Die Arbeit der Vögel - Marica Bodrožić - E-Book
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Die Arbeit der Vögel E-Book

Marica Bodrozic

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Beschreibung

Auf der Flucht vor den Deutschen gelangt Walter Benjamin im September 1940 auf einem alten Schmugglerpfad vom französischen Grenzort Banyuls-sur-Mer ins nordspanische Portbou. Tags darauf setzt er seinem Leben ein Ende. Acht Jahrzehnte später nimmt Marica Bodrožić den letzten Weg des großen deutschen Schriftstellers und Philosophen zum Anlass, um über unsere Zeit, die Komplexität von Lebensläufen und Identität, Freundschaft und Flucht nachzudenken. Für sie wird der Gang über die Pyrenäen zu einem luziden Denkweg, auf dem die Natur als synästhetisches Gefüge mitspricht. Die äußere Bergwelt verschmilzt mit der inneren Lebenslandschaft. Kunstvoll webt Marica Bodrožić in ihren Gedankenstrom die Schicksale auch anderer Intellektueller ein, die der Gewalt des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren – etwa der Widerstandskämpferin Lisa Fittko oder des Dichters Ossip Mandelstam. Entstanden ist dabei eine überzeitliche Wanderung durch die inneren Landschaften der Seele, die das schmerzverzahnte Gedächtnis mit dem leuchtenden Kern von Poesie verbindet. »Ein großes Projekt des Denkens ganz im Geiste Benjamins.« ( Paul Reitter).

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Seitenzahl: 401

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Zum Buch

Auf der Flucht vor den Deutschen gelangt Walter Benjamin im September 1940 auf einem alten Schmugglerpfad vom französischen Grenzort Banyuls-sur-Mer ins nordspanische Portbou. Tags darauf setzt er seinem Leben ein Ende. Acht Jahrzehnte später nimmt Marica Bodrožić den letzten Weg des großen deutschen Schriftstellers und Philosophen zum Anlass, um über unsere Zeit, die Komplexität von Lebensläufen und Identität, Freundschaft und Flucht nachzudenken. Für sie wird der Gang über die Pyrenäen zu einem luziden Denkweg, auf dem die Natur als synästhetisches Gefüge mitspricht. Die äußere Bergwelt verschmilzt mit der inneren Lebenslandschaft. Kunstvoll webt Marica Bodrožić in ihren Gedankenstrom die Schicksale auch anderer Intellektueller ein, die der Gewalt des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren – etwa der Widerstandskämpferin Lisa Fittko oder des Dichters Ossip Mandelstam. Entstanden ist dabei eine überzeitliche Wanderung durch die inneren Landschaften der Seele, die das schmerzverzahnte Gedächtnis mit dem leuchtenden Kern von Poesie verbindet.

»Ein großes Projekt des Denkens ganz im Geiste Benjamins.«(Paul Reitter)

Zur Autorin

Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis und dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk. Marica Bodrožić lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg. Sie ist Mitglied im Deutschen PEN-Zentrum.

Marica Bodrožić

Die Arbeit der Vögel

Seelenstenogramme

Luchterhand

Der Gerechte gedeiht wie die Palme.

Psalm 92,13

Stil gibt es, wenn die Wörter einen Blitz erzeugen, der von den einen zu den anderen überspringt, auch zu weit abliegenden.

