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»Niemand nordet meinen menschlichen Kompass so poetisch und klug wie Marica Bodrožić.« Maria-Christina Piwowarski
Marica Bodrožić geht in sechs sehr persönlichen Essays der Frage nach, wie wir gerade unter dem Eindruck alltäglicher Gewalt und fortlaufenden Unrechts zu einer neuen Offenheit im Denken, zu mehr Menschlichkeit gelangen können.
Überall auf der Welt wird das Recht auf Unversehrtheit mit Füßen getreten, jeden Tag aufs Äußerste missbraucht. Was braucht es, um Veränderungen anzustoßen? Wer nur das Alte beibehalten will, wählt zwangsläufig einen Weg ins Unglück. »Um Veränderung wahrnehmen und sie zulassen zu können, ist es vonnöten, die eigene Verletzlichkeit zu kennen«, schreibt Bodrožić. Ihre Essays sind ein eindrucksvolles Plädoyer für ein friedliches Miteinander – in der geistigen Tradition von Martin Luther King oder Erich Fromm. »Wir bleiben unser Leben lang verletzlich. Es gibt eine Güte, die hinter der Grausamkeit liegt. Sie kann nicht durch die Gewalt abgetötet werden.«
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Seitenzahl: 221
Marica Bodrožić geht in sechs sehr persönlichen Essays der Frage nach, wie wir gerade unter dem Eindruck alltäglicher Gewalt und fortlaufenden Unrechts zu einer neuen Offenheit im Denken, zu mehr Menschlichkeit gelangen können.
Überall auf der Welt wird das Recht auf Unversehrtheit mit Füßen getreten, jeden Tag aufs Äußerste missbraucht. Was braucht es, um Veränderungen anzustoßen? Wer nur das Alte beibehalten will, wählt zwangsläufig einen Weg ins Unglück. »Um Veränderung wahrnehmen und sie zulassen zu können, ist es vonnöten, die eigene Verletzlichkeit zu kennen«, schreibt Bodrožić. Ihre Essays sind ein eindrucksvolles Plädoyer für ein friedliches Miteinander – in der geistigen Tradition von Martin Luther King oder Erich Fromm. »Wir bleiben unser Leben lang verletzlich. Es gibt eine Güte, die hinter der Grausamkeit liegt. Sie kann nicht durch die Gewalt abgetötet werden.«
MARICA BODROŽIĆ wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodrožić lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.
Marica Bodrožić
Von der Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten
Essays
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Genehmigte Taschenbuchausgabe April 2024
Copyright © 2024 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von © Amy Berenbeim
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Klü · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-31433-0V001
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Der Kopf gestaltet die Welt, das Herz verändert sie.
In meiner Kindheit bin ich viel Bus gefahren. Zwischen Dalmatien und Hessen war ich unzählige Male schon im Alter von zehn Jahren allein unterwegs. Ich fuhr mit dem Bus nicht nur durch Landschaften und Länder, sondern auch durch die Korrespondenzen meines Lebens, durch Sprachen und Gedächtnisse, durch die Geschichte und die Gegenwart, und der Doppeldecker mit all den brummenden Stimmen, dem Geruch von Zigaretten und Schnaps, dieser erdige Geruch von Menschen, die mit ihren Händen arbeiten, der fuhr auch mit, gehörte dazu und saß noch tagelang in meinen Kleidern fest. Doch die Idylle gab es schon damals nicht. Sie zitterte allenthalben und war nur noch anwesend in den sentimentalen Erinnerungen einfacher Menschen, die alles verlassen hatten, dem Hunger entkommen waren und die