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Von den Rissen in unserem Bewusstsein. Von den Rissen in der Welt.
Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hat die junge Arjeta ihrer Heimat beraubt. Als sie bei einem Umzug alte Fotos findet, begreift sie mit einem Mal vieles, was ihr über ihre eigene Lebensgeschichte lange im Dunkeln geblieben war. So geht Arjeta noch einmal den Rissen in ihrem Bewusstsein, in ihrem Leben nach – und den Rissen in der Welt.
Von vielem kann Arjeta Filipo sich trennen, vom Tisch ihrer Großmutter aber nicht. Jetzt sitzt sie an diesem Erbstück in ihrer neuen Berliner Wohnung und breitet darauf Fotos aus, die ihr beim Umzug in die Hände fallen. Die Erinnerungen steigen in ihr auf, als würde das Kirschholz alle Geschichten preisgeben, deren Zeuge der Tisch im Laufe der Jahre geworden ist.
Da sind die belagerte Stadt und das Istrien, das Meer ihrer Kindheit und Jugend, ihre alles ändernde Flucht Anfang der 90er Jahre. Aber da ist vor allem auch ihre Zeit in Paris, wo sie Philosophie studierte und in einer neuen Sprache ein neues Leben begann – zusammen mit dem Maler Arik, in den sie sich wider Willen verliebt. Der Vogelkundler Mischa Weisband wird ihr weiser Vertrauter, die Physikerin Nadeshda ihre engste Freundin. Beide Frauen verbindet und trennt ein Geheimnis, das über Jahre hinweg nur Arik kennt. Erst als sich beide den blinden Flecken in ihrem Inneren stellen, gelingt es ihnen, den Weg zur Wahrheit zu finden.
Eindrucksvoll erzählt Marica Bodrožic von Menschen, die Halt suchen in einer Welt voller Risse. Und die sich ihrer lange verdrängten Vergangenheit und den Zerrspiegeln ihrer Erinnerung stellen müssen – wenn sie wirklich im Hier und Jetzt leben wollen.
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Seitenzahl: 285
Marica Bodrožić
kirschholz undalte gefühle
Roman
Luchterhand
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© 2012 Luchterhand Literaturverlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-08543-8V002
www.luchterhand-literaturverlag.de
It appears now that there is only one age and it knowsnothing of age as the flying birds knownothing of the air they are flying throughor of the day that bears them upthrough themselves
W. S. Merwin, The Shadow of Sirius
Die Vögel haben sich alle versammelt. So ist es immer. Wenn ich irgendwo neu bin, kommen die Vögel und wollen mit mir reden. Ich wollte nie viel reden. Das hat mich seit jeher müde gemacht, und wenn ich mehr als drei Sätze gesagt habe, hat mein Körper sich angefühlt wie der Körper einer Fremden. Als die kleinen Risse in meinem Bewusstsein begannen, wurde das Müdesein beim Reden immer schlimmer für mich. Ich entdeckte Lücken in meiner Erinnerung. Unser Arzt sprach von Anfällen. Pétit mal. So nannte er die Pausen in meinem Gedächtnis. Manchmal wurde mein Kopf von einer mir unbekannten Kraft nach hinten gezogen. Vor den Augen meiner Familie war kein Entkommen. Und wenn das kleine Übel vorbeigezogen war, nannten meine Eltern mich ihre Sternguckerin. Ihre Worte pulverisierten sich in mir. Sie schienen es alle zu bemerken. Vor allem meine Mutter hielt mich unter strenger Beobachtung, Wochen, Monate ging das so, bis sich alle ein bisschen an meinen kleinen Makel gewöhnt hatten. Meine Absencen waren mir selbst im Augenblick, in dem sie stattfanden, nicht bewusst. Erst später tauchten Fragen, unbekannte Bilder und Sätze auf. Mutter fing an zu beten und schüttelte mich, jedes Mal wenn es geschah. Sie stiftete alle in meiner Umgebung an, mich genau in Augenschein zu nehmen.
Es geschah zum ersten Mal, als ich sechs Jahre alt war. 1978. Onkel Milan und Tante Sofija verschwanden mitten im Sommer aus unseren Leben. Ich spürte ein Kribbeln in meinem Hinterkopf. Dann schien ein Kreis in meiner Stirn geschlossen zu werden. Ein Picken zwischen meinen Augen. Der Specht vergnügt sich pickend am Baum. Die Spatzen, in den Beeten. Die Stare, am Kirschbaum. Und wer machte das immerzu in meiner Stirn? Ich bekam keine Antworten, das nicht, aber ich lernte, in meine Fragen hineinzuleben.
Im Treppenhaus ist mein neuer Nachbar zu hören. Im Hof das Gezwitscher der Vögel. Ein großer Gesang mal wieder. In den Bäumen. Ich werde begrüßt. Besonders eine Maulbeere liebe ich. In meiner neuen Wohnung ist es ruhig. Berlin. Eine Stadt, in der seit dem Mauerfall immer alle leben wollten. Der neue Nachbar ist ein Läufer. Stahlblaue Augen. Sehr höflich, ein minimalistischer Westdeutscher. Er sieht freundlich aus und hat keinen Sinn für Mode, scheint ein bisschen in den Achtzigern stecken geblieben zu sein. Ich habe ihn schon bei der Wohnungsbesichtigung im Treppenhaus getroffen. Wir haben kurz miteinander gesprochen. Er hat etwas über das Jahr des Mauerfalls gesagt, irgendetwas mit Fieber. 1989 war ein Fieber. So etwas hat er, glaube ich, gesagt. Alle wollten nach Berlin. Historische Verlockungen. Mich hat das nicht interessiert. Ich war Studentin an der Philosophischen Fakultät und wollte nicht nach Berlin, ich wollte nach Paris.
