Das Herzflorett - Marica Bodrožić - E-Book

Das Herzflorett E-Book

Marica Bodrozic

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Beschreibung

Ein Dorf im Taunus. Eine Familie aus Dalmatien. Eine zerrissene Kindheit und eine rebellische Jugend. Die vielfach preisgekrönte Autorin Marica Bodrožić erzählt von einer jungen Frau und ihrem Weg in die Freiheit.

Pepsi liebt das Leben und den flimmernden Schlaf des Sommers. Ihre Eltern arbeiten in Hessen und tauchen nur in den Sommerferien auf dem einsamen Hof des Großvaters in Dalmatien auf. Zeitweise kommt sie auch bei anderen Verwandten unter, doch wo immer sie ist, bleibt sie fremd. Nur in der Natur fühlt sie sich aufgehoben, verbringt, fasziniert von der Sprache der Vögel am Himmel, ihre Tage barfuß im Gras. Als die Eltern sie zu ihren Geschwistern in die Einzimmerwohnung in einem Dorf im Taunus holen, will Pepsi sofort wieder weg. Die vom Putzen rissigen Hände der Mutter sind zu keiner Zärtlichkeit fähig. Der Vater beginnt seine Tage mit Schnaps. Das neue Leben hält aber zugleich Dinge bereit, zu denen das Mädchen sich wie magnetisch hingezogen fühlt. Die Welt der Bücher und Buchstaben, die deutsche Sprache, in die sie sich so plötzlich und heftig verliebt wie später in Aleksandar. Doch als sie Abitur machen und studieren will, wird ihr das verboten, weil sie kein Junge ist. Es ist wie ein Stich ins Herz, ein Abschied - und zugleich ein Neubeginn.

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Seitenzahl: 307

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Zum Buch

Pepsi liebt das Leben und den flimmernden Schlaf des Sommers. Ihre Eltern arbeiten in Hessen und tauchen nur in den Sommerferien auf dem einsamen Hof des Großvaters in Dalmatien auf. Zeitweise kommt sie auch bei anderen Verwandten unter, doch wo immer sie ist, bleibt sie fremd. Nur in der Natur fühlt sie sich aufgehoben, verbringt, fasziniert von der Sprache der Vögel am Himmel, ihre Tage barfuß im Gras. Als die Eltern sie zu ihren Geschwistern in die Einzimmerwohnung in einem Dorf im Taunus holen, will Pepsi sofort wieder weg. Die vom Putzen rissigen Hände der Mutter sind zu keiner Zärtlichkeit fähig. Der Vater beginnt seine Tage mit Schnaps. Das neue Leben hält aber zugleich Dinge bereit, zu denen das Mädchen sich wie magnetisch hingezogen fühlt. Die Welt der Bücher und Buchstaben, die deutsche Sprache, in die sie sich so plötzlich und heftig verliebt wie später in Aleksandar. Doch als sie Abitur machen und studieren will, wird ihr das verboten, weil sie kein Junge ist. Es ist wie ein Stich ins Herz, ein Abschied – und zugleich ein Neubeginn.

Zur Autorin

Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über achtzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodrožić lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.

Marica Bodrožić

DAS HERZFLORETT

Roman

Luchterhand

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Die Autorin dankt der Stiftung Preußische Seehandlung für die Förderung dieses Romans.

Copyright © 2024 Luchterhand Literaturverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München unter Verwendung einer Illustration von © Amy Berenbeim

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27368-2V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Inhalt

I Der Brief und die Folgsamkeit des Alphabets

IIDie Freundschaft mit dem Lexikon

IIIDie Verlockung der Pluszeit

IVDie Strahlung von Tschernobyl

V Der Eiserne Vorhang öffnet sich

VIDer Krieg ist ein Geräusch

VIIDer Aufbruch zu den Lichtern der Stadt

Dass es nicht immer hell ist, ist gut für die Blumen. Dass es manchmal regnet, auch. Ich glaube, dass die Welt nicht immer darauf ausgelegt ist, uns dauernd glücklich zu machen, sondern darauf, weiter zu blühen.

