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Mit literarischen Beiträgen von Gabriele von Arnim, Zsuzsa Bánk, Marica Bodrožić, Isabel Bogdan, Ann Cotten, Mareike Fallwickl, Julia Friese, Olga Grjasnowa, Claudia Hamm, Stefanie Jaksch, Rasha Khayat, Christine Koschmieder, Jarka Kubsova, Daria Kinga Majewski, Maria-Christina Piwowarski, Judith Poznan, Slata Roschal, Caca Savić, Clara Schaksmeier und Simone Scharbert Unsere Leben verlaufen längst nicht so linear, wie Bücher sie oft erzählen. Spätestens in der Lebensmitte verlieren sich viele Menschen im Dickicht vergangener und zukünftiger Möglichkeiten, finden sich plötzlich in Sackgassen wieder, wo eigentlich Weggabelungen sein sollten. Insbesondere Frauen sehen sich mit gesellschaftlichen Hindernissen konfrontiert, wenn sie von vorgezeichneten Pfaden abweichen und einen Neuanfang wagen. Die Anthologie Und ich – erzählt von Momenten des Innehaltens, in denen alles auf den Kopf gestellt wird, um am Ende wieder geradegerückt zu werden. 20 Autorinnen schildern darin ganz unterschiedliche Lebenswege, die früher oder später jedoch alle in einem Wendepunkt mündeten, in einer alles verändernden Entscheidung. 20 Texte, die inspirieren und ermutigen, aber auch verstören und aufrütteln. Und die zeigen, dass es nie zu spät ist, dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben. »Von geraden Straßen muss man irgendwann abbiegen, um glücklich dort anzukommen, wo man nicht hinwollte. Die Geschichten dieser wunderbaren Anthologie erzählen davon.« Gabriele von Arnim
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Und ich –
MARIA-CHRISTINA PIWOWARSKI liest und schreibt. Sie hat viele Jahre als Buchhändlerin gearbeitet und war Mitglied in verschiedenen Literaturjurys. Seit 2019 bespricht sie gemeinsam mit Ludwig Lohmann Bücher im Literaturpodcast blauschwarzberlin. Sie moderiert Lesungen und liebt es.***Mit literarischen Beiträgen von Gabriele von Arnim, Zsuzsa Bánk, Marica Bodrožić, Isabel Bogdan, Ann Cotten, Mareike Fallwickl, Julia Friese, Olga Grjasnowa, Claudia Hamm, Stefanie Jaksch, Rasha Khayat, Christine Koschmieder, Jarka Kubsova, Daria Kinga Majewski, Maria-Christina Piwowarski, Judith Poznan, Slata Roschal, Caca Savić, Clara Schaksmeier und Simone ScharbertUnsere Leben verlaufen längst nicht so linear, wie Bücher sie oft erzählen. Spätestens in der Lebensmitte verlieren sich viele Menschen im Dickicht vergangener und zukünftiger Möglichkeiten, finden sich plötzlich in Sackgassen wieder, wo eigentlich Weggabelungen sein sollten. Insbesondere Frauen sehen sich mit gesellschaftlichen Hindernissen konfrontiert, wenn sie von vorgezeichneten Pfaden abweichen und einen Neuanfang wagen.
Die Anthologie Und ich – erzählt von Momenten des Innehaltens, in denen alles auf den Kopf gestellt wird, um am Ende wieder geradegerückt zu werden. 20 Autorinnen schildern darin ganz unterschiedliche Lebenswege, die früher oder später jedoch alle in einem Wendepunkt mündeten, in einer alles verändernden Entscheidung. 20 Texte, die inspirieren und ermutigen, aber auch verstören und aufrütteln. Und die zeigen, dass es nie zu spät ist, dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben.
»Von geraden Straßen muss man irgendwann abbiegen, um glücklich dort anzukommen, wo man nicht hinwollte. Die Geschichten dieser wunderbaren Anthologie erzählen davon.« Gabriele von Arnim
Maria-Christina Piwowarski (Hg.)
