Das Wasser unserer Träume - Marica Bodrožić - E-Book

Das Wasser unserer Träume E-Book

Marica Bodrozic

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Beschreibung

Was am Ende zählt im Leben

Er hat keinen Namen. Und er kann nicht sprechen. Der Mann weiß nicht einmal, wo er ist, auch die Zeit ist ihm fremd geworden. Ein ganzes Jahr lang liegt der Namenlose im Koma und übt sich im Erwachen. Mit der Rückkehr in die Welt verbinden sich auf unerwartete Weise seine Sinne. Er erlangt die Fähigkeit, sich umfassend zu erinnern. Ein Unfall, so scheint es, hat ihn in diese rätselhafte Situation gebracht. Er kann seinen Körper nicht bewegen, aber er ist sich dennoch seiner selbst bewusst – und nicht nur das, er kann sowohl die Gedanken als auch die Sehnsucht der anderen lesen. In dieser »höheren Heimat« beginnt er zu ahnen, dass er noch einmal ins Leben und in seinen Körper zurück darf. Denn die Freundschaft eines Mannes und die Liebe zweier Frauen machen ihn zu einem hoffenden Menschen.

Mit sprachlicher Brillanz begibt sich Marica Bodrožic´ mit ihrem Protagonisten auf eine Reise in faszinierende geistige Landschaften und erzählt, was im Leben bleibt – und worauf es am Ende ankommt.

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Buch

Er hat keinen Namen. Und er kann nicht sprechen. Der Mann weiß nicht einmal, wo er ist, auch die Zeit ist ihm fremd geworden. Ein ganzes Jahr lang liegt der Namenlose im Koma und übt sich im Erwachen. Mit der Rückkehr in die Welt verbinden sich auf unerwartete Weise seine Sinne. Er erlangt die Fähigkeit, sich umfassend zu erinnern. Ein Unfall, so scheint es, hat ihn in diese rätselhafte Situation gebracht. Er kann seinen Körper nicht bewegen, aber er ist sich dennoch seiner selbst bewusst – und nicht nur das, er kann sowohl die Gedanken als auch die Sehnsucht der anderen lesen. In dieser höheren Heimat beginnt er zu ahnen, dass er noch einmal ins Leben und in seinen Körper zurückdarf. Die Freundschaft eines Mannes und die Liebe zweier Frauen machen ihn zu einem hoffenden Menschen.

Marica Bodrožić begibt sich mit ihrem Protagonisten auf eine Reise in faszinierende geistige Landschaften und erzählt, was im Leben bleibt - und worauf es am Ende ankommt.

»Ich bin in meinem Traum fest verankert und begreife, dass ich nur erwachen kann, wenn ich die Seiten vollständig wechsle und in der Strömung aufgehe, die mich ins Verschmelzen drängt. Die Liebe macht die Verwandtschaft und nicht die Verwandtschaft die Liebe. Daran muss ich mich halten, diesen Satz zu meinem Ufer, zu meinem Ziel machen. Was aber, wenn doch beides gilt, die Liebe und die Verwandtschaft?«

»Diese Prosa ist durch und durch poetisch.«

Walter Hinck, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Autorin

Marica Bodrožić kam 1973 in Dalmatien zur Welt. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Förderpreis für Literatur der Akademie der Künste in Berlin, den Kulturpreis Deutsche Sprache, den Literaturpreis der Europäischen Union und zuletzt für den Band „Mein weißer Frieden“ den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2015. Marica Bodrožić lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.

Marica Bodrožić

Das Wasser

unserer Träume

Roman

Luchterhand

Neugeboren kehrte ich von dem allerheiligsten Wasser zurück, wie junge Pflanzen sich mit dem jungen Laub verjüngen, rein und bereit, emporzusteigen zu den Sternen.

Dante Alighieri, Die göttliche Komödie

Selbst der Schlaf ist nichts als Flut jenes unsichtbaren Weltmeers, und das Erwachen das Eintreten der Ebbe.