Bei dieser Gelegenheit erklärte mir Vater, warum Onkel Milan aus Jugoslawien verschwunden war. Er war aus politischen Gründen geflüchtet und lebte seit dem Ende der Siebzigerjahre mit seiner Frau Sofija in der Nähe von Versailles, in einem Ort namens Meudon Val-Fleury, umzingelt von Wäldern. Mutter und Vater war es wichtig, dass ich immer zu unseren Verwandten gehen konnte. Deshalb waren sie sofort einverstanden und erlaubten mir, in Paris Philosophie zu studieren. Seit Großvaters Diplomatenzeit hatte das Tradition in unserer Familie. Vor allem Mutter war es wichtig, dass ich andere Sprachen nicht nur theoretisch lernte, sondern im Leben selbst, dass ich herauskam, in die Welt, wie sie es ausdrückte. Die Partei sah das nicht gerne. Meine Mutter war nicht zum Gehorsam erzogen worden und deshalb war ihr das egal. Bei jeder Gelegenheit holte sie ihr Kahlschlagargument hervor und erklärte allen, die es hören und die es nicht hören wollten, dass die ganze Region, in der einst, der Donaumonarchie sei Dank, fünf Sprachen zum Alltag eines jeden Vollidioten gehört hatten, schlicht und ergreifend provinziell geworden sei. Vehement vertrat sie ihre Überzeugung, dass jede Politik, die auf den Nationalstaat als das Nonplusultra setzt, absoluter Unsinn sei, zum Scheitern verurteilt. In der Realität sei der Nationalstaat Fiktion unterster Kategorie. Da niemand wusste, wie ihr darauf zu antworten war, schnaufte sie nur zufrieden und genoss triumphierend ein Stück von ihrem Käsekuchen. Mir war Habsburg-Ungarn egal, kannte ich die Monarchie doch bloß aus Geschichtsbüchern.
In jenem Friedenssommer vor unserer Reise nach Frankreich hatte mein Vater viel an der Universität zu tun gehabt. Als er endlich seine Vorlesungen beendete, packten wir frohgemut die Koffer. Seine Studenten der Rechtsphilosophie waren alle gleich nach der letzten Vorlesung in den Süden verschwunden. Mutter war mit meinen Brüdern schon seit zwei Wochen in Istrien. Wie jeden Sommer waren sie zuerst ans Meer zu unserer Großmutter Inge gefahren. Sie verwöhnte sie fortwährend mit selbstgemachter Pasta und sorgte mit ländlichen Trüffelrezepten für euphorische Liebesbekundungen ihrer Enkelkinder. Aber berühmt war sie in der ganzen Familie für ihre Bratkartoffeln. Sie waren das einzige, das sie von früher bewahrt hatte und das uns in ihrer istrischen Küche an ihre deutschen Wurzeln erinnerte.
Sonst war ich immer die erste, die nach Istrien fuhr. Ich hätte für Omas Bratkartoffeln und Trüffelorgien mein Leben gegeben. Seit Großvater nicht mehr bei ihr lebte, war sie eine gute Köchin geworden. Die Verlockung aber, allein mit Vater nach Paris zu reisen, war größer als alles andere. Auf dieser ersten Reise nach Frankreich wollten wir uns um meine Einschreibung kümmern und die Verwandten besuchen. Wir freuten uns auf die guten Croissants und den französischen Café Crème, den Vater, ganz und gar ernsthaft, zu den wichtigsten Geheimnissen und Errungenschaften der Grande Nation zählte. Philosophie hin oder her, sagte er, ein Volk, das keinen guten Kaffee servieren kann, hat früher oder später das Nachsehen und fällt der natürlichen Auslese zum Opfer. Übermut und Glück verleiteten ihn zu solchen Sätzen. Das Ganze nannten wir von Ort zu Ort, von Brasserie zu Brasserie unsere große Annäherung und Sondierung des französischen Terrains.
Mit unserem alten Škoda fuhren wir über die Landstrassen und mein Vater erzählte mir von seiner Kindheit, vom Hunger der Nachkriegszeit, und wie stolz er als kleiner Pionier war, wenn er ein großes Wort wie Antifaschismus aussprechen durfte. Später seien Menschen verschwunden und auf die Kahle Insel gebracht worden, und das Glück seiner Pionierszeit sei für immer der gefräßigen Vergangenheit in den Schlund gefallen. Wir aßen in kleinen Restaurants, und Vater trug mir ein Gedicht von Friedrich Schiller vor, das er seit seiner Kindheit auswendig konnte. Ein Teil seiner Vorfahren stammte aus der deutschsprachigen Bukowina. Ihnen und meiner in Istrien lebenden deutschen Großmutter war es zu verdanken, dass mein Vater Schiller las und seine Sprache liebte. Er brachte sie uns früh bei. Mutter war es mindestens ebenso wichtig, dass wir Französisch lernten. Sie hatte vor der Belagerung schon deutsche und französische Dichtung übersetzt. Morgens beim Frühstück mussten wir immer in der Sprache von André Bréton und Nathalie Sarraute miteinander reden. Manchmal fragte uns Mutter ab, und wir rezitierten dann, vor allem an den heißen Sommernachmittagen, die der deutschen Sprache gehörten, Gedichte von Else LaskerSchüler, Paul Celan, Nelly Sachs. Sie hatte Verse parat wie andere Brot im Haus haben. Aus dem Französischen übersetzte sie einen Vorläufer der Surrealisten, er hieß Saint-Pol-Roux, und meine Mutter liebte ihn schon dafür, dass er sich selbst diesen Namen gegeben hatte. Später übersetzte sie alles von Marguerite Duras und zuletzt, bevor der Krieg ausbrach, arbeitete sie an André Brétons Buch Nadja. Ein Jahrzehnt danach fand ich das Buch bei meiner Freundin Nadeshda in Berlin. Ich entdeckte auch Duras’ Verzückung der Lol. V. Stein in ihrem Bücherregal, sie konnte das ganze Buch nahezu auswendig.