20 Geschichten über Wendepunkte des Lebens
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-3256-7
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Und ich –
Marica Bodrožić – Die Grenze
Stefanie Jaksch – Der Baum
Olga Grjasnowa – Banales Schreiben
Simone Scharbert – Vom Ich möchte ich sprechen
Judith Poznan – Abschied im April
Gabriele von Arnim – Luise und Frau Z. oder Die Haut ist ein hungriges Organ
Clara Schaksmeier – Zum Umsteiger
Jarka Kubsova – Das Erbe
Caca Savić
Zsuzsa Bánk – Familienaufstellung
Isabel Bogdan – Brief an mich selbst
Julia Friese – Dreams
Mareike Fallwickl – Ich tausche, du tauschst, wir täuschen
Claudia Hamm – Rübermachen
Ann Cotten – ||: A bissl Physik :||
Daria Kinga Majewski – Maria Magdalena
Christine Koschmieder – Da Big Bluff
Slata Roschal – Das Verhältnis von Feigheit und Wut
Rasha Khayat – An die Abwesenden
Maria-Christina Piwowarski – Den Fuß in die Luft
Zu den Autorinnen
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Und ich –
Bücher, Geschichten, Texte – Worte, die andere Menschen finden und erfinden, um mir, um uns literarisch zu erzählen, aus ihrem Leben oder von den Biografien, die sie ihren Protagonist:innen auf den Leib schreiben, sind immer wieder ein Grundbedürfnis für mich. Ich brauche sie zur Unterhaltung, zum Austausch mit mir selbst zwischen den Seiten, sie sind Inspiration, Herznahrung, Fernglas für mich. Lesen ist und bleibt meine liebste Beschäftigung.
Doch vor allem, wenn es schwierig wird, wenn das Leben auf unwegsame Straßen gerät, wenn Schotterpisten, Knüppeldämme, Schlaglöcher und Sackgassen den Weg beschwerlich machen, wenn wir an Kreuzungen unsere Richtung, im Dickicht einen Pfad suchen, ist Literatur für mich noch so viel mehr als das.
Woran richten wir uns in solchen Zeiten auf und wonach aus? Was kann ein Kompass sein, ein Trost, ein Wegweiser? Uns das Gefühl geben, nicht allein zu sein mit all den Herausforderungen, die uns umtreiben? Für mich ist das immer Literatur.
Als ich vor mehr als zwei Jahren an einem biografischen Wendepunkt ankam, habe ich mich regelrecht gesehnt, nach solchen Geschichten. Ich war auf der Mitte meines Lebensweges und wusste, dass von außen alles gut und richtig, dass es ruhig aussah. Aber in mir tobte ein Sturm.
Ich fühlte eine Brüchigkeit unter meinen Füßen, die nach einem neuen Weg verlangte, wenn ich ganz bei mir ankommen wollte. Also suchte ich nach Geschichten. Geschichten von Autorinnen, deren Protagonistinnen auch schon einen guten Teil der Lebensstrecke gegangen waren und sich ähnlich fühlten. Die sich trotz der Konventionen, trotz der Erwartungen, Ängste und Scham dazu entschieden hatten, ihr Ziel zu hinterfragen und ihrem Gehen eine andere Richtung zu geben. Es gibt sie, diese Erzählungen, in großen Romanen, in feinen Essays, in berückender Lyrik. Aber selbst für mich, jahrelang leidenschaftliche Buchhändlerin, waren sie schwer zu finden.