Novalis, Die Lehrlinge zu Sais

WINTER

Aufgeknöpfte Zeit, um mich herum, das fühle ich, dicke Schläuche und tickende Maschinen. Die Schläuche sind aus Plastik. Sie binden mich an die Erde. Das Ticken ist vom Mond oder von der Südhalbkugel, dort, wo Luftpumpen gebraucht werden und der Fliegende Fisch zu Hause ist. Von dort kommt alles zur Erde, die Idee der Waage, des Paradiesvogels und des Kranichs. Die leuchtenden Punkte erzählen mir davon. Kluge Sterne über hellster Erde. Ich weiß nicht, ob sie nur in meinem Kopf sind. Oder im ganzen Himmel. Oder ob mein Kopf ein kleiner Himmel ist, hier, in diesem Zimmer, in dem ich liege, wie lange, das sagt mir niemand, denn auch ein Zimmer ist ein Himmel für sich. Keiner, der hier ein- und ausgeht, vermutet in mir einen hörenden Menschen. Nicht ohne Grund zweifeln sie an meinen Ohren. Der Zimmerhimmel weiß, dass ich alles hören kann, vor allem das, was nicht gesagt wird und auch jenseits der Wände. Oben am Plafond magnetisieren sich die lauten, die leisen und die noch ungeborenen Wörter. Sie suchen mich, und ich, ein Mann, der stumm und bewegungslos in einem Bett liegt, bin ihr lebendiges Radio, aus dem noch nichts in die Außenwelt dringt. Wenn niemand mehr im Zimmer ist, fällt sie auf mich herab, die Weisheit und Sammlung der Wörter, weil ich das Land bin, das ihrer gedenkt. Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Ich besitze nichts, aber ich kann die anderen lesen, ihre Gedanken, ihre Liebe, ihre Sehnsucht aus dem Inneren sehen. Es ist eine Gabe, um die ich nicht gebeten habe. So etwas geschieht nur den Entmachteten. Ich bin entmachtet worden, ein zurückberufener Mensch, der wieder in den Raum eingeschleust worden ist. Der Plafond sagt, dir ist es nicht mehr erlaubt, nur mit dem Kopf zu denken. Die Zeit ist ein Senfkorn. Die Ohren, mathematisch kenntnisreiche Reiter. Das erdgelbe Material meiner Bilder gestattet mir, wieder zu träumen, wieder an den Urgrund der Träume zu rühren und ihrer würdig zu sein. Das helfende Fenster ist aus hellem Holz. Ich rieche seine große Frische. Das Holz ist junges Holz, von einer Birke, noch nah an Atem und am Leben. Das Zimmer ist bescheiden und ganz in weiß gehalten. Allein die über mich wachenden Frauen sind heute Farbe darin. Ich kann meine Augen nicht aufmachen. Trotzdem kann ich die Farben sehen. Von innen schaue ich auf sie mit meinen unbeweisbaren Augen. Hellgrüne Gewänder schauen zu mir zurück. Eine der Frauen sieht aus wie ein wohlgeratener Rabe, ganz dunkel und schön und in sich ruhend. Ein stimmloses Rätsel. Wie sich ihre Stimme wohl anhört? Ob sie rau oder weich ist oder tief oder hoch? Da sie nie mit mir spricht, muss ich das Warten erlernen und das sprachlose Nichts zwischen uns aushalten. Wenn sie meine Füße wäscht, würde ich ihr überaus gerne ein paar Fragen stellen. Noch bin ich nicht so weit, meine Stimme hat mir ihr Vertrauen entzogen. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist. Die Stimmbänder sind sich fremde Vögel. Sie reisen nicht zueinander, finden sich nicht, schließen sich nicht, verbinden mich nicht mit der Sprache. Die Worte schwimmen in einem Bassin voller wundersamer Töne. Ich bin nur eine von vielen Zellen in diesem sanften radikalen Leben. Wie kann ich eine Brücke und ein sprechender Mensch werden? Hier, auf der anderen Seite des Lebens, bin ich einem größeren Willen ausgesetzt. Wenn dir alles geschenkt wird, liest das Fieber dich, und du musst neue Alphabete lernen. Das Wasser rauscht Tag und Nacht. Ich lerne, mich mit den Wellen auf die andere Seite zu denken.

Noch bin ich nicht übergesetzt. Es fehlt mir an Kraft. Die Rückschöpfung von Wort und Klang ist unterbrochen worden. Ich kann nichts allein machen. Nicht einmal einen winzigen kleinen Buchstaben aussprechen. Selbst ein Komma ist stärker als ich und leuchtet in sonderbarer Gnade. Seitdem ich hier liege, weiß ich, dass keiner von uns allein ist und keiner etwas allein machen kann. Mein Körper ist stumm. Er lässt mich nichts tun. Er hat sich in sich selbst eingesperrt. Dennoch lebe ich und fühle die Anwesenheit des kleinen Raben. Vogel und Mensch ist er in einem. Von der anderen Seite des Wassers werde ich im Lesen unterrichtet. Ich setze alle Hoffnung in diese freundliche Vogelfrau, die mich selbstlos aufsucht und die sich meiner annimmt. Leisen Schrittes bewegt sie sich in meinem Zimmer. Sonnen sind meine geschlossenen Augen nicht für diese fremde Frau. Sie wartet insgeheim auf eine kleine Bewegung von mir. Unübersehbarer Teil dieses Zimmers bin ich nun für sie, ein Mensch ohne Anfang, über den sie sich sachte beugt. Sie weiß nicht, dass ich es weiß. Sie sieht mich ausdauernd an, forschend, als würde sie etwas finden wollen, das uns zu Verwandten macht. Das spüre ich an der Luft, die sich hebt und senkt und Abdrücke im Volumen hinterlässt, das mich berührt. Ihre Blicke schaffen eine warme Nähe zwischen uns, gegen die ich mich nicht wehren kann. Wir sind uns nah wie nur Fremde und Ausgesetzte sich nah sein können. Nie können sich die Nächsten so nah sein, wie wir einander nah sind. Dieser Gedanke ist mein Wunsch und zeitgleich meine Erfahrung und ich frage mich: Wie nah sind sich Nächste, wie fremd sind sich Fremde? Wenn ich eines Tages meine Augen aufschlage, muss ich hoffen, dass jemand da ist und mich erkennt, jemand, der Ausdauer hat und der sieht, dass auch ich wieder sehen kann, jemand, der sich auskennt in der Wirkung der Hingabe. Wer wird dieser Jemand sein? Wer wird mich so lange und so selbstlos lieben können, dass ihm dabei die Zeit nicht im Wege steht? Das kann nur jemand sein, der sich so sehr gelassen und ausgesetzt hat, dass er weiß, er muss sich noch mehr lassen, sich noch mehr aussetzen, um wirklich er selbst sein und andere Menschen sehen zu können.