Erika Freeman

Sprich, sagte Pepsi, als würdest du das letzte Mal sprechen. Sing, sagte Pepsi, als würdest du das letzte Mal singen. Wer so spricht und wer so singt, sagte Pepsi, bleibt für immer jung.

I Der Brief und die Folgsamkeit des Alphabets

So sehr Pepsi die Stille im Dorf liebt, so sehr sehnt sie sich nach Menschen. Sie will weg von den Verwandten, bei denen sie in der träumerischen Herzegowina wie ein Waisenkind behandelt wird und nie genug zu essen bekommt, manchmal gar nichts, dann will sie auch weg vom Hof des Großvaters, aus dem dalmatinischen Süden in den europäischen Norden will sie gehen und sich endlich richtig satt essen an etwas Köstlichem, nicht nur an etwas knabbern, das von jemandem übrig geblieben ist. Sie hält das Leben mit ihren weit entfernten Eltern für etwas Wertvolles. Die beiden wohnen in Hessen, einer Gegend im Norden, so haben sie es ihr erzählt. Als Pepsi in der Schule das Alphabet lernt, übt sie es jeden Tag. Sie hat nur noch einen Gedanken, den sie als dringliche Aufforderung empfindet. Kurz nach ihrem neunten Geburtstag ist sie bereit und erfragt am anderen Dorfende bei ihrer Tante Rosa die Adresse der Eltern. Sie schreibt ihnen einen langen Brief. Ich hungere hier, niemand gibt mir etwas ab, schreibt sie gleich am Anfang, ihr müsst mich holen, mich und meine Geschwister, wir sollen alle zusammenleben. Gleich nach der Geburt waren Pepsi, ihre Schwester und ihr Bruder im Alter zwischen acht und zehn Wochen bei Verwandten untergebracht worden. Für die Geburt im Süden kam ihre Mutter aus Hessen, brachte ihre Kinder zur Welt und fuhr alsbald, um ihre Arbeit nicht zu verlieren, wieder in den Norden. Von Besuch zu Besuch vergaß Pepsi dann jedes Mal, wie ihre Mutter aussah. Nur ihr langes samtschwarzes Haar behielt sie in Erinnerung, das Haar, das auch ihrem Vater auf der Stelle ans Herz gewachsen war, als er sie in einer Kirche in Hessen entdeckte, während das Vaterunser gesprochen wurde. Bald darauf heirateten sie und dachten jedes Jahr, dass genau dieses Jahr ein gutes Jahr für eine Rückkehr in den Süden wäre. Aber dieses ersehnte gute Jahr kam nie. Und Pepsi erlebte sie nur als Menschen, die zu Besuch kamen und jedes Mal eine neue Krankheit mitbrachten, ein neues Leiden, eine neue Angst vor dem Sterben. Die Bora wehte wuchtig, als sie durch die wilden Gärten ging und den Brief wie eine ihr schon versprochene Zukunft zum Postmann trug. Ihre Haare flogen einen Moment so auf, als würde die Zeit anhalten, diesen Augenblick in ihr festhalten und damit, allein durch dieses kleine Innehalten, auf etwas Zukünftiges verweisen, das schon um sie wusste, sie erwartete, ohne ihr Genaueres darüber zu sagen. Etwas Grundlegendes würde sich jetzt für sie verändern, das fühlte sie, und in ihr stieg eine leichte Ahnung auf, ein fernes Angewehtwerden von etwas Sonderbarem, das sich schrecklich und schön zugleich anfühlte. Fast atemlos hatte Pepsi ihn verfasst, diesen alles verändernden Brief. Beschwingt hatte sie den Umschlag mit ihrer Spucke zugeklebt und war ins Dorf zum Haus des Briefträgers gegangen, entschlossen und beauftragt von einer inneren Kraft, die neu für sie war und der sie unbedingt Folge leisten wollte. Dabei hatte sie auf dem Weg, der umsäumt war von wild wachsenden, stark duftenden Kräutern, ein altes italienisches Lied vor sich hin gesungen, ihr liebstes Lied von allen, das sie oft im Radio Split gehört und auf einem