Es war ein großes Glück, ein Zufall auch, dass ich im letzten Sommer die wunderbare Gelegenheit bekam, mit dem park x ullstein Verlag über meine Sehnsucht nach solchen Texten zu sprechen. Ein Herzdank an Ricarda Saul und Karsten Kredel. Damals war ich kurz davor, eine lebensverändernde Entscheidung zu treffen, und im Gespräch mit ihnen wurde klar: Ich darf mit dieser nun vorliegenden Anthologie das Buch herausgeben, das ich gerade selbst so dringend brauchte. Ein Lebensbuch, für das ich die Autorinnen einladen dürfte, deren Texte mich schon lange und innig begleitet haben. Mit zitternden Händen und klopfendem Herzen, mit Jubelschrei aus tiefstem Hals und großer Ehrfurcht schrieb ich sie an:
Ich darf mir das Buch wünschen und zusammenstellen, das ich selbst schon immer lesen wollte. Denn ich möchte darin Autorinnen versammeln, deren Schreiben mir besonders viel bedeutet –Geschichten von ihnen darüber lesen, wie Frauen inmitten des eingeschlagenen (Lebens-)Weges eine komplette Wende vollziehen.
Männer haben seit jeher die Berechtigung zu U-Turns. Frauen unterliegen gesellschaftlich viel eher dem Diktat, sich auf einmal eingeschlagenen und vor allem historisch vorgezeichneten Pfaden weiterzubewegen. Es gibt Spannendes zum Suchen und Finden des eigenen Weges vor allem für junge Frauen, die mit so vielem gerade erst am Anfang stehen. Aber was ist mit denen, die sich bereits auf einem geraden Pfad wähnten, glaubten, die eine Richtung ihres Lebens eingeschlagen zu haben, und durch ein Ereignis oder einen inneren Prozess an den Punkt gerieten, die Grundrichtung ihres Gehens noch mal völlig infrage zu stellen?
Ich wünsche mir inspirierende, verstörende, aufrüttelnde und ermutigende Texte, die von Frauen erzählen, die sich aus Konventionen befreien, um näher bei sich zu sein. Geschichten, die zeigen, wie solche Entscheidungen zustande kommen und dass ein Nachdenken über Veränderung zu jeder Lebenszeit möglich ist. Ich wünsche mir Brüche und Mut, Verzweiflung und ihre Überwindung, aber auch Geschichten, in denen Versuche, eine neue Richtung zu finden, ganz anders enden als gedacht oder erhofft.
Die Sehnsucht, die einfach nicht still sein will; Krankheiten oder Verluste, die uns ereilen; Sicherheiten und Gewissheiten, die wir gewinnen oder verlieren; Kinder, die wir haben oder nicht haben, die wir oder uns verlassen; Liebe und ihr Enden; fremde Länder oder Sprachen, große Grenzerfahrungen – oder dieser eine einsame Moment der Selbsterkenntnis über dem Küchenabwasch; die Freundin, die mit Ende fünfzig noch mal an die Uni geht; die Frau, die nach zwanzig Jahren endlich die Revolution im sexistischen Büro anzettelt, und die, die nach langer Transition endlich als die Frau lebt, die sie schon immer war … Es muss so viele Geschichten geben, und ich habe große Lust, sie zu sammeln und anderen Lesenden als wunderschönes Buch zu präsentieren. Ihnen zu zeigen, welche Umbrüche, welche Umkehrungen in anderen Frauenleben passieren, wie Weckrufe klingen können, wie Mut sich ankündigt, welche Wendungen möglich sind und wie lohnend es ist, den eigenen Kurs immer wieder selbst neu festzulegen.
Ich möchte erfundene Geschichten, Essayartiges und Memoirhaftes, ich möchte Gedichte, Lustiges und Trauriges, ich möchte die ganze Wildheit der lauten Wenden und stillen Zäsuren in einem Buch.
So schrieb ich. So wünschte ich. Was für großartige Texte uns danach erreichten, die alles Gehoffte übertrafen und nun hier gebunden zwischen diesen Buchdeckeln liegen. Bereit zum Entdecken. Für Sie. Für euch.
Wo wir schon über Buchdeckel sprechen: Helene Funke (geboren 1869 in Chemnitz, gestorben 1957 in Wien), eine deutsch-österreichische Expressionistin, hat Jon entdeckt, und ich habe mich sofort in dieses Gemälde verliebt. Das Bild In der Loge ziert das Cover dieses Buches, weil ich den ungefälligen Blick dieser drei Frauen so mag. Auch dieses Buch soll nicht gefallen. Es soll, wenn ich mir etwas wünschen dürfte, das Hinschauen auf das eigene Wollen aushaltbar machen, Genauigkeit ermöglichen.