Heute schneit es draußen. Die flimmernde Helligkeit kommt von den Flocken, dem schwingenden Licht der Kristalle, die ihre Briefe zu Hunderten vom Himmel fallen lassen. Ihre verdichteten Wasser-Botschaften landen wabenartig an meinem Fenster. Durch das helle Birkenholz dringt eisigere Kälte an mich heran als gestern. Der Frost hat sich in allen Ritzen festgesetzt. Meine Haut erlernt langsam das Frieren. Die Wärme, die trotz allem daraus entsteht, ist mir Hoffnung jenseits der Augen. Im Meer meines Herzens weiß ich, dass ich auf einer Reise bin. Das Fenster verbindet mich mit der Welt. Es braucht meine erwachende Wärme genauso wie die brennende Geduld der anderen, die mich grundlos lieben und deren Freundlichkeit ich ersehne, weil ich sonst alles verliere, das Zentrum, die Zuversicht und die summende Stimme meiner Zukunft. Wie können wir überhaupt glauben, auch nur einen Tag allein leben zu können? Was sehen wir von den anderen Menschen, bevor uns das Sehen selbst sieht? In mir sind innere Stufen. So wie wir Glocken hören können, kann ich die Stufen in mir sehen. Ich bin noch mitten im Leben. Gerade jetzt sehe ich, wie der Anfang im Anfang entsteht und mich zu seinem selbstlosen Komplizen macht. Unvermörtelt soll meine Sprache sein. Die Worte wachsen heran, und ich spüre, wie in den letzten paar Stunden alles in mir davon abgerückt ist, mich an der Zeit festhalten zu wollen. Ich überlasse mich dem Eigensinn der Jahreszeiten. Mein Zimmerhimmel sagt, wir sind nicht so vorgesehen wie die Sterne, wir müssen die Nähe der Verletzlichen wagen. Unsere Sprache, diese ins Weite gesetzte kosmische Buchstabenküste, entsteht erst, während wir leben. Kaum ist sie da, verfliegt sie ins Innere der Zeit. Es folgt auf jede Formel ihre Auflösung. Das Ereignis ist ihr Verschwinden. Wir bleiben mit Blick auf die Uhren unwissend zurück. Was wir ohne das Ticken der Zeiger wissen, ist dies: Wir sprechen, weil wir sprechen müssen, wir sagen uns Sätze, weil wir uns Sätze sagen müssen, Sätze, die leuchten, die schmerzen, Sätze, die ohne uns weiterwachsen, während wir ins Ganze streben. Ich bin. Hier. Ob Gesundenzimmer oder Krankenzimmer. So oder so kann ich mich nicht mehr vor mir selbst verstecken. Ich ahne, dass das der Grund für meinen Aufenthalt hier ist. Die Wände, die Schwestern, das Fenster zwingen mich in die Gegenwart zurück. Wieder bin ich ein Fisch im Menschenmeer. Der Druck ist zu stark geworden. Ich musste das Element wechseln. Ich lese alles, was sich mir in den Weg stellt. Die Toten lesen nicht, so heißt es einvernehmlich unter den zivilisierten Völkern, die vergessen haben, dass schon Jahrhunderte vor ihnen andere Alphabete in der Erde tätig waren. Wir können alles auf die Grabstelen schreiben. Solange wir nur mit äußeren Augen sehen, wird die andere Seite des Lebens nicht einlenken. Die Toten korrigieren uns nicht mehr, seitdem wir ihre Stimmen an die Wurzeln der Bäume delegiert haben. Unten, in der dunkelsten Dunkelheit der Erde, können sich aber nicht einmal die Toten voneinander fernhalten. Haben sie mich hier schon aufgegeben und der anderen Seite, dem Reich der Toten überantwortet? Dabei ist eine Berührung jetzt alles, wonach ich mich sehne. Nicht auszudenken, was eine Umarmung mit mir anstellen, wie sie mich beschenken, wie das Geschenk mich lieben würde. Was gäbe ich dafür, noch einmal erleben zu können, wie sich freundliche Fingerkuppen anfühlen, wie sie mit meiner Haut ein Gespräch beginnen und ein Gebet in der Höhe der Wipfel werden.