Gilles Deleuze

Der Weg über die Pyrenäen

Die Rätsel eines Weges offenbaren sich den Füßen erst auf der eigentlich zu gehenden Strecke, wenn mit jedem Schritt das Gespräch mit der Erde, dem Geröll, den Steinen, Bäumen, Sträuchern und Blumen beginnt und die wechselnden Farben des Gebirges das Sehen verändern, es genauer werden lassen und im Einklang mit dem ergangenen Atem in neue Erkenntnisse überführen. Das größere Gedächtnis fängt an mitzusprechen. Die Wahrheit der kleinen Steine und die Verstrebungen einer sich selbst erzählenden Baumkruste, eines der aufsteigenden Geherin helfenden, festen, aber im Wind noch gerade genug biegsamen Astes haben keine eigentliche Mitteilung zu machen. Alles in der Natur steht für sich und hat keine Forderungen. Darin ist aus der Sicht der Atmenden gleichermaßen ihre Kälte wie ihre Schönheit enthalten. Aber später, im Rückblick und aus dem schrittweise erfahrenen Lungenvolumen eines Weges, aus dem Aufbruch der gestanzten Schmerzens-, Lust- und Lebenszeit eines im Gehen denkenden Menschen, entsteht ein neues Fassungsvermögen, ein Sprachvolumen, dem die Leere, das Nichtwissenkönnen, was beim nächsten Schritt geschehen wird, das Nicht-vor-die-Wahrheit-der-Füße-Treten-Können, zuvorkommt. So ist es auch an diesem frühen, noch frischen Februarmorgen im langsam sich ankündigenden Geleit der Tramontana, die mir ihre Kühle tief in die Lungen schleust und so von Beginn an in aller Deutlichkeit ihr königliches Terrain markiert. Die Luft mit dieser Windsprache zu teilen und den Füßen Vertrauen zu schenken, das ist die einzige Aufgabe für diesen Lebenstag, für diese kommenden Stunden, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich bündeln, schwanger sind mit der Kraft und Geschichte dieses Weges, den es nun auch für mich gibt, weil es Menschen auf der Flucht gab, denen er einst Rettung versprach. Einer dieser Menschen war Walter Benjamin, ein Erdenbürger, der Europäer war, lange noch bevor dieses Wort als Denkmodell in unserer verwandlungsbereiten Welt schwebte. Benjamin redete nicht über sich als Europäer, er lebte diesen verletzlichen Zustand eines Ausgesetzten, in Teilen wohl, weil es seiner Rastlosigkeit entsprach und dann, weil er keine Wahl hatte und die Menschen seiner Zeit ihn dazu zwangen, sich so zu bewegen – wie er es nicht wollte. Er wusste, dass nur derjenige, der eine Straße geht, von ihrer Herrschaft Kenntnis erlangen kann. Mit der Freiheit, die das jegliche Wollen abstreifende Gehen mit sich bringt, wird für mich auf diesem Weg auch Gott zu einem kleinen Stein zur anderen Seite der Berge. Der Stein liegt zwischen zwei Ländern und erinnert mich daran, dass ich ein Kind in mir trage. Es ist schwer, sich zu bücken und den kleinsten Stein aufzuheben. Im vierten Monat seiner Menschwerdung ist der neue Mensch nun dem Einflussbereich der Tramontana auf die gleiche Weise ausgesetzt wie ich, verbunden durch den Blutkreislauf unserer Leben und den Atem seines Vaters, der mit uns geht. Bald schon wird uns vielleicht ein blauer Gipfel unter einem hohen Himmel grüßen, ein Gipfel, der sich aber eine ganze Weile versteckt hält und doch zugleich von immer dunkler werdenden Wolken angekündigt wird. In der Ferne, längst schon, wie ich nun sehe, zum Stadtmenschen geworden, stelle ich mir die vibrierende Lunge von Marseille vor. Ich reise in meinen Gedanken zu den flimmernden Lichtern dieser Stadt und ihres Hafens, so, als könnte der Blick noch nicht aus sich selbst heraus ruhig werden, sich noch nicht einlassen auf diesen Weg, der für mich von Berlin nur zwei Flugstunden bis Barcelona und von dort zwei Stunden Autofahrt entfernt ist und der für unzählige Menschen im Zweiten Weltkrieg der letzte mögliche Fluchtweg in die Freiheit war. Viele waren von Paris über Marseille nach Banyuls-sur-Mer gekommen und einige von ihnen trauten sich nun mit der deutsch-jüdischen Widerstandskämpferin Lisa Fittko die wagemutige Flucht auf die andere Seite der Welt in ein Spanien zu, das mit neuen Gesetzen für weitere existentielle Verunsicherungen sorgte. Walter Benjamin ist der Einzige von ihnen, dem zwar mit Fittkos Hilfe die Flucht gelang, der sie aber nicht überlebte und der seinem Leben selbsttätig ein Ende setzte in dieser anderen, immer noch vielversprechenden Welt. Wer aber tötet eigentlich einen Menschen, wenn er sich selbst tötet? Die Zeit tötet ihn nicht. Das können nur Menschen als Teilhaber der Zeit, die sie mit anderen verbindet. Ich gehe diesen Weg, und er denkt mit, geht mir voraus. Dem Weg ist äußerlich nichts eingeschrieben. Dennoch hat seine innere Beschriftung Anteil an meiner Lunge und dem Drängen der Fragen, die sich im Gehen herausschälen. Alles, was ich hier innen und außen sehe, stelle ich mir zusammen mit dem Weg vor, der mir zuarbeitet. Der Weg und ich, wir sind ein Zusammen-Sehen. Ein schwerer Anstieg, der immer kälter werdende Wind, rutschiges Gelände, der nasse Boden, von den starken Regenfällen der letzten Tage unwägbar geworden, all das ist Sprache für den ausgesetzten Menschen, eine Sprache, die Punkte, Kommas und Semikolons verweigert. Ob das der Grund dafür ist, dass einige Menschen auf ihrer gefährlichen Flucht kurz vor dem Übergang nach Spanien, in der Nähe der aufmerksamen Ohren der Grenzwachen, sich selbst in Gefahr brachten, indem sie lautstark nach Äpfeln, Kuchen oder anderen weit entfernten und wie in einen anderen Kosmos ausgelagerten Dingen verlangten? Obwohl Lisa Fittko ihnen vorher eingehend erklärt hatte, an welcher Stelle des Fluchtweges nicht einmal gesprochen, geschweige denn geschrien werden durfte, zerriss etwas in ihnen, eine feine Naht ging auf, die sie in ihrer Beherrschung Wochen und Monate beschützt hatte. Der Ausbruch aus der Syntax der Gewalt, er klingt jetzt für mich angesichts der Gefahr, der diese Menschen ausgesetzt waren, wie ein Akt der notwendigen Selbstermächtigung. Selbst um den Preis der Zerstörung einer Freiheit, die sie mit jedem Schritt ersehnten, war es der Ausdruck ihrer Freiheit. Das Gewicht des wachsenden Lebens in mir tragend, kann ich es mir, umringt von den Gipfeln der Berge und mit dem Blick auf ein immer weiter sich entfernendes, hinter unserem Rücken zurückbleibendes Meer mit seinen kleinen, mediterranen Städtchen, Häfen, Cafés, plötzlich vorstellen – diesen unermesslichen Wunsch nach Selbstbestimmung, die in ihm enthaltene eigene Autonomie, auch in Gefahr der eigenen Stimme Ausdruck geben zu wollen. Merkwürdigerweise denke ich jetzt, ich selbst hätte aber wohl eher versucht, mich vernünftig zu verhalten. Vernünftig, was meine ich damit? Vielleicht still und leise. Dabei ist immer in meinem Leben alles in die richtige Bewegung gekommen, wenn ich mich, mit dem Maßstab eben dieses Vernünftigen gemessen, vollkommen unvernünftig, unlogisch, unberechenbar verhalten habe. Wir können keinen Weg dauerhaft gehen und im Gehen zeitgleich von oben, aus der dahinschwebenden weiten Luft der Vögel, auf uns selbst sehen. Wir müssen manchmal aufbrechen, ohne zu denken, der Aufbruch muss die Regie über das Ziel und den Blick auf unsere Füße übernehmen. Und uns die Gefahren vergessen lassen. So jedenfalls erscheint es mir am Anfang der achtzehn Kilometer langen Strecke durch die Pyrenäen, die uns noch bevorsteht. Später, viel später, erreicht mich die wirksame Wahrheit der Schritt um Schritt mitzählenden Lunge. Sie hat sich bei jedem Auftreten und Weitergehen Fragen erlaubt, sie in der inneren Zeit wie Fische in einem Netz gesammelt, und diesen Vorrat an Fragen und Zahlen, diese offenen Fragen und Zahlen, die zu Lebensfragen und Lebenszahlen werden können, hat sie mir für die nächsten Jahre mit auf den Weg gegeben und gezeigt, dass das eigene Leben nie außerhalb der Welt da ist, sondern immer in ihr wirkt, sie abbildet und das Große im Kleinen spiegelt. Auf dem Vogelweg singen alle Stimmen der Erinnerung mit. Er kann und muss allen äußeren Zielen trotzen und kann nur im Innen aufleuchten. Der Vogelweg ist ein Seelenweg, ein Bindeglied zwischen Himmel und Erde, er singt seine Schneise zwischen Göttern und Menschen ein, so leise, wie die Farben am Morgen mit dem Aufgang der Sonne sich ins Erwachen bringen. Der Vogelweg ist der Weg, nach dem man uns richten wird jenseits aller Geschäfte, der Stimmschall, der uns einschreibt in sich, weil wir sein Buch sind im Tal der Entscheidung. Sonne und Mond verdämmern, die Sterne raffen ihren Strahl ein. Unzugehörige durchziehen deinen Weg nicht mehr, jetzt aber bist du durch und durch verletzlich. Gerade weil du keine Feinde hast, bist du eine sichtbare Spur im Leben. Vogelweg, labe mein Herz und befreie es von falschen Bedeutungen. Denn jetzt, da du da bist, wo du vorher nicht warst, sehe ich, dass ich dich immer nur erahnt, oft ersehnt, mit dem Kopf herbeigerufen habe, du aber warst nicht zu erzwingen und ohne die stille und doch so einfallsreiche Mitarbeit der Füße warst du uneinnehmbarer Fels hinter allen Welten und Alten Träumen. Jetzt zieht deine Weltzeit ein in die Füße, die einem Quell gleich den Akaziengrund trinken. Es gibt keine probierbare Gnade. Gnade ist unteilbar, allwaltend nimmt sie sich alles, was ihr gehört – du kannst in ihr Schlaf und Erholung und auch atmende Tage in einem Semikolon finden. Und so sieht jetzt der Blick hinter dem Blick, dass kein Leben von einem anderen Leben getrennt ist, dass kein Weg von einem anderen Weg getrennt ist, dass keine Not von einer anderen Not getrennt ist, dass kein Aufblitzen der Wahrheit in einem Einzelnen getrennt ist von der aufblitzenden Wahrheit eines anderen Einzelnen. Wo diese Arbeit der Vögel beginnt, dort hat das eindimensionale und Besitzansprüche stellende Ich an Einfluss verloren. Ein weiter gefasstes, großzügigeres Selbst stellt uns seine Offenheit zur Verfügung, und Langmut und Huld des Lebens sind Nahrung dann im Wogen der Halme, die wir erblicken. Es lebt und bebt in der fortwährenden Anwesenheit der anderen Menschen. Es hat Augen hinter den Augen. Und es hat gelernt, der Lesart seiner grasliebenden Füße zu vertrauen. Der russische Dichter Daniil Charms hat es gekannt, dieses Selbst, das ihn in seinen metaphysischen Spekulationen atmen ließ, als er einmal vom Wandern kam und nach Hause ging auf einer Straße zwischen zwei Städten, irgendwelche nordischen Lieder pfiff und ihm in der Ferne eine Kuhmagd erschien und er sich in die Kletten setzte und verborgen ward und nur noch denken konnte, wie hoch, oh mein Herr, war Dein Gras gewachsen, es war so hoch gewachsen, dass es ihn verhüllte, wie er es in seinem Gedicht sagt, bis an die Schultern. Wenn dieses ans Gras sich anlehnende Selbst erwacht, ist es Zeit für die bleierne Nacht in uns zu verschwinden. Auch Aristides de Sousa Mendes war vertraut mit diesem anderen grünen Selbst. Deshalb wird er der Gerechte von Bordeaux genannt. Die Gerechten sind Einzelwesen. Es gelang ihm etwas, das unmöglich genannt wird. Er rettete 1940 mehr Menschen als Oskar Schindler. Warum wissen wir so wenig über ihn? Die Linden blühen im Geist und im Leben. Die Ernte ist immer im Jetzt, in unserem inneren Juni müssen wir uns ändern, weil das Leben nicht schläft. Der Weg, dieser Erzähler in meinem Kopf, weiß mehr als meine schreibende Hand. Aber sie sprechen jetzt miteinander, um mich teilhaben zu lassen. Und ich höre zu, höre und staune, wie die Füße sich einarbeiten in diese Unterhaltung zwischen ihren Elementen.