Für den Titel danke ich von Herzen Melina Brüggemann. Sie hat das Buch gemeinsam mit der Programmleiterin Ricarda Saul bei Ullstein begleitet. Und während die Vision dieses Buches sehr klar vor mir stand, war es der Titel lange nicht. Immer wieder sprach ich von einer Gedichtzeile, die wie ein Soundtrack unter meiner Idee lag. In The Road Not Taken von Robert Frost aus dem Jahr 1915 heißt es in der Mitte der letzten Strophe:
Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
1
Dieses Gefühl hat mich getragen, wie ein Grundton, wie ein Herzschlag. Melina Brüggemann hat es dann geschafft, mit großem Verständnis und noch größerer Klarheit daraus einen Titel zu extrahieren. Sie schrieb:
»In Robert Frosts Gedicht The Road Not Taken ist es genau dieser Moment des Zögerns, markiert von einem Gedankenstrich, der entscheidend ist. Nicht die eigentliche Wahl zwischen zwei vermeintlich verschiedenen, in Wirklichkeit aber identischen Wegen macht hier den Unterschied aus, so legen es einige Lesarten nahe. Sondern vielmehr der Entschluss des Ichs, der eigenen Entscheidung nachträglich durch die Erzählung eine Bedeutung zu verleihen. Es ist kein Zufall, dass der alles verändernde Moment in Roberts Frosts Gedicht von einer Leerstelle und einem anschließenden Versumbruch gekennzeichnet ist. Das Wichtigste passiert vielleicht immer gerade dann, wenn scheinbar nichts passiert. Entscheidungen, Richtungswechsel, Veränderungen und Neubeginn erfordern einen Augenblick der Ruhe und des Insichgehens, um die Perspektive wechseln zu können, den eigenen Lebensweg zielsicher in neue Bahnen zu lenken. Insbesondere dann, wenn sie mitten im Lauf der Dinge stattfinden. Es etwas gibt, von dem man sich wegbewegt, das man aufgibt, um irgendwann, irgendwo und irgendwie von vorne anzufangen. Und ich – zu sagen erfordert Mut und Kraft. Weil es bedeutet, sich selbst zum Subjekt zu machen. Weil es anschließt an etwas Vorheriges, ohne Wenn und Aber. Und weil alles danach noch ungewiss und offen ist.« (Genau so! Danke, Melina!)
Ich danke also noch einmal Melina Brüggemann und vor allem Ricarda Saul. Und Karsten Kredel. Von Herzen. Ohne die drei würde es dieses Buch nicht geben.
Und ich danke innig den neunzehn Autorinnen, die mir und uns ihre Texte dafür anvertraut haben. Jetzt sind es Ihre und eure Texte, liebe Leser:innen. Ich lasse sie hinaus in die Welt. Dankbar und in Verbundenheit.