Jetzt sind sie wieder da, die konzentrierten Besucher in weißen Kitteln, eine Art Visite, die mich wie einen wunschlosen Menschen behandelt. Tot wirke ich allem Anschein nach auf jeden, der hier meinen regungslosen Körper im Bett liegen sieht. So nah wir Lebenden uns auch sind, so fern voneinander atmen wir verschiedene Welten. Ich weiß nicht, wer die anderen in diesem rätselhaften Gebäude sind, ob sie mir zugewiesen wurden oder ob ich sie mir in meinem früheren Leben erarbeitet habe. Das Fragen ist mir nicht genommen worden. Ich frage dich: – Weißt du, wer du bist und welche Spiegelungen als deine Erinnerungen im Raum florieren? Die Erinnerungen sehen uns. Die Spiegelungen wollen erkannt werden. Es gibt Leuchtfäden. Helfer in der Luft. Die Leuchtfäden sind Traumvernäher. Sie sind klüger als wir. Sie können verhindern, dass wir mit Worten töten. Aber nur dann, wenn wir verstehen, dass all unsere Tage von Nächten umgeben sind. Die inneren Augen wissen davon. Sie bringen Linderungen aus der dunklen Nacht. Sie rufen uns zurück. Mitten im Leben ist der Tod. Machtvolles schwarzes Quadrat. Der Tod spricht eine frisch geträumte Sprache. Er ist kein Sensenmann. Er ist der Berg, der um die Landschaft hinter seinem Rücken weiß, er sagt das, sagt alles, was er weiß, so direkt, so frei, so gerüstlos in unsere Augen, und wenn wir uns dem Gipfel nähern, weinen wir ohne Grund. Unten im Tal der Zeit sind die Schmerzen. Der Zeitzement ist nicht belehrbar. Am Ende ist er aber ohne Bestand. Wie ich, ist auch er kein dauerhafter Kämpfer. Er ist nur ein Teil des Weges, dem das Wasser folgt, das alles reinwaschen kann. Auch meine Sünden, wenn ich welche habe, wenn es so etwas überhaupt geben kann. Es ist fordernd, dieses freie, dieses selbsttätige Wasser. Es kommt erst dann in unsere Sprache, wenn alles andere von uns gegangen ist. Die Tränen strömen direkt in dieses Zeitalter hinein, das die Herzen öffnet, so wie meine Großmutter den alten Holzschrank im Vorraum des Steinhäuschens mehrmals am Tag selbstvergessen geöffnet hat. Bleiben die Herzen geschlossen, sterben die inneren Uhren, die Kalender wenden sich von uns ab. Der Winter ist der Beginn des Jahres, mein Herz der Anfang des Lebens. Jemand hat das Herz mir fast abgeschaltet. Jetzt leistet es mir keinen Widerstand. Ich bin lebendiger als ich denke. Mein Herz ist meine terra incognita. Das ewige Alte, das jünger ist als wir. Alle Verknüpfungen in mir sind verschwunden, gelöscht, weiß übermalt, weiße Verweigerung, stumme Leinwand. Wie direkt die verbliebenen Nächsten dadurch Allernächste werden, ist ein stechend schöner Schmerz in mir. Manchmal sehe ich Gesichter von Menschen, die früher zu meinem Leben gehört haben. Kann ich auch ohne ihre Zuwendung wieder der Mann werden, der ich bin? Uns wird nur das gegeben, was wir brauchen und nur das genommen, was wir nicht brauchen. Hängt also die Rückkehr in meinen Körper nur von der Gegenwart ab? Jetzt, da ich weiß, dass ich gar nichts mehr allein tun kann, bin ich der Liebe aller ausgesetzt, die mich hier und heute umgeben. Ich brauche euch, ihr hiesigen Mitmenschen. Ich beginne zusammen mit euch. Ich bin jetzt der Anfang, so wie er in uns allen gemeint ist. Gemeinsam sind wir weit angelegte Gehöfte. Alles ist verbunden miteinander, der Vorhof und das Zimmer, das Dach und die Nacht im Kopf des beschützten Träumers, der sich als Schmetterling erlebt, der dem Träumer auf der Nase sitzt. Bin ich dieser Träumer, der vom Schmetterling besucht wird? Oder bin ich der Schmetterling, der sich auf der Nase eines Fremden niedergelassen hat, und dieser Fremde bin auch ich?

Ein Geräusch ist im Zimmer zu hören. Meine inneren Ohren habe ich also nie verloren. Sie arbeiten meinem Gleichgewicht zu. Ich sortiere meine Empfindungen und hoffe, dass niemand die Geräte abschaltet, von denen mein Leben abhängt. Helligkeit strömt ins Zimmer. Da ist sie wieder, meine treue unverwandelte mintfarbene Besucherin. Wer ist sie? Wie gerne würde ich sie anlächeln, ihr eine Frage stellen, mich bemerkbar machen. Sie ist eine freundliche Frau. Wieder ist sie hier aus dem Nichts aufgetaucht. Das ist ihre Freiheit. Und ich, bin ich freier oder unfreier als andere Menschen? Der Zufall läuft mit, er fragt mich tastend ab, er ist mein treuer Helfer aus dem Land, das mich geboren hat. Höre, mein Land der Länder, die Menschen hören in Wirklichkeit nicht mit den Ohren. So sagt es mir der Zimmerhimmel. Mit den Ohren hört man gar nichts. Ich ahne den Herzhorizont des schweigenden Raben. Jetzt schaue ich durch die Sicherheit versprechende Verschalung aller Körper hindurch. Da pocht das Leben in der großen Mitte, genau dort, wo mein Bett steht, das Bett, das gerade meine ganze Welt ist. Das Mintgrün des Wundergewands leuchtet, es ähnelt jenem, das meine Mutter so gern trug. Damals war die Zeit abzählbar, die Stunden beweisbar, Mutters Körper ein Haus für mein Leben. Jede Minute, ein Ewigkeitssonntag. Und tief die Lust an ihrer Liebe. Ob ich sie an irgendetwas erkennen würde, wenn sie jetzt vor mir stünde? Ihr Gesicht kann ich nicht mehr in mir hervorholen, nichts von ihm in mir zurückrufen. Dennoch denke ich so an sie, wie man wohl an ein Buch aus der Kindheit denkt. Für wen bin ich dieses Buch? Für wen werden wir es einmal geworden sein?

