnen können.«
»Wie bitte?«
Er wischt das Moos von dem Stück Schiefer, während er sich aufrichtet. »Bewahre mich vor gedankenlosen Sünden, vor dem Glauben, ich könne deine Arbeit machen. Dann kann ich diesen Tag in Sonne getaucht beginnen, reingewaschen vom Schmutz der Sünde.«
»Äh, ich …«
Er grinst. »Psalm 19, Vers 13. In einer modernen Version, aber mir gefällt einfach das Bild so gut.«
»Oh, ach ja.«
»Haben Sie sich schon mal gewünscht, ganz neu anfangen zu können, Nancy? Alles von sich abwaschen zu können?« Er sieht mich eindringlich an.
»Ich …« Kann er Gedanken lesen? Ich wende mich abrupt ab und blicke hinauf zu der Anhöhe hinter unserem Cottage, um die Tränen in meinen Augen zu verbergen.
»Alles in Ordnung?«
»Ich bewundere nur das Schaf da oben«, bringe ich mühsam heraus und deute zu dem wolligen Tier, das auf der steil abfallenden Grasklippe balanciert, was sehr gefährlich aussieht. »Unglaublich, dass es nicht abstürzt.«
»O doch, fallende Schafe kommen häufiger vor, als man denkt.«
Seine Überheblichkeit geht mir allmählich auf die Nerven. »Kommen Sie schon, das ist jetzt aber eine Bibelmetapher, oder?«
»Nein, sie stürzen wirklich ab. Und sterben.«
Ich wende mich zu ihm. »Wie bitte, ich dachte, Schafe wären so trittsicher?« Ich sehe ihn irritiert an. Kann er dieses ganze mysteriöse Getue nicht lassen und endlich abhauen?
Er lächelt. »Als ich mir letztes Jahr den Knöchel verstaucht habe, habe ich nur Menschen gesehen, die mühelos auf zwei gesunden Füßen herumgelaufen sind. Wir nehmen das wahr, was uns besonders beschäftigt. Diese Metapher vom gefallenen Schäfchen scheint Sie besonders beunruhigt zu haben, oder?«
»Oh, jetzt bin ich also ein Schaf?«
»Wir sind alle ein Teil von Gottes Herde. Mein Titel Pastor kommt aus dem Lateinischen und heißt ›Hirte‹. Das Verb dazu lautet pascere, ›füttern, auf die Weide führen‹. Wenn Sie also Führung benötigen …«
»Nein«, falle ich ihm ins Wort.
Er zuckt mit den Schultern. »Dann gehe ich mal besser. Richten Sie Calder bitte aus, dass ich hier war. Und ich freue mich darauf, euch beide beim Gottesdienst zu sehen.« Mühelos spaziert er über die rutschigen Schieferstücke davon.
Verdammt. Mein erster Kontakt mit einem Einheimischen war eine völlige Katastrophe. Ich bin immer noch irritiert, bereue aber trotzdem, so abweisend reagiert zu haben. Er hatte ja nichts Böses im Sinn. Es war nur ein unglücklicher Zufall, dass er von Neuanfängen gesprochen hat und ich dachte, er könne meine Gedanken lesen. Wie bei Horoskopen: Ich lese den Text zu meinem Sternzeichen und fühle mich gleich angesprochen. Doch wenn ich die anderen Sternzeichen lese, sprechen sie mich auch an.
Allerdings war er beunruhigend nahe an der Wahrheit.
Ich bin ein gefallenes Schaf.
Vor ein paar Monaten war Calder beruflich auf Reisen, und ich hatte einen betrunkenen One-Night-Stand. Mir wird schlecht vor Selbstekel, wenn ich daran denke. Ich weiß, dass es passiert ist, kann es aber trotzdem nicht glauben. Wie konnte ich nur? Völlig egal wie betrunken ich war. Was für eine unfassliche Gedankenlosigkeit hatte da nur von mir Besitz ergriffen? Ich schließe die Augen, will mich von innen nach außen stülpen, aus mir selbst fliehen. Ich habe versucht, »gut« zu mir zu sein. Mir zu sagen, was ich einer Freundin in derselben qualvollen Lage sagen würde: Es war ein einmaliger, schrecklicher Fehler, als du sehr betrunken und sehr verzweifelt warst; alle machen Fehler; du musst dir vergeben; versuch, nach vorn zu schauen. Anderen rate ich das immer. Doch jetzt weiß ich, dass es sich zwar gut anfühlt, es auszusprechen, es jedoch völlig nutzlos ist, es selbst zu hören. Ich habe die Liebe meines Lebens betrogen. Ich verdiene es, zu leiden.