sich von ihrem Hier in ein anderes Dort hinträumten, während ihre Kinder neue Sprachen lernten und den Unterschied zwischen Faschismus und Kommunismus verstanden, weil sie in Schulen gingen, die noch von alten Nazis geleitet wurden, die sie hin und wieder so anschrien wie bissige Hunde bellen, die eigens dafür angeschafft wurden, andere zu erschrecken. Doch nicht nur in Deutschland war belastend Unaufgearbeitetes. Auch im Gestern meiner Eltern gab es viel Arbeit am Gedächtnis, die noch ihrer und meiner harrte. Denn das Gedächtnis geht in jedem Menschen mit, der an einen anderen Ort zieht, er bringt nicht nur seinen Körper mit, sondern auch die Geschichten und Kämpfe, Ängste und Nöte seiner Vorfahren. Davon will ich erzählen und zeigen, was geschieht, wenn die Jüngeren sich erinnern, wenn sie frei werden, obwohl Gewalt und Doktrin sich ihrer schon fast bemächtigt hatten und die Ahnen an ihnen zerren. Ich glaube, dass heute weltweit die Geschichten Einzelner in der Ganzheit des Lebens mehr denn je etwas zum Helleren hin verändern können, wenn wir sie tief in uns aufnehmen und in unserem Bewusstsein auf die eigenen Verwebungen und historischen Vermächtnisse übertragen und uns Fragen im Hinblick auf das in uns mitgehende Erbe stellen. Nur Einzelne verändern die Welt. Besonders in Zeiten des Wandels spiegelt deshalb nicht nur jeder einzelne Mensch die Welt – er ist die Welt.
In der sogenannten kroatischen Diaspora wurden in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts allenthalben kleine Bildchen des faschistischen Führers Ante Pavelić zwischen Deutschland und dem einstigen Jugoslawien geschmuggelt. Sie waren im Stil von Heiligenbildchen gestaltet und hatten etwas seltsam Anziehendes. Mich erinnerten sie auch an die Heiligen, die in meinem dalmatinischen Dorf verehrt wurden, etwa an den Heiligen Rochus oder den von mir ganz besonders geliebten Franz von Assisi und an den Heiligen Antonius von Padua, dem Schutzpatron des dalmatinischen Dorfes, in dem ich einige Jahre meiner Kindheit verbracht habe und das im Hinterland von Split liegt. Eines Tages, als ich wieder in Frankfurt am Main den Doppeldeckerbus im verrufenen Bahnhofsviertel bestieg, steckte mir mein Vater kurz vor der Abfahrt ein Bildchen von Ante Pavelić zu und unterwies mich flüsternd, aber im zischend strengen Ton, dass ich es verstecken müsse, sollte ich an der Grenze kontrolliert werden. Mein Auftrag lautete, den sehr ernst guckenden Typen auf dem Bild jemandem in unserem dörflichen Genossenschaftsladen zu übergeben, aber sonst mit niemandem darüber zu sprechen, auch nicht mit meinem Großvater. Diese Urszene der seelischen Gewalt hat aus mir im Unterwegssein zwischen Hessen und Dalmatien und über die Alpen hinweg unerwarteterweise einen denkenden Menschen gemacht. Erst weckte das geheimnisvolle Agieren meines Vaters meine Intuition und etwas in mir blätterte sich wie Seiten in einem Buch um – und es stieg eine ganz klare Frage in mir auf: Warum alles so im Geheimen? Später folgte die zweite Frage und in dieser wie von Innen orchestrierten Folge war sie für mein ganzes Leben folgenreich: Wer ist eigentlich dieser Mensch in Uniform? Im Alter von zehn oder elf Jahren, denn die Szene wiederholte sich immer wieder, misstraute ich zum ersten Mal meinem Vater. Was machte er da eigentlich genau? Warum verwickelte er mich in dieses unangenehme Geheimnis, während er nervös eine Zigarette nach der anderen rauchte?