uralten Kassettenrekorder ganz schnell aufgenommen und dabei vor Überschwang die ersten Zeilen verpasst hatte. So konnte sie es immer wieder hören, während sie, mit einem langen Grashalm im Mund, an dem sie wie an einer Süßigkeit kaute, auf dem Rücken in der Wiese lag, damals, in einer Kindheit, in der Lernen und Leben eine Sache waren und sie ein Reh im Nichts des Lebens, ein Buchstabe auf der Wiese der sprechenden Gründe, ein Rosenkäfer in der warmen Luft des Südens. Und als sie dann alle zusammen, späterhin, ihrem im Brief geäußerten Wunsch gemäß, in einen kleinen hessischen Ort in den Norden zogen, den Süden dem Gedächtnis anvertrauten und im Außen hinter sich ließen, dachte Pepsi, dass der Himmel ihrer Kindheit immer vier Gesichter hatte, die anderen beiden, Westen und Osten, fehlten ihr jetzt auf der Reise. Der Aufbruch nahm ihr den Grasposten weg, ihren grünen Kompass, der sich nun in ihrem Inneren neu ausrichtete und sie alle zusammen zu einem neuen und sehr anderen Leben lotste. Dann, als es ein Beisammensein mit den Älteren gab, die ihre Eltern waren, da war es auf einmal ganz deutlich und klar ein Leben ohne Mandelbaum und Gras und ohne die Frische der Elemente und ein Leben voller Anweisungen, die auf Pepsis Herz wie ein großer Stein auf einem lange im Vorfeld für sie vorbereiteten Grab lagen, an dem der Frühling lange, lange brauchte, um für sie als Natur zu erscheinen. Das hatte ihr die Einsamkeit im Süden Europas nicht erzählt, es half nun kein stilles Bitten, die Vergangenheit war vergangen, der Brief hatte sie aus ihr herausgemalt wie ein Maler, der die Kraft seiner Pinselführung genau kennt. Das Dorf, die Wiese, das Surren der Insekten fielen zurück in der Zeit, und die Zeit selbst wurde eine Grenze. Im Wissen um das Alte und im zeitgleichen Zugehen auf das unerbittlich Neue überlegte Pepsi schon, einmal in Hessen angekommen, wohin sie nun gehen und wie sie bloß von hier wieder wegkommen konnte. Die Weite des wie hingemalten und tröstenden Himmels war auf eine so entbehrende Weise weg, dass auch das südliche Blau und die Bäume anfangen, Pepsi sehr bald und sehr bitter zu fehlen. Ihre Schwester spricht wie immer wenig, fast nichts und versteckt jede Regung in ihrem Inneren. Das Herz ist aber tief in ihr drin und leuchtet Pepsi an wie eine Laterne in der Nacht. Sie isst gerne Mandeln, und wenn sie sich traut, etwas zu sagen, bittet sie nur darum, dass man ihr welche kauft. Pepsi nennt ihre Schwester jetzt Herzmandel. Ihr Bruder ist sehr rege, er spricht die ganze Zeit. Sein Name aber wird nie ausgesprochen, er wird immer nur Sohn genannt, mein Sohn, mein Sohn, heißt es, in beiden Sprachen, von beiden Eltern. Pepsi und Herzmandel werden auch so genannt. Obwohl sie eindeutig Töchter sind, heißt es auch bei ihnen, ach, mein Sohn, mein lieber Sohn, mach doch mal dies, mach doch mal das. Pepsi hatte im Süden immer einen Namen, sie hatte sich daran gewöhnt, ein Mensch zu sein, den man bei seinem Namen rufen konnte. Jetzt ist sie nur ein Sohn, der sie nicht ist. Und trotzdem sieht sich Pepsi in Hessen um. Die Welt ist so groß und so gut wie der Platz, auf dem ihre Füße nun schon seit dem Januar 1983 stehen. Alles ist seither neu für sie, nur nicht die Sprache, die sie schon aus dem Mutterbauch kennt und von der sie schon dort, im Bassin der wundersamen Töne, mit dem Vokabular ihrer Zukunft verbunden wurde. Das spürt Pepsi überaus genau und der