Vater war müde. Er konnte sich nicht aufs Fahren konzentrieren. Wir übernachteten bei einer befreundeten Familie im Friaul. Auf der Weiterfahrt erzählte er mir noch vom Gefangenenlager auf der Kahlen Insel, er sprach seit langem wieder von Onkel Milan und Tante Sofija. Ich bekam Sehnsucht nach ihren Gesichtern. Onkel Milan war Architekt und in den späten Siebzigerjahren im ganzen Land für seine antifaschistischen Denkmäler berühmt. Seine raumschiffgroßen Anlagen musste jedes jugoslawische Kind einmal in seiner Schulzeit aufsuchen, spätestens nach der Weihung zum Pionier. Onkel Milan unterrichtete abwechselnd an den Universitäten von Split und Belgrad und war bei seinen Studenten sehr beliebt. Irgendwann fand man in seinem dalmatinischen Haus während der Hundstage, wenn alle Tiere faul in der Sonne herumliegen und jeder sich vor der Hitze ins Innere der Häuser rettet, eine frisch gedruckte sowjetische Zeitung. Das war damals nicht nur illegal, es war lebensgefährlich. Mein Onkel wurde verhaftet und musste stundenlang vor einem mehrköpfigen Komitee wiederholen, dass Tito schlauer als Stalin war. Um ein Haar wäre er auf der Kahlen Insel, jener berüchtigten Hölle der Adria, gelandet, auf der vierzig Jahre lang eine Strafkolonie zum Mediterran wie die Sonne zum Sommer gehörte. Vater erzählte mir von einem Dichter aus Belgrad, der ein paar Jahre später Präsident wurde. Er habe in den Achtzigerjahren die Insel aufgesucht, sich aber als blind für die Wirklichkeit erwiesen. Er sah nichts anderes als die verschwenderische Schönheit des Südens: Palmen, Pinien und Zypressen. Die gleiche Sonne, dachte ich, begleitet Vater und mich jetzt auf unserer Reise. Ich schaute aus dem fahrenden Auto. Der Fall meines Onkels klang wie eine Erzählung für mich, wie etwas, das in einem Buch durch die Zensur geschwärzt worden war. Onkel Milan kam mit dem Leben davon. Das war ein Wunder, selbst in den Augen jener, die voller Inbrunst an den Kommunismus geglaubt und ihn als den einzig möglichen und notwendigen Gegenentwurf zum Faschismus angesehen hatten.
Das Wunder hatte eine lange Vorgeschichte. Mächtige Leute hatten sich für meinen armen Onkel eingesetzt. Anfangs verstand er selbst nicht, wer ihm half. Die Geheimpolizei gab ihm nach zwei, drei laschen Befragungen zu verstehen, dass man ihn in Ruhe lassen werde, wenn er bereit sei, das Land für immer zu verlassen. Noch bevor er sich zu einer Entscheidung durchringen konnte, verlor Tante Sofija ihr Engagement als Opernsängerin. Die beiden packten schnell einige Sachen zusammen und kamen in ihrem alten, mintgrünen Lada zu uns. Wir konnten uns alle noch von ihnen verabschieden. Ich erlebte zum ersten Mal die beunruhigenden Absencen, die mich später mehr als alles andere zu mir selbst führten. Aber damals gab es mich nicht in den Lücken, und alles, was ich mit meinen Gedanken berührte, war ein schwarzes Nichts. Ich hatte immer gedacht, dass ich über die Lücken einfach hinweggehen könnte, langsamen Schrittes, wie über einen gerade zugefrorenen See. Aber ich habe nicht gewusst, dass die Lücken irgendwann schmelzen, dass man einbrechen kann. Nur eine Ahnung hatte ich immer, ein Wissen, das mit der Hoffnung verbunden war, in meinem Inneren einen sättigenden Zustand zu erreichen, einen Punkt der Erlösung, von dem aus alles genau erkennbar war – mein Weg, meine ganz eigene Landkarte, meine Waffe gegen das schwarze Nichts.
Jetzt weiß ich, dass ich diesen Weg damals nicht sehen durfte. Das war die Prüfung. Jeder kann einen Weg gehen, den es schon gibt, aber es gibt ihn nur, weil andere ihn gegangen sind. Ich konnte meinen Weg nur mit geschlossenen Augen finden, mit dem dunklen Winter in mir, der meine Landkarte solange belagerte, bis ich bereit war, auf das zu verzichten, was Menschen gemeinhin ihre Zukunft nennen. Es hilft mir bis heute kein gestempelter Pass dabei, keine einmal erlernte Grammatik.