Maria-Christina PiwowarskiBerlin, Juli 2024
Es ist Frühling. Für die anderen Menschen ist es Frühling. Ich bin auch da, aber ich bin in einer anderen Jahreszeit, nicht in diesem äußeren Frühling, ich bin in einem nur für mich stillgelegten Frühling, der mich zwar kennt und zu mir spricht, aber von der äußeren Jahreszeit trennt und zugleich mit ihr verbindet. – Wie noch nie. Der Winter war lang. Ich habe lange auf den Frühling gewartet. Er wohl auch auf mich. Jetzt ist er da. Und ich kann weder stehen noch gehen. Ich kann meinen Körper nicht bewegen. Ich kann nur liegen. Gerade kann ich nur liegen und denken, der Frühling ist da, und ich kann nicht mit meinen Füßen zu ihm hingehen und die Mitteilungen seiner Knospen lesen. Aber ich liege, immerhin kann ich liegen und zu den Knospen hinfühlen. Das ist das, was ich gerade kann. Ich kann liegen. Und ich kann fühlen. Ich bin zufrieden, dass ich liegen und fühlen kann. Ich bin ein liegender Empfindungsraum. Und ich bewege mich dabei nicht einen Millimeter, ich versuche, ganz still und leise zu sein, alles zu bemerken, was auch die winzigste Rührung meines Körpers nach sich zieht. Noch nie zuvor habe ich wie in diesem Moment verstanden, dass es wunderschön ist, Füße zu haben. Ich hatte immer meine Füße. Ich habe mir meine Füße oft angesehen und auch die Füße anderer Menschen. Irgendwie habe ich immer eine Beziehung zu Füßen und zu Zehen gehabt. Eine Liebesbeziehung, hundert Prozent. Deswegen fiel es mir auf, dass die indischen Weisen immer von den Füßen her verehrt werden, man legt ihnen aus Liebe für ihre Weisheit sogar Blumen auf die Füße. Aber ich wusste nicht, was ich jetzt weiß. Ich weiß jetzt etwas, was ich auch vorher hätte wissen können, aber ich habe es mir nie gesagt. Ich konnte immer mit meinen Füßen gehen. Jetzt kann ich nicht mit ihnen gehen, obwohl sie doch bestimmt noch da sind. Mein rechtes Bein spüre ich komischerweise gar nicht. An der Stelle, an der es eigentlich sein müsste, scheint mir ein Klotz untergelegt worden zu sein, vielleicht als Stütze. Sie haben mich aufgeklärt. Sie haben mir in die Augen gesehen und gesagt, es könne vorkommen, dass man irgendetwas am eigenen Körper nach dem Eingriff nicht mehr oder nie wieder spüre. Sie nannten es Eingriff, und ich sehe es auch so, sie haben mit ihren Händen in mich hineingegriffen, sie haben einen Eingriff gemacht, der mir geholfen hat, noch hier zu sein, in diesem Frühling, in diesem Jahr, das die Grenze meines Lebens ist. Ich bin deshalb noch da, und ich bin dennoch aus meiner Gattung herausgefallen. Ich spüre mein rechtes Bein nicht, ich sehe meine Füße nicht einmal, geschweige denn, dass ich mit ihnen gehen kann. Aber ich hoffe, dass meine Füße mich nicht vergessen haben, während ich hier liege und sie nicht sehen kann und mich daran erinnern muss, dass ich doch schon immer Füße hatte. Seit meiner Geburt, genau genommen. Vorher war ich ja kein Mensch. Aber jetzt bin ich ein Mensch. Meine Füße gehören zu meinem Menschsein. Oder etwa nicht? Ich kann nicht gehen und bin trotzdem noch ein Mensch, ich habe ein Wesen, ich fühle das, ich bin dieses Wesen. Ich liege hier in meinem Wesen-Sein und bin ein unermesslich großes Auge, das seine Verbündeten in allem Lebendigen sucht. Im Baum. Vor dem Fenster. Im Wind. Den ich nicht höre, aber ich sehe ihn im Wipfel der Rotbuche. In den Wolken. In all diesen Verschwisterungen meiner Iris. Zeitgleich bin ich ein kleiner Vogel, der auf einem großen Seziertisch lag. Der Vogel lag viele Stunden auf einem Seziertisch, einer Liege besser gesagt, aber es fühlt sich an, als hätte ich als Vogel einen ganzen Erdentag lang auf einem Seziertisch gelegen. Ich bin jetzt aufgewacht, von der anderen Seite des Lebens bin ich zurückgekommen, von der Grenze, die nicht das Ende ist, die sich aber zwischen Tag und Nacht befindet und ein Dazwischen ist für neue Ausleuchtungen. Ich bin wieder in meinem Körper gestrandet und habe viel über Türen nachgedacht, Türen, die zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt aufgestellt sind, und zwar nicht nur in Gedichten. Dunkle Stunden liegen hinter mir, abgeschirmtes Leben, die Rufe der rotorangen Innenzeit, Erdkern-Leuchten, denn von innen ist die Erde eine Orange. Ich bin jetzt wieder in meinem Körper, die Orange ist weit weg und zugleich in mir drin, tief versteckt in mir als mein Erdkern und der Mittelpunkt der farbigen Welt. Ich habe die Türen nicht vergessen. Ich bin ein Ich-Bin und ein Hier-Bin-Ich. Zeitgleich. Und dazu noch bin ich mein Körper, und ich bin nicht mein Körper.