Danach gerieten meine Angstzustände außer Kontrolle, meine Arbeit litt, und ich war kurz vor einem Zusammenbruch. Nur zu bereitwillig ergriff ich die Chance, auf die Insel umzuziehen. Ich durfte Calder einfach nicht verlieren, meinen sicheren Hafen. Wenn ich es ihm erzählt hätte, hätte ich meine Sünde nur noch vergrößert, indem ich ihn und uns vernichtet hätte. Doch jetzt habe ich ein Geheimnis vor ihm. Nun, da muss ich wohl durch. Nachdem man die zerschmetterten Leichen meiner Eltern aus dem Autowrack gezogen hatte, hatte ich gelernt, das weiße Rauschen der Angst in meinem Kopf auszublenden, Gedanken zu verdrängen, denen ich mich nicht stellen konnte, und mich im Hier und Jetzt auf die vor mir liegende Aufgabe zu konzentrieren. Mehr kann ich auch im Moment nicht tun. Außer mein neues Leben hier annehmen und hoffen, dass es mir zur Gewohnheit wird, und irgendwie weitermachen.
Also dann. Ich habe die Auswahl zwischen dem Laden, dem Pub und dem Hafen.
Alkohol sollte ich besser nicht trinken. Boote hasse ich. Dann also zum Laden.
Er befindet sich auf der anderen Seite der Insel in der »Metropole«, und man erreicht ihn, indem man einfach der Küstenstraße folgt, egal in welche Richtung. Über die Hügel führt jedoch ein kürzerer Weg, den ich mit Calder während unseres ersten Besuchs auf der Insel gegangen bin. Der Tag ist sonnig und ruhig, und die Wanderung wird mich auf andere Gedanken bringen.
Ich gehe am Cottage vorbei und beginne den Aufstieg durch das flache Gebüsch zu dem nur gute zehn Zentimeter breiten Pfad hinauf, der von dort steil nach unten führt. Auf flachem Untergrund könnte ich unbesorgt draufloslaufen, doch das Gefälle macht den Weg tückisch. Beim letzten Mal hat Calder mir den Rat gegeben, nicht nach unten zu sehen, sondern nach vorn und mich dabei Richtung Hang zu lehnen. Jetzt berühre ich beinahe die Steigung neben mir, während ich mich mit Trippelschritten fortbewege, bis es endlich wieder ein Stück nach oben geht. Auf dem Gipfel komme ich wieder zu Atem und nehme den großartigen Ausblick in mich auf: den wilden Atlantik, die weiten Grasflächen und die Hügel in Grün-, Braun- und Lilaschattierungen.
Hier muss der höchste Punkt der Insel sein. Der Untergrund ist uneben und sumpfig, weshalb ich von einer der zerklüfteten Spalten zurücktrete, die Calder mir gezeigt hat und die sich während des heißen Sommers gebildet haben. Der klarblaue Himmel mit den gelegentlichen weißen Wolkenstreifen erstreckt sich ins Unendliche. In London habe ich kaum bemerkt, dass es so etwas wie einen »Himmel« überhaupt gab, dort war er zwischen den Hochhäusern nur angedeutet wie ein blauer Strich auf einer Kinderzeichnung. Hier ist der Himmel übermächtig. Das Sonnenlicht taucht den Hügel in weiches Licht, und ich fühle mich Gott seltsam nahe. Ha. Arran wäre entzückt. Ich befinde mich in einer natürlichen Kathedrale, an einer Kreuzung zwischen Mensch und Himmel. Vielleicht kann ich mir hier endlich vergeben.
Plötzlich ziehen Wolken vor die Sonne, und ein starker Wind kommt auf, gegen den ich mich stemmen muss. Die zarten Schleier sind verschwunden, erdrückende grau-lila Gebilde türmen sich auf, senken sich herab wie ein Raumschiff und verdecken das Licht. Der Wind ist ein unsichtbarer Rammbock, der mich zur Seite drängt. Dieses Wetter könnte mich umbringen. Mühelos. Ich muss mich beeilen.