Ich besuchte meinen Großvater in fast allen Schulferien. Doch jedes Mal musste das Geld für die Busfahrkarte aufgetrieben werden und jedes Mal versuchte meine Mutter, mich davon abzubringen, denn das Geld war ohnehin immer knapp. Sie ging zu verschiedenen Putzstellen, und vornehm aussehende Leute bezahlten sie dafür, dass sie ihre Wohnungen säuberte. Es ging im Alltag immer wieder und vor allem darum, genug Brot für uns zu kaufen. Eine Fahrkarte war kein Brot. Eine Fahrkarte war Luxus. Aber ich ließ nicht locker, ich wollte von Hessen zu meinem Großvater nach Dalmatien, und eines Tages beschloss Mutter, dass ich zu ihren Arbeitsstellen mitgehen und ihr helfen musste. Ich überwand die Scham, denn es sahen uns manchmal auch die Kinder aus meiner Schule, die in der Nähe oder im selben Haus wohnten. Ich schluckte die Scham wie eine Fischgräte hinunter und putzte mit. Wenn die schicken Räume der eleganten Leute sauber waren, hielt ich endlich irgendwann die ersehnte Busfahrkarte in der Hand. Und ich fuhr wieder allein in den Süden. Ich sah schon in meiner Vorstellung die kleinen Dörfer vor mir, die Sonne, den Karst, die Katzen. Aber es belastete mich zeitgleich im Vorfeld, dass mein Vater mir diese Bildchen unterschob, mich mit dieser Belastung und seinem Auftrag auf die Reise schickte. Ich spürte es genau – es lag etwas Erpresserisches in der Luft, wenn Vater mir das Bild des faschistischen Anführers anvertraute. Mutter bekam davon nichts mit. Aus der Rückschau erscheint mir meine Not von damals als Botschafterin einer Wahrheit, die das Gewissen mir zumutete. Natürlich hatte ich aber auf den ersten Blick einfach nur Angst, Vater könnte ein Machtwort sprechen und mir meine Busreisen nach Dalmatien verbieten. Das aber wollte ich unbedingt vermeiden. Und so kam es zu dem im Schweigen besiegelten Bündnis zwischen mir und ihm. Ich schmuggelte die Bildchen in den Süden und durfte immer fahren, bekam auch daraufhin genau mit, wer im Dorf dieser Zeit dem Faschismus nachtrauerte und wer diesen Mann, der ein Verbrecher und Mörder war, verehrte und wer sich von meinen kroatischen Verwandten feindselig gegen Serben oder Juden äußerte – beide sollten im Ustascha-Staat vollends ausgelöscht werden. In meinem kleinen Kinderleben wurde das 20. Jahrhundert vorstellig, es öffnete mir durch einen Moment allerkleinster Durchlässigkeit den Zugang zu meinen eigenen Empfindungen. Durch das innere Unwohlsein, die Reibung, die beim Schmuggeln der Bildchen in mir entstand, ereignete sich und zeigte sich mir die Macht des Bewusstseins, in dem nichts verloren geht. Aus diesem Bewusstsein heraus ist über Jahre und Jahrzehnte hinweg die Fähigkeit entstanden, nach innen zu hören, auf die Reibungen zu achten, mich nicht zu unterwerfen – wenn es auch Rückschläge durch die Vereinnahmungen meines Vaters gab, der innere Moment des Gewahrwerdens wurde nie vollständig in mir ausgelöscht. Darauf will ich mein Augenmerk lenken und zeigen, dass der wissende Funke immer da ist, dass wir ihn oft wegdrängen, dass wir lernen müssen, die Sprache der Reibungen zuerst in uns selbst zu verstehen, die wir dann in der Welt sehen können. Denn wir leben in Zeiten, in denen Durchlässigkeit wie diese, in denen die geistige Ebene der inneren Verknüpfungen gänzlich ausgehebelt werden kann, wenn wir seelisch unter Druck geraten. Das Gewissen ist auch ein Wissen. Im Gewissen wissen und erfahren wir, dass es uns als Einzelwesen gibt. Das Gewissen ist in uns abgelegte Sprache. Diese Sprache ist mit den Funken verbündet, der sich in den Augenblicken des Gewahrseins spiegelt. In meiner ersten Sprache war ich nie dazu in der Lage, diese Beziehung zwischen Eingebung, Stille und Verstehen herzuleiten. In meiner ersten Sprache war ich sehr lange das Kind von damals. Das Deutsche aber ermächtigt mich von Beginn an zur Freiheit und Genauigkeit. Und ich empfinde tiefe Freude darüber, dass ich Fragen stellen kann und genug Zeit habe, um in sie hineinzuleben.