Winter ist nicht ihre Lieblingsjahreszeit. Aber sie macht dort weiter, wo sie im Süden in der Schule aufgehört hat: Sie lernt Gedichte auswendig. Eine Nachbarin, der sie etwas vorträgt, erzählt ihr von einer Dichterin, die sich mit einem Dolch das Leben genommen hat. Das darfst du aber nicht machen, sagt sie. Und Pepsi nickt. Nein, nein, ich lerne ja nur die Gedichte auswendig, sagt sie. Der Winter aber macht sie nicht nur einsam, er entlässt Pepsi auch nicht aus seiner Dunkelheit. Natürlich will sie nicht sterben, deshalb sieht sie, dass alles im Leben eine Gelegenheit ist, das Zärtliche zu sagen, es den Vögeln gleichzutun und das Sterben im Absterben zu überwinden, und dass ein Dolch keine Art sein kann, sich selbst zu begegnen, das sagt ihr die Nachbarin auch noch einmal ganz eindringlich. Die Wiedergeburt als einen Gedanken der Freude hatte sie als Kind schon bei den Schachbrettblumen beobachtet, die jeden Frühling nach der bittersten Kälte ihre violetten Köpfchen in die Höhe streckten, obwohl sie den ganzen Winter über nicht einmal andeutungsweise zu sehen waren. Dann starben sie nach dem Blühen ab, und Pepsi machte sich doch Sorgen, dass sie es nächsten Winter nicht mehr schaffen und im Frühling unauffindbar sein würden. Aber grundlos, denn sie kamen immer wieder, und niemand konnte sie vom Blühen abhalten. In der Betrachtung versunken, hat sie das Lebendige im flimmernden Violett der Glöckchen tief in sich aufgenommen. Die Farben waren der Gesang der Blumen. Diese Stelle im Wald ihrer ersten Kindheit zog Pepsi vor ihrem Umzug nach Hessen magisch an, und sie ging immer zu ihr hin wie ein Mensch zu seinen Verwandten und Freunden geht. Die Auferstehung der Schachbrettblumen führte Pepsis Blick aber nicht nur zur Erde, sondern auch zu den Vögeln und ihren Flügeln, diesen Mittlerinnen von Wind und Sonne, Weite und Welt. Die Vogelsprache, das lernte Pepsi schon mit kleinen Füßen von den singenden Nachtigallen, kann auf Tapeten und in menschlichen Herzen wohnen. In ihrem Grasposten auf dem Hof des Großvaters beobachtete sie stundenlang Wolkenreiter, die immer zu zweit waren, geflügelte Reisende, zeitlose Lokführer des Südens mit Stiften und Zirkeln in ihren luftigen weißen Händen. In ihren Augen waren sie nichts anderes als Himmelsfahrer, abgesandte Luftschiffer, kundig schwebende Engel, mit denen sie sich über Tage hinweg befreundete und die sich in ihrem Blick verwandelten, eine neue Gestalt annahmen, alsbald zu anderen unbeweisbaren Ufern flogen und dann immer Platz für mehr Licht machten. Pepsi lag selbstvergessen im ewigen Gras, während der Sozialismus sich in aller Langsamkeit auf sein unweigerliches Ende in der Zeit zubewegte. In Hessen sind das Gras und der Sozialismus schon tiefe Vergangenheit, und Pepsi fühlt sich hier jeden Tag ein bisschen mehr eingesperrt. Die Ein-Zimmer-Wohnung hat nur kleine Fenster und Pepsi sieht kaum je den Himmel. Früher aber war sie eins mit dem Blau. Zwischen ihr und der Farbe flogen im Süden die Vögel tagein, tagaus hindurch und wurden, so kam es Pepsi vor, wenn sie die Augen auf- und wieder zumachte, von der Welt ständig eingeatmet und wieder ausgeatmet. Als Pepsi wieder einmal die Kleeblätter zählte, dann zum Himmel und wieder zur Erde schaute, spürte sie plötzlich, dass sie Teil dieses Atems war. Sie sah dann alles doppelt, und einen Moment lang war ihr ganzer Körper ein großes Auge. Von diesem Augenblick an nahm