Hier ist das Leben ein anderer innerer Ort. Vor meinem Fenster ist Luft der seelische Raum der Verständigung. Angst und Zeit sind verschwistert. Ich sehe das jetzt, weil ich aus dem alten Bündnis herausgerissen worden bin. Das habe ich schon kommen sehen, als ich mich dem Licht näherte. Ich durfte nicht weitergehen, wurde vom Licht zur Umkehr gezwungen. Ich hörte den Namen Nadeshda. Und wollte zurück in mein altes Leben. Das Wasser war schöner auf der anderen Seite. Der Name rief mich und machte, dass ich zu ihm strebte. Überall, wohin ich auch sah, war das Nichts. Es muss ein großer Himmel dort sein, wo Nichts und Nichts sich lieben. Diese schöne Grenze werde ich nie vergessen. Ich bin mir sicher, dass es ein Aufprall war, der mich dorthin gebracht hat. Und jetzt liege ich wieder in der Zeit wie in einem Garten. Es ist schon weit nach Mitternacht. Das ganze Draußen, die Fülle der Luft atmet mich an, damit ich zurückatme. Ich habe Grund zur Annahme, dass die Bäume mich sehen, dass sie wissen, was hinter dem Vergessen ist, und so strecke ich mich im Geist zu dem hin, was da vorne ist und folge mir selbst. Langsam tauchen Dunkelheiten auf, ein gutes Zeichen für das irdische Leben. Die Besucher in meinem Zimmer bringen viele Worte mit, die sich in mir zu einem Netzwerk verbinden und Erkenntnisse anstoßen, die mich selbst überraschen. Billardkugeln aus Buchstaben. Ein Wort höre ich immer wieder von den Helferinnen. Erinnerungsbäume. Sie sagen, dass sie Lappen an sie hängen, kleine Fetzen, auf denen sinnvolle Dinge stehen, Opfergaben, die alle Wesen, die Toten und die Lebenden, gleichermaßen gut lesen können. Lappenbäume. Wie eigenartig. Ich kann mich nicht erinnern, davon in meinem früheren Leben je gehört zu haben. Es kommen viele mir unbekannte Menschen in mein Zimmer, staunende Reisende ohne Koffer. Sie sehen mich nur in meiner Begrenzung, nicht in meiner Bestimmung. Das ist ihre Aufgabe. Meine ist es, ihre Mitbringsel in meinem Lebensmosaik einzubauen und von ihren Gedächtnissen zu lernen. Ich höre auch genau zu, wenn die Schwestern reden, selbst dann, wenn sie sich nur über das Wetter unterhalten. Dann male ich ihn mir aus, den sprechenden Himmel da draußen, der, wohin sie auch gehen, mit ihnen geht. Niemand weiß, dass ich mit meiner Innensonde hören kann, und ich kann es niemandem erzählen. Ganz ohne eine Operation entsteht eine neue Kindheit in mir. Das ist die anbrandende Natur. Dieses Mal werde ich die Dunkelheit, die Umrahmung der Tage durch die Nacht nicht übersehen. Die Nacht ist meine Herzensleiter, das Menschlichste, das ich habe. Und behalten durfte. Auf dieser Reise. So leuchtet sie als Handlung in mir, mathematisch präzise, folgerichtig wie das Fellrot eines Fuchses in den frühen Winter-Morgenstunden. Jetzt kann draußen nichts anderes als dunkler Dezember sein, in dem kein Vogel für mich singt. Der Winter, der das neue Jahr einleitet, hat die Nacht an sich gerissen. Können die Vögel für immer aufhören zu singen? Sie schweigen so leise wie vorausbestimmt, kein Gesang, nicht die kleinste Wundmusik, wenn sie mich dann zu meiner Überraschung doch aufsuchen. Die Visite kommt. Ich weiß nicht, ob sie wirkliche Ärzte sind. Weiße Besucher nenne ich sie, die mich heilen sollen. Ich spüre, dass in ihnen alles aus Routine geschieht und sie gar nicht an mich, sondern nur an ihre Abläufe glauben. Oder täusche ich mich? Mit großem inneren Kraftaufwand muss ich das erraten. Alles ins Erraten geben. Mich der Luft überantworten. Eine Wünschelrute der Luft sein. Wie eine Mutter sich ganz ins Gebären ihres Kindes hineinbegibt. Mit stundenlangen Vorbereitungen. Jahre gehen der Geburt voraus, wenn die Wünsche der Mütter, die Wünsche der Väter mitgerechnet werden. Das Mitgerechnete vergessen alle. Zahlen sind fleißige Ameisen, sie schlafen in unseren Gedanken. So wie ich im Schiffsbauch des Lebens liege. Und überall rauscht das Wasser einer anderen, einer inneren Zeit. Ich warte. Jemand ist nach der Visite in meinem Zimmer gewesen und hat Blumen dagelassen. Bisher habe ich nie geschlafen, muss aber genau in diesem einen Blumenmoment eingenickt sein. Meine langsame Rückkehr zu den Menschen ist also besiegelt. Ich höre jetzt in der Ferne Glockengeläut. Und schreiende Kinder. Der Blumenduft weckt in mir ein Farbenland, das mein Kopf nicht kennt. Woher weiß ich, dass es Farben sind, die ihre Sprache mit meiner Sprache verweben? Ich sehe die Farben nicht, nicht so, wie ich früher die Welt und die Menschen, die Straßen und die Bäume gesehen haben muss. Das Sehen sieht mich und es stellt Fragen. Wo bin ich untergebracht, wie hierhergekommen? Wie leise Verwandte sprechen die Blüten zu mir. Sind sie blassrosa? Blassblau? Irgendwo gestohlene Veilchen? Ich breche mit den Ohren zum Himmel und zu der Luft auf, zu den Glocken dieser Stadt, überzeugt davon, nirgendwo anders als in einer Stadt zu sein. Ich gehe der Sonne hinter dieser allumfassenden Finsternis entgegen, ohne mich dabei von der Stelle zu rühren. Wie gerne würde ich mir jetzt all die Hochhäuser ansehen, die mein Kopf hier vermutet. Immergleich liege ich hier in diesem Bett, so unbeweglich, so eingeeinsamt in mich selbst, werde ich in Geduld unterwiesen. Ich komme mir vor wie ein Kind, das in seinen alten Vorstellungen gemaßregelt wurde und nun noch einmal träumend die Erde berühren darf. Der Raum, in dem ich liege, ist voll von fremden Einflüsterungen. Die Gedanken der Besucher haben sich in meinem Zimmer versammelt und versuchen von außen in mich einzutreten. Ich sehe, dass die Gedanken niemandem gehören, aber nicht anders können als sich mir anzubieten. Die kühle Luft umschwirrt mich, fast kann ich sie als ein Geräusch hören. Langsam nehme ich mehr vom ganzen Ort wahr. Insektomanisches Tanzen und Vibrieren. Ich begreife, wie ungeschützt ich bin, wie wenig mir zusteht, dass ich nichts verlangen kann, mich nicht wehren kann gegen die Summe, die Dauer und den Ablauf der Erfahrungen. Wie konnte ich früher nur glauben, dass es anders ist und dass wir irgendetwas alleine machen können?