Die Geburtsurkunden reden miteinander

Die frische Bergluft liebt mich. Sie lässt mich alle im Vorfeld imaginierten Gefahren vergessen, die Fragen, die noch kurz vor dem Abflug von Berlin nach Barcelona wichtig waren, rücken sich selbst ins Verhältnis. Werde ich es in meinem Zustand schaffen, über die Pyrenäen zu gehen? Die ganze Fluchtroute am Stück meistern, die An- und Abstiege, die einst Walter Benjamin ging? Wird es regnen? Wie viele Stunden werde ich brauchen? Der Aufbruch in Colera auf der katalanischen Seite Richtung Cerbère läuft schon anders als geplant. Die Ortsnamen lassen mich frösteln. Mischt euch ein, Freunde, mischt euch, redet im Geist mein Pasolini mit. Ich mische mich ein, indem ich im Stillen das Denken übe und bevor ich es laut mit der Stimme sagen kann, brauche ich Zeit. Und doch ist das, was im Inneren geschieht, kein Prozess der Zeit, es ist ein Werden in Dauer, metaphysische Mandeln. Da wir außerhalb der Saison unterwegs sind und keine Touristen die Küste durchschwärmen, ist es schwer, eine angenehme und beheizte Unterkunft zu finden. Meine dalmatinische Kindheit, in der ich die harten, heizungslosen Winter über und in allen Nächten und in allen frühen Morgenstunden derart schlimm fror, dass sich mir Frostbeulen an den Fingern bildeten, meldet sich zurück. Ich will nicht frieren, meine lieben Mitmenschen, ich brauche euch, brauche bitte eine warme Unterkunft. Solch eine Bitte konnte sich Lisa Fittko nicht einmal in Gedanken leisten, als sie sich 1938 von Berlin nach Frankreich begab und ohne es zu wissen, eine Flucht einleitete, die fünfzehn Jahre dauern und sie durch die halbe Welt führen sollte. Wir sind, lange noch bevor ihr die Stadt Berlin eine nach ihr benannte und doch gut versteckte Straße schenkte, nun auf ihren Spuren unterwegs zur »F-Route«, benannt nach dem Ehepaar Lisa und Hans Fittko, die es während weniger Monate 1940 und 1941 zustande brachten, über dreihundert Menschen auf diesem alten Maultierpfad in Sicherheit zu bringen. Auf der katalanischen Seite der Pyrenäen, im Nachbarort von Portbou, findet sich ein einfaches Hotel. Die Züge von Portbou in Richtung Banyuls-sur-Mer halten lange in Cerbère. Und zwar in den frühen Morgenstunden, eine halbe Stunde lang. Das ist zu lang. Also fahren wir mit dem Auto in die Grenzstadt und nehmen von dort den Zug nach Banyuls-sur-Mer. Nur drei kurze Minuten später sind wir am Ausgangspunkt unseres Weges angekommen. Ich empfinde Scheu, dieses morgendliche Februar-Unternehmen als Wanderung zu bezeichnen. Das Freizeit-Wort fühlt sich an wie eine zweite, nun kapitalistisch versierte Vereinnahmung jener Menschen, die in ihrer Not gezwungen waren, diesen Weg auf sich zu nehmen und die Flucht zu wagen. Aber längst schon ist die ganze Route durchs Gebirge mit dem Etikett »Walter-Benjamin-Wanderweg« versehen worden, eine für unsere Zeit typische touristische Beschlagnahmung, ein wie zum Verkauf ausgelegtes Schicksal, das sich nicht mehr aufbäumen kann, so, wie sich Walter Benjamin nicht mehr gegen die heutigen rechtsextremen Politiker in Perpignan zur Wehr setzen kann, die ausgerechnet ihn als Namensgeber für ihr Kulturzentrum entdeckt haben. »Auch die Toten werden, vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« In seinem Todesjahr 1940 hatte Benjamin diese Sätze niedergeschrieben, nicht ahnend, dass sie einmal auf ihn selbst anwendbar sein würden. Der Weg über die Pyrenäen, der ihm Rettung sein sollte, ist jetzt eine Art kapitalistischer Sticker, dessen Einverleibung ich beim Gehen spüre und loswerden möchte, weil ich gehend auch Teil davon bin. Ich schaue nicht mehr auf die Wegweiser, sondern versuche, die ganze Zeit auf meine Füße oder in die Ferne zu sehen. Dann erblicke ich erste Häuser eines kleinen Städtchens. Dann die Weinberge. Sehe auf die Hügel. Ausläufer der Pyrenäen. Die Idylle zittert erst nicht, dann doch, nur dieses Zittern blättert in mir, es blättert mich um, weil ich das Buch bin, in dem das Gedächtnis sich sein Ufer findet. Dies sind die Zeugungen des Himmels und der Erde: Ihr Erschaffensein segnet unser Hiersein. Im Anfang ist der Mensch selbst ein Anfang, und er ist so gemeint, wie ein Anfang ist – immerwährend ist seine Kraft. Das Gedächtnis gehört den Wehrlosen. Wollen wir ihm gleichen, müssen wir so zuhören lernen, dass das Lebendige nicht vergeht, wenn es unsere Sprache erreicht. Wir sind an diesem Morgen Anwärter der Erinnerung, nicht selbst auf der Flucht, aber wir können nicht die Flucht der anderen aus unserem Denken löschen, sie bringt sich selbst ein. Die Toten gehen mit. Wir dürfen in der uns gegebenen Freiheit leben, müssen uns nicht tarnen, können, anders als Walter Benjamin und die von Lisa und Hans Fittko über die Berge geführten, in Lebensnot geratenen Menschen, einen Apfel oder zwei Äpfel mitnehmen, einen Rucksack und alles, was wir für diese Überquerung brauchen oder tragen können, auch eine Weltanschauung, was immer das heißt, wenn es etwas heißt und gebraucht wird. Ist Liebe zur Ganzheit das Gleiche wie Liebe zur Wahrheit? Ich habe selbstgebackenes Bananenbrot dabei und Zeit genug, um mich im Fragen zu üben und die ineinandergelegte Zeit wie ein mehrschichtig übermaltes Gemälde zu lesen. Unweigerlich fällt mir als Teilhaberin dieser Luft jene für sich genommen schlichte, aber gerade dadurch furchterregende Szene ein, die Varian Fry, der 1940 / 1941 unzähligen deutschen Emigranten das Leben rettete, in seinem Bericht »Auslieferung auf Verlangen« beschrieben hat. Einmal ging er nachts etwas später als sonst durch Marseille, er befand sich auf dem Rückweg von der Post, wo er wie jeden Tag Telegramme nach New York verschickt hatte, um Visa für seine Schützlinge zu erbitten. Als er mit seinem Begleiter bei seinem Hotel ankam, sah er davor ein Auto mit einem deutschen Nummernschild: »Der Chauffeur öffnete den Schlag und heraus stiegen fünf deutsche Offiziere. Sie trugen lange graue Mäntel, vorne hochgebogene Schirmmützen, die an das Hinterteil von Enten erinnerten, schwarze Glacéhandschuhe und glänzende schwarze Lederstiefel. An den Mützen konnten wir den vergoldeten Adler und das Hakenkreuz erkennen.« Fry und sein Begleiter ziehen sich zurück und warten ab, bis die Offiziere im Hotel verschwunden sind, erst dann gehen sie, mit vor Entsetzen zusammengeschnürten Hälsen, selbst auf ihre Zimmer. Aus der historischen Distanz betrachtet, wirkt diese Szene wie ein Albtraum, durchströmt von dunkler Energie, die sich gebieterisch auf die Schauenden, das Hotel, die Straße, ja, auf ganz Marseille legt. Wir müssen uns an diesem Tag nicht ducken, müssen nicht flüstern, sind nicht gezwungen, uns unauffällig und wie Geister zu verhalten. Wir können umkehren, auf Sonne hoffen, auf die Gnade dieses Tages und aller Tage, die diesem Tag folgen werden. Und doch leben auch wir in einer Zeit, in der die Menschen den Blick für die heilige Kontur eines Einzelwesens verloren haben und empfänglich sind für schwarze Mäntel und militärische Strenge und die Allmacht der Lüge. Es ist, als hätte Walter Benjamin uns und unsere verhärtete Wahrnehmung mit seinen synästhetisch ausgestreckten Antennen schon vorwegge-