Meine Reisen als Schmugglerin hatten mich dafür sensibilisiert, dass alles miteinander im Gespräch zu sein schien. Die deutschen Wörter sagten sich in mir die Wahrheit, und ich hörte der Sprache zu. Und alles, was später an Hass zwischen den Menschen und in den kriegerischen militärischen Auseinandersetzungen Anfang der 1990er Jahre geschah und von mir wahrgenommen wurde, hatte mit diesem Erleben auf den Busfahrten zu tun, mit ihrem Benennen in meiner zweiten Sprache, die eigentlich meine erste und im Mutterbauch vernommene war. In mir war eine Öffnung entstanden, die zugleich eine Position war, Durchlässigkeit, die ohne Zugehörigkeit, ohne Identität und durch die in mir aufgekeimten Fragen aus der Überforderung entstand, die eine Zumutung und zugleich eine Schule des Fühlens war. Nicht einmal die maßlose väterliche Autorität, die in vielen anderen Situationen auch mit physischer Gewalt einherging, konnte diese Öffnung in mir schließen. Sie verbündete sich offenbar mit dem Raum der Heiligen, die ich in aller Kindlichkeit und liebevollen Hingabe als Botschafter einer anderen Art zu sein erlebte. Ganz besonders nahe war mir der Heilige Franziskus, der mit den Vögeln redete und den Reichtum aufgab, um barfuß das Leben auf der Erde zu verstehen. Wie war er zu seiner Durchlässigkeit gekommen? Wie waren die Vögel zu seinen Freundinnen, zu den Mittlerinnen zwischen den Elementen und seinem Geist geworden? Wie hatten sie es geschafft, ihn von der materialistisch-gierigen Seite des Habens in die Welt des Gehens, des Sehens und des von Innen ermächtigten Sagens zu bringen? Diese Sphäre des Erkennens ist mir immer als etwas erschienen, das die Zeit und den Raum transzendiert und ein selbst gewählter Verzicht ist, in dem die geistigen Farben mitsprechen und nicht nur die Farben von Forderungen, Stoffen und Materialen der äußeren Welt.
Auf den Bildchen vom Heiligen Franziskus, die Vater und Mutter in Hessen auch immer bei sich hatten, meistens im Portemonnaie, war nichts Grimmiges. Auch hatte Franziskus keine militärische Mütze auf dem Kopf und sah nicht so aus wie Menschen aussehen, die unbedingt siegen und über andere triumphieren wollen. Sein Kopf redete mit dem Himmel, sein Gesicht hatte eine inspirierende Offenheit, was dazu beitrug, dass ich ihn als freundliche Erscheinung und als eine Art überzeitlichen Verwandten empfand. In diesem Raum des Gewahrseins, in dem ich den Unterschied zwischen lichtvoller Ausstrahlung und einer auf Sieg ausgerichteten Macht kennenlernte, wurde meine Wahrnehmung von Jahr zu Jahr genauer. Irgendwann verstand ich, dass es im jugoslawischen Kommunismus wirklich verboten war, die Bilder von Ante Pavelić zu verbreiten oder ihn zu besingen, wie es viele in meiner nahen Umgebung taten. Aber ich begriff auch, dass Franziskus und die anderen Heiligen eigenartigerweise nicht verboten waren, obwohl sie im Kommunismus durchaus verboten waren. Diese absurde Situation brachte es mit sich, dass ich nachdenken musste. Und die Einsprengsel in meinem Verstehen empfinde ich heute als Gnade, sie halfen mir sogar später, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach, mich jenseits von den einzelnen Gruppen zu sehen, mich überhaupt erst zu sehen, denn nicht zu sehen, das hieß in Zeiten der jugoslawischen Kriege und heißt wohl in allen Kriegen, identisch zu sein mit einem Singular, der den Einzelnen im Namen einer größeren Gruppe auslöscht. Ich bin mir bei alledem darüber im Klaren, dass es auch außerordentliche historische Situationen gibt, die dazu führen, dass Menschen, die von Menschen unterdrückt oder in Gefangenschaft gebracht werden, auch nur von Menschen befreit werden können. Menschen haben Auschwitz erfunden, Menschen haben die Befreiung von Auschwitz möglich gemacht.