Der mintfarbene liebe Rabe, der mir seit kurzem Kekse und, das rieche ich genau, deutsche Lebkuchen an das Bett stellt, lässt von allen, die hier auftauchen, die merkwürdigsten Gedanken in der Luft zurück. Libellenartig schwebende Wörter, autonome Wortlandschaften, die niemanden brauchen. Von außen dringen diese Durchreisenden zu mir vor, und mein Kopf will mit ihnen in Beziehung treten. Es passiert nicht das Erwartete. Manchmal sind nur Fragen ihre Hinterlassenschaften. Dann kann ich wahrnehmen, dass die Gedanken der anderen mir jene Welt bringen, die ich selbst verloren habe. Die rätselhaften Lücken umarme ich genauso wie die Antworten. Liege hier eingewebt ins Ganze. Die Infusionen und die Blutdichte sind ein sehr kleiner Teil davon. Es umgeben mich viele gänzlich fremde Koordinaten. Anders als früher, habe ich jetzt keine Angst vor Lücken und Auslassungen. Seitdem ich nichts selbst machen kann, ist alles ein Geschenk. Irgendjemand sagt, dass unsere Krankenhäuser Überbleibsel alter Lazarettsysteme sind. Ich kann das nicht überprüfen, zumal ich hier von den Frauen freundlich behandelt werde. Die in Mint gekleidete Schwester ist leise. Ich nenne sie noch immer meinen Kleinen Raben, der angenehm nach bester Olivenseife riecht. Niemand ist so leise wie sie. Ich glaube, diese Frau arbeitet hier schon lange. Jahrzehnte. Ganz sicher. So lang wie die Alpen schön und hoch sind und oben mit der Luft befreundet. Und sie kennt jeden Winkel in diesem weit verzweigten Gebäude, das ich vielleicht niemals erforschen, nie jenseits dieses Zimmers erleben werde. Gesundheit und Krankheit, was ist das, fragt dann einmal die helfende Frau jemanden am Telefon. Es geht ihr um alles. Innerlich nehme ich Anteil. Auch meine Ohren verstehen, dass ein Mensch aus dem Bekanntenkreis des Kleinen Raben, der zuvor schwer krank war, urplötzlich gesund geworden ist. Von heute auf morgen. Eine Art Tod war dem vorausgegangen. Nicht ganz wie bei Lazarus. Aber durchaus eine Todesrichtung, friedfertig und bereit zu neuer Reise. Sagt sie. Und sie lacht jetzt laut. Genauso schnell wie die Krankheit gekommen war. Sagt sie. Sie und der Kranke sind vom Wunder überrascht worden. Diese Menschen und alle, die mit ihnen in Berührung kommen, sind auf eine besondere Weise schön. Die Überraschung verwandelt ihre Stimmen und Gesichter wieder in Natur. Niemand aus Mintsterns Umgebung hat eine Erklärung für die Genesung, für die Rückkehr, die eine Umkehr ist, ein Beginn, der alle, die davon hören, zu Anfängern ihrer selbst macht. Wunder sind verpönte Distanzen. Sie stehlen uns unseren Platz in der Zeit und machen Angst. Durch die Ausnahme verschaffen sie sich einen Ort in unserem Denken. Und wir können uns nicht gegen diese sonderbare Sehnsucht wehren. Doch wenn wir sie einfordern, entzieht sie sich uns.