Was genau bin ich? Vielleicht muss ich erst wieder ein Mensch werden, neu, Anfängerin meiner selbst, jemand, der ich schon die ganze Zeit unverwechselbar und in aller Eindeutigkeit bin, aber der genau das lernen muss. Ich weiß, was es heißt, »hier bin ich« zu sagen. Was aber ist das, was die ganze Zeit da ist und mich genau das wissen lässt, obwohl mein Körper im Schmerz gebannt und wie von mir abgewendet ist? Ich bin nicht der Schmerz, aber der Schmerz ist ein Tor. Ich fühle mich winzig, so klein wie ein allerkleinster Vogel, und zugleich habe ich ein erfrischend genaues Gefühl für meinen Körper, ein Bewusstsein für seine Anwesenheit, das neu für mich ist. Ohne meinen Körper in Gänze sehen zu können, fühle ich ihn, ich fühle, dass er groß und würdevoll ist und Platz in dieser Welt braucht und dass er selbst ein Raum im Raum ist, und obwohl er, scheinbar entmachtet, nichts über sich selbst sagen kann, kann etwas in mir etwas zu ihm sagen. Weil er aber da ist und zeitgleich nicht ganz da ist, spüre ich, dass er sich einbringt, dass er sich vollständig bemerkbar machen will und der Atem ihn ins Leben drängt. Ich atme ein, der Atem hält mich. Ich halte kurz den Atem an, er durchdringt mich. Ich atme aus, der Atem öffnet sich, und alles fängt wieder von vorne an. Der Atem ist die Verlängerung meines inneren Ichs. Er handelt in mir. Mein Körper, obwohl ich ihn gar nicht richtig sehen kann, weil ich mich nicht einmal aufstützen oder auch nur den Kopf bewegen kann, ist an diesen Atem angebunden, aus dem mein Ich jetzt zu mir innerlich spricht. Wohnt mein Ich in meinem Körper, oder ist es außerräumlich? Mein Genick tut weh, als hätte jemand einen brennenden gusseisernen Stern in ihn hineingelegt und mit ihm etwas an dieser Stelle meines Körpers geöffnet, das nun tief verletzt, tief verwundet ist. Und bis vor Kurzem wusste ich gar nicht, dass mein Genick mir überhaupt wehtun kann. Das Wort Genick war immer bloß das Wort Genick für mich, nie eine richtige Stelle an meinem echten Körper. Jetzt sind Wort und Körper eins. Und das Wort fasst mich als eine Lebensstelle an, die mit dem Tod verbunden ist, und ich erinnere mich gleich, ja, dass es Genickschüsse gibt, auch vom Genickfänger habe ich schon einmal gehört, das ist ein Jagd- und Wildmesser, das man im 18. Jahrhundert benutzt hat, um ein Tier durch einen Stich im Genick zu töten. Ich bin ein Tier in einer eigenen Brandung. Jemand hat mein Genick gefangen, ohne mich zu töten. Ich bin nicht tot, ich lebe. Dass ich lebe, weiß ich, denn das Genick sagt es mir, diese Stelle ist eine brennende Stelle an meinem Körper, sie ist die Stelle, die ich am deutlichsten spüre, und es denkt die Sehnsucht in mir an meine nahen Menschen. An ihre Hände. An ihre Augen. An ihre Füße. An ihre Wangen, an das Leuchten ihrer Wangen. So ohne die Menschen meines Lebens bin ich sehr allein. Und doch in einem alleinheitlichen Sinne mit allem verbunden. Jede Bewegung mit meinem Kopf, sei es auch nur ein Millimeter, ist eine Vermessung des Schmerzes, der mir erzählt, dass ich bisher überhaupt nicht gewusst habe, was Schmerz eigentlich ist und wie er sich anfühlt. Mein Körper berichtet mir alles ganz genau, er ist ein Briefträger in fein dosierten Blitzen, der sich an den starken Schmerzmitteln vorbei in mein Bewusstsein bugsiert und mir etwas zum Lesen übergibt.