In den jugoslawischen Kriegen der neunziger Jahre deutete sich etwas an, was heute in großer Zuspitzung unsere Welt bestimmt und als eine Art Wiederkehr des Faschismus beschrieben werden kann, die sogar eine Bejahung des Terrorismus nach sich zieht. Wer nie gelernt hat, sich unter Druck Rechenschaft über die inneren Regungen abzulegen, greift auf ein Gedächtnis zurück, das womöglich nicht sein eigenes ist oder seinen Aggressionen zuarbeitet. Die überbordende Gleichzeitigkeit, die unsere Wahrnehmung bestimmt, bringt es mit sich, dass wir sogleich auf etwas reagieren wollen. Doch das Denken, Nachdenken und Überdenken braucht Stille, eine Pause in fortwährendem Tun. Als Jugoslawien zusammenbrach, griffen die einst selbst unrühmlich im Faschismus verwickelten und nun selbst angegriffenen Kroaten vielfach in diesem neuen Krieg auf ein Gedächtnis zurück, das im Zweiten Weltkrieg beschriftet wurde. Alle konnten nun sehen, wer den kroatischen faschistischen Anführer schon in den 1980er Jahren in kommunistischen Zeiten heimlich verehrt und die kleinen Bildchen hinter vorgehaltener Hand angehimmelt und akribisch gesammelt hatte. Ich selbst hatte ja in meinem Dorf die Bildchen des Faschisten überbracht und wusste, dass es nicht wenige waren. Die Fahrten mit dem Bus verbanden sich in mir zu einer tiefen Erfahrung, die ich im Alleinsein in der deutschen Sprache genauer benennen konnte. Zerstörung und Gewalt bereiten sich lange vor. Feindschaft ist keine Naturgewalt, sie wird gemacht, sie wird von den eigenen erlittenen Schmerzen, einer oft eigenen und auf andere projizierten Opferrolle und den Geschichten jener getränkt, mit denen wir in Zeitgenossenschaft verbunden sind. Die Gegnerschaft wächst über Jahrzehnte und über Generationen hinweg, und sie wird von destruktiven politischen Kräften zielgerichtet genutzt, um das Gleichgewicht der Welt zu unterwandern, indem sie den Einzelnen belagert, sein Bewusstsein lenkt und über seine Wahrnehmung mit den Mitteln der Propaganda wacht. Zudem sah ich als Jugendliche, dass sich alle auf den Hass gegen Muslime einigen konnten, es war ein Hass, der vor den Augen der ganzen Welt im Massaker von Srebrenica mündete, dem schwersten Kriegsverbrechen und Genozid in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, bei dem 8000 Bosniaken in nur wenigen Tagen umgebracht wurden.