nommen, als er schrieb: »Jeder Freie erscheint ihnen als Sonderling.« Und plötzlich wird einer, der gar nichts mehr besitzt (auch keinen privilegierten Pass, der ihm das selbstermächtigte Reisen erlaubt) und nur noch sein Selbst hat (diesen einzigen wirklichen Besitz) zur Provokation. Die dunklen Wolken des Wohlstandes, unserer Gewinne, Zinsen und Sparbücher stehen auf der Habenseite, die wir nicht hergeben und nicht einmal zeigen wollen, der Allernächste, der all das nicht besitzt, erscheint uns wie eine lästige Fliege, die uns bei unserem köstlichen Essen in irgendeinem Gartenlokal dieser Welt stört, wenn er um ein bisschen Geld bittet. Auch der Geburtsurkunde eines anderen, dessen Sprache wir nicht verstehen und von dem wir verlangen, dass er als Allererstes unsere Sprache beherrscht, weisen wir den Platz im Soll zu. So sehen wir dem Leben ins Gesicht, weil wir nicht mehr wissen, dass es eines Tages auf die gleiche Weise in unser Gesicht zurückschauen wird und weil wir ahnungslos sind, nicht wissen wollen, dass wir eine Sprache nie beherrschen können, dass Herrschaft und Sprache nicht eine Einheit bilden, sondern Sprache das Menschlichste am Menschen ist, und dass ihre Lücke darauf hinweist, wie hoch das Maß der Verletzlichkeit eines sprachlos gemachten Menschen ist. Weil wir nicht mehr wissen, dass wir den in uns eingeschriebenen geistigen Ursprung der Würde verloren haben, rechnen wir nicht mehr mit den Spiegelungen unserer Gedanken in unserem Leben. Aber das Sein ist ein Spiegel für jeden, der lebt, der Spiegel wird zurückschauen, jedem Einzelnen von uns wird er ins Gesicht sehen und uns zeigen: »Der Mensch ist ein Zögling der Luft.« Besitzer von Wahrheiten sind roh in ihrem Bestreben, bloß nur auf ihrer eigenen Habenseite zu bestehen. Die äußere Zeit hat ihre eigenen Gesetze. In der inneren Zeit gehen meine Füße dorthin, wo das Gedächtnis sie belebt, und an diesem Morgen gehen sie in ein Zeitzurück an den Ort, an dem ich 1973 das Licht der Welt erblickte, ich zeitzurückele also, während die kleinen, immer vorstellbarer werdenden Füße meines Kindes Richtung Welt heranwachsen, größer werden, fähiger, sich schon bald dieser Welt und der in ihr schwindenden Wärme zu stellen. Zu wem wird mein Kind in dieser die Herzen auslöschenden Welt gehören, wenn ich selbst nicht mehr am Leben bin? Aber ist die Welt denn so ein kleines Ding, dass sie die Herzen auslöschen kann? Sind es nicht eher die Herzen, die die Welt auslöschen und nicht umgekehrt? Interpolatevi, amici, interpolatevi, dann wird offenbar, wir Menschen sind verantwortlich für das Licht. Mischt euch ein, Freunde, sagt Pier Paolo Pasolini. Das Licht verbindet uns mit dem »Farben- und Friedenbogen«, in den wir uns einüben als Botschafter der Seele, die nach Kandinsky das Klavier mit vielen Saiten ist. Nicht die mythologisch vernähten Verquickungen ätherisch überhöhter und aus der Geschichte herausgefallener Ahnen, sondern nur die Menschen hier können sich untereinander aussöhnen, sich mit der Seele sehen und in vielen Tonlagen einander nahe sein. Ahnen sind Menschen, die einmal hier waren. Ihre Füße sind uns vorausgegangen und haben uns den Auftrag hinterlassen, unser Ich noch genauer als sie selbst auszuleuchten. Ahnen hatten einmal Namen, hatten Hände echter Menschen, wie jene von der Sonne und vom Wind gegerbten echten Hände meines Großvaters, der als einfacher Landarbeiter in Gegenden wie diesen auf der anderen Seite des Mittelmeers für seine fünf Kinder arbeitete, als unzählige Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg um ihr Leben bangten. Mit einer Schale Essen wurde Großvater für seine Arbeit bezahlt und brachte es, so die Familienerzählung, noch warm zu seinen wartenden Kindern. Er selbst soll wieder hungrig zur Arbeit gegangen sein. Sein Hunger erzieht mich heute noch, genauer zu sehen, was mit den Jahren des Lebens ein Synonym für genauer zu sein wurde. Der ihm auf die ausgestreckte Hand ausgezahlte Verdienst reichte nicht für alle ihm anvertrauten Mägen. Dieser Hunger, der lange noch nach dem Krieg anhielt und der letztlich dazu führte, dass mein Vater als Wanderarbeiter zu Fuß über Ungarn und Österreich schließlich nach Hessen in den beschaulichen Main-Taunus-Kreis kam, geht offenbar auch in mir mit. Vaters Hungerroute geht meinem Leben voraus. Sein Hunger war lange Zeit auch mein Hunger, die Fortsetzung einer unvermeidlichen Erinnerungsarbeit, die getan werden musste. Selbsttätig bestimmt dieses Archiv die Koordinaten meines Blicks bis heute und weitet nun, da der Hunger nur noch geistiger Art ist, die Dankbarkeit aus, die an den Wärmelinien meines Lebens baut. Sie kommt nicht aus dem Willen, sie rührt nicht aus einer akribisch betriebenen spirituellen Übung, sie steigt als selbsttätiger Lichtfunke aus dem Leben auf. Ich kann diesen Funken nicht machen. Der Lichtfunke macht mich. Das Leben selbst erstarrt nie. Es geht über die Person hinaus. Es war vor der Person da. Es wird nach der Person da sein. Und weiterwirken in unserer großen Menschenbibliothek, in der die Geburtsurkunden aller Lebenden und aller Toten über die Zeit hinweg aufbewahrt werden. Die Geburtsurkunden reden miteinander. Wenn wir schlafen, leiden, träumen und erwachen, tauschen sie ihre inneren Sonden aus. Es sind keine bürokratischen Daten, um die sich diese geistigen Urkunden kümmern. Sie wissen um unsere Rohheiten, aber sie sind nur den Essenzen verpflichtet und reichen über unseren Willen hinaus, auch über unsere blinden Forderungen, nur aus der persönlichen Existenz heraus Dinge, Pässe, Menschen für uns und unser Ansehen oder unsere Sicherheit zu beanspruchen. Das gebärende Meer der inwendigen kosmischen Verfassung ist stets tätig. Es ist diese Bewegung, diese Sternsaat, die uns sieht und deren Augen wir nicht entkommen können. Wer nicht im Geist tätig ist, der ist überhaupt nicht tätig. Das 20. Jahrhundert, das Erbe der Barbaren, will seine Anker weiterhin in uns ausgeworfen halten. Es will seine Glacéhandschuhe, seine militärischen Uniformen, seine eisigdunklen Archive in unserer Sprache wieder wirksam machen. Seine in den Konzentrationslagern und Gulags ökonomisch genau verwalteten Abgründe haben für die brüllenden Menschen unserer Zeit wieder an Anziehungskraft gewonnen. Die Polternden wollen wieder und noch lauter schreien, wollen wieder, dass es brennt, dass die einem jedem von uns in gleicher Würde ausgestellten Geburtsurkunden und die stille Kraft der Dankbaren verschwinden. Mitgefühl einem Fremden entgegenzubringen, schreibt Toni Morrison, bringe die Gefahr mit sich, selbst zum Fremden zu werden. Das ist ein Wagnis. Sich selbst abhandenzukommen. Am Ende erschrickt ein jeder von uns nur vor sich selbst. Schritt für Schritt durch die französischen Weinberge gehend, kommt mir das Bild der so schnell Zuschlagenden als von Leuten in den Sinn, die sich fortwährend in einem lauten Selbstgespräch befinden, ohne es überhaupt zu bemerken. Was sie zu zerstören, zu liquidieren versuchen, sind in diesem Bild ihre eigenen Schatten. Sie meinen sich die ganze Zeit selbst, wenn sie aus Menschen, die sie fürchten, in ihrer Vorstellung genau jene Ungeheuer machen, von denen sie selbst in ihrer Innenwelt bewohnt werden. Eine Sackgasse, in der nur noch das Weiterhassen als Handlung erscheint, ein Tätigsein, das nicht hilft. Akribisch arbeitet und vermehrt sich dieser Hass. Er ist wirksam. Und er kommt ohne die Helligkeit aus, die sonst den Schmerz ausleuchtet und zu unserer Achillesferse führt. In den Bergen ist alles still, so, heißt es bei Jean Paul, »wie in erhabenen Menschen«. Wer die innere Stille nicht mehr kennt, ist verführbar, ein reiches Mahl für die Welt der Schatten. Die Pyrenäen sind jetzt leise wie der allerkleinste Vogel, dem ich meine Hand hinhalte. Ich mache die Augen zu, und die Füße kennen den Weg von alleine, mein Ohr hört die Füße, das Ohr, das mich kennt und unterrichtet und wendet und windet und vermittelt zwischen den Welten. Schritt für Schritt wird das Wetter fordernder. Die reine Luft öffnet eine andere Weite in meinem Satzvermögen. Der unmittelbare Umkreis, den wir mit den äußeren Augen sehen, ist nicht der geistige Umkreis. Immer noch liegt der große Mangel der Europäer darin, über den Ursprung der Dinge stets nach Maßgabe dessen zu philosophieren, was in ihrem unmittelbaren Umkreis vor sich geht. Die Frische des Tages aber weiß, dass es tödlich ist, sich an den Tod zu gewöhnen.