das Leben sie mindestens von zwei Seiten ins Visier, und niemand, auch nicht ihre diebische Tante Rosa, von der sie später die hessische Adresse ihrer Eltern erbeten hatte, konnte sie von ihrem Grasposten vertreiben. So wunderte sich Pepsi auch nicht, dass sie das Alphabet zuerst roch, bevor sie es als kleine Pionierin in der Schule gegenüber der alten Feldsteinkirche lernte. Jemand hatte lange noch vor ihrer sozialistischen Einschulung auf dem Hof ein Buch ins Wiesengrün fallen lassen, und fortan sprachen Wiese und Buch sie als eine Sache an, leise und nachdrücklich, so wie es nur der Wahrheit eigen ist. In Hessen ist alles asphaltiert, sie muss in dem kleinen Ort, in dem sie jetzt alle zusammenleben, das Grün geradezu suchen. Aber sie wird auf dem Weg zur Schule fündig, ein paar kleine Grasbüschel ragen aus dem Bürgersteig heraus und beweisen ihr, dass sie unsterblich sind. Die grünen Freundinnen begrüßt Pepsi überschwänglich, sie spricht mit ihnen, als könnte das winzige Grün sich mit ihr verbünden und ihr beistehen, wie damals, als sie selbst ein ähnlich kleiner Anfang war und ihre blinzelnden Augen ihr fingerbreite Mitteilungen des Himmels sandten in einem Leben ohne ihre Eltern. Ihre Eltern arbeiten schon sehr lange im Norden. Pepsis Vater ist schon als Jugendlicher zum Ernährer seiner Familie zusammen mit seinen Brüdern in den Norden aufgebrochen, erst war er in Ungarn, dann in Österreich und ist dann weiter nach Hessen gezogen. Er macht nichts als arbeiten, Tag um Tag, fünfzehn Jahre lang, bis er Pepsis Mutter kennenlernt und sich in ihr samtschwarzes Haar verliebt. Pepsis Onkel Joseph und Onkel Miki machen das genauso. Sie arbeiten so viele Stunden am Tag, dass ihre Haare davon weiß werden, und es heißt, wenn sie frühzeitig in Rente gehen würden, würde sie auf der Stelle der Tod holen, so, wie er sich die anderen geholt hatte, die sich getraut haben, im Süden zur Ruhe zu kommen. Wenn Pepsis Eltern in ihrer frühen Kindheit zu Besuch sind, erzählen sie ihr immer, dass man im Norden nicht atmen darf, den Kaffee immer schnell austrinken und wieder arbeiten muss. Es heißt auch, die Firmen, bei denen sie angestellt sind, hätten Uhren, die das Kaffeetrinken mitzählen, aber den Atem wegzählen. Pepsi weiß nicht, was das alles bedeutet, aber dass die Menschen nicht in Ruhe Kaffee trinken dürfen, das hört sich schlimm an, und sie kann es gar nicht glauben. Pepsis Eltern mussten zu diesen anderen Uhren zurückeilen, und so, das hatten sie ihr später immer wieder erzählt, hatten sie keine andere Wahl, als ihre Kinder schon mit zehn Wochen wegzugeben. Pepsi kaut Kaugummi und findet das trotzdem nicht gut. Aber deshalb wurde sie von ihren beiden jüngeren Geschwistern getrennt und wie ein Stück Stoff mit einer riesengroßen Lebensschere von ihnen entzweit. Und die Eltern rannten wieder in den Norden zur Arbeit wie zum Gold des Lebens, doch die Arbeit machte ihnen die Beine und den Rücken kaputt und das Rennen fiel ihnen immer schwerer. Der Norden liebte sie nicht, und in alledem waren sie auch noch allein, weil sie sich mit der Lebensschere aus ihrem eigenen Bild herausgeschnitten hatten. Doch vorab und zuerst rechneten sie nicht mit dem Brief ihrer Tochter, und vorab und zuerst musste Pepsi auch erst einmal überleben, und das tat sie bei der Mutter ihres Vaters, die, so hieß es, eine Tochter hatte, die schon vor der Geburt von Pepsis Vater in der Wiege gestorben