Ich sehe, dass mein in sich selbst zurückgezogener Körper auf diese Weise redet. Der Schmerz ist gerade seine Sprache, die auch er neu lernt. Und sein Schmerz reicht mir seine neu erlernte Sprache, er zeigt mir seinen Sprachweg und macht diesen Umweg zu meiner Vollständigkeit, in der ich fühle, dass ich mehr als mein Körper und zeitgleich alles bin, was er nicht ist. Mein Kopf, der all die vielen Stunden, die dieser Tag für mich auf dem Seziertisch hatte, auf einem merkwürdigen Keil lag, ist eine Goldgrube der Bilder. Sie sprechen zu mir und nehmen mir alte Gewissheiten weg. In der Nacht bin ich umgeben von einem Lichtschiff, oben am Plafond entsteht es, wenn draußen auf dem Gelände ein Auto vorbeifährt und die Lampen vor dem Gebäude angemacht werden. Der Keil ist aus dem gleichen Material und ähnlich fest wie die Turnmatten, die ich aus meiner Grundschulzeit kenne. Ich habe ihn noch vor dem Einsetzen der Narkose gesehen, er war blau, ein nordseeblauer Keil, der unter meinen Kopf gelegt wurde, damit man mich sezieren konnte. Ich wurde auf diese Weise meine eigene Anatomiestunde, ein stilles Gemälde in einem Paralleluniversum, mit einem nordseeblauen Keil, aber nordseeblau wie die Nordsee im Winter ist, unter dem Kopf, gut gelagert auf einer schmalen Liege. Ich lag da auf der Liege als mein eigener Rembrandt, der sein Gemälde »Anatomiestunde« malt, ein Gemälde, das ich mir als junger Mensch stundenlang angesehen habe. Dieses Bild war jetzt ich, ein Bild, das zuerst aufgeschnitten und dann stundenlang inspiziert wurde. Kurz bin ich im Schlaf des Nichtwissens eingeschlafen. Und als der Äther mich umarmt hat, bin ich weitergereist. Dieses Gefühl des Umarmtwerdens ist ein Ruf. Ich darf aber nicht weiter umarmt werden. Ich muss hier auf dieser Erde bleiben und sehe, dass das jetzt mein Zuhause ist. Die Umarmung ist sehr schön. Wie lang dieses ›kurz‹ im Äther des Lebens ist, weiß ich noch nicht. Ich weiß auch nicht, wie lang es werden wird, dieses ›kurz‹, das mir hier zugespielt worden ist. Jetzt ist alles wieder sehr lang für mich, weil ich im Körper und nicht in der Ewigkeit bin, deren Anfang eine Sekunde bestimmt, in der Kreidefelsen, Kontinente und Erdkerne entstehen. Ich liege hier ganz in mich versunken, und alles, was ich weiß, ist, dass ich nichts weiß und der Schmerz meine Wirklichkeit maßregelt und dennoch nicht die ganze Zeit, sondern die eine lebendige Sekunde mich leitet, in der ein Kreidefelsen, ein Kontinent, ein Erdkern entsteht. Und ich um Hilfe bitten muss. Ich weiß nicht, wie lange ich hier liegen werde oder was geschehen wird, wenn ich mich bewege, und wie lange ich darauf achten muss, wie ich mich bewege, aber ich darf weder weinen noch lachen. Sonst tut es weh. Ich darf auch nicht husten. Der Physiotherapeut hat mir erklärt, was ich machen muss, wenn ich doch huste. Er hat mir auch erklärt, dass er nicht weiß, ob es Gott gibt, aber ich habe ihn nicht danach gefragt. Ich sage, ich habe Sie nicht danach gefragt. Er sagt, ach so, weil alle fragen, habe ich gleich gesagt, wie es ist. Ich will nur wissen, was zu tun ist, wenn ich doch mal husten muss. Er hat es mir genau erklärt. Aber wegen der Gottsache habe ich es vergessen und gerate in Panik, als ich bemerke, dass ich einen Dauerhustenreiz habe.