Fingerkuppenleser

Im verbissenen Kampf gegen etwas oder jemanden verlieren wir die Kraft für das andere und eigentliche Leben, für das, was wir erbauen wollen, für jene stillere Welt in uns, an die wir glauben und die es nicht geben kann, wenn wir selbst aus ihr herausfallen und sie auf diese Weise nicht nur verlassen, sondern auch im Verrat zu ihren leblosen Statisten werden. Die Kraft auf etwas auszurichten, sich dafür einzusetzen, dass es Welt wird, verändert die Blickweisen auf das Gegebene. Sobald ein Mensch dazu in der Lage ist, greift der ludistische Tanz des Lebens ein und hat ihm andere Wirkkräfte anzubieten. Es ist auch dann kein eigentlicher Kampf mehr, sondern ein lebendiger und von Innen verbürgter Einsatz, eine in der Handlung gespiegelte Tat. Wir können noch immer ohne Ziel gehen durch Wälder, durch Täler und Bäche und schlafende Dörfer, um die große Nacht zu genießen wie einen Tag. Die nachglimmende Abendröte ist auch im heutigen Gang durch die Nacht noch wirksamtätig und stärkt und das nicht nur in Büchern, die mich lieben. Ein Wunder ist ein Sprung aus der Wunde in das letzte unbekannte Stück Dasein, das auf uns wartet und erst entsteht, wenn wir springen. »Überzeugen ist unfruchtbar.« Jetzt verstehe ich diesen Satz von Walter Benjamin zum ersten Mal in seiner ganzen Tragweite. Er ist mit meiner Geburtsurkunde verwandt, und ich werde gelebt haben, um an den Urgrund seiner Buchstaben heranzukommen. Es gibt keine Zeit im Innensprung und alles, alles ist jetzt. Deshalb klopft dieser Satz seit Jahren mein eigenes Denken ab. Wie oft habe ich geirrt und wollte doch überzeugen? Ich sage es mir wieder laut vor, damit die Stimme mitarbeitet: »Überzeugen ist unfruchtbar.« Vielleicht ist das, einmal als Erkanntes in uns tätig, die Genesis aller Menschen. Der »maßlose Widerstand« (Adorno) ist diesem Gedanken eingeschrieben. Aber zeugt unser Widerstand nicht davon, dass er uns nicht nur Vorstellungskraft abverlangt, sondern auch Gelegenheit zur Entfaltung der Innenbilder anbietet, neue sanfte Träumereien eines einsam Schweifenden? Damit wir nicht mehr und nie wieder etwas von den anderen Menschen fordern, was wir selbst nicht leben können? Die Erde ist kein Versteck. Je einbetonierter unser Empfinden ist, desto mehr Wärme wird benötigt, um es in Sprache zu verwandeln. Wird sich das Gleichgewicht erhalten lassen? Wir können nur das in der Wahrheit erhalten, woran wir selbst glauben, indem wir es leben. Nur so wird es seine Wirkung entfalten und neue Magneten werden entstehen. Bewusstsein und Füße, Ohren, Augen, Hände, die nicht zuschlagen. Fingerkuppenleser sind sehr gute Lehrer. Wer sich Zeit nimmt, die eigenen Lebenslinien zu lesen, wird aus der Rolle des in sich eingesperrten Traumstatisten erlöst. Nehme ich mir gerade Zeit? Meine Mündigkeit kommt aus der Wärme, die ich aufbringe, um aus der kühlen Einsamkeit all jener auszubrechen, die sich nur in der Menge wohlfühlen. Es gibt aber die andere, wahre Einsamkeit, die mit der Wahrheit unseres Wesens verquickt ist, in der wir ungeschminkt leben. Jeder Schritt führt uns wieder zurück zu jenem stilleren Blick, der im anderen Menschen auch das Verletzliche sieht, weil er für uns in uns selbst Sprachbrücke zum anderen ist. Unsere Ausgesetztheit und Verlorenheit vermehrt sich, wenn wir jenseits der Nähe, jenseits dieser Möglichkeit von Liebe immernurgeradeaus und nie nach innen sehen. Dabei verdient die Liebe unsere Liebe gerade deshalb, weil sie keine Fehler ausblendet, sondern, an ihnen entlang, das Vorhandene genauer in Augenschein nimmt und so gerettet und herausgetragen wird aus dem Wirkkreis einer frostigen Gefangenschaft der perfekt Funktionierenden. Die Lunge erlernt wieder das richtige Atmen. Jenes, das von allein geschieht. Und wenn es nicht von allein geschieht, schickst du wie ich an einem Heiligabend, in einer kalten Berliner Nacht eine Familie aus Aleppo weg. Sie haben keine Beziehung zum 24. Dezember. Für sie ist es ein Tag wie jeder andere. Du hast Gründe für deine Entscheidung, und du führst sie dir vor Augen – die Verabredung war vor vier Stunden vereinbart. Sie sind genau diese vier Stunden zu spät gekommen. Es ist Heiligabend und das Essen steht auf dem Tisch. Nun, ganz offensichtlich sind diese Leute unhöflich. Nach ihrem Fortgehen schmeckt dir das Essen aber überhaupt nicht. Auch die gewichtigen Gründe sind in den Einflussbereich des Gewissens überführt worden – und hier, heute noch nach Jahren, bleibt nur noch eine Wahrheit übrig: Deine Regeln waren dir so wichtig, dass du ausgeblendet hast, was du selbst überhaupt mit Heiligabend verbindest, vielleicht warst du und nicht die anderen unhöflich. Vater, Mutter und zwei kleine Kinder hast du nicht mehr nach zwanzig Uhr empfangen wollen. Die heilige Familie nahm es gelassen, bestieg daraufhin im Berliner Stadtteil Schöneberg den 48er Bus und fuhr lächelnd zu ihrer bescheidenen Bleibe. Und dir hat ein Essen noch nie so ungut geschmeckt wie damals. Du denkst jetzt an die Heiligabende deiner Kindheit zurück. Niemand aß überhaupt etwas bis zur Mitternachtsmesse. An Heiligabend wurde stets gefastet. Du hättest auch warten, auf diese Erfahrung der Geduld, des glücklichen Zuwartens zurückgreifen können. Die Berge, die dich jetzt umgeben, erzählen dir von jenem einfachen Leben, das dich geborgen gehalten hat, mit Blick auf das alte Feldsteinhäuschen, mit Blick auf die dahingestreckten Felder, mit Blick auf den Maulbeerbaum, mit Blick auf den Walnussbaum, mit einem alles langsam in sich aufnehmenden Blick, der in die Augen der Pferde sah und wusste, dass er nichts tun, sich nicht anstrengen muss, anders zu sehen, sondern dass es reicht, bloß da zu sein, leise und scheu wie ein Mischwesen im Wind. Vergiss es nicht, dieses schnörkellose Sein. Die Schafe. Das Grün. Der Himmel. Der Wind. Sie malen an einem anderen Bild in dir, zu dem du gehörst, weil du lebst und eingewoben bist in die Einheit aus Landschaft und Farbe. Lass sie nicht verloren gehen, diese Einheit, die dich ein- und ausatmet. Diese Berge hier versetzen dich zurück in jene Zeit, in der dir der Blick in den Spiegel die Eindeutigkeit des alle und alles verbindenden Lebens in deinem eigenen Gesicht aufzeigen konnte. Vergiss nicht dieses wache Gesicht, es war dein echtes. Es war bereit, jeden genau zu sehen und als Lebewesen zu erkennen.