war, überaus schlimm und qualvoll, wie ihr schon früh erzählt wurde – unter der Bettdecke erstickte das Kind, als ihre Großmutter kurz aufs Feld ging, um Kartoffeln für das Abendessen zu ernten. Pepsis Geschwister waren genau wie sie selbst nur wenige Wochen nach ihrer Geburt an unterschiedlichen Orten bei Verwandten umverteilt worden. Pepsis Großmutter kümmerte sich anfangs ausschließlich um Pepsi und ließ sie offenbar nie aus den Augen, behielt sie ganz fest im Herzblick, damit sie ihr nicht auch noch erstickte wie einst das andere, kleine, kleine Kind. Sie hatte noch die Kleider ihrer in der Wiege umgekommenen Tochter in einem alten Feldsteinschuppen aufbewahrt, und als hätte sie nur darauf gewartet, dass eine geeignete Nachfahrin auf die Welt kommt, zog sie all das ihrer Enkelin Pepsi wie einst ihrem Sohn an, was dazu führte, dass Pepsi schon als Baby nicht Pepsi sein durfte, sondern ein anderes Kind, ein Kind, das nicht mehr lebte. Sie aber lebte, war mit vollem schwarzem Haar geboren worden und sah aus wie ein großäugiger Mensch aus einem anderen Jahrhundert. Als Pepsis Großmutter starb, die ihres zweiten Gesichts und der Fähigkeit wegen, die Zukunft zu sehen, im Dorf mit Ehrfurcht Schamanin gerufen wurde, durfte Pepsi nur noch kurz auf dem Hof der Großmutter bleiben, der jetzt der vereinsamte Hof des Großvaters war. Sie kam dann in die Obhut einer einsilbigen unverheirateten Tante, die selbst keine Kinder hatte und die im Nachbarweiler wohnte. Die meiste Zeit verbrachte diese Tante mit Pepsi auf dem Hof des Großvaters, um hier zu kochen, weil sie selbst keine richtige Küche besaß, und das Einsame war nicht mehr das Bestimmende. Dass die Tante dafür Geld von Pepsis Eltern bekam, erfuhr Pepsi erst später, als sie wieder umziehen musste und zu ihrer Tante Morgenrot in der Herzegowina kam. Ganz weit weg war das, so schien es ihr. Pepsi verbrachte hier fast zwei Jahre und als ihre Geschwister auch dazukamen, lebten sie dort ein paar Monate zusammen, als hätte es nie die Lebensschere gegeben, die sie einst entzweigeschnitten hatte. Pepsi bekam kaum etwas zu essen und ging jeden Abend hungrig ins Bett. Dann wurde beschlossen, dass Pepsi wieder zum Hof des Großvaters umziehen sollte, warum denn das, will sie wissen. Damit sie nicht den herzegowinischen Dialekt lernte, sagt man ihr. Dieser Dialekt, so heißt es jetzt in unverblümter Direktheit, stehe bei der mehr mittelmeerischen Verwandtschaft im Ruf, vom muslimisch-arabischen Vokabular aus der Zeit des Osmanischen Reichs unterwandert zu sein. Pepsi, die schon längst die beiden Dialekte in sich aufgenommen und liebgewonnen hatte und das Osmanische Reich für etwas vollkommen Ungefährliches hielt, sollte gleich, wie sie es nannten, die richtige Sprache lernen. Als sie davon hörte, legte sie sich, so wie sie da gerade stand, als die Nachricht sie erreichte, direkt ins grüngrüne Gras neben den sehr braunen Hund und wartete, bis ihr Leben in diesem von den dalmatinischen Verwandten missmutig beargwöhnten Dialekt beendet wäre, und sie schwor sich, ihn nie wieder zu vergessen. Großvater holte sie auf einem Pferd ab, das vorher nicht sein Pferd war, aber dann für immer das Pferd auf dem Hof blieb, und sie ritten zu zweit einen ganzen Tag lang über Hügel und Berge, die, wenn Pepsi sich umdrehte, wie lebende Gestalten mit Herz und Nieren aussahen und eine große Lunge hatten, die mitten in der Landschaft eine