Ich bin nun sehr still geworden. Meine Knochen schweigen wie mein Mund verpflichtend schweigt. Die Anbindung an die Welt der Menschen und Freunde, Gespräche und Sommerabende unter wohlriechenden Linden ist mir noch nicht gegeben worden. Niemand hört mich. Ich wünsche mir kein Wunder, weil ich weiß, dass mein Körper es tragen, dass er allein es träumen müsste. Dieses Wunder, das immer Wunde ist, bevor es Hymne sein darf. Mein Körper kann noch nicht singen. Der Körper ist sich selbst loyal. Er schläft die ganze Zeit. Ruht sich in sich selbst aus. Wie ein Stück müde rote, rasendrote Erde. So liegt er da und ist still schweigende Natur wie die Steine. Die helfende Frau weint. Jemand hat am Telefon versucht, sie zu trösten. Ohne Erfolg. Sie sagt, die Kranken warten auf mich, ich muss jetzt auflegen. Daraus folgere ich, dass ich also selbst in einem Krankenzimmer liege, ein Kranker im Wartestand bin, fern der intakten Gnade. Das Jahrhundert der Wölfe hat das Erbarmen versprenkelt und zu einem Suchbild gemacht. Jetzt müssen neu entstandene Alphabete erlernt werden. Auch von mir. Die Luft ist ein solches Alphabet. Die Tränen suchen immer das Verlorene, bevor sie das Vorhandene sehen können. Wenn es sie noch gibt. Wenn sie da sind und in der Quelle schlafen. Wenn sie noch fließen können. Die heiligen Tränen. Die mir noch nicht gewährt werden. Das Zimmer ist friedfertig. Es hat seine eigene Zeit und verwandelt sich nicht. Wände. Zement. Kacheln. Maximale Materie. Dunkelste Dichte. Sehr fest strukturiert. Da ich nicht weinen kann, habe ich noch nicht herausgefunden, ob ich das Zimmer mit dem Wasser des Lebens erweichen kann. Es ist ein Winterschlaf ohne Erklärungen. Bin ich ein Kranker? Oder ein Gesundender? Einen Unterschied muss es machen, wie und von wo aus sie hier auf mich sehen, was ich bin, in ihren wachsamen Augen. Nennen sie uns nur aus Gewohnheit Kranke? Wir liegen hier nicht wegen der Krankheit in den Betten. Es ist, es muss also ein Gesundungszimmer sein. Der Satz der helfenden Frau, die mir Lebkuchen bringt, Kekse mit Zimtgeruch, regt meine Ideenwelt an. Sie ist wieder auf dem Sprung, muss zu den Kranken zurück, das sagt sie noch einmal zu jemandem am Telefon. Die schwarze große Sonne zeigt sich mir als Durchgangssonne. Die Krankheit ist nicht das Ende, sie ist der Anfang einer Veränderung. Wie gerne würde ich sie jetzt darüber in ein Gespräch verwickeln. Sie verlässt den Raum. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob ich nur eine bestimmte Zeit hier liegen und die dunklen Stunden abarbeiten muss, um in die freundliche Helle jenseits der Tunnel und Berge zu gelangen. Ich schlafe nie. Meine Bilderalpen haben sich etwas für mich ausgedacht. Mein Innenflug ist transatlantisch, ohne je den Atlantik zu überqueren. Ich sehe von Innenoben auf die Welt. Wo werde ich ohne die Wahrheit des Meeres ankommen? Wann meinen Namen erhalten? Meine Zellen fangen an zu erwachen. Sie fragen mich nicht. Sie ziehen um. Formieren sich zu summenden Kolonien. Sie beten. Bitten und beißen. Der Verstand hat die schwarze Sonne in Besitz genommen. Sprach-Kolonien, das sind schöne Reisereste. Wohin führt der Weg? Das Schmelzwasser des Winters sagt es mir nicht. Wie auch die Fragen sich stellen, die Zellen schauen nicht grammatisch bestrebt, sie sind schon der Satz von morgen. Jenseits von Zeit wachsen die wundersamen Geraden. Berührungen im Unendlichen sind möglich. Habe ich Zeit dafür? Lebe ich noch in der Zeit der Menschen? Ich weiß es nicht, so, wie ich ja nicht einmal weiß, warum ich weiß, dass die an meinem Bett abgestellten Lebkuchen Nürnberger Originale sind. Wie kann ich mich dann und je und überhaupt nur auf den Kopf verlassen? Eben noch war ich ein Reisender in überkontinentaler schwarzer Strahlung, jetzt, wenn