Innere und äußere Landschaft

Was der Mensch in seiner inneren Landschaft anrichtet, wie er mit sich und den anderen Menschen seiner nächsten Umgebung umgeht, zeigt auch, wie er mit der Erde und der ihn im Außen umzirkelnden Natur in Berührung steht. Wir selbst sind Natur, dass wir das vergessen haben, erklärt im Kern unsere grausame Bereitschaft, das natürliche Gefüge zu zerstören, in dem wir selbst leben. Es gibt kaum noch eine »Ehrfurcht im Nehmen«, von der Walter Benjamin sagt, es gebühre sich, sie zu zeigen, »indem von allem, was wir wie je und je empfangen, wir einen Teil an (Muttererde) zurückerstatten, noch ehe wir uns des Unseren bemächtigen«. Denn es sei uns nicht gegeben, der Muttererde aus eigenem zu schenken. Was aber können wir dann überhaupt zurückerstatten? Und wie? Wir sind schon so über die Habgier hinausgegangen, dass sie längst nicht nur eine routinierte Geste ist, sondern ein wie fremdgesteuert arbeitendes Implantat, das, an der Stelle einer geistigen Bewegung und dem Wissen um die Gesetze der Erde, nun an unserer Stelle tätig wird, wo immer es nur kann: Plastikmenschen, Plastiklungen, Plastikgesichter, Plastikideen von Plastikmenschen, die keinem zu Hilfe eilen, weil sie längst in die Falle ihrer eigenen und in tausend Absicherungen lebenden Person getappt sind. Aber auch unser einzelner Körper ist Erde. Strenggenommen gehört der Körper niemandem. Strenggenommen ist auch er Natur. Strenggenommen haben wir auch ihn besetzt und ausgelaugt, ihn gefangen genommen, wie die Felder und Grundstücke, die nun, wohin das Auge reicht, immer irgendjemandem gehören und in Grundbüchern verzeichnet werden, auf Ämtern, von Beamtenhänden fixierte und vom Kapital untermauerte äußere Wahrheiten, die nicht immer mit der Wahrheit der Natur übereinstimmen. Geld ist nützlich. Seine Kraft besteht aber vor allem darin, dass sie fließt und das Vertrauen multipliziert, das man ihm entgegenbringt. Wenn Willkür das Innere des Menschen in Beschlag nimmt, stehen auch schnell im Außen Grenzwächter bereit und haben neue Stempel, neue und aus dem Nichts auftauchende Gesetze, viel Papier in der Hand, das die einen schützt und die anderen in tödliche Bedrängnis bringt. Und 1940, als Walter Benjamin an die Tür von Lisa Fittko klopft, hat er angesichts der zahlreichen neuen Verordnungen, die sich Tag um Tag gegen die Juden richten, nichts außer seiner vollendeten Höflichkeit bei sich. Er besitzt auch keinen deutschen Pass mehr, schon im Jahr davor war ihm, wie vielen anderen auch, die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Vielleicht hat er, als jemand, der sich mit der Ausdruckskraft der menschlichen Hand auskannte wie kaum ein anderer, beim Sprechen mit Lisa Fittko auch auf die eigenen Fingerkuppen geschaut oder sie zumindest in sanfter Beharrlichkeit umklammert und sich dabei Hilfe erhofft vom in ihnen eingeschriebenen Leben. »Die Welt gerät aus den Fugen, dachte ich, aber Benjamins Höflichkeit«, notiert Fittko in ihren Erinnerungen, »ist unerschütterlich.« Und: »Gnädige Frau«, sagte er, »entschuldigen Sie bitte die Störung, hoffentlich komme ich nicht ungelegen.« Es war der 25. September 1940. Benjamin hatte zu diesem Zeitpunkt schon in einem Lager eingesessen, wo er philosophische Kurse im Freien abhielt und eines Tages, am Rande des Stacheldrahts, zu dem Mithäftling Hans Sahl sagte: »Einmal wieder auf einer Caféterrasse sitzen und die Daumen drehen – das ist alles, was ich mir noch wünsche.« Benjamin habe im Lager in einem Verschlag gehaust, am Fuße einer Wendeltreppe, die über seinem Strohlager eine Art Dach bildete. Ein jüngerer Lagerinsasse, der in den Berichten aus dieser Zeit als sein Jünger bezeichnet wird, habe ihm aus einem Stück alter Sackleinwand einen Vorhang angefertigt, um ihn vor den Blicken der anderen zu schützen. »Ein Heiliger in seiner Höhle, von einem Engel bewacht«, schreibt Hans Sahl. Als sich die beiden Monate später in Benjamins Pariser Wohnung wiedersahen, drehte der Heilige aber keineswegs die Daumen – »er saß am Schreibtisch und arbeitete«. Jetzt war Benjamins Schreibtisch weit entfernt, verschwunden aus seinem Leben, wie das alte Jahrhundert aus der Zeit verschwunden war. Erst hatte Lisa Fittko, wie sie es sagt, »den alten Benjamin« für das kleine Mädchen aus dem Erdgeschoss gehalten. Es muss ein zartes, zaghaftes Klopfen gewesen sein. Dabei war er wie Tausende anderer Ausgesetzter längst verzweifelt von Paris nach Marseille aufgebrochen – und ohnehin schon seit Jahren ein Mensch auf der Flucht, als die Deutschen in Frankreich einmarschierten. Kurz zuvor hatte der Bürgermeister von Banyuls-sur-Mer, ein gewisser Monsieur Azéma, Lisa Fittko von einem alten Schmugglerweg erzählt: Ruta Líster. Benannt war dieser Weg nach einem General der spanisch-republikanischen Armee, der den alten Maultierpfad während des Spanischen Bürgerkriegs für seine Truppen entdeckt hatte. Monsieur Azéma. Dieser Name arbeitet in mir wie eine Erinnerung. Es ist merkwürdig, dass auch er sich ab einem bestimmten Punkt, wenn man den Namen lange genug wiederholt, wie eine Figur aus einem Märchen oder aus der eigenen Kindheit anhört. Der andere, bisher in dieser Gegend benutzte Weg, über den sich die Flüchtlinge aus Frankreich retten konnten, führte über jenen Grenzort Cerbère, in dem wir noch weit vor Sonnenaufgang in den Regionalzug nach Banyuls-sur-Mer gestiegen waren, so früh und so müde, als wären wir selbst unterwegs in ein anderes und neues Jahrhundert, das uns noch nicht kennt, das wir aber schon in uns tragen, als Talschaft einer Zeit, die uns erwartet. Zerberus, der Höllenhund, der uns nichts tat, konnte damals im September 1940, als Benjamin nach Jahren des Unterwegsseins mehr denn je auf Hilfe angewiesen war, nicht mehr gebändigt werden. Die Pyrenäen waren voll von Entrechteten und Staatenlosen, die ohne gültige Papiere in den kleinen Dörfern und Städtchen auffielen und auf der Suche nach einem Ausweg waren. Lisa Fittko war auch eine von ihnen. Sie hatte sich gerade selbst aus dem Internierungslager Gurs in Südfrankreich gerettet. Ihre eigene gelungene Flucht bildet das Muster für ihre zukünftigen erfolgreichen Fluchten im Dienst anderer Menschen. Im Lager Gurs befand sich zeitgleich mit ihr auch Hannah Arendt, die von der dichterischen Kraft Benjamins schon früh überzeugt war. Die Welt war auch ihnen eine Zeitlang nur noch eine auf die Baracken, auf die Umzäunung beschränkte gewesen. Nach der Flucht treffen die beiden Frauen, so der eigensinnige Bericht von Fittko, in einem der Dörfer, in denen sie untertauchten, aufeinander. »Unterwegs sahen wir in der Nähe des Dorfes, in dem sie sich allein versteckt hielt, Hannah Arendt durch die Wiese wandern«, heißt es bei Fittko vierzig Jahre später in ihren nicht immer ganz verlässlichen Erinnerungen. Sind Erinnerungen verlässlich? Ach, diese Dichter unter den Bewusstseinsmonden! »Auch sie hatte vor, in einigen Tagen weiterzuziehen. ›Wollen Sie mit uns nach Lourdes?