Der Punkt der Erlösung ist in meinem Inneren versteckt und in meiner Stirn spricht er zu mir, zeigt mir alles, was vor mir liegt, ohne mir genaue Namen zu nennen. Er ist jetzt ein Kompass in mir. Ich habe ihn nie vorher bemerkt. Vielleicht war er auch früher da, in einem Versteck, jenseits meiner Sprache. Jetzt ist er zuverlässig, er zeigt mir die Straße, den kleinen Supermarkt, den Baum im Hof, das Steinchen im Schuh. Und er ist mit dem Punkt in meinen Fingerkuppen verbunden, mit Nadeshdas Ohren, mit ihrem zärtlichen Blick, mit Ezras Lachen, mit Mischa Weisbands altem Vogelbestimmungsbuch. Der Punkt ist immer dort, wo nichts da und alles möglich ist, überall, an jeder Stelle, an der mir Innen und Außen als ein Ort begegnen, so, wie mir damals mit meinem Vater der Sommer als ein unendlicher Zeittunnel vorkam, der Augenblick immerwährend, jenseits irgendeiner Begrenzung.
Damals war es auch Sommer, jener Sommer, in dem meine kleinen Lücken begannen und Mutter mich immerfort auf die Risse in meinem Bewusstsein inspizierte. Ich hatte keine Ahnung, was dieser Abschied von Onkel Milan und Tante Sofija zu bedeuten hatte, wie endgültig er war, begriff ich erst Jahre später. Ein entfernter Verwandter, ein überzeugter Partisan und Kommunist der ersten Stunde, hatte während des Zweiten Weltkriegs einen jüdischen Partisanenfreund in seinem Haus versteckt. Zu einem Zeitpunkt, als sich niemand mehr traute, Juden zu helfen und die kroatischen Faschisten von Ante Pavelić angeführt wurden, kam das einem Gottesgeschenk gleich. Benito Mussolini unterstützte den fanatischen Pavelić. In ganz Europa galt er längst als skrupellos und amoralisch. Auf das Konzentrationslager Jasenovac war er stolz. Achtzigtausend Menschen kamen dort ums Leben und es gab mehrere Todestransporte nach Auschwitz. Unzählige Juden, Roma, Serben und kroatische Oppositionelle verloren ihr Leben. Der Freund überlebte und nutzte die erste Gelegenheit, sich bei meinem Onkel Milan zu bedanken. Er war ein angesehener Politiker. Sein einstiger Verfolger Ante Pavelić hingegen wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Das bekümmerte ihn wenig, hatte er nach Mussolini ganz schnell einen neuen Ersatzvater gefunden. In Argentinien stand er unter dem Schutz von Juan Domingo Péron. Als der gestürzt wurde, begab sich Pavelić in die Obhut des Spaniers Francisco Paulino Hermenegildo Teódulo Franco y Bahamonde Salgado Pardo, besser bekannt als General Franco.
Mein Vater wusste nicht mehr genau, wie es Onkel Milan und Tante Sofija gelungen war, auf die Schnelle Großmamas alten Küchentisch im mintfarbenen Lada unterzubringen. Aber er erinnerte sich noch immer sehr genau an einen beeindruckend irrationalen Schreianfall von Tante Sofija, die nicht einmal ihre Lieblingskleider eingepackt hatte, aber darauf bestand, dass der Tisch nach Frankreich müsse. Ich konnte mir nicht ausmalen, was für ein Schicksal meinen Onkel Milan und meine Tante Sofija auf der Kahlen Insel erwartet hätte. Andere Menschen, erklärte mein Vater, waren wegen ähnlich harmloser Sachen in die Strafkolonie geschickt worden. Viele stürzten sich irgendwann von den Klippen der Insel in die Fluten der Adria. Der Selbstmord war ihre einzige Möglichkeit, in Würde wieder sie selbst zu werden. Das passte für mich gar nicht zu unserem Land, es wirkte wie etwas auf mich, das anderswo geschehen sein musste, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Meer, an dem wir unsere glücklichen Sommer verlebten, anderen zum Grab geworden war.
Vater erzählte mir zum ersten Mal ausführlicher von damals. Ich konnte das Schluchzen meiner verängstigten Großmutter in Istrien geradezu hören, konnte meine Tante Sofija vor mir sehen, den alten Lada und den Kirschholztisch. Kaum ein anderes Auto kam uns auf den Landstrassen entgegen. Der Himmel war durchsetzt von tanzenden kleinen Wolken. Schwalben sahen wir so viele wie nie zuvor. Das war unser Sommer, diese Reise, quer durch Europa, unsere letzte gemeinsame Julifahrt. Gemessen an der Vergangenheit, lebten wir in friedlichen Zeiten. Alles war still auf jener Sommerfahrt, so still, dass ich den Flügelschlag der Schwalben hören konnte, selbst der Wind schien ihnen zu lauschen und sich dem Wogen der Bäume zu überlassen, das sich in mich einschrieb wie es sonst nur das Meer getan hatte, die Wellen, die sich in den Sommern an unseren Füßen brachen und denen das unbändige Lachen meiner Brüder folgte, ihr Übermut, ihre unermüdliche Lust, sich wieder und wieder ins Wasser zu werfen. Vater und ich schwiegen viel. Es sollte unsere letzte gemeinsame Reise sein, unser letztes gemeinsames Schweigen zu zweit.