Eisiger Regen peitscht mir ins Gesicht, während ich den breiteren Pfad auf der anderen Seite des Hügels mit vorsichtigen Schritten hinuntergehe. Arran hat sicher gelogen, als er gesagt hat, von hier oben würden Schafe abstürzen, doch ich sehe die ganze Zeit vor mir, wie ich blökend in die Tiefe falle.
Genau unter mir nähert sich die Fähre. Sie kommt nicht direkt vom Festland, sondern von der etwas dichter besiedelten Insel daneben, die mit einer Brücke mit dem Festland verbunden ist. Über den Bau war offenbar viel diskutiert worden. Nicht mit freudiger Zustimmung hatte man auf den Vorschlag reagiert, wie ich es erwartet hätte, sondern mit vehementer Ablehnung. Die Einwohner hatten argumentiert, dass sie »den Inselstatus zerstören würde«, »ja jeder herüberkommen könne« und »niemand wisse, wo sich die Kinder herumtreiben würden«. Nach dem ganzen Gerede von den »verlorenen Kindern« frage ich mich, ob die Insulaner nicht eher versucht haben, ihre Kinder hier festzuhalten.
Endlich erreiche ich die »Metropole«, die wie eine Spielzeugstadt aus einem Kinderbuch aussieht. Zwei lange Reihen niedriger weißer Häuser säumen die einzige Straße. Am Ende der einen Reihe befindet sich das Pub, das aus zwei weißen Häuschen und einem klapprigen Anbau auf der Rückseite besteht. Auch der Laden und das Hafenbüro sind in den gedrungenen weißen Häusern untergebracht. Ich fühle mich wie eine Ratte bei einem Laborexperiment, bei der man darauf wartet, in welchen weißen Würfel sie als Nächstes huscht. Nur Arrans Kirche scheint zweckmäßig gebaut. Sie ist klein, feierlich und natürlich mit grauem Schiefer gedeckt. Ich dachte, sie gehöre zur Church of Scotland, doch hier hängt man einer eigenen Form des Christentums an, einer ziemlich altmodischen, wie Calder mir erzählt hat. Das ist noch viel weniger unser Ding. Die Kirche thront auf einer kleinen Anhöhe über der Straße, sodass ihr mahnendes Kreuz seinen kalten Schatten auf mich wirft, als ich daran vorbeigehe. Ich bin nicht gläubig, fühle mich aber trotzdem verurteilt.
Vermutlich gehen Menschen in die Kirche, um Buße zu tun und nach vorn zu schauen. Manche Menschen leben mit so viel Schlimmerem als meinem Vergehen, mit ständigen Affären, Verbrechen, Gewalt, sogar mit Mord. Und doch sehen sie fern, gehen einkaufen, küssen ihren Partner oder ihre Partnerin und gehen daran nicht kaputt. Wie machen sie das nur?
Eisiger Regen trifft meine Wangen wie Nadelstiche. Ich habe die teure Feuchtigkeitscreme, die mir Hamishs Frau Gina zum Abschied geschenkt hat, nicht benutzt, und meine Haut brennt, als ich »Janeys Laden« erreiche. Es ist großartig, dass der Laden tatsächlich so heißt und der Name in Großbuchstaben auf einer Tafel steht. Calder sagt, wir würden den Großeinkauf auf dem Festland erledigen und die Dinge des täglichen Bedarfs hier im örtlichen Postamt und Laden kaufen. Laut ihm hat die Royal Mail mal versucht, Janey wegen der geringen Einwohnerzahl die Lizenz zu entziehen, sie hat dann jedoch die Insulaner zusammengetrommelt und dagegen protestiert, weshalb die Post bleiben durfte.
Die Türglocke läutet, als ich den vollgestopften Laden betrete. Ich sehe eine große, schlanke Frau mit langen grauen Haaren und wachen braunen Augen, die Armeehosen und ein gebatiktes Oberteil mit zwei Fischen, die das Yin-und-Yang-Symbol bilden, trägt. Sie steht vor Regalen mit Süßigkeiten, Kaugummi, Angelbedarf, Rubbellosen und Zigaretten.
Okay, bei meinem zweiten Kontakt mit den Einheimischen werde ich mich mehr anstrengen. Ich kann es mir nicht leisten, es mir bei den wenigen Einwohnern mit noch jemandem zu verscherzen.