ich von außen auf mich sehe, bin ich wieder nur ein lebloser Körper. Man hat mir die alten Richtungen gestohlen, Osten und Norden, Süden und Westen sind ausgetauscht worden. Die alten Kreuzungen haben sich in Luft aufgelöst, und so hat man mich in die Lage versetzt, selbst die Wälder zu wählen, durch die ich gehen will. Es scheint gleichgültig zu sein, dass ich noch gar nicht gehen kann. Ich borge mir Mondlicht für die zukünftigen Antworten. Ein Stoppschild unterbricht mich, es spricht in neuen Farben. Meine Seele versucht zu vermitteln. Ich war noch nie in Nürnberg und mache mir nichts aus deutschen Süßigkeiten, die ich offenbar von früher kenne. Viel wichtiger als die Mitbringsel dieser helfenden freundlichen Frau ist etwas anderes, es ist ihr unverkennbarer Gedankenkoffer. Zu dem nehme ich Verbindung auf. Dort ist viel verborgen von der Sprache. Wenn sie nach mir sieht, trägt sie den Koffer jedes Mal ins Zimmer. Was in ihm ist, weiß ich anfangs nicht. Er scheint sehr umfangreich zu sein, mit einem schier unergründlichen Inneren, dem ich nicht mit dem geistigen Auge folgen kann. Das erfüllt mich mit Trauer. Ich muss lernen, den Enden meiner Welt standzuhalten. Es sind schließlich berechtigte Forderungen im Spiel. Die mir zugetragene Frau beschriftet den Raum mit ihren Sätzen und macht mich zum Leser ihres Lebens, zum Komplizen ihrer Innenwelt. Ich sehe ihre Wörter in der Luft, sehe, wie sie zum Fenster, zur Tür und zu meinem Mund streben. Recht besehen erlebe ich sie als Avancen. Soll ich etwa sagen und denken, was sie sagt und was sie denkt? Wenn ich sprechen könnte, erläge ich ihrer sprühenden Grammatik. So viel weiß ich schon nach kürzester Zeit, mein Wille ist ein allerkleinster Strohhalm. Die Gedanken sind stark ansteckende Magneten. Felder voller Strahlung, die alles zielgerichtet sammeln, an sich ziehen, verwalten und umschichten. Es gibt durchaus eine grellglaubwürdige Dichte darin, großen Mitteilungsbedarf in den Seelensaiten der helfenden Frau. Auch eine reine unirdische Liebe. Ich meine, von überall herkommende Dringlichkeit zu erkennen. Spüre mit meiner Haut vibrierende Not. Sie versucht mich zu kapern. Ihre selbstermächtigten Gedanken dringen in meinen Kopf ein. Ich sehe, dass sie zielgerichtet das werden, was wir sonst unsere eigenen Sätze nennen. Wie kann ich sie je wieder aus meinen Synapsen entfernen? Es geht nicht. Ich bin ihnen ausgeliefert. Das merke ich sehr schnell. Das ist eine schlimme Überraschung. Gedanken sind also nicht einmal höflich anklopfende Sequenzen. Ohne mich zu fragen, treten sie aus diesem großen Außen in mein kleines Innen ein. Besatzer meiner Tiefenkontinente. Dabei bin ich auf Hilfe angewiesen. Man sollte mich heilen und nicht derart offensichtlich überfallen. Wann werde ich meine eigenen Gedanken kennenlernen? In mir lebt ein Auge, das alles sieht. Die Iris seiner Welt kann helfen. Ich treffe diese Wahl und werde der Schauende, der handeln kann. Zeitgleich verstehe ich, dass ich nicht nur diesen einen gefangen genommenen Körper habe, sondern ein ganz normaler Mann bin, ein Mensch, der hier allein in einem leeren Zimmer liegt und von Fremden abhängt, ein Mensch, der keinen verwandtschaftlichen Besuch bekommt und mit den anderen leben möchte. Der Gedankenstrom ist zeitgleich da und hat zwei Ufer. Ich folge ihm nicht, höre das Rauschen des Wassers. Das Wasser ist kristallklar. Allmächtig fließt es ins Leben. Der Kleine Rabe lächelt. Ich fühle mich wie wachsendes Gras zwischen den Wassern der Erde. Als hätte er verstanden, was ich durchmache, lächelt der Kleine Rabe mich warmherziger denn je an. Ich werde neu geboren und darf vorher nicht sterben.

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1. Auflage

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