Wir fuhren einen Monat später noch einmal nach Frankreich. Dieses Mal kamen meine Mutter und meine Geschwister mit. Es wurde eine laute Familienfahrt. Übermütig sang ich mit meinen Brüdern das Jugoslawien-Lied von Lepa Brena. Je fremder die Landschaften wurden, desto öfter sangen wir es. Wenn einer von uns damit aufhören wollte, fing ein anderer wieder von vorne an. Das Lied war ein Lobgesang auf unser Land und hieß Živela Jugoslavija. Es war uns egal, ob es Propaganda war oder nicht, die Zeilen waren naiv, machten aber gute Laune. Vater sagte, Lepa Brena werde im Alter sehr hässlich aussehen. Mutter lachte, weil sie das nicht glauben konnte. Lepa Brena war unsere jugoslawische Marilyn Monroe. Es war also unvorstellbar, dass wahr werden konnte, was Vater so wie eine kopflose Fliege dahergesagt hatte. Aber Lepa Brena war den Jugoslawen nicht nur wegen ihrer Schönheit wichtig. Auch die Menschen in Rumänien verehrten sie. Sie war eine besondere Vorbotin der Freiheit. In einem hautengen goldenen Kleid sang sie 1984 in Temesvar vor sechzigtausend Menschen auf einem Kran das gleiche naive Lied wie wir auf unserer Sommerreise. Und jene Menschen, die ihr in Temeswar zujubelten, gingen als erste auf die Straßen und stürzten den verhassten Diktator wie meine Großmutter sagte: mit ihren wie Fenster weitgeöffneten Herzen. Sie war sich sicher, dass Lepa Brena dazu beigetragen hatte, das Unüberwindbare zu überwinden. Unsere Monroe singt noch immer. Aber leider sind Vaters Worte von damals wahr geworden. Sie ist nicht mehr schön, über ihre Lieder reden nur noch die wenigsten, vielmehr geht es um ihre mit Silikon bearbeiteten Lippen und die von Botox gelähmte Stirn. Mein Vater konnte damals natürlich nicht ahnen, dass nicht das Alter, sondern solche Eingriffe sie verunstalten würden. Es fehlte ihm dafür schlicht an Vorstellungskraft. Noch heute lässt meine Großmutter nichts auf Lepa Brena kommen. Niemand anderer als sie hatte die Rumänen in die Freiheit geführt! Dafür gebühre ihr Respekt.
Nach unserer Reise ist alles anders gekommen, als wir es gedacht haben. Meine Wünsche sind ein Luxusgut geworden. Ich bin zum Studieren nach Paris gegangen, aber nicht weil ich es geplant habe, sondern weil ich bald schon keine andere Wahl hatte. Als glückliche Ahnungslose kehrten wir damals nach Hause zurück. Unsere kleinen Einkäufe aus der Galérie Lafayette trugen wir wie eine kostbare Beute ins Haus. Wir saßen im Garten und tranken fröhlich Kaffee. Zwei Tage später erkrankte meine bosnische Großmutter. Im folgenden Winter starb sie. Vater bekam ein kleines Erbe und eröffnete mit diesem Geld für mich ein Konto bei der Crédit Lyonnais. Wir hatten nicht viel Zeit für unsere Trauer.
An einem stillen Nachmittag Mitte März hörten wir plötzlich Schüsse. Die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings hatten uns nach draußen gelockt. Meine Brüder spielten am Fluss. Ich war mir anfangs sicher, dass die Schüsse aus dem Fernsehgerät unserer halbtauben Nachbarin Alina gekommen waren. Ihr Fernseher war an die Musikboxen ihres Enkels angeschlossen, der ein Fan der Sex Pistols und Ramones war. Tantchen Alina schaute ständig alte Filme im Fernsehen, und wir waren gezwungen, sie in voller Lautstärke zu ertragen. Schon an den Nachmittagen, wenn Hardy Krüger und Curd Jürgens auf ihrem Fernsehschirm zu sehen waren, war sie in Aufregung versetzt und vergaß alles um sich herum. Die legendäre Schlacht an der Neretva, die für die jugoslawischen Partisanen den Wendepunkt des Krieges darstellte, war ihre große Obsession, der sie nachgehen konnte, weil das Staatsfernsehen sie geradezu täglich mit ihr teilte. Tantchen Alina konnte immer über Tito und die berühmte Schlacht reden. Auch wenn sie mir damit auf die Nerven ging, mochte ich sie doch, denn sie war die einzige, die meine Absencen nicht beachtete, immer drauflosredete, druckreife antifaschistische Monologe von sich gab und mir auf diese Weise eine natürliche Abscheu vor den Namen Hitler und Mussolini einpflanzte.
Aber an jenem Märznachmittag waren die Schüsse alles andere als inszenierte alte Partisanenschüsse. Den meisten Menschen ging es wie mir. Keiner von uns glaubte an echte Schüsse. Es schien, als hätten wir den Zehn-Tage-Krieg in Slowenien aus dem vergangenen Jahr auf den Mars verlegt und die Vorkommnisse an der Donau und in Vukovar, die totale Zerstörung dieser Stadt, das Massaker im Lebensmittelkombinat, das noch im November für Erschütterung und Trauer gesorgt hatte, einfach jenseits unseres Planeten und in eine andere Galaxie verortet.
Auch meine Eltern wollten es nicht wahrhaben, dass eine reale Bedrohung für unsere Stadt bestand. Dann fing alles an, Alltag zu werden. Wir gewöhnten uns an Geschichten, in denen erwachsene Männer mit Totenköpfen Fußball spielten. Meine Brüder spielten auch Fußball, aber mit einem normalen Lederball. Das ging eine Weile gut. Dann traten sie auf eine Mine. Ich war zufällig in der Nähe. Ein paar Straßen weiter weg hatte ich mich mit meinen Freundinnen zum Kaffee verabredet. Auf dem Rückweg sah ich meine Brüder. Auf dem Boden. Warum liegen meine Brüder auf der Straße?, dachte ich, auf dem Boden liegen sie und sagen nichts.