Die Schwestern kommen. Sie haben mir mehrmals gesagt, dass ich sie anklingeln und damit rufen kann, ohne zu sprechen. Ich drücke den roten Knopf. Es kostet mich Überwindung. Langsam strecke ich meinen Zeigefinger in Richtung Hals. Hustenreiz?, fragt die Schwester. Ich nicke. Sie bringt mir Pastillen. Und sagt, dass ich nicht viele davon nehmen darf, weil sie irgendeinen Blutwert beeinflussen oder etwas auf Dauer betäuben, was nicht betäubt werden darf. Ich lutsche die Pastillen in tiefer Freude. Ich danke allen Engeln in Menschengestalt, die daran beteiligt waren, diese Lutschpastillen zu erfinden. Sie lindern den Hustenreiz. Ich muss nicht mehr husten. Wer erfindet Pastillen, die einen Hustenreiz wegzaubern? Ich sehe im Zufriedensein, dass ich Menschen liebe, dass ich ihre Erfindungen liebe, dass ich darüber sehr verwundert und sehr glücklich bin, was Menschen alles erfinden können. Während sich draußen in der Welt des Frühlings alles bewegt, bin ich drinnen und liege und kann durch ein großes Fenster nach draußen sehen.
In der Nacht halte ich die Schmerzen kaum aus. Ich rufe mich zur Vernunft und sage mir, ich muss die Schmerzen doch gar nicht aushalten. Ich drücke wieder den roten Knopf. Eine Schwester kommt ins Zimmer, das gerade mein Zimmer ist, ich zeige mit der rechten Hand zu meinem Genick und zu der Narbe, die eine lange Straße auf meinem Körper ist. Die Straße ist in mich eingeschnitten worden, ein deutlicher Weg, den ich nie wieder übersehen kann. Die Schwester streicht mir übers Haar, sie nickt, sie versteht, sie reibt mich an dieser schmerzenden Stelle im Genick mit einem wohlduftenden Öl ein, der Geruch beruhigt mich, Lavendel und noch etwas, Weihrauch vielleicht, auf der kleinen braunen Flasche steht Schmerzöl, aber ich rieche Erdnüsse, vielleicht ist auch Erdnussöl drin. Das Morphium wird erhöht, und ich hätte es lieber anders gehabt, wäre gerne mutiger gewesen, aber das ist jetzt nicht drin. Ich spüre am anderen Morgen noch immer nicht mein rechtes Bein und frage die Schwester, warum da die ganze Zeit ein Klotz an meiner rechten Seite ist. Die Schwester sagt, das ist kein Klotz, das ist Ihr rechtes Bein. Aber ich spüre mein Bein überhaupt nicht, sage ich zu der Schwester. Man hat mir beim Narkosegespräch gesagt, dass alles möglich ist, auch dass ich vielleicht nicht gehen kann, dass die Nerven getroffen werden können. Und ich sage zur Schwester, wie finden wir heraus, dass meine Nerven nicht getroffen worden sind, wie weiß ich, dass ich nach alledem hier wieder gehen kann und nicht im Rollstuhl sitzen muss. Die Schwester sagt, wir müssten dafür die Schmerzmittel reduzieren. Sie nimmt mich ernst. Ich liebe sie. Ich sage, ja, bitte, wir reduzieren die Schmerzmittel, sage ich, bitte reduzieren Sie das, höre ich mich noch einmal sagen. Die Schwester reduziert das Schmerzmittel. Mir ist es lieber, meinen eigenen Schmerz zu spüren, als nicht zu wissen, ob ich nie wieder oder erst in ein paar Wochen wieder gehen kann.