Meine erste Initiation in Durchlässigkeit fand in einer inneren Stille statt und leitete meine Wahrnehmung, die durch die Bildchensache und die Busfahrten nicht nur zwischen zwei Ländern, sondern auch zwischen zwei Regionen Europas eine besondere Art der Aufmerksamkeit nach sich zog, die mein Kinder-Ich überstieg und die ich für mich als seelisches Sehen bezeichne. Wenn ich mir vor diesem Hintergrund den berühmten Satz von Martin Luther King vergegenwärtige, geht er mir ohne irgendeine Erklärung nahe: »Es reicht nicht zu sagen, dass wir keinen Krieg führen dürfen. Es ist notwendig, den Frieden zu lieben und dafür Opfer zu bringen.« Wie aber können wir etwas aufbauen, das dem Frieden und der Schönheit auf Dauer dient, wenn wir immer nur bloß gegen den Krieg sind, wenn er gerade wieder ausgebrochen ist? Gegen den Krieg zu sein, ist leicht, schwer ist es, ihn im Frieden erst gar nicht aufkommen zu lassen, am Frieden zu arbeiten, an seiner Bejahung, an seiner Dauer. Ich glaube, dass dabei der einzelne Mensch eine große Rolle spielt. Jeder lebende Mensch spielt in seiner Zeit und in seiner Existenz eine Rolle. Als Kind habe ich das selbstverständlich nicht gewusst, wie hätte ich das wissen können? Aber die Kindheit, und das war nicht immer angenehm für mich, hat mich zu einer genauen Wahrnehmung, zur Durchlässigkeit erzogen und an die Schwelle zwischen verschiedenen Identitäten gestellt. Die Schwelle ist ein sehr einsamer Ort. So lernte ich als von den eigenen Eltern alleingelassenes Kind, in allem Lebendigen das Atmende zu sehen und jenseits von Nation und Religion zu fühlen – und im Grunde kann niemand in diesen Kategorien fühlen, man kann sich nur darin einfinden und jeweils etwas Eigenes daraus machen. Um meine Rolle kennenzulernen, musste ich fortwährend in meinem Leben auf Beheimatungen aller Art verzichten und ins Fragen gestoßen werden, ohne sogleich eine Antwort zu haben und ohne zu wissen, was das meint, eine Rolle zu spielen, einen Platz einzunehmen, durch die Angst hindurchzugehen, zu schauen, sehend zu verstehen, Zeugenschaft abzulegen und darüber zu erzählen. In meinem inneren Archiv bin ich ein Mensch, der lange im Schweigen das Sehen geübt hat, bevor er über das Gesehene sprechen konnte. Nun schreibe ich über das, was ich teilen kann, um der Versteinerung, die durch Ideologien entsteht, der Versteinerung, die den Menschen von sich selbst wegbringt, etwas Inneres und Uneinnehmbares entgegenzusetzen. Das hilft mir, noch genauer zu sehen, noch genauer zu fragen, noch geduldiger zu sein, um in die Antworten hineinleben zu können.
Simone Weil führt einmal aus, auf welche Weise der Krieg sich des Menschen bemächtigt, im Akt der Tötung, die ihm in die Hand gegeben wird, aber auch, indem er ihn zum Objekt macht und eigentlich seine Seele will. Dieser »doppelten Versteinerung« zu entkommen, die Simone Weil als das Wesen von Gewalt beschreibt, bringt sie aber auch mit dem Wunder in Beziehung. Die Seele könne der Gewalt nur durch ein Wunder entgehen. Und solche Wunder seien selten und kurz. Der Augenblick, in dem die Durchlässigkeit für die Mitteilung des Wunders möglich wird, ist der Moment, in dem vielleicht ein Augenblick des Zögerns oder eine kleine Frage in uns entsteht, ein Unbehagen, das uns der Gewalt entreißt und so uns selbst zurückgibt, wie damals mein Unwohlsein mich auf den Busfahrten als Schmugglerin auf mich selbst und auf meine eigene Wahrnehmung zurückgeworfen, mich mir selbst zurückgegeben hat, während ich durch halb Europa fuhr und die vorüberhuschenden Landschaften mir von den Verbindungen des Lebens erzählten. Genau genommen führte meine Empfindung des Unbehagens mich von meinem Vater und seiner Forderung innerlich weg und brachte mich in Sekundenschnelle in einen inneren Raum jenseits von Zwiespalt, Verwicklung und Dunkelheit. Das Unbehagen war ein eigener Raum. Es schenkte mir die Fähigkeit, zu sehen und anders zu empfinden, anders empfinden zu dürfen, mich zumindest nicht innerlich in einer verpflichtenden Komplizenschaft mit meinem Vater zu sehen, obwohl ich, von außen gesehen, alles ausführte, was er von mir verlangte. Er trug seine Geschichte in sich, seine Zeit, seine Herkunft, seinen