Eine kleine Menschenmenge hatte sich um sie versammelt. Zwischen zwei fremden Beinen sah ich die Füße meiner Brüder. Ich sah zuerst ihre Füße. Zuallererst die Füße. Die Füße meiner beiden Brüder waren schön. Ihre Zehen. Was für schöne Zehen sie haben, dachte ich. So flaumweich und zart wie zarte Federn. Ich ging zu ihnen. Ich küsste die Zehen. Was für schöne Zehen sie haben, dachte ich und dachte irgendwann nur das. Ich konnte nichts anderes mehr denken, ich glaube, es ging tagelang so weiter. Als ich zu Hause ankam, sagte Mutter, dass ich blute. Am Mund, sagte sie, du blutest am Mund. Nein, sagte ich, meine Brüder bluten. Mutter verstand nichts, sie dachte, dass meine Brüder im Garten spielten. Sie schüttelte mich. Sag etwas! Hast du wieder die Aussetzer, schrie sie mich an. Mein Kopf fiel nach hinten. Ich sah zum Himmel. Wolkenlos war er, das Blau so tief wie das Meer. Schwindel erfasste mich. Ich rannte mit ihnen in den Garten. Die Frühlingssonne blendete mich. Alles drehte sich in meinem Kopf. Mutter schrie. Tantchen Alina hatte ihren blöden Fernseher an wie immer. Vater tauchte von irgendwoher auf, und sie rüttelten jetzt beide an mir. In der Altstadt, sagte ich. Und dann war alles schwarz und wuchtig umfing mich das Dunkel.
Als ich wieder zu mir kam, sah ich, dass meine Eltern weinten. Ihre Augen kamen mir unnatürlich groß vor, wie Spielklicker. Meine Brüder hatten viel schönere Zehen als ich. Meine Zehen sind hässlich. Sie hatten so viel schönere Zehen. Zwillingsbrüder. Habe ich das schon erwähnt? Meine Brüder waren Zwillingsbrüder und hatten identisch schöne Zehen. Sie waren immer doppelt. In allem. Dieses doppelte Glück ist jetzt weg. Für immer. Ich kann sie nicht mehr lachen hören. Manchmal höre ich nur die Wellen von damals. Das Meer jener Sommer. Die Augusttage unserer Kindheit in Istrien. Die Wellen sind noch da in meiner Erinnerung. Ich stelle mir vor, dass sie mir noch einmal ihre Stimmen wiedergeben und mein Ohr sie noch einmal hören kann. Das Wasser. Die Wellen. Die Bora. Unser liebster Fallwind. Der liebste Wind überhaupt. Ich höre sein Pfeifen. Aber keine Stimmen. Ich kann mich nicht mehr an ihre Stimmen erinnern. Alles sickert in meinen Kopf hinein, versickert dort, legt sich dort immer tiefer ab, und jeder Tag, der vergeht, überschreibt sie. Sand. Was kann ich davon beweisen, was über die Gegenwart des Glücks im Unglück für mich selbst bewahren? Ich denke heute auch an Ilja, meine erste Liebe, an unseren Treffpunkt hinter der alten Synagoge, daran, dass ich auch Ilja vielleicht nie wiedersehen werde, er aber immer noch lebt. Ein paar Murmeln habe ich noch, die er mir geschenkt hat, als ich dreizehn wurde. Ich habe sie, zusammen mit den Fotos, von Land zu Land mit mir getragen. Auch er hat die belagerte Stadt verlassen. Ich habe von meiner Mutter erfahren, dass er seine ältere Schwester verloren hat und seit ein paar Jahren in Kalifornien lebt, in einer Stadt namens Bakersfield. Als die Belagerer auf dem Jüdischen Friedhof ihre Stellung bezogen, war Ilja ein paar Tage verschollen. Dann tauchte er plötzlich wieder auf. Aber seine Familie ging bei der nächsten Gelegenheit für immer fort, zuerst nach Frankreich, dann nach Amerika, und ich habe ihn seitdem nur noch auf Fotos gesehen. Zuerst hätte ich ihn fast nicht erkannt, alles an ihm sah anders aus, er war hager geworden, streng war seine Stirn in Falten gezogen. Nur seine Augen blitzten noch genauso schelmisch wie damals hinter der Synagoge.
Die Belagerer lauerten nun täglich oberhalb der Stadt. Mutter und Vater wollten nicht fort. Auf keinen Fall werden wir weggehen, sagte Vater, wir bleiben hier, sagte Mutter. Hier ist unser Zuhause. Hier sind unsere Toten. Ich aß nie wieder etwas, das bluten konnte. Mir fiel gar nicht auf, dass meine Mutter über Jahre hinweg die Namen meiner Brüder nicht mehr erwähnte. Wenn sie von ihnen sprach, dann immer als von ihren beiden Kindern, aber auch das geschah in den letzten Jahren ganze fünf Mal. Sie zieht es vor zu schweigen. Bis sie mich unvermittelt mit unserem Familiennamen ruft. Signorina Filipo sagt sie zu mir, neutralisiert mich auf diese Weise, nimmt mir meinen Vornamen weg, bevor sie wieder Dinge von früher richtigstellt, mich korrigiert und einfach behauptet, dass mich meine Erinnerung wieder einmal getäuscht habe, dass alles anders gewesen ist, ganz anders als das, woran ich mich zu erinnern glaube. Liebling oder Herz, wie sie mich manchmal früher nannte, kommt ihr nicht mehr über die Lippen. Meine Mutter besucht mich hin und wieder in Berlin. Vor einem Jahr fing sie plötzlich an, mir Plastiktüten voller Fotos mitzubringen. Ich habe aufgeräumt, sagte sie, und überreichte mir ohne weitere Erklärungen das erste Kilogramm Polaroids. Ein Blick in die Tüte genügte mir, um zu sehen, dass sie alle in den istrischen Sommern geschossen worden waren. Das Blau des Meeres leuchtete auf jedem Foto. War immer in der Nähe. Wie der Sand. Die Pinien. Die Palmen. Bis zu meinem jetzigen Umzug habe ich versucht, all das zu vergessen. Ich habe damals die erste Tüte einfach an eine Türklinke in Nadeshdas Wohnung gehängt und beschlossen, nicht mehr an den Inhalt zu denken.