neue Landschaft bildete. Der Wind war schön und wuchtig und riss sie fast vom Pferd, aber es ging immer weiter und weiter und weiter und es wurde nicht ein einziges Mal an diesem Tag angehalten. Pepsi war wie immer hungrig und nun also eine hungrige Reisende, die von ihren Eltern entfremdet war, sich jetzt schon, auf dem Rücken des Pferdes, nach Bruder und Schwester verzehrte und die Rückkehr auf den Hof des Großvaters als eine Abkehr von ihnen erlebte. Sie sehnte sich so sehr nach den Gesichtern und Händen ihrer Geschwister, dass sie anfing, darüber mit dem Mandelbaum zu reden. Sie lag, nun größer geworden und schon lernwilliges Schulkind in einer blauen Pionieruniform, im Gras, dachte an die beiden und sah dabei in die Baumkrone hinauf, sah dass nichts aus dem Nichts kommt und doch alles mit einem Nichts anfängt, dass die Blüte nur scheinbar auf einmal da ist, allmählich eine Frucht wird, die für sich sein oder gegessen werden kann. Also ist es zeitgleich ein schönes und kein schönes Leben. Einerseits. Doch andererseits gibt es immer ein Andererseits, es gibt jetzt auch diese anderen Wiesen, das Grün, das Alphabet, die doppelte Welt von Himmel und Erde, die in ihr mitgeht und ein eigenes Leben führt. Sie liegt im Gras, und alles flimmert ihr als Lichtkarussell vor ihren halbgeschlossenen Augen, und sie denkt sich den Kreis, der die Elemente und alles, was sie kennt, verbindet, und geht und geht und geht, und eines Tages stehen ihr Bruder und ihre Schwester vor ihr. Da seid ihr ja endlich!, sagt Pepsi. Die beiden wissen nichts von Pepsis anderen Verwandten aus dem Land der Wolken, der Pflanzen, der Vögel und des Alphabets, ahnen nichts von den Gesprächen, die sie mit Schachbrettblumen, Schwalben und Heiligen führt, mit den Farben und Gerüchen der Kargheit im Karst, der Luft im Sommer, die durchtränkt ist vom Duft des Annakrauts, das für sie noch irgendein Kraut ohne einen Namen ist, und seine schönen gelben Blüten liebt sie inniglich. Ihre Schwester steht herzgerade vor ihr und liebkost sie mit den Augen. Aber ihr Bruder ist forscher, als es Pepsi lieb ist. Denn er stellt ihr sogleich beim ersten und lang erwarteten Wiedersehen eine große Frage und sieht sie eisern an dabei: Kannst du beweisen, dass wir Geschwister sind? Nein. Pepsi fühlt sich von ihm geohrfeigt, sie kann gar nichts beweisen, nur sehen, dass er und sie ein Wir sind. Es tut ihr weh, sein Eisigsein, und dass er sie nicht als Schwester erkennt, ist ein Rätsel für sie. Erst will sie weinen. Aber sie tut es nicht. Sie sieht auf ihre Füße. Auf das Gras. Dann in sein Gesicht. Zeitgleich zur Eisigkeit des Bruders sieht sie, dass das Gras zu ihr spricht, dass die Vögel sprechen, dass die Farben sprechen, dass alles spricht und etwas sagt. Dann gehen die beiden wieder weg, Hand in Hand zu einer anderen Verwandten, wieder ein Beschluss von den Älteren, wieder ein neuer Umzug, und Bruder und Schwester ziehen tatsächlich wieder weg, ein Gefühl von Ausgesetztheit nimmt Pepsi in Beschlag, und sie kann nicht mehr aufhören, an die Hände der beiden zu denken, an diesen schönen Moment ihres Zueinandergehörens, in dem ihre Finger sich finden, treu und still, wie nur das Blau der Kornblume zum Blumenstängel findet. Die beiden kehren ihr den Rücken zu und gehen fort. Sie gehen fort von ihr, als würden sie nie mehr zu ihr zurückkommen. Und das wäre auch beinahe geschehen. Doch ihr Brief hat sie wieder vereint.