Hunger, der ihn auf den Weg als Wanderarbeiter von Dalmatien nach Hessen gebracht hatte. Wenn er auch damit mein Leben in der deutschen Sprache möglich gemacht, mich damit auch auf meinen Weg gebracht hat, waren sein Hunger und sein Leiden zwar Teil meines Lebens, aber sie waren nicht mein Ich, sie waren nicht mein Leben. Das muss ich schon früh verstanden haben, ohne dass ich es genau benannt hätte. Aber es arbeitete in mir, verschaffte mir eine andere Art zu atmen, verschaffte mir eine andere Luft, in der die Autonomie heranwuchs wie ein kleiner Baum, der langsam und beständig seine Wurzeln der Erde anvertraute und von dort, aus dieser geistigen Baum-Existenz, nicht mehr wegzuführen war. Ganz gewiss war das in meinem Leben eine Einweihung in die grundlegende Entdeckung, dass die seelische Welt viele Momente der Durchlässigkeit in sich trägt, die den einzelnen Menschen ins Erwachen und ins innere Verstehen führen. Im Alleinsein entsteht auch Kraft, etwas wählen zu können, das die äußere Welt uns entzieht. In mir selbst habe ich dieses Grundlegen, mich als Grund- und Fundamenterleben genau wahrgenommen. Es fand in jenem Augenblick statt, in dem ich die Entfremdung von meinem Vater erlebte, es fing genau mit diesem Befremdetsein etwas Neues an. Und ich tat zunächst ganz intuitiv das, was sich uns nur in Gefahr zuspielt. Simone Weil sagt einmal, ein Mensch könne zuweilen seine Seele finden, wenn er mit sich zu Rate gehe und versuche, ohne Hilfe von Göttern oder Menschen dem Schicksal allein ins Auge zu sehen. Auf welche Art und Weise legen wir uns Rechenschaft über diese Bewegungen unserer Innenwelt ab? Wenn wir genau hinschauen, lassen sich immer Spuren der Gnade, allein sein zu können, in uns finden. Und wenn dieses Schauen uns erziehen und zu einem noch genaueren Blick hinführen darf, arbeitet unser Gewissen. Diese Einsprengsel des Wunderbaren, die die Härte der Existenz nicht zur Seite schieben, sondern genau mit ihr, an ihr entlang das Sehen üben, können uns zeigen, dass wir nie ganz allein sind, dass die Flurstücke unseres inneren Lebens Spuren eines inneren Edens sind, die die Reibung brauchen. Sie können nicht ganz ausgelöscht werden, sie sind nur überdeckt von der Lautstärke der Welt, von ihren Konflikten, von ihren Haltungen, Positionen, Forderungen und Verlautbarungen und manchmal auch, wie in meinem Fall, von echten, schmerzlichen Fausthieben.
Zwischen der Überschreibung durch die Gewalt und dem Urgrund des Seins gibt es einen Raum der Güte, eine stille, aber lebendige Welt, die eine Aufforderung zur Liebe ist. Sein und Wissen, ohne selbst zurückzuschlagen. Ist das der Ort der Poesie, an dem die eigentliche Rebellion der Liebenden stattfindet? Diese Rückkehr zu den anderen Augen, die ohne Gegnerschaft auskommt, mündet im Erkennen der Wahrheit. Die geduldige Einkehr in die Vertikale unserer inneren Landschaft zeigt, dass diese Liebe keine Kategorie des Habens ist. Sie erschließt sich mir nicht in Gegnerschaft und auch nicht im durchgetakteten Alltag, und doch, genau dort, wo das Sehen das tiefere Schauen einleitet, spricht diese Tiefe zu mir als Liebeslinie. Diese Gerade, von der Wassily Kandinsky einmal sagte, sie sei in ihrer Spannung die knappste Form unendlicher Bewegungsmöglichkeiten, überwindet äußere Gegensätze und holt eine andere und stillere Welt hervor, holt sie ins Licht der Zeit, in die Augen der Gegenwart. Hier spricht dann eine Liebe für das stillere Leben, für das fast unmerklich an mir Vorbeiziehende, für einen durchsprenkelten Stein, eine Kinderhand, ein sanftes, vielleicht nur angedeutetes Lächeln. Im zusammengeführten Empfinden jenseits von Identitäten spricht und wirkt diese Liebe. Das ist es, was das Unterwegssein in mir öffnet, die wahre Bewegung, die nicht zerstört, sondern erkennt, das Freiwerden von kollektiven Forderungen, das Fortgehen und Ankommen und Weitergehen führt zu Verwandlungen. Bin ich in dieser Stille angekommen, werde ich zur Erde, werde durchpflügt von den Weiten des inneren Werdens, die das sonderbare Wunder eines anderen Verstehens einleiten und mir neue Denkwege zuspielen. Meistens bringt das aber ein Verstummen mit sich. Ein Halten und Aushalten.