Seit fünf Jahren bin ich hier in Berlin zu Hause. Ich beziehe die dritte Wohnung. Noch immer habe ich es nicht gewagt, nach der Familie meiner Großmutter zu suchen. Ich kenne niemanden von meinen deutschen Verwandten. Noch sind es nicht meine Toten. Was habe ich hier? Wer kann ich noch in diesem Netzwerk aus Sprache und Stille, aus Wissen und Erinnern werden? Ich habe hier nur Kartons, keine Toten, nur Lebende. Das erste Mal seit zwanzig Jahren fühle ich mich an einem Ort zu Hause. Immer seltener empfinde ich Schuld, weil ich gerne hier lebe. Manchmal bin ich glücklich wegen nichts. Seit Jahren habe ich mir so das Glück vorgestellt, still und mit geschlossenen Augen erwarte ich es. Die Schwalben liebe ich, Mischa Weisbands altes Vogelbuch, Nadeshdas Ehrlichkeit, ihr Lächeln, das Lächeln ihres Sohnes, in dem ich die Augen seines Vaters aufblitzen sehe, vor allem, wenn es aus ihm heraussprudelt und er mir auf unseren kleinen Spaziergängen in unserem Viertel auf der Stelle, wie er sagt, alles erzählen will, was er in der Schule erlebt hat.
Berlin ist laut und still. Im Hof, wo einige neue und viele alte Bäume wachsen und die Vögel, wie auf einem anderen Erdteil, von den Menschen getrennt leben, ist es überwiegend leise. Ich werde Teil dieses sanften Windes, der die Wipfel im Hof sprechen lässt. Die Vögel höre ich singen, die Kronen sind ihre Häuser. Hier wohnen sie den ganzen Sommer. Die großen Flügeltüren in meiner neuen Wohnung habe ich selbst gestrichen. Der Holzboden ist honigfarben. Ich weiß schon, wo die Dielen knarren. Im ganzen Haus herrscht eine seltsam schöne Stille. Nur die Schritte des westdeutschen Läufers sind manchmal im Treppenhaus zu hören. So beruhigend empfinde ich ihn in seiner Freundlichkeit. Woraus ist die Freundlichkeit entstanden? Wem ist sie geschuldet? Ein leiser erster Abend in meinen neuen Räumen. Sommerluft, aber keine Hundstage, keine Hitze wie früher, nichts, das drückend oder eine Last wäre. Draußen vor meinem Fenster fällt langsam die Nacht in die Wipfel der Bäume. Silberpappeln. Birken. Sogar ein uralter Maulbeerbaum steht im Hof. Mitten in Berlin. In meinem Hinterhof. Anfangs dachte ich, das sei eine Seltenheit, aber von Mischa Weisband weiß ich, dass es mehrere Stellen in der Stadt gibt, an denen Maulbeerbäume stehen. Ich werde sie alle suchen gehen. Genauso wie die Blauglockenbäume. Zeitlebens sind Vögel und Bäume meine Begleiter. Einmal möchte ich eine große Reise machen und alle Bäume meines Lebens besuchen, in alle Länder fahren, in denen sie stehen und ohne mich weiterleben. Werden sie mich erkennen? Die Bäume von Paris. (Mischa, der mir vom Leben zugewiesene Vogelkundler, hat sie mir gezeigt.) Die Bäume von Zagreb? (Tante Jana hat sie mir gezeigt, direkt beim Nationaltheater stehen die seltensten Rosskastanien.) Die Vögel und die Bäume meiner Geburtsstadt. (Das Leben hat sie mir gezeigt.) Die Bäume der Donaustadt. In den Auen. Die Bäume an den Orten meiner Kindheit und Jugend. (Das Leben hat sie mir gezeigt.) Istrien und Großmutters Maulbeerbäume (mit den weißen und roten Früchten)! Ihr Quittenbaum. Die Sauerkirsche. Der Mirabellenbaum. Das Leben. Hat sie mir gezeigt. Das Leben hatte immer ein Gesicht. Einen Namen. War ein Mensch.