‹, fragten wir. ›Ich fühle mich sicherer allein‹, antwortete sie. ›In Rudeln hat man weniger Chancen durchzukommen.‹« Auch Lisa Fittko bleibt zunächst mehr oder weniger allein. Sie verliert dabei nie den Blick für die Schönheit der Landschaft. Einmal, voller Dankbarkeit, als sie über die Maßen hungrig ist, gibt man ihr Milch und Gemüse, sie nimmt es im Wissen um einen neuen Grenzweg an und ist regelrecht beschwingter Wahrnehmung: »Ich erinnere mich, dass ich damals auf dem Weg zurück das erste Mal mit offenen Augen die Gegend sah, das unwirklich blaue Meer und die Bergketten mit den grünen Weinbergen, dazwischen schon etwas Gold, und ein Himmel so blau wie das Meer. Man kann es nicht schildern, man muss dort gewesen sein.« Benjamin vertraute ihr und dem Stück Papier, auf dem die Wegskizze zu sehen war, die ihr der Bürgermeister aus dem Gedächtnis angefertigt hatte. Ist das Gedächtnis verlässlich? Ach, dieser Sänger unter den Bewusstseinsplaneten! Max Aron, Benjamins Lager-Engel, beschreibt ihn in seinen Erinnerungen als die Ruhe selbst. Auch in Gefangenschaft habe er nicht die leiseste Bemerkung über das gemacht, was ihn wirklich innerlich beschäftigte. Deshalb habe er ihn für weltfremd gehalten. »Nicht zu gehen, das wäre das eigentliche Risiko«, soll Benjamin zu Lisa Fittko gesagt haben. Das ist Weltwachheit und nicht Weltfremdheit. Immerhin war Benjamin schon seit einigen Jahren ein Unterwegsmensch, teils aus innerer Getriebenheit, teils aber auch aus der genauen und luziden Beobachtung der politischen Situation in Deutschland. Wie Ossip Mandelstam und Pawel Florenski blieb er in all den Jahren des Getriebenseins ein schreibender Mensch, egal, ob auf der Insel Ibiza, in Italien, in Frankreich oder Dänemark. Ohne viel im Lager über sich zu reden, sparte er sich Kraft für das auf, was noch seiner harrte. Die Berge forderten ihm nun den Rest dieser Kraftreserven ab. Nachdem Fittko ihm die Hochebene mit den sieben Pinien, dem Weinberg und dem Bergkamm so beschrieben und alles so wiedergegeben hatte, wie es ihr der Bürgermeister erzählt und skizziert hatte – alles war möglich, aber auch riskant –, kam er, ohne es zu wissen, auch ans Ende seines Erdendaseins. Wenn ich über diese für Benjamins Leben alles entscheidende Szene nachdenke, zeigt sich jedes Detail auf seinem Weg als schicksalhaft, denn es hätte auch etwas Neues öffnen können. Und so führt mich der Kopf wieder zu Hannah Arendt, die über diese geheimnisvolle menschliche Gabe, »die Fähigkeit, etwas Neues anzufangen«, sagte, sie habe offenkundig etwas damit zu tun, dass jeder von uns durch die Geburt als Neuankömmling in die Welt tritt: »Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und Anfänger sind.« Mit einem wachsenden neuen Erdenbürger in meinem Körper, der sich im Mutterwasserdunkel auf das Erblicken des hiesigen Lichtes übt und sein Gedächtnis von diesem Element beatmen lässt, liest sich dieser Satz wie eine Offenbarung für mich, wie eine immerbleibende (gültige) Verknüpfung mit der Kraft des Anfangs, die uns überhaupt erst zu den Menschen macht, die wir sind. Alle Denkwege führen zu diesem allerersten Geschenk, zu dieser Gabe zurück – dass wir Anfänge und Anfänger sind und es in diesem Leben bleiben dürfen. Vielleicht wurde Lisa Fittko durch die Erfahrung der Todesnähe an diesen Anfang zurückgeführt und wurde selbst dadurch Teilhaberin einer Kraft, die es ihr fortan erlaubte, sich neu auszusetzen, sich selbst dabei zu gefährden, indem sie anderen Menschen zur Flucht und in ein neues Leben verhalf. Auf der Erde sind die Engel Menschen. Ihre Fingerkuppen sind sublimierte Flügel. Als Walter Benjamin vom Hitler-Stalin-Pakt erfuhr, soll er in Trauer zusammengesunken sein und gesagt haben: »Warum sollten wir es auch verdient haben, dass unsere Generation die Lösung der wichtigsten Fragen der Menschheit erleben sollte.« Ein Mensch, dessen Denkhorizont einem größeren Bild verpflichtet war, ist nicht weltfremd, er baut in der Sprache eine andere Welt, weil er sie tiefer denkt und weil er hofft, dass eine neue Welt möglich ist. Damit bringt er andere Menschen, bringt auch mich auf den Weg und eine Frage wie diese fordert uns Nachgeborenen auf, in die Antwort hineinzuleben, die uns gemäß ist – nun aber im schmerzlichen Wissen um die Verluste eines Jahrhunderts, das seine Verwandtschaft mit der Sonne eingebüßt hatte. Als Walter Benjamin sich 1926 in Moskau aufhielt und als ein verzweifelt Verliebter eine Fahrt in der Straßenbahn wie eine Episode aus der deutschen Inflationszeit erlebte, schrieb im gleichen Jahr der Leningrader Daniil Charms ein kleines Gedichtgebet nieder, in dem es heißt: »Kerze mach das Dunkel hell / Weihrauch ums Gesicht gestemmt / alle Bläschen werden grell / auf des Flüchtlings Leinenhemd.« Zwei Jahre nach Benjamins Tod lebte auch Daniil Charms nicht mehr. Nach dem deutschen Überfall 1941 auf die Sowjetunion wurde der Dichter ein weiteres Mal verhaftet. Jetzt klagte man ihn an, Verbrechen gegen die Sowjetunion begangen zu haben, was er bestritt. In der Psychiatrie erklärte man ihn für geisteskrank und unzurechnungsfähig. Als seine Frau ihm 1942 einen Besuch abstatten wollte, sagte man ihr knapp, er sei am zweiten Februar gestorben. Es ist zu vermuten, dass Daniil Charms während der Leningrader Blockade verhungert ist. Benjamin gab bei seinem Moskauer Aufenthalt in einem Gespräch mit einem Journalisten vor, ein Buch schreiben zu wollen, welches die Kunst unter der Diktatur behandeln wolle: »… die italienische unterm Regime des Facismus und die russische unter der proletarischen Diktatur.« Seine denkenden Augen sahen alles als Verbindung.