Nicht nur entdecken wir in diesem Zustand unser Inneres, in dem wir uns selbst geistig bewegen und lieben können, es ist die Liebe, die in uns das Menschsein hervorbringt und das manchmal als Befremden wirksam wird. In meinem Fall ließ die Liebe sich Jahrzehnte Zeit. Das Erlebnis der Angst, die Erfahrung, etwas Verbotenes im Auftrag des eigenen Vaters getan zu haben, verhalf meinem Sehen zur Genauigkeit und auch dazu, meine Empfindungen zu verfeinern. Der Weg führte durch die Angst hindurch, nicht an ihr vorbei. Im Grunde genommen bin ich in jenem Augenblick, in dem mein Vater das Gesetz übertrat, selbst aber der psychische und weltliche Repräsentant des Gesetzes für mich war, mein eigener und überhaupt ein einzelner Mensch geworden. Durch die Anwesenheit einer anderen inneren Erfahrung wurde ich aufmerksam auf die Überschreitung. Da war zum einen die Anwesenheit der Heiligenbildchen, aber auch die der Erzählungen über ihr Leben. Sie verknüpften sich in mir, verbanden sich mit dem seligen Ausdruck ihrer Gesichter, ihrer Blicke, bildeten eine Einheit mit ihren Körperhaltungen. Durch diese wie schwebenden Körper, die ich wohl als Erscheinungen wahrnahm, und das wenige, das ich von ihnen wusste, aber wofür ich bis heute empfänglich bin, fasste mich im Grundlegenden an: dass es gute und verführbare Menschen gibt, dass beides miteinander in Beziehung steht und dass das Dunkle in ihnen aus den Schattierungen ihrer eigenen Erfahrungen kommt.
Auch diese Wirklichkeit beschriftete mich von ihrer Seite der Welt, auch sie war anwesend, als Vater mich in die Komplizenschaft hineinziehen wollte, die aber, ohne dass er das beabsichtigt hätte, ein Bewusstsein für das Historische in mir erschuf. Wozu die ganze Maskerade?, fragte ich mich. Warum ist es so wichtig, dass ich Stillschweigen bei den einen Menschen bewahre und die Bildchen den anderen Leuten im Dorf übergebe und somit in ein Gespräch mit ihnen trete? Schon befand ich mich mitten in den Themen meiner Zeit und dem Erbe eines Jahrhunderts, das Millionen unschuldiger Menschen verschlungen hatte, genauer gesagt, in diesem Jahrhundert hatten einige Menschen dafür gesorgt, dass Millionen anderer Menschen entrechtet, getötet und namenlos gemacht wurden. Auch das verstand ich als Kind. Und ich verstand es immer in der deutschen Sprache. Es sind Einzelne, die lieben, es sind aber auch Einzelne, die töten und zerstören. Sie brauchen Handlanger. Magneten für ihre Propaganda. Einer dieser Menschen, der sein mörderisches Tun im schreckverdichteten Jahr 1941 in meiner Herkunftsgegend vollziehen konnte, war nun genau jener Mann, den Vater mich auf den Bildchen in Heiligenformat schmuggeln ließ.