»Guten Morgen, Nancy«, begrüßt mich die Frau. »Tut mir leid, hier spricht sich alles schnell herum. Du bist Calders Frau, nicht wahr? Wir freuen uns alle so, dass er zurück ist. Was kann ich für dich tun?«
Ich korrigiere sie nicht. »Janey?«
Sie nickt. »Ja.«
»Hallo. Ich wollte mich nur mal umsehen«, sage ich gezwungen fröhlich.
Sie schürzt theatralisch die Lippen und grinst dann breit. Ich lache. Natürlich »sieht sich« niemand einfach so in dem Laden um. Das macht man in London.
»Tu dir keinen Zwang an«, sagt Janey.
Plötzlich ertönt im Hinterzimmer ein lautes Poltern. Ihr Blick flackert kurz.
»Alles … okay da hinten?«
»Ja, warum?«
»Äh, hast du das nicht gehört?«
Die Tür hinter ihr öffnet sich. Ein kleiner Mann mit Halbglatze und warm funkelnden Augen sieht grinsend durch den Spalt.
»Entschuldigung, ich habe was umgeworfen …« Er entdeckt mich. »Tut mir leid«, murmelt er, verzieht das Gesicht in Richtung Janey und wendet sich ab. Mir fällt das tätowierte C in seinem Nacken auf.
»Das ist nur Rob, ein Freund. Er hat den Abfluss repariert.«
Ich grinse, und sie wird rot.
»Er hat wirklich den Abfluss repariert. Also …«
Ich lächele wieder. »Schon gut, ich gehe wohl besser.«
»Nein, warte, einen Moment nur.«
Sie geht nach hinten. Durch die halb offene Tür sehe ich, wie Rob ihre Wange streichelt und sie sanft auf die Lippen küsst. Ein zärtlicher intimer Moment zwischen zwei Menschen, die offensichtlich ineinander verliebt sind, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihnen dabei zusehe. Rasch gehe ich zum anderen Ende des Ladens. Dann höre ich, wie eine Tür geschlossen wird und Janey zurückkommt. »Lass uns eine Tasse Tee trinken. Ich könnte jetzt eine gebrauchen.«
»Ja gern, aber …«
»Komm mit nach hinten.«
»Aber der Laden …«
»Das möchte ich sehen, dass jemand mich zu bestehlen versucht.«
Ich folge ihr in einen niedrigen rechteckigen Raum, in dem ein Feuer im Kamin brennt. Davor steht ein abgewetztes L-förmiges Sofa, das mit farbigen Überwürfen und Kissen bedeckt ist.
»Zieh die Stiefel und die nasse Hose aus und wickle dich in die Decke«, befiehlt sie. Sie steckt meine nassen Sachen in den Trockner, während ich mich auf ihrem gemütlichen Sofa einrolle. Ich mag sie jetzt schon. Sie strahlt Wärme aus. Vielleicht kann ich in ihrem Schein auftauen.
»Ich weiß, das ist eine komische Bitte«, sagt sie, als sie mit den Teetassen zurückkommt, »aber könntest du vielleicht niemandem gegenüber etwas von Rob erwähnen? Die Situation ist etwas ›delikat‹.«
»Äh, okay?«
»Er war beziehungsweise ist noch mit Alison verheiratet, einer Frau hier auf der Insel.« Ich schlucke. Arran hatte recht – ich sehe meine Sünde überall. »Sie sind getrennt, aber wenn man ein gemeinsames Kind hat, ist man das ja nie vollständig.«
Ich zucke beiläufig mit den Schultern. Aber sie hat recht. Wie ich nur zu gut weiß.
»Die Trennung war böse, mit allen möglichen unschönen Lügen und Gerüchten. Er ist ein toller Mann, aber ich will nicht für noch mehr Ärger sorgen, weswegen wir uns bedeckt halten.«
»Sehen ihn die Leute denn nicht auf der Insel? Sie ist ja nicht sehr groß.«
»Wir treffen uns normalerweise auf dem Festland, doch ganz ab und zu kommt er mit seinem Boot nach Einbruch der Dunkelheit und fährt bei der ersten Morgendämmerung wieder. Heute hat er verschlafen. Bitte erzähl es auch Calder nicht. Oder ist das schwierig?«
»Kein Problem.« Ich hätte nie gedacht, dass ich überhaupt mal Geheimnisse vor Calder haben würde. Was machte eines mehr da schon aus?