Die Göre und der Konsul

Ein Mensch ist die höhere Heimat des Menschen. Fernanda, die Göre, ist ein Mensch, der sich diese Beheimatung im eigenen Selbst nicht nehmen lässt. In einem Moment, in dem andere den Verrat und den vollen Magen vorziehen, bleibt sie lieber die Hausdienerin, die sie ist. Fernanda wird liebevoll mit diesem Gören-Spitznamen bedacht. Mit ihren großen Augen sieht sie in der Wohnung des Konsuls alles. Das ist ihre Arbeit. Sie ist Hausdienerin bei Aristides de Sousa Mendes. Fernanda ist ein Wesen ohne Eitelkeit. Sie kämpft um keine Identität, weil sie sich freuen kann. Als Göre erfreut sie sich auch an ihrem Gören-Namen und macht ihm alle Ehre. Auch das Jahr 1942 kann die Treue in ihr nicht auslöschen. In diesem das Unglück mehrenden und die Menschen verschlingenden Jahr geht sie nicht mehr in die Straßen von Bordeaux hinaus, um für ihren Konsul und seine Familie Einkäufe zu tätigen. Sie ist mit der Familie de Sousa Mendes von Frankreich nach Portugal umgezogen. Der Umzug war ein Teil der Gewalt, ein erzwungener. Und nun schreitet sie freundlich durch Lissabons Straßen, macht zwar immer noch Besorgungen, nur werden diese nicht mehr Einkäufe genannt, denn Fernanda hat kein Geld mehr, um sie wie früher einfach mal so und einfach mal schnell und sorglos zu machen. Aristides de Sousa Mendes hat kein Einkommen mehr, mit dem er sie wie einst in der schönen Diplomatenwohnung im großbürgerlichen Bordeaux bezahlen könnte. Fernanda bleibt bei der Familie und macht ihre Arbeit, als sei nichts geschehen. Längst aber ist etwas geschehen, es haben sich die Blickweisen umgedreht, nicht für sie wird gesorgt, sie sorgt für andere. Nun also hat sie Menschen um sich, denen sie noch vor kurzem anvertraut war und die jetzt ihr anvertraut sind. Wie die Kraft eines Menschen beschaffen ist, erkennt man in jenem Augenblick, in dem er Macht über andere hat. Die Kraft der Göre ist selbstlos groß, sie muss nicht groß scheinen. Langsam und mit suchendem Blick geht sie durch Lissabons Straßen und ganz oft auch in Richtung der Jüdischen Gemeinde, denn dort gibt es etwas zu essen, das man mitnehmen kann, wenn man bedürftig ist. Auch sie hat Hunger und muss mit ihren Kräften gut wirtschaften. Aber das bedarf keiner großen Erläuterung, Fernanda sieht genau, dass der Konsul leidet, sie sieht aber auch, dass er keine großen Worte dieses Leidens wegen macht. Die Hypotheken, die er für sein Haus in Lissabon aufgenommen hat, vervielfachen sich. Seine Schulden wachsen so, wie sein Herz gewachsen ist: Als er mindestens zehntausend Menschen mit seiner Unterschrift das Leben rettete. Die großzügig ausgetragenen fröhlichen Familienfeste sind für immer in die Vergangenheit abgesunken, nun ist es eine andere Zeit, keine Zeit der Feste, keine Zeit der Küsse und Umarmungen. Jetzt wird Fernandas guter Aristides von hochgestellten Persönlichkeiten der Regierung, für die er noch kurze Zeit zuvor der ehrfurchtgebietende Vorgesetzte war, nicht einmal mehr auf der Straße gegrüßt. Man hat Angst, ihn zu beachten, weilman kein Selbst hat