Was ist mit den Orten, an denen ich seit meiner Geburt gewesen bin? Versammeln sich die Vögel noch an den gleichen Bäumen wie sie es früher, in meinem ersten Damals, taten? Nein. Nicht in allen Bäumen. In der Kindheit habe ich geglaubt, dass Bäume ewig leben. Als eine Nachbarin gestorben war und wir ihr auf dem muslimischen Friedhof kurz vor Kriegsausbruch die letzte Ehre erwiesen hatten, erfasste mich auf dem Weg nach Hause von Innen heraus eine Einsicht. Ich dachte, dass die Bäume das Gedächtnis der Menschen weitertragen, glaubte, dass sie es bewahren, auch und gerade für die Toten. Dafür aber, stellte ich mir vor, müssen sie immer weiter wachsen und niemand darf sie fällen, unter keinen Umständen. Aber dann ist es Krieg und Winter. Nach drei Jahren geht das Brennmaterial aus. Die Bäume werden gefällt. Winter für Winter. Der Schnee fällt. Die Gassen werden weiß. Der Taubenplatz ist zugig. Und der Wind pfeift sein beißendes Orgelwerk durch die Luft. Die Menschen verbrennen Reifen und Schuhe, um sich an offenen Feuerstellen etwas kochen zu können. (In Hochhäusern treffen sie Absprachen über die Reihenfolge und die Dauer, sie halten sich bis zum Ende des Krieges daran.) Wind weht. Mützen fliegen weg. Die Menschen frieren. Die Belagerung dauert. Drei Jahre lang. Die Bäume fallen um. Fallen als Tote auf die Straßen. In meiner Vorstellung sind sie gefällte Gedächtnisse, auf dem Asphalt ruhen sie nun. Der Winter ist ohne Gnade. Die Schneeflocken fallen vom Himmel wie ein von langer Hand vorbereiteter Fluch. Auch die Kinder haben keinen Spaß mehr an den Schneeflocken. Wenn sie auf ihren Gesichtern landen, fühlen sie sich an wie kalte Insekten. Schmelzend und böse verdoppeln sie ihr Leid. Die Bäume sind jetzt die Glut im Ofen. Können keine Zeugen mehr sein. Haben keine Ohren. Es sind Schreie zu hören. Menschen, die sich auf dem Taubenplatz getroffen haben, versuchen mit den umliegenden Bergen zu sprechen. Mein Vater hat die Belagerung nicht überlebt. Mutter sagt, er habe geweint, als er mitbekam, dass die Menschen am Anfang zu den Bergen wie zu alten Göttern hinaufgesehen und mit ihnen gesprochen hätten. Das hier ist eine europäische, eine zivilisierte S-T-A-D-T! So etwas haben sie den Bergen sagen wollen. Diese Stadt ist keine Wildnis! Sie gehört zur ZI-VI-LI-SA-TION! Ich habe meinen Vater nie weinen gesehen. Auch meine Mutter sah es damals zum ersten Mal. Die Leute haben draußen weiter geschrien. Hört ihr uns! Das hier ist eine Stadt! Das hier ist STADT! Das hier ist STADT! Aber die Berge hörten sie nicht. Mein Vater weinte kein zweites Mal.
Die Fotos von damals sind mir heute nicht zufällig in die Hände gefallen. Es ist mein erster Tag in den neuen Räumen, und ich habe das Gefühl, dass die alten Magneten in meiner Erinnerung sich selbsttätig ins Spiel bringen. In der leeren Wohnung wirken die honiggelben Dielen friedlich. Ich wünsche mir plötzlich, dass alles immer so leer bleibt und alles Überflüssige verschwindet, sich nie bei mir einnistet. Was brauche ich wirklich? Welche Farben machen mich glücklich? Und warum? Den Dingen auf den Grund gehen, das will ich tun, nicht einfach immer nur alles sammeln und ablegen. Alle Schachteln und Schatten ansehen. So leben, dass ich in jedem Moment mit einem Koffer verschwinden kann. An nichts hängen. Werde ich es einmal können? Die Kartons sind noch nicht ausgepackt, dabei hatte ich mir fest vorgenommen, heute wenigstens ein paar zu leeren. Die Fotos zwingen mich in die Verlangsamung. Ich halte inne. Ich sehe. Das Sehen ändert alles. Meine erste Stadt. Familienfotos. Paris, Fotos von Arik, der mich in der rue Fagon zusammen mit Nadeshda gemalt hat. Fotos von Nadeshda, sie, mit ihrem narkotisierten Blick, den sie immer hatte, wenn von Arik die Rede war, so als hätte er sie von einem Schmerz erlösen können, den sie aber selbst nicht kannte, den sie nicht kennen konnte und an dem sie sonst damals ertaubt wäre. Fotos von Hiromi an der Philosophischen Fakultät. Wir alle in Sophies Restaurant an der Bastille. Unser täglicher Treffpunkt. Und Fotos von meinem alten Freund Mischa Weisband. Seine Dora, neben ihm.
Immer wieder habe ich Mischa nach meinem Fortgehen gefragt, ob er mich in Berlin besuchen kommt. Ich wollte ihm Berlin zeigen, so wie er mir damals Paris gezeigt hat. Aber unsere Situationen waren nicht vergleichbar. Ich kannte damals die Straßen von Paris nicht, während Mischa in Charlottenburg geboren ist. Als er endlich mit Dora nach Berlin kam, war er es, der mir die Stadt seiner Kindheit und die Maulbeerbäume am Schlosspark und die Blauglockenbäume im Volkspark am Weinberg zeigte. Weder den einen noch den anderen Baum hatte ich in Berlin vermutet. Mischa kannte noch jede Straße, jeden Park, jeden See. Als wir mit Nadeshda und Dora über den Savignyplatz gingen, spürte ich, dass es wirklich stimmte, was sie mir einmal in Paris über ihren Mischa gesagt hatte. Weisband war kein Mensch, der die Straßen und die Sprache seiner Kindheit hassen konnte.