»Also«, sagt sie und schüttelt ihre wunderschönen grauen Haare, »habt ihr euch da oben schon gut eingerichtet?«
»Wir haben viel geputzt und repariert, langsam wird es wohnlich. Wir haben sogar eine Katze, glaube ich. Ein großes schwarzes Tier.«
»Wahrscheinlich ist die von dem wilden Wurf, den Isla vor zwei Jahren durchgefüttert hat. Sie hat die Mutter und die Kleinen auf einem alten Rucksack in ihrem Schuppen gefunden. Das überrascht mich, dass sie bei euch bleibt, wilde Katzen trauen eigentlich niemandem.«
»Calder schien sie sofort zu vertrauen.«
Sie nickt, als wollte sie sagen: Natürlich! Er ist ja auch Insulaner. »Habt ihr ihr einen Namen gegeben?«
»Attila.«
Sie neigt den Kopf. »Interessanter Name für ein Weibchen.«
»Ich habe sie hochgenommen, da hat sie mich gekratzt, und Calder musste in dem Moment an Attila denken. Damit war die Sache entschieden.«
Sie lacht. »Na ja, wenn sie da oben überlebt hat, ist sie zäh und der Name genau richtig. Attila war ein starker Mann, hat nur eine Schlacht verloren. Auch wenn er unter mysteriösen Umständen gestorben ist.«
»Oh?«
»Ja, nach der Hochzeit mit seiner zweiten Frau lag er am nächsten Morgen tot im Bett, den Mund voller Blut. Niemand weiß, was ihn getötet hat – zu viel Alkohol, plötzliches heftiges Nasenbluten … oder vielleicht seine neue Frau?«
Wir trinken unseren Tee.
»Und, hast du schon viele von uns kennengelernt?«, fragt Janey schließlich.
»Nur einen, den Pastor. Und das habe ich vermasselt.«
»Arran?«
»Ja. Ich war eher abweisend, und ich glaube, ich habe ihn beleidigt.«
»Oh, Arran vergibt sehr gern. Einigen Menschen zumindest.«
»Wie bitte?«
»Er meint es gut, aber er ist ein Kontrollfetischist. Denkt, er wüsste, was für alle am besten wäre.«
»Ja, den Eindruck hat er auf mich gemacht. Aber ich will hier dazupassen. Ich will so viele Leute kennenlernen wie möglich.«
»Tut mir leid, dass ich dir Rob nicht vorgestellt habe. Ich weiß, das war unhöflich. Aber seine Ex, Alison, hat gesagt, sie würde ihn umbringen, wenn er noch mal einen Fuß auf die Insel setzt. Außerdem dachte ich, es wäre komisch, da er ja Caitlins Vater ist.«
»Caitlin, Calders ehemalige Freundin? Ja, ja, er hat sie erwähnt. Sie hat die Insel kurz vor ihm verlassen, richtig?«
»Mhm. Im selben Jahr wie Calder und ein anderer junger Mann, Hamish.«
»Ja, Hamish und Calder hatten in London eine gemeinsame Firma für Dachausbauten.«
»Das wussten wir.«
»Die drei gehörten also zu den ›verlorenen Kindern‹ aus der Zeitung?«
»Ich schätze schon. Rob hat es jedenfalls schwer getroffen, dass Caitlin gegangen ist. Er hat in London nach ihr gesucht. Doch sie hat den Kontakt zu allen abgebrochen, auch zu ihren Eltern. Einmal im Jahr schickt sie eine Postkarte an ihre Mutter, am Jahrestag ihres Weggangs von der Insel. Nur dann reden Rob und Alison miteinander. Er ist danach jedes Mal ganz fertig.«
»Hat er sich deshalb das C im Nacken tätowieren lassen?«
»Ja.« Sie lächelt schwach und senkt dann den Blick, wie um das Thema zu beenden. Wie seltsam, die Erinnerung an das eigene Kind durch ein Tattoo an einer der schmerzhaftesten Stellen am Körper aufrechtzuerhalten. Aber ich habe nicht das Gefühl, weitere Fragen stellen zu können.